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Liebe bis zum Gedächtnisverlust
ОглавлениеЛюбовь до потери памяти
Verrückte Komödie in zwei Akten
Aus dem Russischen von Albrecht D. Holzapfel
Von einer Komödie sollte man nicht
jedes beliebige Vergnügen erwarten,
sondern nur das ihr eigene.
Aristoteles
Inhaltsangabe
Ein an Gedächtnisverlust leidender Mann erscheint in der Arztsprechstunde mit der Bitte um Hilfe. Der Arzt versucht Symptome und Ursachen der Krankheit herauszufinden, doch erfolglos: Die Antworten des Kranken sind dermaßen widersprüchlich, dass aus ihm nichts Vernünftiges herauszubekommen ist. Zum Glück gelingt es, die Frau des Kranken hinzuzurufen. Sie antwortet auf alle Fragen klar und überzeugt, aber ihrer Meinung nach, leidet auch der Arzt an Gedächtnisverlust. Die Situation verwirrt sich noch mehr, als unerwartet noch eine Frau auftaucht und ebenfalls behauptet, die Ehefrau des Kranken zu sein. Die Lage wird vollkommen absurd. Der Arzt wird beinahe verrückt. Diese dynamische und lustige Komödie entwickelt sich zielstrebig und lebhaft, in einer unerwarteten Auflösung endend.
Handelnde Personen
Doktor
Anton
Johanna
Marina
Mann
Das Alter der Personen hat keine entscheidende Bedeutung.
Gut möglich, dass sie um die Vierzig sind, der Doktor und der Mann auch etwas älter.
Erster Akt
Reich ausgestattetes Behandlungszimmer eines Arztes, das mehr an ein geschmackvolles Wohnzimmer erinnert, als an einen sterilen ärztlichen Raum. In einem bequemen Sessel, am Schreibtisch, hat sich der Doktor niedergelassen – ein gut gekleideter entspannter Mann in den besten Jahren, sehr selbstsicher. Ein Besucher tritt ein.
BESUCHER: Herr Doktor, ich leide an Gedächtnisverlust.
DOKTOR: Seit wann?
BESUCHER: Was heißt „seit wann“?
DOKTOR: Seit wann leiden Sie an Gedächtnisverlust?
BESUCHER: (Überlegt gequält.) Ich erinnere mich nicht.
DOKTOR: Gut. Das heißt, das ist sehr schlecht. Aber alles ist behebbar. Hauptsache, dass Sie zum richtigen Arzt gekommen sind. Zu dem, der Sie heilt. Ärzte, die heilen, gibt es nicht so viele. Und solche, die vollkommen auskurieren gibt es überhaupt nicht. Lassen Sie uns zuerst, wie das so üblich ist, Ihre Krankengeschichte erfassen. (Beginnt, Daten in den PC einzugeben.) Also, Sie leiden an Gedächtnisverlust.
BESUCHER: Woher wissen Sie das?
DOKTOR: Sie haben es mir doch gerade selbst gesagt.
BESUCHER: Ja? Sehr schade. Eigentlich verberge ich das, damit ich keine Unannehmlich-keiten bekomme.
DOKTOR: Keine Sorge, das bleibt unter uns. Ärztliches Geheimnis. Ihr Name?
BESUCHER: Mein Name? (Überlegt gequält.) Den habe ich vergessen.
DOKTOR: (Beruhigend.) Regen Sie sich nicht auf, das ist nicht schlimm. Haben Sie einen Pass oder einen anderen Ausweis bei sich?
BESUCHER: Ja, natürlich. (Kramt in seinen Taschen.) Entschuldigen Sie, Doktor, ich fürchte, ich habe ihn zuhause gelassen.
DOKTOR: Ehrlich gesagt, Sie bereiten mir einige Probleme.
BESUCHER: Ich weiß selbst nicht, wie das passiert ist. Ich erinnere mich, dass der Name sehr verbreitet ist.
DOKTOR: Versuchen wir, uns zu erinnern. Vielleicht Martin?
BESUCHER: (Unsicher.) Vielleicht.
DOKTOR: Oder Peter?
BESUCHER: Ich weiß nicht.
DOKTOR: Und an den Familiennamen erinnern Sie sich auch nicht?
BESUCHER: Und an den Familiennamen erinnere ich mich auch nicht. Aber regen Sie sich nicht auf. Ich muss einen Zettel bei mir haben, mit meinem Namen und der Adresse. Meine Frau steckt mir immer diesen Zettel in die Tasche, wenn ich aus dem Haus gehe. Für alle Fälle. (Sucht in den Taschen und findet den Zettel. Triumphierend.) Hier, Sehen Sie!? Jetzt erfahren Sie, wie ich heiße. Wenn das schon so wichtig für Sie ist. (Reicht dem Doktor den Zettel.)
DOKTOR: (Entfaltet den Zettel und liest.) Also… Telefonnummer. Scheint ein Handy zu sein. Und hier ist auch der Name: „Marina“. (Verblüfft.) Aber das ist doch nicht Ihr Name!
BESUCHER: Sind Sie sicher?
DOKTOR: Sie etwa nicht? Sie sind doch ein Mann!
BESUCHER: Woher wissen Sie das? Habe ich Ihnen das gesagt?
DOKTOR: Wissen Sie denn das selbst nicht?
BESUCHER: Dass ich ein Mann bin? Wenn Sie das bestätigen, dann glaube ich Ihnen. (Grübelnd.) Falls Marina, dann ist das nicht mein Name, aber wessen dann?
DOKTOR: (Beginnt nervös zu werden.) Eigentlich wollte ich Sie das fragen.
BESUCHER: Wahrscheinlich ist das der Name meiner Frau.
DOKTOR: Was heißt „wahrscheinlich“? Erinnern Sie sich nicht an den Namen Ihrer Frau?
BESUCHER: Sie beleidigen mich. Natürlich erinnere ich mich.
DOKTOR: Also, ist sie das, oder nicht?
BESUCHER: Natürlich, sie. Meine zärtliche, liebende und geliebte Frau. Eine treue Freundin seit den ersten Jugendtagen. Sie glauben es nicht, aber ich bin mir ihr seit der ersten Klasse bekannt. Wir haben doch in ein und derselben Schule gelernt. Ach, Doktor, erinnern denn Sie sich an Ihre Flitterwochen?
DOKTOR: (Ungläubig.) Und Sie erinnern sich?
BESUCHER: Und wie! Ach, was war das für eine Zeit! Jede Vertiefung auf ihrem Körper war noch von einem Geheimnis umgeben. Jede Berührung war aufregend, und jede Nacht erschien wie ein Wunder. Ein nicht enden wollendes Wunder. Erinnern Sie sich denn an all das, Doktor?
