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Dr. Weil und seine schöne Frau

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Ich bedaure sehr, dass in unserer Familiengeschichte nicht überliefert ist, wie Géza meine Tante Hédi, eine wunderschöne Frau und die Schwester meiner Mutter, kennenlernte. So viel aber weiß man: Es war eine stürmische große Liebe. Jedenfalls am Anfang. Sie begehrten einander, wollten den anderen aber auch besitzen und beherrschen. Wie man auf alten Fotos sehen kann, zeigte sich nach den ersten zehn Ehejahren um Gézas Mund ein unverkennbar enttäuschter und schmerzlicher Zug, der nie mehr aus seinem Gesicht weichen sollte.

Gleich zu Beginn ihrer Beziehung erklärte Géza stolz, dass er Hédi wolle und nicht etwa ihre Mitgift. Er habe ein anständiges Einkommen, von dem er ohne Weiteres eine Familie ernähren könne. Doch Géza hatte nicht bedacht, dass sein Ausgangspunkt ein kleiner Krämerladen am Ende der Welt war. Von dort aus betrachtet hatte er es sehr weit gebracht. Hédis Kindheit war jedoch eine ganz andere gewesen. Sie hatte in Trencsén14 ein Mädchenpensionat besucht. Von ihrem Elternhaus in Ógyalla15 aus wurde sie in einem Zweispänner von einem livrierten Kutscher dorthin gefahren. Aber nicht nur dorthin. Die Kutsche war ihr Verkehrsmittel schlechthin. Es ist müßig aufzuzählen, was noch alles zu den für sie selbstverständlichen Lebensgewohnheiten gehörte. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass Géza, nachdem er schon eine gewisse Zeit mit Hédi verheiratet war, doch ganz unterwürfig bei meinem Großvater Alfréd Weisz erschien. Vielleicht war dies das erste Mal, dass sich jener gewisse Zug um seinen Mund herum zeigte.

Ich sehe meinen Großvater in seinem Büro in Ógyalla förmlich vor mir, wie er den Tresor öffnet – dafür musste er ein großes Rad an dessen Tür drehen –, wie er hineingreift, das Metalltablett hervorholt, auf dem die gebündelten, verschnürten Geldscheine aufbewahrt wurden, und Géza mit triumphierender Miene Hédis abgezählte Mitgift vor die Nase legt. Auch wenn es noch so viel Geld gewesen sein mag – ich weiß, dass Géza sich nicht darüber freute. Hédi hatte ihm zum ersten, aber nicht zum letzten Mal das Rückgrat gebrochen.

Mein Großvater hatte seinen Töchtern nicht nur Geld, sondern auch einige seiner Eigenschaften vererbt, die mein Vater, wenn er sich über meine Mutter ärgerte, als das »Alfréd Weiszsche Blut« bezeichnete. Das hatte aber auch gute Seiten: Mein Großvater verfügte zum Beispiel über ein hervorragendes Organisationstalent, die Fähigkeit, eine Situation schnell zu durchschauen, Schlagfertigkeit und einige andere Eigenschaften, die auch Hédi auszeichneten. Alfréd Weisz’ Töchter wuchsen auf einem großen Gut auf. Sie waren dessen Dimensionen, große Haushalte und eine entsprechende Haushaltsführung gewohnt, und sie waren gebildet und ehrgeizig.

So hätte sich Hédi als junge Ehefrau auch gern noch außerhalb ihres ihr beengt erscheinenden Vierpersonenhaushalts betätigt, zum Beispiel ein kleines Café, eine Konditorei oder eine Leihbibliothek geführt. Etwas, wo sie ein bisschen hätte organisieren, lächeln und charmant sein können. Jeder hätte sehen können, wie tüchtig sie war und was für fantastische Einfälle sie hatte. Aber Géza erlaubte das nicht. Er zahlte ihr die mit seiner Demütigung verbundene Mitgift in kleiner Münze zurück. Es half nicht, dass sie Kinder hatten. Mit der Zeit wurde die Stimmung zwischen ihnen immer bitterer.

Hédi war durch und durch Frau. Die einfachste Waffe einer Frau, das »Ja« und das »Nein«, hielt sie fest in der Hand und setzte sie ein, auch im Bett. Hédi wusste, dass Géza ihr bedingungslos ergeben und damit waffenlos war. Sie traf ihn, wo er am verletzlichsten war. Ihre Gunst gewährte sie ihm nur in kleinsten Portionen. Diese Stimmung herrschte, als das Jahr 1942 über Hédi und Géza hereinbrach und in der Slowakei die Deportationen nach Auschwitz-Birkenau begannen.

