Читать книгу Meine Geparden sind auf dem Weg - Vahid Monjezi - Страница 7

Drittes Kapitel

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Auf den Fucklandinseln,

dort, wo die Wellen das Blut der Seeelefanten an die Felsen streichen,

dort, wo das Erdöl aus den Adern der Menschen quillt,

dort, wo der Magen des Hungrigen mit Kampfer und Schwefel mumifiziert wird,

da gibt es ein kleines Mädchen, das jede Nacht von Brot für die ganze Welt träumt.

Auf den Fucklandinseln,

dort, wo die Kriegsschiffe die Längen- und Breitengrade der Ozeane besetzen,

dort, wo die Lachse auf der Suche nach einem neuen Weg in heißem Öl gebraten werden,

da gibt es einen kleinen Jungen, der mit einer Muschelschale Flügelameisen aus dem Wasser rettet.

Auf den Fucklandinseln,

dort, wo die Angst und die Liebe sich vermischen,

dort, wo das Meer mit seiner vorzeitigen Flut die Sonne ertränkt.

Ach! Auf den Fucklandinseln,

da gibt es noch die Wesen, die Kindheit heißen.

Mariwan: „Wow! Was für ein Wind.“

Yalda „Geh‘ höher Mariwan … geh’ höher!“

Ich sah unter meine Füße. Sah Adel, Yalda und Soheil wie Zwerge, deren Köpfe auf ihren Schultern kleben, sie schauten zu mir nach oben.

Wir waren alle 10 Jahre alt.

Yalda winkte mir zu. Sie wollte mich zu meinem Weg ermutigen. Ich setzte meinen Fuß zwischen einem Ast und zog mich mühsam zum nächsten Ast nach oben. Ich krabbelte nach vorne.

Die Äste über meinem Kopf waren voller Edelpflaumen. Mir lief das Wasser im Mund zusammen.

Ich zog den Ast zu mir herüber und schüttelte ihn.

Die reifen Edelpflaumen fielen wie große Regentropfen zu Boden und meine kleinen Freunde sammelten sie aus dem Gras in eine große Plastiktüte auf.

Ich schüttelte ein paar Äste. Nur die harten unreifen Edelpflaumen blieben an den Ästen hängen, genau die, die Yalda wegen ihres sauren Geschmacks mehr als die anderen liebte.

Ich pflückte eine Handvoll, steckte sie vorn in mein T-Shirt und stieg vom Baum hinab.

Als mich Soheil sah, lachte er und sagte: „Schau mal an, hier gibt es so viele und du hast dein T-Shirt noch vollgestopft.

Yalda zog schelmisch ihre Augenbrauen nach oben und fragte mich:

Yalda: „Hattest du Angst, dass wir alles aufessen und nichts für dich übrigbleibt?“

Aus meinem T-Shirt nahm ich eine Pflaume und gab sie Yalda in ihre Hand.

Mit einem verschmitzten Lächeln nahm sie die Pflaume und biss hinein.

Yalda: „Uuff, wie sauer … gerade die, die ich so liebe.“

Adel: „Öäh … Iss die nicht so. Die schmecken bestimmt nach dem Schweiß von Mariwan.

Yalda verzog ihr Gesicht und warf die angebissene Pflaume zu Adel.

Yalda: „ÄÄhh … Bist du dumm! Jetzt ekel ich mich.“

Während Adel vor Yalda flüchtete, lachte er und sagte:

Adel: „Ist das nicht so?! … Aber der Vorteil ist, du brauchst kein Salz mehr.

Yalda schoss wieder eine Pflaume in seine Richtung: „Komm her, wenn du ein Mann bist!“

Wir liefen am Gartenrand entlang, wo uns die Gräser bis zur Schulter reichten.

Die Luft war voll vom Duft der Wiesengräser und der wilden Himbeeren.

Der Sommer hatte erst begonnen und im goldenen Bach rauschte noch das Wasser.

Ein paar Schritte weiter schimpften die Spatzen aufgeregt und laut durcheinander.

Yalda warf die Pflaumentüte zu Boden und rannte dorthin, wo der Lärm herkam.

Wir standen da und schauten erstaunt auf Yalda, die zwischen den Gräsern hüpfte.

Yalda redete mit jemandem: „Husch, husch … verschwinde hier! … Ich sagte: ‚Verschwinde!‘“

Yalda nahm einen kleinen Stock und warf ihn in die Gräser.

Dann hörten wir ein Fauchen.

Wir rannten zu Yalda, die über den Boden gebeugt nach etwas im Gras suchte.

Soheil: „Was machst du hier?“

Yalda drehte sich zu uns und hob langsam ihre geschlossenen Hände hoch. Sie öffnete sie einen kleinen Spalt.

Yalda: „Schaut mal, ist das nicht süß?“

Ein Spatzenküken saß in ihren Händen. Seine Federn waren noch sehr kurz. Um den Schnabel hatte es einen gelben Rand. Es gab ein zitterndes, ängstliches Ziepen von sich.

Yalda: „Diese fette Katze wollte ihn mit einem Biss fressen.“

Oben auf dem Baum saßen mehrere Spatzen und zwitscherten aufgeregt. Sie hüpften von einem Ast zum anderen.

Adel: „Das ist bestimmt seine Verwandtschaft. … Guck mal, oh, der Arme, wie sein Herz schlägt!“

Soheil: „Drück’ ihn nicht so fest, Yalda! Lass’ ihn ein bisschen atmen!“

Mariwan: „Was machst du jetzt mit ihm?“

Yalda öffnete ihre Hände, schaute auf das Küken und sagte zu mir mit bittender Stimme:

Yalda: „Mariwan! Kannst du den in sein Nest bringen?“

Soheil: „Setz ihn hier unter den Baum, seine Eltern holen ihn bestimmt ab.“

Yalda: „Vielleicht nehmen sie ihn nicht mit und dann …? Ich habe Angst, dass die fette Katze zurückkommt.“

Adel: „So wie du die erschreckt hast, denke ich, kommt sie vor einer Woche nicht zurück.“

Yalda: „Trotzdem, ich lasse ihn hier nicht allein. … Vielleicht kommt ein anderes Tier und fängt ihn.