DOKTOR: (Seufzend, mit Gefühl.) Wer von uns erinnert sich nicht daran?
BESUCHER: Glauben Sie mir, aber unsere Flitterwochen dauern auch jetzt noch an.
DOKTOR: Sie kann man nur beneiden.
BESUCHER: Jeden Abend, wenn ich mich ins Bett lege, setze ich die Brille auf und lese Zeitung, und meine Frau dreht sich die Haare ein und macht sich in der Zeit eine Gesichtsmassage.
DOKTOR: Das heißt, Sie erinnern sich trotzdem an irgendetwas?
BESUCHER: Natürlich. Sonst wäre ich ein Vollidiot. Leider kommen manchmal Aussetzer vor. Irgendwelche Teile entfallen. Dann tauchen sie auf. Dann entfallen sie wieder. Tauchen wieder auf. Entfallen wieder. Tauchen wieder auf. Entfallen…
DOKTOR: (Unterbricht ihn.) Ich hab´ verstanden. Tauchen wieder auf.
BESUCHER: Ja. Tauchen wieder auf. Aber insgesamt habe ich ein hervorragendes Gedächtnis.
DOKTOR: Tatsächlich?
BESUCHER: Natürlich. Ich liebe Literatur, Philosophie, Kunst. Haben Sie Hegel gelesen?
DOKTOR: Irgendetwas habe ich gelesen.
BESUCHER: Erinnern Sie sich, wie schön er von Architektur und Skulptur gesprochen hat?
DOKTOR: Hm… Und Sie erinnern sich?
BESUCHER: Natürlich. (Mit Gefühl.) „Die Konkretisierung der abstrakten Ideen auf dem Gebiet der Plastik erzeugt jenen Satz des sich selbst suchenden Geists, in dem er, von sich selbst abstoßend, sich auf dem Gebiet der bildenden Erkenntnis der darin enthaltenen Schönheit potenziert“.
DOKTOR: Und das hat Hegel gesagt?
BESUCHER: Ja, und?
DOKTOR: Nicht, nichts. Wenn schon, dann erinnern Sie sich vielleicht doch, wie Sie heißen?
BESUCHER: Ich?
DOKTOR: (Verliert die Geduld.) Sie. Doch nicht ich? Können Sie denn nicht irgendwie machen, dass Ihr Name auftaucht?
BESUCHER: Natürlich. Ich heiße… Ich erinnere mich nicht.
DOKTOR: Vielleicht rufen wir Ihre Frau an und erfahren Ihren Namen mit ihrer Hilfe?
BESUCHER: Gute Idee.
DOKTOR: Wer ruft an, ich, oder Sie?
BESUCHER: Besser Sie. Sonst sagt sie meinen Namen und ich vergesse ihn wieder.
DOKTOR: (Sieht auf den Zettel und wählt die Nummer.) Guten Tag. Kann ich mit Marina sprechen? Das sind Sie? Sehr angenehm. Entschuldigen Sie die Vertraulichkeit, aber ich weiß einfach nicht, wie ich Sie anders anreden soll. Ich rufe aus der Klinik an. Halten Sie mich nicht für taktlos, aber möchte erfahren, wie Ihr Mann heißt. Ja, ich verstehe, dass diese Frage etwas seltsam klingt… Ihr Mann interessiert mich ausschließlich aus medizinischer Sicht. Nein, ich spaße nicht und spiele Ihnen nichts vor… Ich bin wirklich Doktor, und meine Nummer steht in jedem Telefonbuch… (Trocken, mit Nachdruck.) Ihr Mann hat Probleme, und Sie wissen selbst, was das für Probleme sind… (Ärgerlich.) Entschuldigen Sie, aber Frechheit ist, wenn man einen unbekannten Menschen grundlos als frech bezeichnet. Ihr Mann…
Das Gespräch wird unterbrochen. Der Doktor legt verärgert den Hörer auf.
BESUCHER: Nun, was hat sie gesagt?
DOKTOR: Sie hat gesagt, dass sie überhaupt keinen Mann hat.
BESUCHER: Meine Frau hat keinen Mann? Das ist seltsam.
DOKTOR: Wirklich seltsam.
BESUCHER: Und wer ist sie denn dann?
DOKTOR: Das wollte ich von Ihnen erfahren.
BESUCHER: Und warum haben Sie sie nicht gefragt?
DOKTOR: Weil sie den Hörer aufgelegt hat. Entschuldigen Sie, aber Ihre Ehefrau ist ein ziemlich nervöses Geschöpf.
BESUCHER: Wahrscheinlich, gerade weil sie keinen Mann hat.
DOKTOR: Aber sie ist doch Ihre Frau!
BESUCHER: (Bestürzt.) Richtig. Sagen Sie, weshalb brauchen wir denn überhaupt meinen Namen? Das hilft der Behandlung, nicht wahr?
DOKTOR: Um die Krankengeschichte zu beginnen. Um Sie zu beobachten. Um Sie zur Untersuchung zu schicken. Um Ihnen die Rechnung zu schicken, verdammt nochmal!
BESUCHER: Rechnung? Ich fürchte, dann erinnere ich mich nie an meinen Namen.
DOKTOR: Mit Ihnen kann man den Verstand verlieren.
BESUCHER: Nehmen Sie das nicht zu sehr zu Herzen. Rauchen Sie eine, entspannen Sie sich. Ich habe gute Zigaretten. Möchten Sie? (Greift in die Tasche.) Hier, nehmen Sie das ganze Päckchen.
DOKTOR: (Nimmt das Päckchen.) Das sind keine Zigaretten, das sind Spielkarten.
BESUCHER: Karten? Umso besser. Lassen Sie uns spielen, das lenkt Sie ab.
DOKTOR: Ich hab keine Zeit für solche Dummheiten. Außerdem, kann ich gar nicht spielen.
BESUCHER: Ich bring es Ihnen bei. (Mischt die Karten schnell und verteilt sie.) In welcher Währung nehmen Sie das Honorar für die Behandlung, in Euro oder in Dollar?
DOKTOR: Ich bevorzuge Euro.
BESUCHER: Ausgezeichnet. Nehmen wir an, Sie setzen 10 Euro auf die Pik-Dame. Dann..
DOKTOR: (Nimmt automatisch Karten auf, aber zu sich kommend, wirft er sie auf den Tisch.) Sie befinden sich im Behandlungszimmer eines Arztes und nicht im Casino! Das haben Sie wohl vergessen? Ich bin ein Privatarzt, und meine Zeit ist teuer. Sehr teuer! Wollen Sie die verspielen?
BESUCHER: Entschuldigen Sie. (Räumt die Karten weg.)
DOKTOR: (Erschöpft.) Wissen Sie was? Lassen Sie uns wirklich rauchen. Obwohl ich es eigentlich schon lange aufgehört habe.