In meiner Kindheit verging kein Jahr, in dem meine Schwester Gilike und ich nicht eine gemeinsame Zeit mit Gertike und Lackó – Gézas und Hédis Kindern – verbracht hätten. Entweder bei uns in Debrecen, bei ihnen in Majcichov oder bei den Großeltern. In besonderer Erinnerung sind mir die Sommer auf dem Landgut meiner Großeltern geblieben. Welcher mag der letzte gewesen sein? Wahrscheinlich der des Jahres 1937. Nach dem Anschluss16 1938 verschwand der Wiener Teil der Familie. Als die deutsche Wehrmacht 1942 die Slowakei besetzte, wurden Géza und seine Familie von Freunden in der Papierfabrik in Heřmaneč17 versteckt, wo Géza als Betriebsarzt unterkommen konnte. Bis zum letzten Augenblick, bis zum Juni 1944, solange wir in Debrecen im Ghetto waren, schrieben wir einander Postkarten – auf Deutsch – in einer Geheimschrift. Die Familien wussten alles voneinander. Nach dem Krieg, als Géza und Hédi mich bei sich in Érsekújvár aufnahmen, erhielt ich von ihnen das letzte handschriftliche Dokument meiner Mutter: eine Postkarte, die sie ihnen aus dem Debrecener Ghetto nach Heřmaneč geschickt hatte. In meinem Buch Die Seele der Dinge findet sich eine Abbildung dieser Postkarte. Man kann sie dort auch lesen.

Die im Ungarischen mit einem Spottnamen versehenen Slowaken nahmen es mit der Freiheit ernst. Im Laufe der Geschichte waren sie nicht allzu oft in ihren Genuss gekommen: Meistens waren sie die Knechte und die Ungarn die Herren gewesen. Und jetzt waren es nicht mehr nur die Ungarn, sondern auch noch die Deutschen, die ihnen im Nacken saßen. Die Slowaken organisierten eine echte Partisanenbewegung. In Besztercebánya18 besetzten sie den Wald. Dorthin flohen auch Géza und seine Familie, als sich 1942 die Schlinge um ihren Hals immer mehr zuzog und sie ihre provisorische Unterkunft in Heřmaneč aufgeben mussten.

In Birkenau war die Blockälteste in meiner Baracke ein gleichaltriges Mädchen namens Sosanka, das zufällig auch aus der Slowakei stammte. Sie hasste uns aus ganzem Herzen, denn sie war schon 1942 nach Birkenau deportiert worden, als wir noch ein Zuhause hatten, zur Schule gingen und unsere Eltern noch lebten.

Anders als die Juden in Ungarn waren die slowakischen Juden nicht mit selbst verschuldeter Blindheit und Taubheit geschlagen. Sie wussten, was sie erwartete, und wer konnte, war geflohen. Die Deportationen aus der Slowakei folgten einem anderen Drehbuch als die aus Ungarn. Man holte zuerst die jungen Mädchen – »für deutsche Soldaten«19. Mein Onkel Géza erfuhr davon zum ersten Mal von einem Herrn Dr. Fischer, Arzt wie er selbst, allerdings mit dem Unterschied, dass Dr. Fischer bei der SS war. Noch etwas gibt es über ihn zu sagen: Er hegte tiefe Gefühle für Hédis Cousine Duci. Und er rettete, wen er nur konnte.

Mit seiner Hilfe organisierte Géza, dass seine beiden Kinder nach Ungarn geschmuggelt wurden. Es wurde aber Februar 1944, bis dies nach unermesslich viel Überlegung, Planung, Organisation und mithilfe von Geld und Beziehungen, trotz aller Zweifel und verbunden mit wer weiß was sonst noch, gelungen war. Aber es gelang. So kamen die siebzehnjährige Gertike und der dreizehnjährige Lackó nach Budapest. Sie wohnten bei Gézas Bruder, der dort ein Juweliergeschäft betrieb. Es war eine entsetzliche Tragödie, dass gleich nach ihrer Ankunft auch die Wehrmacht dort eintraf: Am 19. März 1944 wurde Ungarn von deutschen Truppen besetzt.

Man wird nie erfahren, warum Lackó das Haus verließ. Man wird auch nie erfahren, warum sein Onkel, dem Lackó aus dem Lager in Kistarcsa20 schrieb, er solle kommen und ihn mit viel Geld freikaufen, dies nicht tat. Man weiß nur, dass dieser seinen Bruder Géza über Lackós Internierung informierte und ihn um das Geld bat, weil er selbst keines habe. Als das Geld eintraf, lag Lackós Asche wahrscheinlich schon im Sumpf von Birkenau. Lackó war dreizehn Jahre alt und von kleiner Statur. Er fiel genau unter die Kategorie jener, die sofort nach ihrer Ankunft in Auschwitz in die Gaskammern getrieben wurden.