Er kann doch nicht fliegen und hat auch keine Hörner. Keine Krallen oder scharfe Zähne, womit er sich verteidigen kann. … Wisst ihr, dieser Garten ist voller schrecklicher Tiere.“

Ich streckte ihr meine Hände entgegen und sagte: „Her damit!“

Sie schaute mich an, legte ihre Hände in meine und öffnete sie.

Der kleine Vogel rutschte auf meine Finger. Er zitterte immer noch. Ich ging zum Baum, steckte mein T-Shirt in die Hose und ließ den kleinen Vogel von oben in mein T-Shirt fallen.

Sein Körper war warm, er bewegte sich ein bisschen auf meinen Hüften und letztendlich fand er ein gemütliches Plätzchen auf meinem Rücken.

„Hey Mariwan, geh‘ nicht! … Kalmamad kommt gerade!“

Das war die Stimme von Adel, die wie eine Sirene klang. Er zeigte irgendwo an das Ende vom Garten und sagte: „Verdammt, der hat auch seinen Hund dabei.“

Ich umarmte den Baum und zog mich hoch: „Geht weg!! … Ich komme gleich.“

Adel: „Ich beschwöre dich, beim Leben deiner Mutti. Geh nicht hoch!“

In der ganzen Hektik hatten wir trotzdem was zu lachen, denn jedes Mal, wenn Adel aufgeregt war, sprach er in seinem südlichen Dialekt.

Letztes Jahr kam er mit seiner Familie aus Ahwaz(5) nach Mashhad in unser Viertel.

Man sagte, es seien Kriegsflüchtlinge. Das Saddam-Regime hatte damals den südwestlichen Iran bombardiert. Darum mussten viele Familien fliehen und Adel hatte es zu uns verschlagen.

Er war dünn und hatte eine dunklere Hautfarbe als wir. Er hatte große schwarze Augen und viele Locken umspielten sein Gesicht.

Yalda lachte: „Beim Leben deiner Mutti, geh, aber komm schnell wieder zurück.“

Ich schaute hoch, die Spatzen flogen immer noch unruhig hin und her. Ich zog mich höher.

Währenddessen hörte ich von weit weg die Stimme von Kalmamad, der mit seinem Stock durch die Luft fuchtelte und schimpfte. Meine drei kleinen Freunde mussten flüchten.

Kalmamad: „Ihr Ganoven, ihr Wegelagerer, Sauhunde, wenn ich euch erwische!!! Diebe!“

Er trug ein weißes Baumwollhemd und eine runde braune Filzkappe auf seinen grauen Haaren.

Er war ungefähr 60 Jahre alt, ein bisschen krumm und der Gärtner von diesem großen Obstgarten.

Der Garten, dessen Obst immer auf die Erde fiel und verfaulte. Trotzdem erlaubte er niemandem, etwas zu pflücken.

Zwischen den Ästen hatte ich ein kleines Nest gefunden, in dem saßen noch zwei gleiche Spatzenküken. Vorsichtig holte ich das Vogelkind aus meinem T-Shirt.

Es sah mich mit seinen kleinen schwarzen Augen an. Ich spürte seinen Herzschlag an meinem Finger.

Ich küsste es auf seine Federn. Es roch nach Yalda. Die anderen Spatzen beobachteten mich von den obersten Ästen aus. Ich setzte es in sein Nest und rutschte ein Stückchen weiter weg.

Sekunden später kamen zwei Spatzen zum Nest geflogen und begannen, das Kleine zu füttern.

Von unten hörte ich Zähne fletschen. Es war Kalmamads Hund, der mich auf seine Weise empfing.

Kalmamad, der mit leeren Händen von seiner „Kinderjagd“ zurückkam, wurde durch das Bellen auf mich aufmerksam. Er kam langsam zum Baum und als er mich sah, strahlten seine Augen.

Kalmamad: „Hää … ausgezeichnet! Na, mein Herr … was machen Sie da oben? – Du Hundesohn.“

Mariwan: „Schimpf nicht Kalmamad!“

Kalmamad: „Ich schimpfe, wenn ich es will. Du kommst zum Klauen und hast noch die große Klappe. … Komm! … Komm runter! Du Dieb!“

Mariwan: „Ich komme nicht!“

Kalmamad: „Ich sage Dir, komm runter! Mach mich nicht wütend!“

Mariwan: „Ich bin kein Dieb.“

Kalmamad: „Was machst du dann da oben, in meinem Pflaumenbaum?“

Mariwan: „Ich habe einen kleinen Spatz in sein Nest zurückgesetzt.“

Kalmamad: „Und so ganz nebenbei wirfst du deinen Freunden meine schönen Pflaumen nach unten, oder?!“

Mariwan: „Das stimmt nicht.“ Kalmamad kratzte sich am Kopf und machte ein freundliches Gesicht.

Kalmamad: „Alles klar, ich glaube dir. Komm jetzt runter und geh nach Hause.“

Mariwan: „Kann ich einfach gehen?“

Kalmamad: „Das hab ich doch gesagt, ich lass dich gehen.“

Mariwan: „Gut, wenn du mich weglassen willst, gehst du und dann komme ich nach unten.“

Kalmamad: „Ich habe doch gesagt, du kannst gehen. Ein Mann und sein Versprechen.“

Mariwan: „Alle sagen das und halten es dann nicht.“

Kalmamad: „Im Namen Gottes. Komm runter. Komm, bevor du mich von einer anderen Seite kennenlernst.“

Ich reagierte nicht und pfiff ein Lied vor mich hin.

Kalmamad: … Aha, weißt du, was ich jetzt mache, ich lasse Wolfi hier, damit er gut auf dich aufpasst. Und ich gehe zu euch nach Hause und komme mit deinem Vater zurück.“

Ich wusste, wie wütend mein Vater werden kann und das war bestimmt auch Kalmamad bekannt.

Ich hörte auf zu pfeifen: „Kalmamad, wenn du mich weggehen lässt, arbeite ich den ganzen Freitag für dich. Umsonst. Was sagst du?“

Kalmamad kratzte sich am Hinterkopf und zog seine Nase hoch: „Naja ein Freitag ist wenig, machen wir zwei Freitage. … Ha? Was sagst du, so wären wir quitt.“

Ich hätte können vor Freude aus meiner Haut fahren.