BESUCHER: Hier, bitte.
DOKTOR: (Erstaunt.) Aber das sind doch keine Zigaretten, das ist ein Pass. (Öffnet den Pass, vergleicht das Bild. Erfreut.) Ja, das ist Ihr Pass!
BESUCHER: Na, was hab ich Ihnen gesagt? Ich habe ein ausgezeichnetes Gedächtnis.
DOKTOR: (Mit Blick in den Pass.) So, lieber Anton, endlich haben wir uns bekannt gemacht. (Trägt seine Daten in die Krankengeschichte ein.) Anton… Glöckner. Glöckner, das sind Sie?
ANTON: Wer denn sonst?
DOKTOR: Sind Sie sicher?
ANTON: Sie nicht?
DOKTOR: Nun, gut. Lassen Sie uns endlich zur Sache kommen. Tragen Sie Ihre Beschwerden der Reihe nach vor.
ANTON: (Entschlossen.) Höchste Zeit. Ehrlich gesagt, ich bin mit Ihnen unzufrieden. Ich zahle Ihnen regelmäßig Unsummen Geld, aber als mich der LKW gerammt hat, haben Sie keinen Finger gerührt.
DOKTOR: Erstens, Sie bezahlen mir bisher kein Geld, schon gar nicht eine Unsumme. Zweitens habe ich keine Ahnung, dass Sie ein LKW gerammt hat.
ANTON: Seltsame Vergesslichkeit Ihrerseits. Ich habe Ihnen doch darüber einen Brief geschickt, auf den zu antworten Sie nicht einmal Zeit fanden.
DOKTOR: Ich erinnere mich an keinen Brief.
ANTON: Das heißt, Sie leiden an Gedächtnisverlust. Der Aufprall war sehr stark, die Folgen schwer. Sie waren einfach verpflichtet, unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen.
DOKTOR: (Trägt die Daten in die Krankengeschichte ein.) Wurden Sie schwer verletzt?
ANTON: Ernsthaft beschädigt ist die rechte Seite.
DOKTOR: (Trägt die Daten in die Krankengeschichte ein.) „Beschädigt die rechte Seite…“
ANTON: Und beide Scheinwerfer zerbrochen.
DOKTOR: (Erregt.) Bei wem ist die rechte Seite beschädigt? Bei Ihnen oder beim Fahrzeug?
ANTON: Beim Fahrzeug, natürlich.
DOKTOR: Und was passierte mit Ihnen? Haben Sie sich den Kopf angeschlagen?
ANTON: Warum das denn? Bei mir ist alles in Ordnung. Kein Kratzer.
DOKTOR: Und warum sollte ich dann unverzüglich Maßnahmen ergreifen?
ANTON: Und wer wird mir Schadenersatz leisten?
DOKTOR: Schadenersatz? Wofür? Ich hab´ doch den LKW nicht gelenkt.
ANTON: Sie nicht. Aber Sie sind mein Versicherungsagent. Wann haben Sie vor, für die Reparatur aufzukommen?
DOKTOR: Mein Lieber, ich bin kein Versicherungsvertreter. Ich bin Privatarzt. Doktor. Verstehen Sie? Doktor.
ANTON: (Bestürzt.) Doktor?
DOKTOR: Doktor, Doktor. (Redet sanft und geduldig auf ihn ein.) Sie sind zu einem Doktor gekommen. Zum Doktor und nicht zu einem Versicherungsagenten.
ANTON: Ja, richtig… Das hab´ ich völlig vergessen. Entschuldigen Sie.
DOKTOR: Ich sehe, Ihre Krankheit ist äußerst ernst. Äußerst.
ANTON: Aber sie ist heilbar?
DOKTOR: Wie soll ich Ihnen sagen… Sie haben Glück, dass Sie ausgerechnet zu mir kamen. Ein anderer Arzt hätte Sie nie und nimmer behandelt.
ANTON: Ja, das haben Sie schon gesagt.
DOKTOR: Das heißt, Sie erinnern sich daran?
ANTON: Natürlich.
DOKTOR: Das ist gut. Aber erinnern Sie sich überhaupt an irgendetwas?
ANTON: Ich erinnere mich an alles. Kindheit, Schule, Universität, Arbeit. Aber ich kann vollständig vergessen, was mit mir vor einer Woche oder Stunde passiert ist. Und dann plötzlich erinnere ich mich. Und vergesse wieder. Das ist furchtbar.
DOKTOR: Macht nichts, alles ist korrigierbar.
ANTON: Wie heißt meine Krankheit?
DOKTOR: Eine Form von Sklerose. Vorerst schwer zu sagen, welche genau. Es gibt viele. Wie fühlen Sie sich körperlich?
ANTON: Gut.
DOKTOR: (Trägt die Daten in die Krankengeschichte ein.) Wie verhält man sich Ihnen gegenüber bei der Arbeit?
ANTON: Gut.
DOKTOR: Und wie verhält sich Ihre Frau zu Ihnen?
ANTON: Gut.
DOKTOR: Wann hatten Sie mit ihr zum letzten Mal enge Beziehungen?
ANTON: (Nach längerem Überlegen.) Ich erinnere mich nicht.
DOKTOR: (Greift sich verzweifelt an den Kopf.) Mein Lieber, ehrlich gesagt, ich hab´ es mit Ihnen ein bisschen schwer. Lassen Sie uns eine kleine Pause machen.
ANTON: Weshalb?
DOKTOR: Deshalb, weil ich müde geworden bin. Und mein Kopf fängt an wehzutun.
ANTON: (Teilnahmsvoll.) Eine Tablette vielleicht?
DOKTOR: (Schreit.) Nein, danke! Fressen Sie die selbst! (Reißt sich zusammen.) Entschuldigen Sie, ich bin wirklich müde geworden. Wo sind wir stehen geblieben?
ANTON: Dass Sie baten, eine kleine Pause zu machen.
DOKTOR: Was für eine Pause? Ach, ja… Warten Sie bitte im Wartezimmer. Ich werde Sie rufen.
ANTON: (Geht zum Ausgang, bleibt dann aber stehen.) Übrigens, wegen den engen Beziehungen… Sagen Sie, ist meine Krankheit nicht ansteckend?
DOKTOR: Im Grunde nicht. Obwohl… (Denkt nach. Ein unangenehmer Gedanke kommt ihm in den Sinn. Sein Gesicht verfinstert sich.) Neulich wurde behauptet, dass einige Formen von Sklerose von Viren verursacht werden und ansteckend sein können.
ANTON: Das heißt, Sie wollen sagen…
DOKTOR: (Unterbricht ihn.) Warten Sie. Und gehen Sie weiter von mir weg. (Zieht hastig einen Mundschutz an und betrachtet sich besorgt im Spiegel.)