Dr. Fischer nahm das Risiko auf sich, Gertike aus Budapest wieder zurück zu schmuggeln. Zu jener Zeit las ich unter meiner Bettdecke mit der Taschenlampe die Romane von Jókai21. Bei ihm fällt es leicht, sich mit den unterschiedlichen Charakteren zurechtzufinden. Sie sind entweder gut oder böse, weiß oder schwarz. Zwischentöne gibt es nicht. Aber im Leben ist es anders. Ein und derselbe Mensch kann sowohl gut als auch schlecht sein. Um im Bild der Farben zu bleiben, könnte man das vielleicht als grau bezeichnen. Wie viele Schattierungen hat Grau? Dr. Fischer war Arzt bei der SS. In vielen Fällen setzte er sein Leben aufs Spiel, indem er Menschen rettete, die der SS zufolge seine Feinde waren. Für mich waren es meine Verwandten. Was für ein Mensch war also Dr. Fischer?

Auch dieser Krieg ging zu Ende. Géza und Hédi nahmen mich bei sich auf und versuchten, die Lebensgeister in mir neu zu wecken. Gertike pflegte mich treu. Aber im Zusammenleben mit ihnen offenbarte sich mir auch ihr Leid.

Gott hatte Gézas und Hédis Sohn Lackó sicher nach seinem Ebenbild geschaffen und gewiss, als er gut gelaunt war. Lackó war ein freundlicher, fröhlicher Junge, intelligent und lebhaft. Ein sehr liebenswerter Mensch mit einer angenehmen Stimme und einem zuvorkommenden Benehmen. Warum hatte Gott ihn geschenkt, um ihn gleich wieder zu nehmen? Hédi hätte fast den Verstand verloren. Gibt es etwas Schlimmeres für Eltern, als das geliebte Kind zu verlieren? Hédi war danach nicht mehr sie selbst, sie verlor jedes Maß, sie gab Géza an allem die Schuld. Sie wollte sich für alles an ihm rächen: dafür, dass er von Anfang an ihre Selbstverwirklichung verhindert hatte, dafür, dass Lackó umgekommen war.

Und sie wollte sich für alle ersichtlich an Géza rächen, ihn vor aller Augen erniedrigen. In einer so kleinen Stadt wie Érsekújvár war das nicht weiter schwierig. Hédi war damals immer noch eine sehr schöne Frau. Sie zeigte sich ganz ungeniert mit einem um viele Jahre jüngeren Geliebten, der in der kleinstädtischen Hierarchie einen recht hohen Rang bekleidete. Und vermutlich gewann er noch dadurch an Prestige, dass er der Geliebte der schönen Frau des Dr. Weil war.

Géza ertrug das. Aber der schmerzliche enttäuschte Zug um seinen Mund verstärkte sich zunehmend. Dachte er wohl auch darüber nach, ob er nicht selbst etwas dazu beigetragen hatte, dass es so weit gekommen war?

Jahre später begegnete mir der ehemalige Geliebte meiner Tante Hédi übrigens völlig unerwartet wieder. Ich arbeitete zu der Zeit bereits im Außenhandel der ungarischen Stahlindustrie bei der staatlichen Firma Metalimpex. Unsere Arbeit war nach Regionen aufgeteilt und ich für die Schweiz zuständig. Eines Tages wurde ich zu einem neuen Schweizer Vertreter gerufen. Ich ging also in den »Pferdestall« hinunter – so nannten wir den Verhandlungsraum. Dort erwartete mich ein bekanntes Gesicht: Da saß jener Mann als Schweizer Kunde vor mir. Ich war völlig perplex. Ich hatte jahrelang nichts von ihm gehört, er interessierte mich auch nicht sonderlich. Aber durch ihn wurde in mir auf Anhieb die schmerzhafte Erinnerung an die Atmosphäre der Zeit in Érsekújvár wieder lebendig. Auch er war sehr überrascht. Er hatte sicher mit allem Möglichen gerechnet, nur nicht damit, mir dort zu begegnen. Wir waren beide angespannt und darauf bedacht, das Gespräch ohne irgendwelche Anspielungen auf die Vergangenheit hinter uns zu bringen.


Dr. Géza Weil, Kreisarzt, Nové Zámky

Gézas und Hédis Schicksale waren unauflöslich miteinander verflochten. Der Gedanke an eine Scheidung kam niemals auf. Ihr gemeinsamer Schmerz führte sie von einem Kontinent zum anderen. Zunächst folgten sie ihrer Tochter Gertike, die nach Kanada geheiratet hatte, fühlten sich dort aber nicht heimisch. Danach gingen sie nach Israel, wo Géza Arzt im Kibbuz Kfar HaChoresch wurde. Die Kibbuzverwaltung hätte Hédi gerne mit der Leitung des dortigen Erholungsheims betraut, aber auch das erlaubte Géza nicht. Er war sogar auf die Luft eifersüchtig, die Hédi atmete.