Endlich hatte ich einen Weg gefunden, ihn zu erweichen.

Mariwan: „Abgemacht! Komme ich diesen Freitag und den nächsten. Gut so?“

Kalmamad: „Ja, ist gut … ist sehr gut … Jetzt komm runter, mein Junge.

Du hast mich heute schon genug von meiner Arbeit abgehalten.“

Mariwan: „Versprichst du mir, dass ich gehen kann?“

Kalmamad: „Ja, versprochen. Ich schwöre sogar auf den Imam Reza. Jetzt komm runter, glaub‘ mir!“

Ich wollte ihm vertrauen, aber irgendwie konnte ich nicht. Ich wusste nicht, warum er schwört.

Unter meinen Füßen beobachtete mich ungeduldig der Hund.

Speichel sabberte aus seinem Maul und er schaute mich mit seinen riesigen braunen Augen an.

Kalmamad streichelte den Kopf seines Hundes.

Kalmamad: „Hast du Angst, ja?! Das ist ein guter Hund. … Aber du musst keine Angst haben, der hört auf mich. Ja, Wolfi du hörst auf mich, oder?“

Der Hund schaute in Kalmamads Augen und begann auf einmal zu knurren.

Kalmamad schlug daraufhin ein paar Mal auf seinen Kopf und zog an seinem Halsband.

Kalmamad: „Halt die Klappe, blöder Köter!“

Als der Hund sich beruhigt hatte, fasste ich mir ein Herz und kletterte nach unten.

Noch bevor ich den Boden erreichte, spürte ich einen Schatten hinter mir.

Kalmamad. Wie ein Geier, der seine Beute mit den Krallen fängt, stürzte er sich von hinten auf mich und packte mich am Hals.

Kalmamad: „Du hast gerade so schön wie eine Nachtigall gesungen.

Aber du weißt, Vögel, die morgens sehr laut singen, holt abends die Katze.“

Vor Schmerzen krümmte ich mich.

Mariwan: „Auaaaa, auuuaaa lass mich los! Du hast geschworen!“

Kalmamad: „Geschworen?! … Komm jetzt mit! … Schwören ist Schall und Rauch …

Jetzt sag mir, wer waren deine Freunde, du Hundesohn?!“

Kalmamad schraubte an meinem Ohr und schlug mit seiner flachen Hand immer wieder auf mein Genick. Ich schrie vor Schmerzen.

Mariwan: „Auaaaa … Du drehst mein Ohr ab … Auaa … Lass mich los!“

Kalmamad: „Wer waren die anderen?!

Mariwan: „Welche anderen ? … Ich bin allein … Das siehst du doch?!“

Kalmamad: „Glaubst du, ich bin so ein Esel wie du?! Denkst du, ich verstehe nicht! … Du warst auf dem Baum und hast mich beobachtet, so dass deine Freunde in Ruhe meine Edelpflaumen klauen konnten. Und als du mich kommen sahst, hast du denen Bescheid gesagt.“

Mariwan: „Auaa, das war nicht so … mein Ohr, verdammt noch mal!“

Kalmamad: „Haaa! Wie war’s denn dann?! Haben sie euch geschmeckt!? … Jetzt weiß ich, was ich mit dir mache. Ich liefere dich bei deinem Vater ab. … Haaah! Wie findest du das?!“

Kalmamad lachte mich hämisch aus. Ich ekelte mich vor seinem Mundgeruch, der zwischen den gelben und faulen Zähnen herauskam. Es gab keine andere Möglichkeit, ich musste ihn bitten.

Mariwan: „Nein, Kalmamad, lass mich bitte weg. Beim Leben deines Hundes!“

Kalmamad: „Na, dann rede mal! … Wer sind deine Freunde?“

Ich biss die Zähne zusammen und sagte nichts.

Kalmamad: „Sind deine Ohren verstopft? Ich habe dich was gefragt.“

Mariwan: „Woher soll ich das wissen?! … Ich war allein.“

Kalmamad: „Allein!? Na ich denke, du verstehst keine gut gemeinten Worte.

Jetzt reden wir anders. Ich lasse mich von dir nicht belügen.

Ich färbe selbst Spatzen und verkaufe sie als Kanarienvögel.

Da denkst du kleiner Ganove, du kannst mich verarschen.

Na schön, übergebe ich dich eben deinem Vater.“

Mich beschlich Panik, denn ich wusste genau, wenn Kalmamad mich zu Hause abliefert, schlägt mich mein Vater mit seinem Ledergürtel grün und blau.

Meine größte Angst galt aber nicht dem Prügeln, denn ich war so viel geschlagen worden, dass ich eine Haut hatte wie Leder. Vielmehr ging es mir darum, dass meine Ehre in Yaldas Augen Schaden nehmen würde.

Jedes Mal, wenn mein Vater mich schlug, hörte man das Schreien mehrere Häuser weiter, und das musste ich verhindern.

Das erste Mal, als Yalda mich in solch einer Situation sah, konnte ich vor Scham kaum sprechen.

Es war eine Nacht, die ich nie vergessen werde.

Einige Tage zuvor musste ich einen Brief an meinen Onkel schreiben, den mir Vater diktierte.

Mein Vater war beinahe Analphabet und ich musste immer seine Briefe schreiben.

Seit er arbeitslos war, ging er kaum noch aus dem Haus. Er saß fast den ganzen Tag am Radio, rauchte und hörte Kriegsnachrichten. Ab und zu meckerte er vor Frust an einem seiner Kinder herum.

An diesem Abend war ich an der Reihe. Er machte einen riesen Krawall, weil mein Onkel wegen meiner schlechten Schrift den Brief nicht lesen konnte. Meine Mutter versuchte, mich vor seinen Händen und Füßen zu retten, aber sie hatte kaum Erfolg und bekam sogar selber ein paar Schläge ab.

Hilflos und mit verweinten Augen folgte sie meinem Vater.