ANTON: Sie haben noch nicht auf meine Frage geantwortet.
DOKTOR: Ach, lassen Sie mich doch wenigstens für fünf Minuten in Ruhe!!
Anton geht hinaus. Der Doktor nimmt von einem Regal ein dickes medizinisches Nachschlagewerk und beginnt es fieberhaft durchzublättern. Nachdem er die gewünschte Information nicht gefunden hat, wirft er es zur Seite. Er gießt sich aus einer Thermoskanne Kaffe ein und versucht, ihn zu trinken, aber der Mundschutz stört ihn dabei. Er nimmt ihn ab, nimmt einen kleinen Schluck aus der Tasse und beruhigt sich langsam. Er bemerkt den Zettel Antons auf dem Tisch, schaut nach und wählt die Telefonnummer.
DOKTOR: Hallo? Marina? Verzeihen Sie. Hier ist wieder der Doktor. Ich will mich für den vorigen Anruf entschuldigen. Ja. Und ich möchte noch sagen, dass Sie, obwohl Sie mich als frech bezeichneten, eine sehr angenehme Stimme haben. Keine Ursache. Das war ein Missverständnis. Einfach weil sich in der Tasche eines meiner Patienten ein Zettel mit Ihrem Namen und der Telefonnummer befand, und er behauptete, dass Sie seine Frau seien. Anton Glöckner. Was!? Sie sind wirklich seine Frau? Aber Sie haben doch gesagt, dass Sie keinen Mann haben! Verzeihen Sie, ich wollte Sie keinesfalls beleidigen. Einer Frau zu sagen, dass sie keinen Mann hätte, bedeutet noch nicht, sie zu beleidigen. Außerdem haben Sie selbst… Verzeihen Sie. Also… Also… Verstehe. Verstehe. Verstehe. (Legt den Hörer auf.) Einen Dreck verstehe ich.
ANTON tritt ein.
ANTON: Erlauben Sie?
DOKTOR: (Zieht hastig den Mundschutz an.) Bitte.
ANTON: (Tritt nahe an den Doktor heran und flüstert ihm ins Ohr.) Doktor, ich leide an Gedächtnisverlust.
DOKTOR: (Drängt ihn von sich.) Ich weiß.
ANTON: (Verwundert.) Woher wissen Sie?
DOKTOR: Sie haben das selbst gesagt.
ANTON: Wann?
DOKTOR: Gerade eben. Und vorher auch.
ANTON: Wie konnte ich Ihnen das sagen, wenn ich Sie zum ersten Mal sehe?
DOKTOR: Mich? Zum ersten Mal?
ANTON: Und außerdem verberge ich das vor allen. Ich kann dieses Geheimnis nur einem Arzt anvertrauen.
DOKTOR: Aber ich bin doch Arzt, beim Teufel auch!
ANTON: (Erfreut.) Tatsächlich? Endlich! Also, Doktor, ich leide an Gedächtnisverlust.
DOKTOR: (Gießt sich aus einer Karaffe Wasser ein, nimmt ein Tablette und schluckt sie.)
ANTON: (Glücklich.) Ist Ihnen schlecht?
DOKTOR: (Fasst sich ans Herz.) Ja.
ANTON: Sind Sie tatsächlich Doktor?
DOKTOR: Versteht sich.
ANTON: Und warum ist Ihnen dann schlecht? Schlecht geht es nur Kranken, und Doktoren geht es immer gut.
DOKTOR: Atmen Sie mich nicht so nahe an. Was wollen Sie von mir?
ANTON: Ich? Nichts. Sie kamen selbst hierher, ich hab` Sie nicht hergerufen
DOKTOR: Ich kam hierher? Sie haben mich nicht hergerufen? (Nimmt die zweite Tablette ein.)
ANTON: Mein Lieber, Sie sehen schlecht aus.
DOKTOR: (Finster.) Wie haben Sie das erraten?
ANTON: Interessant, wovon könnte das kommen?
DOKTOR: (Ironisch.) Wirklich, wovon?
ANTON: Sie sind sehr nervös. Sie müssen sich mehr um Ihre Gesundheit kümmern. Aber werden Sie nicht missmutig. Ich helfe Ihnen.
DOKTOR: Danke.
ANTON: Atmen Sie tiefer. Entspannen Sie sich. Gut so… Schlucken Sie diese Tablette. Ist Ihnen besser?
DOKTOR: (Finster.) Besser.
ANTON: Dann können Sie gehen. Auf mich warten andere Patienten. Falls es nicht besser wird, schauen Sie morgen zu mir herein. Rufen Sie den nächsten Kranken aus dem Wartezimmer herein.
DOKTOR: (Der völlig verstörte Doktor geht zum Ausgang, kommt aber zu sich, bleibt stehen. Mit unterdrücktem Zorn.) Ich rufe. Ich rufe die Sanitäter und die stecken Sie, wissen Sie, wohin?
ANTON: Wohin?
DOKTOR: (Schreit.) Ruhe! ICH bin Arzt, ICH bin Arzt, und nicht Sie! Merken Sie sich das, zum Teufel auch! (Beherrscht sich mit Mühe.) Entschuldigen Sie, ich bin verpflichtet, Sie zu behandeln und nicht anzuschreien. Setzen wir unser Gespräch fort. (Setzt sich an seinen Platz.)
Eine Frau tritt ein, ziemlich „pikant“ und gut gekleidet.
FRAU: Guten Morgen.
ANTON: (Freudig.) Bist du das?
FRAU: Wie du siehst, Liebster.
ANTON: Wie gut, dass du gekommen bist! (Beide umarmen und küssen sich.)
FRAU: Bring das Hemd in Ordnung und kämm dich! Wie fühlst du dich?
ANTON: Wunderbar.
DOKTOR: Gestatten Sie, wer sind Sie?
ANTON: Das ist meine Frau.
FRAU: (Reicht dem Doktor die Hand.) Ich heiße, wie Sie schon wissen, Marina. Marina Glöckner.
DOKTOR: Sehr angenehm.
FRAU: Als Sie mich anriefen, war ich ganz in der Nähe. Deshalb entschloss ich mich vorbeizuschauen.
DOKTOR: Und recht so.
FRAU: Habe ich Sie nicht gestört?
DOKTOR: Im Gegenteil, Sie können sehr helfen. Bei mir haben sich viele Fragen angesammelt, auf die ich eine verständliche Antwort erhalten möchte.
MARINA: (An Anton.) Lieber, warte ein bisschen auf mich im Wartezimmer, und dann werden wir zusammen nachhause fahren. (Begleitet ihn zum Ausgang und kehrt zurück.) Möchten Sie mir nicht anbieten, mich zu setzen?