Von links nach rechts: Géza Weil, Hédi Weisz, ihr Enkel Dávid, Gerti und ihr Mann Endre Blum

Zu seinem vierundneunzigsten Geburtstag erhielt ich von Géza eine Einladung. Hédi und er wohnten in Haifa in einem Altenheim für Ärzte. Während meines Besuchs fragte ich ihn eines Morgens, wie er geschlafen hatte.

»Wegen deiner Tante, dieser verdammten Hure, habe ich kein Auge zugetan. Sie hat mich betrogen, ich habe es die ganze Nacht gehört«, war seine Antwort.

»Aber Onkel Géza, das kann nicht sein, sie lag doch die ganze Nacht hier neben dir!«

Die Altersdemenz trug offenkundig ein Übriges zu der Situation bei. Davon abgesehen waren Gézas Augen sehr schlecht geworden. Er konnte nicht mehr lesen und auch nicht mehr fernsehen.

»Wo du bist, sehe ich nur einen großen Fleck«, sagte er.

Géza starb im Alter von sechsundneunzig Jahren. Hédi war zehn Jahre jünger als er. Nach seinem Tod kümmerte sich ihr Neffe um sie. Er folgte ihr in die Geschäfte und bezahlte, was sie entwendet hatte – Hédi litt an Kleptomanie. Auch sie war über neunzig, als sie starb, aber ihr Leben lang ging sie nie ungeschminkt auf die Straße. Sie blieb bis zuletzt die schöne Frau von Dr. Géza Weil.

2Gemeinde im Westen der Slowakei.

3Stadt in der Südslowakei, ung. Érsekújvár, dt. Neuhäusl.

4Kibbuz im Norden Israels, etwa 2 km westlich von Nazareth.

5Stadt in der heutigen Slowakei, slowak. Nové Zámky.

6Kleine Stadt in der westlichen Slowakei, slowak. Nitra.

7Kriegsschauplätze des Ersten Weltkriegs in Italien, an denen die Ungarn unterlagen und große Verluste erlitten.

8Diesem Gesetz zufolge wurde die Anzahl der Studenten an den Hochschulen hinsichtlich ihrer ethnischen Zugehörigkeit proportional zur Größe der jeweiligen Volksgruppe festgelegt. Obwohl der »Numerus Clausus« offiziell kein Gesetz zur Diskriminierung von Juden war, wurde die Immatrikulation an eine Universität an das Verhältnis von »Rassen und Nationalitäten« in der Gesamtbevölkerung gebunden, mit der eindeutigen Absicht, die gesellschaftlichen Aufstiegsmöglichkeiten der Juden zu beschneiden.

9Trafik: kleiner Laden für Tabakwaren, Zeitungen, Fahrkarten für öffentliche Verkehrsmittel u. Ä.; Trafiklizenzen wurden auf Lebenszeit vergeben, bevorzugt an Kriegsinvaliden, Kriegerwitwen und schuldlos verarmte Beamte.

10Kleine ungarische Stadt ca. 90 km nordöstlich von Debrecen.

11Heute in der Slowakei, slowak. Trnava, dt. Tyrnau.

12Im I. und XI. Bezirk Budapests am Westufer der Donau gelegener 235 m hoher Berg.

13Stéphane Fréderic Hessel (1917–2013): geb. in Berlin, seit 1937 französischer Staatsbürger, Überlebender des KZs Buchenwald, Diplomat, Autor, politischer Aktivist.

14Heute in der Slowakei gelegene Stadt, slowak. Trenčín, dt. Trentschin.

15Gemeinde in der Südslowakei, slowak. Hurbanovo, dt. Altdala.

16Eingliederung des Bundestaates Österreich in das nationalsozialistische Deutsche Reich.

17Im heutigen Tschechien gelegene Gemeinde, dt. Hermantsch.

18Ort im Zentrum der Slowakei, slowak. Banská Bystrica.

19Im Original auf Deutsch.

20Ungarische Stadt an der nordöstlichen Stadtgrenze von Budapest; in den 1930er Jahren gab es dort ein Internierungslager, eingerichtet vom ungarischen Innenministerium; nach der deutschen Besatzung 1944 Sammellager für die Deportationen nach Auschwitz.

21Mór Jókai (1825–1904): ungarischer Schriftsteller und Journalist.

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