Mutter: „Bitte, mir zuliebe! Lass ihn in Ruhe! … Herr Hossein … Schlag ihn nicht! Er ist doch noch ein Kind, er irrte sich. … Du brichst ihm seine Knochen. … Im Namen von Imam Reza, schlag ihn nicht! … Schau in sein Gesicht, es ist voller Blut.“

Der Vater zog mit einer Hand seinen Hosengürtel heraus und mit der anderen schob er meine Mutter zur Seite.

Vater: „Das geht dich gar nichts an. … Misch‘ dich nicht ein, Weib. … Du bist diejenige, die ihn so schlecht erzogen hat. … Ich mache aus diesem eigensinnigen Bastard einen Mann.“

Meine Mutter schmiss sich ihm vor die Füße.

Mutter: „Lass mich deine Füße küssen, lass mich deine Hände küssen, aber schlag nicht mein Kind. … alle unsere Nachbarn hören uns.“

Vater: „Das ist doch scheißegal. … Er ist mein Sohn und ich weiß, wie ich ihn erziehen muss.

Ich kann ihn solange schlagen, bis er tot ist. Das geht niemandem etwas an. … Niemandem! …

Hörst du! Ich habe ihn gezeugt und sein Leben ist auch in meinen Händen. Das Gesetz sagt es genauso.“

Vor Angst hatte ich mich in die Ecke des Zimmers verkrochen. Der Vater näherte sich mir wütend, meine Mutter hing immer noch an seinem Bein und weinte.

Mutter: „Herr Hossein, alle geben dir recht. Gott weiß es, das Leben von uns allen ist in deiner Hand.

Er ist doch noch ein dummes Kind. Lass ihn bitte in Ruhe … Oh mein Gott! Schau ihn an, wie er schluchzt!“

Der Vater versuchte, seine Beine von den Händen meiner Mutter zu befreien.

Vater: „Er hätte auf mich hören müssen.“

Der Vater beugte seinen Kopf zu mir. Er roch nach Schweiß.

Vater: „Warum hast du so schlecht geschrieben, du Versager.“

In meinem Mund hatte ich den Geschmack von salzigem Blut. Mit weinender Stimme antwortete ich.

Mariwan: „Wie?! Wie kann ich schön schreiben? Ich schreibe immer so?! … Ich … ich kann’s nicht anders. … Versteht ihr! … Ich kann nicht … meine Hände können nicht … meine Hände zittern immer … seht her … schaut sie an.“

Ich streckte meine zitternden Hände zum Vater hin. Er schüttelte seinen Kopf und drehte sich zu meiner Mutter.

Vater: „Schau ihn an, der spielt für mich wie ein Schauspieler … Warte, ich sage dir, wie du schreiben musst … Komm jetzt hierher du Bastard.“

Der Vater holte mit seinem Ledergürtel aus und schlug mit Schwung in meine Richtung.

Meine Mutter war aufgestanden und stellte sich zwischen uns.

Mutter: „Lauf weg, Mariwan! Lauf weg von hier!“

Da traf der Gürtel meine Mutter auf dem Rücken und ihre schützenden Worte verwandelten sich in einen schmerzhaften Seufzer.

Weinend und verwirrt rannte ich nach draußen. Hinter mir hörte ich die Schreie meiner Mutter.

Vor dem Haus hatten sich neugierige Nachbarn versammelt. Barfuß suchte ich meinen Weg zwischen den Menschen hindurch und rannte ein paar Gassen weiter.

Manche Fußgänger schauten mir nach und schüttelten den Kopf vor Mitleid oder Entsetzen.

Aber ohne zu fragen oder einen Schritt auf mich zuzukommen, gingen sie einfach weiter.

Stundenlang lief ich so ziellos durch die Straßen. Bis der Himmel dunkel wurde.

Ich wollte nicht mehr nach Hause. Ich dachte, ich ziehe wie viele andere Kinder unter eine Brücke.

Dort hätte ich meine Ruhe. Ich wusste aber auch, dass sich meine Mutter große Sorgen um mich machte und sie suchte bestimmt überall nach mir. Ich überlegte und dachte letztendlich daran, doch wieder nach Hause zurückzukehren.

Am Eingang unserer Gasse saß ich unter einer Laterne an einem Wasserkanal. Überall war es ruhig.

Ich hatte meine Füße in dem Wasser gewaschen. Im Nachbarhaus öffnete sich eine Tür. Ein gelber Lichtstrahl schien auf den Asphalt bis hin zu mir. Ein kleines Mädchen schaute mich neugierig durch die halb geöffnete Tür an, wartete einige Sekunden und ging wieder hinein.

Es war Yalda. Es dauerte nicht lange, da öffnete sich die Tür wieder und sie kam heraus.

Sie hatte ein Glas Wasser in der Hand und setzte sich zu mir an den Straßenrand.

In ihren langen schwarzen Haaren glänzte eine rote Stoffrose.

Sie gab mir das Glas in die Hand und hängte ihre dünnen dunklen Beine genau wie ich in den Wasserkanal. Sie schaute mich mit ihren schönen schwarzen Augen an.

Yalda: „Du hast ganz schön tiefe Wunden!“

Bis dahin waren mir meine Wunden gar nicht so bewusst gewesen. Aber jetzt, als Yalda darüber sprach, merkte ich, dass ich eine Wunde hatte, die brannte.

Yalda: „Ich höre immer dein Schreien … Was hast du schlimmes getan?“

Mariwan: „Nix.“

Yalda: „Warum schlägt er dich dann?“

Mariwan: „Ich weiß nicht.“

Yalda: „Hast du große Schmerzen?“

Mariwan: „Geht schon.“

Yalda: „Was ist mit deinen Augen passiert?“

Ich fasste an die Stelle, die sie mir zeigte. An meinen Augenbrauen war ein großer Bluterguss entstanden, so groß wie eine Murmel. Wahrscheinlich durch die Gürtelschnalle.

Sie fragte wieder: „Dein Vater ist ein schlechter Mensch, stimmt‘s?“

Mariwan: „Ich weiß nicht.“

Sie nahm meine Hand und lächelte mich an: „Meine Mutti ist Krankenschwester. Sie sagte, du sollst zu uns rein kommen, damit sie sich die Wunde ansehen kann.“

Ich drehte meinen Kopf leicht nach oben, um sie besser sehen zu können.