DOKTOR: (Nimmt den Mundschutz ab.) Oh, entschuldigen Sie. Setzen Sie sich. Nicht hierher, das ist der Stuhl für die Patienten. Auf das Sofa, bitte. Eine Tasse Kaffee?
MARINA: Nein, danke. Wie schreitet die Behandlung meines Mannes voran?
DOKTOR: Nicht schnell, es gibt größere Schwierigkeiten.
MARINA: Ich bin überzeugt, dass so ein glänzender Arzt wie Sie, sie überwindet.
DOKTOR: (Geschmeichelt.) Woher wissen Sie, dass ich ein guter Arzt bin?
MARINA: Das wissen alle.
DOKTOR: (Geschmeichelt.) Also nun, alle…
MARINA: Ich bitte Sie. Sie sind doch so berühmt. Außerdem, wie sollte ich Sie nicht kennen, wenn Sie meinen Mann schon eineinhalb Jahre behandeln.
DOKTOR: Ich? Ihren Mann? Eineinhalb Jahre? Das ist unmöglich!
MARINA: Entschuldigen Sie, ich habe mich geirrt, nicht eineinhalb, sondern zwei.
DOKTOR: Sie scherzen! Ich habe Ihren Mann vorher nie gesehen.
MARINA: Ich verstehe. Ärztliche Schweigepflicht. Aber doch nicht vor der eigenen Frau. Es geht doch nicht um die „französische Krankheit“ {Geschlechtskrankheit.}, sondern um eine psychische Störung. Wenn Sie wüssten, wie ich darunter leide!
DOKTOR: Kann ich mir vorstellen. Eine so bezaubernde Frau wie Sie verdient etwas Besseres. Vielleicht doch ein Tässchen Kaffee?
MARINA: Wenn Sie darauf bestehen, dann lehne ich vielleicht doch nicht ab.
DOKTOR: (Reicht dem Gast Kaffee und Gebäck.) Hier, bitte.
MARINA: Ich danke Ihnen. Jetzt habe ich den Erfolg Ihres professionellen Erfolgs begriffen.
DOKTOR: (Bescheiden.) Der ist einfach: Wissen und Arbeit.
MARINA: Nicht ganz so. Ein Arzt sollte in erster Linie als Mann anziehend sein. Das wirkt besser als jede Medizin.
DOKTOR: Meinen Sie?
MARINA: Ich bin sicher! Mit Ihrem Charme können Sie erstaunliche Erfolge erzielen. (Verführerisch.) Wenigstens, was die Frauen betrifft.
DOKTOR: (Nicht ohne einen gewissen Stolz.) Wirklich, die Medizin erkennt an, dass die Persönlichkeit des Arztes eine gewisse therapeutische Bedeutung hat.
MARINA: Nicht gewisse, sondern entscheidende.
DOKTOR: Wissen Sie, als wir am Telefon sprachen… Ich will sagen, dass mir Ihre Stimme sehr angenehm erschien… Übrigens, ich sagte das schon … Und nun, als ich Sie sah…
MARINA: (Verführerisch.) Sind Sie enttäuscht?
DOKTOR: Im Gegenteil. Übrigens, warum haben Sie mir zuerst gesagt, dass Sie nicht verheiratet wären?
MARINA: Hätte ich Ihrer Meinung nach am Telefon jedem Unbekannten Einzelheiten aus meinem Privatleben erzählen sollen und außerdem noch den Namen meines Mannes?
DOKTOR: Sie haben Recht. Aber es tut mir sehr Leid.
MARINA: (Spielerisch.) Was tut Ihnen Leid?
DOKTOR: Wären Sie nicht verheiratet, dann würde ich Sie mit Vergnügen hofieren.
MARINA: (Streng.) Ich verstehe Sie irgendwie nicht.
DOKTOR: (Schüchtern.) Nein, ich… Ich meinte…
MARINA: (Fährt fort.) Ich verstehe Sie wirklich nicht. Hofiert man denn verheiratete Frauen nicht?
DOKTOR: Man hofiert, natürlich…
MARINA: Und wo ist dann das Problem?
DOKTOR: Verstehen Sie, es gibt bekannte Prinzipien…
MARINA: Prinzipien?
DOKTOR: Bei mir gibt es eine Regel: Vermisch nicht Arbeit und Privatleben. Deshalb, zum Beispiel, hofiere ich nie Patientinnen.
MARINA: Sehr löblich. Aber ich bin keine Patientin.
DOKTOR: Sie sind die Frau eines Patienten.
MARINA: Vergessen Sie das. Ich habe von diesen Regeln gehört: Keine Romanzen mit Arbeitskolleginnen beginnen, mit seinen Patientinnen und Studentinnen, mit den Frauen seiner Verwandten und so weiter. Wenn das alle einhalten, wer wird denn dann mit uns noch Romanzen beginnen? Merken Sie sich: Hofieren muss man immer und alle, Mitarbeiterinnen, Frauen seiner Freunde, und um so mehr, die Frauen seiner Feinde. Und, Sie werden es nicht glauben, manchmal auch seine eigene Frau.
DOKTOR: Das heißt, Ihrer Meinung nach, sind diese Prinzipien…
MARINA: Lassen Sie die Prinzipien. Sagen Sie lieber ehrlich, dass ich Ihnen nicht genug gefalle.
DOKTOR: Ich versichere Ihnen, Sie gefallen mir sehr.
MARINA: Wenn eine Frau wirklich gefällt, hofiert man sie und denkt an nichts anderes. Das ist das einzig richtige Prinzip.
DOKTOR: Aber mein Alter…
MARINA: Sie haben ein wunderbares Alter.
DOKTOR: Ich bin viel älter als Sie.
MARINA: Der Mann sollte auch älter sein.
DOKTOR: Werde ich in Ihren Augen nicht lächerlich sein?
MARINA: Lassen Sie diese Gedanken. Sie sind ein Mann in der Blüte seiner Jahre. Wir sehen fast wie Gleichaltrige aus.
DOKTOR: Das heißt, Sie werden bestimmt nicht beleidigt sein, wenn ich Ihnen vorschlage, abends irgendwo zu essen?
MARINA: Ich werde beleidigt sein, wenn Sie mich nicht einladen. Ehrlich gesagt, das hätten Sie viel früher machen sollen.
DOKTOR: Ich weiß, aber es ist schwer, sich schon beim ersten Treffen dazu zu entschließen.
MARINA: Und ab welchem Treffen muss ein Mann handeln, wenn nicht beim ersten? Das zweite kann ja auch nicht stattfinden.