Ihre langen Haare lagen über ihren Schultern. Sie hatte eine gelbe Bluse an mit kleinen rosa Blümchen. Wenn sie redete, sah ich das strahlende Leben in ihrem Gesicht.

Sie zog an meiner Hand: „Komm schon!“

Ich ging mit Yalda in das Haus. Dort wartete ihre Mutter auf uns. Eine nette Frau Anfang vierzig.

Geduldig reinigte sie meine Wunde. Yalda saß neben uns und schaute neugierig zu.

Ein sanftes gelbes Licht füllte das Zimmer.

Eine Schallplatte drehte sich und es erklang eine wunderschöne alte Melodie.

Yaldas Mutter öffnete eine kleine grüne Flasche und ich roch den beißenden Geruch von Jod.

Sie nahm einen Wattebausch, gab etwas von der Flüssigkeit darauf und näherte sich damit meinem Gesicht.

Yaldas Mutter: „Es brennt ein bisschen, aber es hilft.“

Uns gegenüber stand ein Schrank mit mehreren Büchern und einigen Bildern. Auf einem der Bilder lachte Yaldas Mutter neben einem Mann, der einen Schnauzbart trug.

Yalda schaute interessiert zu als ihre Mutter meine Stirn verband.

Yalda: „Wie niedlich.“

Ich fragte: „Wer ist das auf dem Bild?“

Ihr Lächeln war verschwunden, sie flüsterte: „Mein Papa.“

Mariwan: „Warum habe ich ihn noch nie gesehen?“

Yalda: „Er ist tot. Bei der Revolution(6) haben die ihn umgebracht.“

Mariwan: „Was hat er getan?“

Yalda: „Nix … Er hatte nur Bücher gelesen.“

Mariwan: „Wer hat ihn getötet?“

Sie schaute zu ihrer Mutter, ich denke Yalda wusste es auch nicht.

Ihre Mutter befestigte den Verband auf meinem Kopf, holte tief Luft und sagte:

„Die Wahnsinnigen.“

Yaldas Mutter warf einen Blick auf das Bild und strich mir sanft über das Haar: „Ist es dir nicht zu straff?“

Mariwan: „Nein, ist schon o.k.“

Yalda ging zu dem Schrank und holte ein Foto. Sie zeigte es mir: „Schau mal. Das ist mein Bruder Siawash. Er ist Student.“

Ich hatte ihn früher öfter in unserem Viertel gesehen. Er war etwa 20 Jahre alt, ziemlich schlank und hatte eine Brille. Er trug meistens eine grüne Soldatenjacke.

Yalda: „Niemand auf dieser Welt ist so lieb wie Siawash. - Stimmt’s Mama?“

Yaldas Mutter: „Weil er dich immer mit ins Kino nimmt, deshalb, du Schlingel.“

Yalda: „Nein, nicht nur deswegen. Er erzählt mir immer schöne Märchen. … Er kennt so viele Geschichten … Uff … Das Märchen vom kleinen schwarzen Fisch oder das vom Zauberer von Pos.“

Yaldas Mutter: „Nicht Pos, Oz!“

Yalda: „Ja, der! … und die Märchen von Ali Baba und den vielen Räubern. … Oh, der kennt so viele Geschichten.“

Yaldas Mutter lachte.

Ich fragte: „Wann kommt er nach Hause?“

Yalda: „Er kommt jetzt nicht, er ist an der Front. … Er kommt erst nächsten Monat wieder und bringt mir aus dem Feld leere Patronen mit … Wir wollen damit Vasen basteln.“

Mariwan: „Wie, aus leeren Patronen?!“

Yalda: „Na klar. … Die muss man gut waschen, richtig gut waschen, dass sie nicht mehr nach dem schwarzen Pulver riechen. Dann müssen sie gut geputzt werden, dass sie glänzen. Wir binden sie alle mit Draht zusammen, dass sie nicht wieder fliehen können. Mein Bruder weiß wie das geht.“

Mariwan: „Was muss er an der Front machen?“

Yalda: „Er kämpft mit Saddam(7) … und sammelt leere Patronen.“

Mariwan: „Warum muss er kämpfen?“

Einen Moment schwieg sie, dann zuckte sie mit ihren Schultern und schaute zu ihrer Mutter.

Yalda: „Mama, warum muss Siawash kämpfen?“

Yaldas Mutter: „Unser Land ist angegriffen worden, der Irak bombardiert jeden Tag unsere Städte. … Siawash ist wie viele andere Männer auch in den Krieg gegangen, um unser Land gegen die Feinde zu verteidigen.“

Yalda: „Warum hat Saddam Iran angegriffen?“

Yaldas Mutter: „Weil er ein Wahnsinniger ist.“

Yalda: „Mama, wie viele Wahnsinnige gibt es auf der Welt?“

Yaldas Mutter: „Zu viele, mein Schatz.“

Yalda: „Wie viele sind zu viele?“

Yaldas Mutter: „Zu viele sind mehr als wir zählen können.“

Yalda: „Mama, was bedeutet das. … Heißt das, dass die Wahnsinnigen nie alle werden?“

Ich sah Yaldas Mutter sehr traurig. Vielleicht dachte sie an ihren Sohn.

Ich sagte mit Stolz: „Wenn ich groß bin, geh‘ ich auch zum Krieg und bringe Siawash mit nach Hause.“

Sie lächelte: „Ich hoffe, dass bis dahin dieser Krieg zu Ende ist.“

Yaldas Mutter räumte das Verbandsmaterial zurück in die Schachtel, nahm das Foto von Siawash in die Hand und schaute ihn nachdenklich an. Sie atmete sehr tief, ging mit dem Bild zum Schrank und stellte es neben das Foto ihres Mannes.

Mariwan: „Krieg ist etwas Schlechtes, oder?“

Sie drehte sich zu mir um und hielt einen Moment inne.

Yaldas Mutter: „Der Krieg vernichtet alles, alles. Die Menschen zwingen einander zum Krieg.