DOKTOR: Aber so spontan, von „Null auf Hundert“…
MARINA: Was heißt hier von „Null auf Hundert“, Doktor? Schildkrötentempo. Und wenn schon „Hundert“, dann doch wie eine Schnecke! Wir sind schon zwei Jahre bekannt, und Sie haben erst heute beschlossen, sich für mich zu interessieren. Und das auch noch sehr undeutlich.
DOKTOR: Zwei Jahre? Sind Sie sicher? Haben wir uns denn früher getroffen?
MARINA: Jetzt erkenne ich Ihr wahres Verhältnis zu mir. Eine Frau, die gefällt, vergisst man nicht.
DOKTOR: Sie gefallen mir sehr, aber… (Verstummt. In seinem Gesicht spiegelt sich offene Verwirrung. Wirkt denn der gedächtniszerstörende Virus wirklich so schnell?)
MARINA: (Sieht sich im Zimmer um.) Und Ihr Kabinett sieht noch imposanter und beeindruckender aus. Gleich zu sehen, dass dies die Praxis eines erfolgreichen vorwärts strebenden Arztes ist.
DOKTOR: (Bestürzt.) Kamen Sie auch früher hier her?
MARINA: Natürlich, und nicht nur einmal. Erinnern Sie sich denn nicht? Diese kleine Bronzestatue, scheint mir, war vorher nicht da.
DOKTOR: Sind Sie sicher, dass Sie früher hier waren?
MARINA: Wie sollte ich denn nicht sicher sein, wenn ich selbst meinen Mann zu Ihnen gebracht habe. Erinnern Sie sich denn nicht?
DOKTOR: Ich? (Unsicher.) Weshalb denn, ich erinnere mich, natürlich. (Träufelt in ein Glas Tropfen aus einem Fläschchen, gießt Wasser dazu und trinkt aus, wobei er sich bemüht, es unbemerkt zu tun.)
MARINA: Übrigens, ich mache mir Sorgen um ihn. Entschuldigen Sie, ich muss kontrollieren, ob er nicht gegangen ist.
(Marina geht hinaus. Der Doktor fühlt seinen Puls. Marina kehrt zurück.)
DOKTOR: Ist er nicht gegangen?
MARINA: Nein. Also, Doktor, ich möchte von Ihnen eine Bescheinigung über den Zustand meines Mannes bekommen, zusammen mit der Krankengeschichte über alle diese Jahre. Ich bemühe mich um eine Invalidenrente für ihn, und das Zeugnis eines kompetenten Arztes kann dabei sehr helfen.
DOKTOR: Hm… Sehen Sie, ich habe mich noch nicht festgelegt, worin seine Krankheit besteht.
MARINA: Wie, zwei Jahre waren dazu nicht ausreichend? Einem so erfahrenen Arzt, wie Sie?
DOKTOR: „Zwei Jahre“? Sagen Sie, und Sie haben zufällig keine Probleme mit dem Gedächtnis?
MARINA: Ich? Natürlich nicht. Woher denn?
DOKTOR: Einige Formen der Sklerose können ansteckend sein.
MARINA: Ich habe ein großartiges Gedächtnis. Aber – ich werde Sie nicht stören. Geben Sie mir bitte seine Krankengeschichte, und ich werde Sie nicht weiter von der Arbeit ablenken.
DOKTOR: Ich… Ich muss sie zuerst vorbereiten.
MARINA: Was heißt da vorbereiten? Drucken Sie sie am PC aus, und fertig.
DOKTOR: Ich muss etwas prüfen… Mir scheint, mein PC ist nicht in Ordnung… Können sie denn nicht heute etwas später vorbeikommen?
MARINA: Mit Vergnügen. (Steht auf, begibt sich zum Ausgang, bleibt dann aber stehen.) Übrigens, ich habe immer noch nicht verstanden, haben Sie mich zum Abendessen eingeladen, oder nicht? Oder haben Sie das auch schon vergessen?
DOKTOR: Versteht sich, Sie sind eingeladen.
MARINA: Ich möchte nicht aufdringlich erscheinen, aber wenn ein Mann eine Frau einlädt, teilt er ihr gewöhnlich mit, wohin und wann er sie abholt, oder wo und wann sie sich treffen sollen. Ich muss mich vorbereiten. Ich gehe doch nicht zu einem Rendezvous mit Ihnen in so einem Aufzug, in diesen Lumpen…
DOKTOR: Mir passen diese Lumpen vollkommen.
MARINA: Nein, nein, ich muss mich umziehen. Also, ich schaue in eineinhalb Stunden herein, und wir reden über alles. Und gleichzeitig nehme ich die Krankengeschichte mit.
DOKTOR: Ausgezeichnet.
MARINA: Haben Sie die Unterredung mit meinem Mann schon beendet?
DOKTOR: Noch nicht.
MARINA: Dann lasse ich ihn Ihnen noch hier. (Mit einem vielversprechenden Lächeln.) Bis bald.
Marina geht hinaus. Der Doktor bleibt alleine. Sein Gesicht drückt eine Mischung von Freude und Verwirrung aus. Nachdem er eine Weile hin und hergegangen ist, setzt er sich an den PC und beginnt die Datei mit der Krankengeschichte zu suchen. Anton tritt ein.
ANTON: Doktor…
DOKTOR: (Leidend.) Sagen Sie mir bloß nicht, dass Sie an Gedächtnisverlust leiden.
ANTON: Ich leide auch nicht an Gedächtnisverlust. Woher haben Sie das denn?
DOKTOR: Also, was wollen Sie dann von mir?
ANTON: Meine Frau hat mir aufgetragen, im Wartezimmer zu warten, aber mir ist dort langweilig. Kann ich hier sitzen?
DOKTOR: Lieber im Wartezimmer.
ANTON: Lieber hier.
DOKTOR: Nun, gut. Unter einer Bedingung: Sie werden schweigen.
ANTON: Ich werde kein Wort sagen.
DOKTOR: Vergessen Sie dieses Versprechen nicht.
ANTON: Ich vergesse nie etwas.
DOKTOR: (Aufatmend.) Na, wunderbar.
Anton setzt sich bescheiden in eine Ecke. Der Doktor sucht im PC die Krankengeschichte, offenbar erfolglos. Er wendet sich zur Absicherung an Anton.
DOKTOR: Erinnern Sie sich nicht zufällig, ob ich eine Krankengeschichte über Sie angelegt habe?
ANTON: Das haben Sie.
DOKTOR: Wann? Heute Morgen?
ANTON: Nein, schon lange. Vor einem oder zwei Jahren.
DOKTOR: Und Sie erinnern sich daran?
ANTON: Natürlich erinnere ich mich.
DOKTOR: Warum kann ich sie dann nicht im PC finden?
ANTON: Ich weiß nicht. Soll ich Ihnen helfen?
DOKTOR: Nein, danke. (Beginnt wieder im PC zu suchen.)
Eine Frau in einem tadellosen englischen Kostüm tritt ein. Ihre Bewegungen sind selbstsicher, die Sprache klar und deutlich, die Manieren entschieden.
FRAU: Guten Morgen.
ANTON: (Erfreut.) Du bist das?
FRAU: Wie du siehst, Lieber.
ANTON: Und ich langweile mich hier ohne dich. Wie gut, dass du gekommen bist. (Beide umarmen und küssen sich.)
FRAU: Bring das Hemd in Ordnung und kämm dich! Wie fühlst du dich?
ANTON: Ausgezeichnet.
DOKTOR: Gestatten Sie, wer sind Sie?
ANTON: Das ist meine Frau.
FRAU: (Reicht dem Doktor die Hand.) Ich heiße, wie Sie schon wissen Johanna Glöckner.
DOKTOR: (Verblüfft.) Sehr angenehm.
FRAU: Habe ich Sie nicht gestört?
DOKTOR: Nein, in keiner Weise. Entschuldigen Sie. Setzen Sie sich. (Nimmt Anton zur Seite.) Wer ist diese Frau?
ANTON: Das hab ich doch gesagt, meine Frau.
DOKTOR: Aber Sie haben doch vor kurzem an diesem selben Ort eine andere Frau umarmt und sie auch Ihre Frau genannt!
ANTON: Doktor, Sie haben Halluzinationen. Behandeln Sie sich! Hier war keine Frau.
DOKTOR: Vollkommen durcheinander, nimmt die nächste Dosis Medizin ein. Nachdem er die Gedanken geordnet hat, wendet er sich an Johanna.
DOKTOR: Ich hoffe, Sie sind nicht beleidigt, wenn ich Sie bitte irgendeines Ihrer Dokumente vorzuweisen.
FRAU: Seltsame Bitte. Aber, bitte. Hier ist mein Führerschein. (Reicht ihm das Dokument.) Johanna Glöckner. Zu Ihren Diensten.
DOKTOR: (Sieht sich den Führerschein aufmerksam an und gibt ihn zurück. Verständnislos.) Alles in Ordnung.
JOHANNA: Und Sie haben daran gezweifelt? Ich bitte nicht um Ihre Dokumente, weil ich weiß, wer Sie sind. Es würde natürlich nicht schaden, Ihre Lizenz zu prüfen, aber das ist Sache der Staatsanwaltschaft, und ich bin Anwalt. Hier, übrigens, meine Visitenkarte.
DOKTOR: Was verdanke ich Ihre Visite?
JOHANNA: Mich beunruhigt die Gesundheit meines Mannes.
DOKTOR: Mich auch. Aber ich würde bevorzugen, mit ihnen darüber unter vier Augen zu reden.
JOHANNA: (An den Mann gerichtet.) Lieber, warte ein bisschen auf mich im Wartezimmer, und danach fahren wir zusammen nachhause.
Anton geht gehorsam hinaus.
DOKTOR: Sagen Sie, wissen Sie, dass Ihr… äh… Mann krank ist?
JOHANNA: Wie könnte ich das nicht wissen!
DOKTOR: Und Sie wissen, an was er leidet?
JOHANNA: Er leidet an Gedächtnisverlust.
DOKTOR: Seit wann?
JOHANNA: (Verwundert.) Was heißt „seit wann“?
DOKTOR: Seit wann ist er krank?
JOHANNA: (Verwundert.) Wissen Sie das denn nicht?
DOKTOR: Weshalb sollte ich das wissen?
JOHANNA: Aber Sie behandeln ihn doch schon zwei Jahre, wenn nicht länger!
DOKTOR: Ich? Zwei Jahre??
JOHANNA: Doktor, was ist mit Ihrem Gedächtnis? Wie können Sie einen Kranken behandeln, wenn Sie sich selbst an nichts erinnern?
DOKTOR: Nun gut, mögen es zwei Jahre sein. Erzählen Sie von der Krankheit Ihres Mannes genauer. Haben Sie es schwer mit ihm?
JOHANNA: Welche Frau hat es leicht mit ihrem Mann?
DOKTOR: Vertiefen wir uns nicht in persönliche Probleme, reden wir über die medizinischen. Wie genau drückt sich seine Krankheit aus?
JOHANNA: Er erinnert sich an sehr komplizierte und lange zurückliegende Dinge und vergisst die einfachsten. Er kann sich, zum Beispiel, Kaffe eingießen und vergessen, ihn auszutrinken. Oder zweimal ein und dasselbe Medikament einnehmen.
DOKTOR: Das passiert mir auch.
JOHANNA: Hab´ ich mir schon gedacht.
DOKTOR: Wie halten Sie denn das alles aus?
JOHANNA: Ich bin ein Mensch der Pflicht. Ich mache nicht das, was mir gefällt, sondern das, was ich tun muss. Ich esse nicht das, was mir schmeckt, sondern das, was weniger Kalorien enthält. Ich treffe mich nicht mit denen, die mir sympathisch, sondern mit denen, die mir nützlich sind. Ich lebe nicht mit dem Mann, mit dem ich wollte, sondern mit dem, der mir zufiel. Sich zu beklagen und zu jammern ist zwecklos. Man muss arbeiten, den Gürtel enger schnallen und sein Kreuz tragen.
DOKTOR: Ich bewundere Sie.
JOHANNA: Danke. Aber letztendlich ist mein ehemaliger Mann auch kein so schlechter Mensch. Es gibt schlechtere. Ich wiederhole mir das hundertmal am Tag. Es gibt schlechtere. Es gibt schlechtere. Jede Frau sollte das wiederholen. Es gibt schlechtere.
DOKTOR: Warum haben Sie gesagt „ehemaliger Mann“? Haben Sie sich denn geschieden?
JOHANNA: In keiner Weise. Wir sind immer noch verheiratet. Aber was ist das für ein Ehemann, der das vergisst, was ein Mann und Ehemann nicht vergessen sollte. Sie verstehen mich?
DOKTOR: Hm… Und was machen Sie in solchen Fällen? Erinnern Sie ihn daran?
JOHANNA: Wenn man den Mann an solche Dinge erinnern muss, dann hilft da auch nichts mehr.
DOKTOR: Sie haben Recht.
JOHANNA: Wissen Sie, zu welchem Schluss mich meine juristische Praxis gebracht hat? Je mehr vergessliche Männer es gibt, desto mehr leidende Frauen gibt es.
DOKTOR: Zum gleichen Schluss kommt auch die ärztliche Praxis. Allerdings, sagen Sie, kam Ihnen nie in den Sinn, dass man seine Vergesslichkeit in diesen Dingen damit begründen kann, dass…
JOHANNA: …dass er eine andere Frau hat?