Es gibt Momente, in denen wir unser Land und unsere Familien verteidigen müssen. Die Momente, in denen uns nichts anderes übrigbleibt als zu kämpfen.“

Kalmamad schraubte wieder an meinem Ohr und brachte mich so in die Gegenwart zurück.

Kalmamad: „Wir sind jetzt gleich in eurem Viertel.“

Mariwan: „Zur Hölle!“

Kalmamad: „Haaa! Bist du mutig geworden?! Was ist passiert, du bettelst ja gar nicht mehr?!

… Jetzt werden wir ja sehen, wenn du deinen Vater siehst. Da laufen deine Tränen von ganz allein.“

Er lachte hämisch.

Bei dem Lachen roch ich wieder diesen ekligen Atem, der mich fast zum Kotzen brachte.

Mir fiel etwas ein. Ich musste mich locker halten. Locker, das die Gürtelschläge, wenn sie auf meinem Körper treffen, weniger schmerzen.

Letzte Woche gab es ein öffentliches Auspeitschen am Eingang unserer Gasse. Ein Junge wurde beschuldigt, Alkohol getrunken zu haben.

Er war vielleicht gerade 18 Jahre alt. Ein stattlicher und gutaussehender junger Mann, aber seine Augen strahlten tiefes Leid und Verzweiflung aus.

Die Basiji* hatten ihn mit einem dicken Seil an einen Laternenmast gebunden und sein Hemd bis auf die Hüfte heruntergerissen. Wie immer kamen viele Schaulustige, dieses „Schauspiel“ zu verfolgen.

Ein Mullah stellte sich auf ein Podest, schaute auf einen Zettel und redete durch ein Megaphon.

Er begründete mit Auszügen aus der Scharia(8) die Verwerflichkeit des Alkoholtrinkens.

Mullah: „Allah hat uns im Koran befohlen: ‚Schlagt die Ungläubigen. …‘ Was bedeutet das?! … Weiß das jemand von euch?! … Nein?! … Ich sage es euch! Es bedeutet, bekämpft die Alkoholtrinkerei und Verdorbenheit. Das ist genauso wichtig, wie auf dem Schlachtfeld zu kämpfen.

Wir sind es dem Islam schuldig, diejenigen, die unsere islamischen Werte beschmutzen wollen, ihrer gerechten Strafe zuzuführen.“

Ein paar Leute schrien: „Allah o Akbar*!“

Sie schleuderten ihre Arme mit den geballten Fäusten mehrmals in die Luft.

Der Mullah schaute zufrieden in die Menge und drehte an seinem Rosenkranz. Er murmelte ein Gebet vor sich hin und mit seinem erhobenen Zeigefinger gab er das Zeichen an einen Mann mit einer Maske.

Der Henker nahm seine Peitsche und strich mit auffallender Gestik die Lederriemen zurecht.

Die Peitsche war etwas größer als des Vaters Gürtel. Aber, beide waren aus reinem Leder, aus Ochsenhaut. Der einzige Unterschied zur Peitsche waren die vielen kleinen Lederstreifen, die beim Schlagen tiefer in die Menschenhaut einschnitten.

In dem Moment als der Henker die Peitsche hochnahm, schrie jemand:

„Mach dich locker! Es schmerzt weniger.“

Zwei Basiji, die neben dem Mullah standen, liefen eilig dorthin, wo die Stimme herkam.

Sie suchten aber vergeblich zwischen den Leuten, denn der Rufende hatte sich in der Menge versteckt.

Der Mullah schaute mit einem bösen Blick zum Henker und hob seinen Rosenkranz hoch.

Der Henker ging einen Schritt zurück, holte aus, schwang seine Peitsche durch die Luft und rief:

„Allah o Akbar“. Er schlug mit ganzer Kraft auf den nackten Rücken des Jungen.

Man hörte einen erstickenden Schrei, denn der nächste Peitschenhieb umschlang den Hals des Jungen. Neben mir flüsterten zwei Leute miteinander.

Der Erste: „Schau mal, wie grausam er den Jungen schlägt.“

Der Zweite: „Das muss aber so sein, Bruder. Er muss ihn so stark schlagen, damit er es nie wieder vergisst.“

Der Erste: „Ach, sag, hast du in deinem Leben nie Alkohol getrunken?“

Der Zweite: „Allah vergib mir. Als ich jung war, habe ich ein paar Mal solches ‚Gift‘ gesoffen, aber na ja, ich habe es Allah gebeichtet und dem Mullah Achmad damals 1000 Toman(9) Opfer gegeben. Weißt du, wie viel Geld das damals war! Er hat mir vergeben.

Das war’s schon und jetzt bin ich so rein und unschuldig wie ein Neugeborenes.“

Der Erste: „Ja, ja, der Tod ist gerecht, aber nur für die Nachbarn. Sag an, wenn sie dich damals, als du noch nicht rein und unschuldig warst, festgenommen und ausgepeitscht hätten, würdest du heute auch noch so klug reden?!“

Der Zweite: „Vergangenheit ist vergangen. Es war einmal in dieser gottlosen Zeit. Damals konnte jeder machen, was er wollte und es fragte niemand nach. In der verdammten Schah-Zeit gab es keine religiöse Beurteilung. Niemand achtete auf Allahs Regeln. Die Ungläubigen hatten für uns westliche Gesetze mitgebracht und wollten uns zum Narren machen. Aber Gott sei Dank, nach der islamischen Revolution ging alles wieder nach der islamischen Scharia. … Genau wie 1400 Jahre vorher, Inschallah.“

Achtzigmal schwang sich die blutverschmierte Peitsche durch die Luft und sauste auf den Körper.

Von dem Jungen hörte man keinen Laut mehr. Er kniete fast bewusstlos an dem Laternenmast, aber der Henker schlug weiter zu.

Die Blutlache verteilte sich rund um ihn und gab der Laterne eine dunkelrote Farbe.

Nach der Vollstreckung des Urteils kamen die zwei Basiji, banden das Seil auf, ergriffen den jungen Mann unter den Armen und schleiften ihn über die Straße.

Der Mullah hob seine Hände Segen empfangend zum Himmel, betete und dankte Allah für diese Gelegenheit, sein Gesetz umzusetzen. Jemand aus der Menge schrie das Salawat(10).

Die Leute gaben Ehrerbietung an den Propheten Mohammed und seine Kinder.

„Ich muss mich locker halten.“

Ich war sicher, wenn ich jetzt zu Hause abgeliefert würde, setzte das eine ordentliche Tracht Prügel. Die Version mit der Pflaumenklauerei, mit der mich Kalmamad verpetzen würde, gab dem Vater einen guten Grund, seine ganze Wut an mir auszulassen.

Mariwan: „Kalmamad, wenn du mich freilässt, gebe ich dir meine Sparbüchse.“

Kalmamad: „Sparbüchse?! … Wie viel ist drin?“

Mariwan: „10 oder 12 Toman, denk ich.“

Kalmamad: „Hm, das ist viel zu wenig.“

Mariwan: „Es ist aber der zweifache oder sogar der dreifache Preis deiner Pflaumen.“

Das war natürlich ein ganz blöder Spruch und der hätte mir nicht rausrutschen dürfen.

Kalmamad: „Haaa! Jetzt ist es raus. Also doch. Jetzt hast du es zugegeben. Ihr habt doch meine Pflaumen geklaut.“

Verdammt, wie dumm. Das war natürlich – Salz in die offene Wunde gestreut. Er zog kräftiger an meinen Ohren.

Mariwan: „Auahh, ziehe nicht so! Auahh … Ich arbeite für dich den ganzen Sommer lang, gratis.

Jetzt lass mich los.“

Kalmamad: „Haaah, spürst du deinen Vater schon? Wir kommen eurem Haus immer näher.

Mariwan: „Lass mich los! Ich mach alles, was du willst. Ich kehre deinen Garten oder füttere deinen Hund.“

Kalmamad: „Es gibt nur eine Möglichkeit für mich, dich loszulassen. Die Namen deiner Freunde. … Wer waren die?!“

Mariwan: „Ich war allein. Ich war immer allein.“

Kalmamad: „Ich sehe schon, wir kommen nicht ins Geschäft … Ich übergebe dich an deinen Vater! Der weiß schon, mit welcher Methode er dich zum Sprechen bringen wird.“

So, das war‘s, Kalmamad blieb stur. Er wollte nur seine Rache und würde sich nicht mit weniger zufrieden geben. Es gab nur einen Weg, ich musste mich locker halten.

Es ist ein Scheißding, diese Peitsche. Wenn sie zum ersten Mal auf die Haut trifft, ist es wie ein Schock. So, als ob man einen Stromschlag bekommt oder jemand legt plötzlich ein Stück Eis auf den Rücken. Es dauert 2 Sekunden, dann wird die Stelle heiß. Es fühlt sich an wie tausend kleine Nadelstiche auf der Haut. Sie brennt und der Schmerz frisst sich ins Fleisch.

Was konnte ich noch tun? Ich hatte mir geschworen, dass ich dieses Mal, egal wie schmerzhaft es war, nicht schreien würde.

Wenn mich Yalda noch einmal heulen hörte, was sollte sie von mir denken?

Nein! Es wäre alles zu Ende. Das brächte mir noch größere Schmerzen als die Peitsche.

Ich dachte an meine Mutter. Sie sagte immer: „Gott liebt die Kinder und ihre Gebete werden schnell erhört.“

Da begann ich leise zu beten: „Oh, lieber Gott, hilf mir! Bitte, bitte hilf mir. Nur dieses Mal!

Rette mich vor der Hand meines Vaters … Oder wenn du mich nicht retten kannst, mach wenigstens irgendwas, dass es nicht so weh tut. … Du weißt doch, Yalda soll mein Weinen nicht hören. …

Großer Gott, wenn du mir hilfst, verspreche ich, ich werde mich revanchieren.

Gleich morgen gehe ich zum heiligen Imam Reza und opfere seinen Tauben ein Pfund Weizen.“

Wir hatten den Eingang zu unserer Gasse erreicht. Von Weitem hörte ich ein undeutliches Gemurmel. Wir sahen einige Leute, die verwirrt zu der Menschenmasse hinrannten.

Fast alle Einwohner unseres Viertels versammelten sich vor der Haustür von Yaldas Familie.

In dem Moment lief Adels Vater an uns vorbei, schaute kurz und blieb stehen.

Adels Vater: „Warum ziehst du den Jungen am Ohr, Kalmamad?!“

Kalmamad: „Hm, … Er hat Pflaumen geklaut.“

Adels Vater: „Ach, Kalmamad! … Unsere Jungs kämpfen und opfern sich für diese Kinder und du regst dich auf wegen ein paar Edelpflaumen?! … Schäm dich! … Lass ihn los, ich gebe dir das Geld für deine Pflaumen.“

Endlich verteidigte mich jemand. Ich schöpfte Hoffnung und mit ganzem Mut sagte ich:

„Ich habe auch gesagt, ich geb ihm meine Sparbüchse.“

Kalmamad zog wieder stärker an meinem Ohr: „Nein, ich muss ihn direkt in die Hände seines Vaters übergeben.“

Adels Vater: „Lass sein Ohr los! Was sollen die Leute von dir denken, Kalmamad, wenn sie dich so sehen.

Heute haben sie einen Märtyrer in dieses Viertel gebracht. … Hab’ wenigstens Respekt vor ihm.“

Adels Vater steckte einen Geldschein in Kalmamads Tasche. Kalmamad schaute kurz auf den Schein und mit Wut wieder auf mich. Er steckte das Geld ein und ließ widerwillig mein Ohr los.

Kalmamad: „Märtyrer?! … Wer?! … Wer ist tot?“

Ich hatte noch nicht richtig verstanden, was passiert war. Mein Ohr war immer noch heiß und pulsierte. Adels Vater zeigte auf Yaldas Haus.

Adels Vater: „Vor zwei Stunden brachten sie die Nachricht an seine Mutter. Der arme Mensch.

Er war noch sehr jung. … Siawash Irani … Gott gebe seiner Familie Kraft.“

Der Name Siawash ließ mich aufhorchen. Ich sah auf die Lippen von Adels Vater, die sich weiter bewegten, aber außer einem langen Pfeifton in meinem Ohr hörte ich nichts weiter.

Ich rannte zur Menschenmenge. Das vermeintliche Gemurmel der Leute verwandelte sich in ein Schluchzen und Weinen. Ein schwarzes Tuch hing an der Haustür und darauf war ein Bild von Siawash in schwarz-weiß. Die schwarz gekleideten Leute standen an der Seite der Eingangstür.

Sie sagten nichts, sie taten nichts, sie standen einfach nur dort und schauten sich traurig an.

Von innen hörte ich ein Gewirr aus Weinen, Koran Lesen und Klagen.

In meinem Kopf entstand das Lied vom Tod.

Ich ging zwischen den Menschen hindurch ins Haus.

Zuerst nahm ich den starken Geruch von Kaffee wahr, dann roch es nach Rosenwasser.

In diesem Durcheinander war ich das einzige Kind, das nach etwas suchte.

Die Nachbarfrauen saßen im Wohnzimmer und lasen Gebete aus dem Koran.

Ein dickes schwarzes Tuch bedeckte das Grammophon und all die Bücher.

Wie schnell änderte sich alles. Ich suchte im ganzen Haus nach ihr. Die fremden Leute schauten mich ernst an, als wollten sie mich mit ihrem Blick fragen: „Was hast du hier zu suchen?“

Vom Korridor aus ging ich weiter und erreichte den Garten hinter dem Haus.

Yalda saß in einer Ecke an einem abgeschiedenen Platz.

Wie traurig sie aussah in diesem schwarzen Kleid.

Ich setzte mich neben sie.

Ihre langen Wimpern waren noch nass.

Sie wollte nicht reden.

Sie schaute mich einen Augenblick an, dann vergrub sie das Gesicht in ihren Händen.

Mariwan: „Willst du allein sein?“

Yalda: „Die haben Siawash getötet!“

Mariwan: „Ich weiß.“

Yalda: „Mariwan! Du gehst nicht in den Krieg!“

Jetzt wusste ich, dass es auf dieser Welt Sachen gibt, die einen Menschen mehr verletzen als die Peitsche. Ich schaute in Yaldas verweinte Augen und hätte alles dafür gegeben, wenn Siawash noch am Leben wäre.

Die Frau des Mullah Khozeyme näherte sich uns.

Sie war eine der vielen weiblichen Basiji, die die Revolutionsgarde überall unterstützten.

Sie trug ein schwarzes Kopftuch, das so gebunden war, dass nur ihre lange Nase und ihre strengen Augen hervorschauten. Sie reichte Yalda ein langes schwarzes Kopftuch.

Khozeymes Frau: „Bedecke deine Haare, mein Kind. Du bist doch erwachsen geworden.

Es sollen keine Fremden deine Haare sehen.“

Dann sah sie mich mit einem bösen Blick an.

Khozeymes Frau: „Was machst du denn hier?! Geh zu den Männern!“

Mariwan: „Was hab ich getan? Ich sitze doch nur hier.“

Khozeymes Frau: „Das ist Sünde, wenn ein Mann bei einem Mädchen sitzt.“

Mariwan: „Warum Sünde? Yalda und ich sind Freunde.“

Khozeymes Frau: „Steh auf! Wie redest du überhaupt mit mir. ‚Wir sind Freunde‘ Ha!

Wie können Mädchen und Jungen Freunde sein?!”

Mariwan „Wir sind aber Freunde.“

Khozeymes Frau: „Jetzt raus mit dir, aber schnell. Hier gibt es keinen Platz für Männer.

Frauen und Männer müssen getrennt bleiben. Raus!!!!“

Sie zeigte mit ihrem langen Zeigefinger auf den Ausgang.

Ich sah, wie in Yalda die Wut emporkroch. Mit Rage in ihrer Stimme fuhr sie Khozeymes Frau an.

Yalda: „Lass ihn! Ich habe gesagt, dass er zu mir kommen soll.“

Khozeymes Frau: „Erstens sollst du deine Haare verhüllen, um dich nicht zu versündigen, und zweitens ist hier eine Trauerfeier und keine Party.“

Yalda stand auf, stellte sich Khozeymes Frau direkt gegenüber und schaute bös in ihre Augen.

Yalda: „Das ist unser Haus, was machen Sie überhaupt hier?!“

Khozeymes Frau: „Püühhh, was ich hier mache?!… Das weiß jeder in diesem Viertel.

Ich bin von der Märthyrerverwaltung. Alle Trauerfeiern sind meine Arbeit. Den Koran austeilen und wieder einsammeln. Mullah und Grabredner organisieren.

Schwarze Banner besorgen, den Altar für den Märtyrer herrichten und all das was noch dazu gehört, ist meine Arbeit. Das alles ehrenvoll und islamisch abläuft. Hast du das kapiert?

Jetzt wickel dein Kopftuch um deine Haare.“

Yalda suchte mit ihrem Blick nach irgendetwas. Vielleicht suchte sie ihre Mutter, die in dem Durcheinander verschwunden war.

In einer Ecke des Hinterhofes kochte eine Frau auf dem offenen Feuer die Süßspeise Halwa(11).

Khozeymes Frau hielt Yalda immer noch das Kopftuch direkt vor die Nase.

Plötzlich riss Yalda es ihr aus der Hand, rannte zu dem Halwa-Kessel, schaute kurz zu uns und warf das Kopftuch ins Feuer. Es ging in Flammen auf.

Ein Schrei der Entrüstung kam von Khozeymes Frau: „Neieeeen, du Sünderin! Was für eine Schandtat! Na warte, ich geh jetzt zu deiner Mutter und werde für dich eine Suppe kochen, die du so schnell nicht wieder auslöffeln wirst.“

Yalda lächelte mir zu und zeigte mit ihrer kleinen Hand, wie sie die Suppe auslöffelt.

Aus Wut darüber, dass Yalda sie nachäffte, biss Khozeymes Frau die Zähne zusammen und kam zu mir. Ich winkte Yalda, sie lachte und ich rannte aus dem Haus.

Meine Geparden sind auf dem Weg

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