DOKTOR: Das haben Sie gesagt und nicht ich.
JOHANNA: Bringen Sie mich nicht zum Lachen. Das ist ausgeschlossen.
DOKTOR: Ja? Und wie würden Sie sich zu so einer Vermutung verhalten, dass nicht lange vor Ihnen mit ihm eine… Wie soll ich Ihnen das sagen… Versteht sich, das ist nur eine Vermutung…
JOHANNA: Verschleiern Sie die Sache nicht, Doktor. Spielen Sie mit offenen Karten. Ich habe keine schwachen Nerven.
DOKTOR: Sie dürfen ihn nicht verurteilen. Meiner Meinung nach erinnert er sich einfach nicht, wer seine Frau ist.
JOHANNA: Er erinnert sich ausgezeichnet. (Sie ruft den Mann, der hereinkommt.) Lieber, sag diesem Menschen, wie ich heiße.
ANTON: Weiß er das denn nicht?
JOHANNA: Er wusste es, hat es aber vergessen. (Ironisch.) Dieser Mensch leidet an Gedächtnisverlust.
ANTON: (Zum Doktor.) Sie tun mir aufrichtig Leid.
DOKTOR: Ich tu´ mir selbst Leid.
ANTON: Warum gehen Sie sich nicht in Behandlung? Ich kann Ihnen einen guten Arzt empfehlen. Hier ist seine Visitenkarte.
DOKTOR: (Sieht sich die Karte an.) Ich danke Ihnen, das ist meine Karte. Sagen Sie lieber, wie diese Dame heißt?
ANTON: Sie stellen seltsame Fragen. Denken sie, ich weiß nicht, wie meine eigene Frau heißt? Die Frau, mit der ich die Schule besuchte?
DOKTOR: Also, wie heißt sie, zum Teufel auch?
ANTON: Johanna. Und nun?
JOHANNA: Nichts, Lieber. Du kannst solange ins Wartezimmer zurückgehen. Geh aber nicht weg. (Anton geht hinaus.)
DOKTOR: Seltsam. Wenn das nicht seine Frau war, wer war sie denn dann?
JOHANNA: Wer?
DOKTOR: Die Frau, die vor Ihnen hier war.
JOHANNA: Wenn sie denn hier war, dann weiß ich wer sie ist.
DOKTOR: (Interessiert.) Ach was? Wer denn?
JOHANNA: Eine Hure und Abenteurerin.
DOKTOR: Sie sollten nicht so scharf sein. Mir erschien sie völlig anziehend.
JOHANNA: Leider sind Huren und Abentreurerinnen immer anziehend. Im Unterschied zu uns ordentlichen Frauen.
DOKTOR: Das stimmt. Sie kennen sie also, oder nicht?
JOHANNA: Natürlich kenne ich sie nicht und kann sie nicht kennen. Mit solchen Personen verkehre ich nicht. Außerdem war hier tatsächlich keine Frau, und das ist Ihnen ausgezeichnet bekannt.
DOKTOR: Die Frau war hier.
JOHANNA: War nicht.
DOKTOR: War. (Wischt sich die Stirn ab.) Aber vielleicht war sie wirklich nicht da?
JOHANNA: Entschuldigen Sie, ich will kontrollieren, ob mein Mann an seinem Platz ist. (Geht hinaus und kehrt zurück.)
DOKTOR: Am Platz?
JOHANNA: Ja. Wissen Sie, auf ihn muss man ein Auge haben. Lassen Sie uns das Gespräch über Frauen beenden und zur Sache kommen, und zwar zum Gesundheitszustand meines Mannes. Ich bin nicht hergekommen, um fantastische Erzählungen zu hören, sondern um eine Bescheinigung über seine Krankheit zu bekommen.
DOKTOR: Um eine Bescheinigung auszustellen, muss ich zuerst sein Leiden untersuchen. Deshalb will ich auch fragen, seit wann…
JOHANNA: (Unterbricht ihn.) Erstens, hab ich Ihnen schon zwanzigmal davon erzählt.
DOKTOR: Wann?
JOHANNA: (Hört nicht auf ihn.) Zweitens stellen Sie keine unnötigen Fragen und sehen Sie in seine Krankengeschichte. Sie ist in Ihrem PC. Dort steht alles.
DOKTOR: Ich habe keinerlei Krankengeschichte von ihm!
JOHANNA: Wie soll das verstehen? Sind Sie denn dermaßen nachlässig, dass Sie sie nicht führen? Sie wissen doch bestens, dass diese Nachlässigkeit an ein dienstliches Vergehen grenzt!
DOKTOR: Sie vergessen sich!
JOHANNA: (Hart.) Keinesfalls. Ich leide noch nicht unter Gedächtnisverlust. Und ich will Sie daran erinnern, dass die Krankengeschichte nicht nur ein medizinisches, sondern auch ein juristisches Dokument ist. Im Fall einer gerichtlichen Klage gegen Sie, seitens des Kranken, kann sie die Richtigkeit oder Nichtrichtigkeit Ihrer verordneten Behandlung beweisen. Ich denke, dass Sie sie entweder nicht anlegten oder vorsätzlich löschten, um vor den Finanzbehörden die Zahlungen zu verbergen, die Sie von uns erhielten.
DOKTOR: Ich habe keinerlei Zahlungen erhalten!
JOHANNA: Regen Sie sich nicht auf, wir werden sie nicht zurückfordern. Das Einzige, das ich will, ist die Bescheinigung über den schweren Zustand meines Mannes und seine Krankengeschichte.
DOKTOR: (Er ist völlig verwirrt.) Die Bescheinigung kann ich Ihnen wohl geben, aber…
JOHANNA: (Unbeirrt.) Und die Krankengeschichte auch.
DOKTOR: Woher nehme ich die?
JOHANNA: Aus dem PC. Aus dem Schreibtisch. Woher Sie wollen. Finden Sie sie, stellen Sie sie wieder her – mich interessiert das nicht.
Der Doktor ist völlig verstört und weiß nicht, was er tun soll. Er nimmt das Fläschchen, sieht, dass die Tropfen aus sind, und geht hinter einen Wandschirm, wo er Medikamente aufbewahrt. Johanna ruft ihm zu.
JOHANNA: Und dass die Krankengeschichte in einer Stunde fertig ist! In genau sechzig Minuten komme ich sie holen!
Geht in Richtung Ausgang, und trifft in der Türe mit einem neuen Besucher zusammen. Das ist ein äußerst solider Mann, in einem klassischen, gut geschnittenen Anzug. Beide werfen sich einen aufmerksamen Blick zu. Johanna geht. Der Mann tritt ein. Er besieht sich vorsichtig den Raum und bemerkt nicht gleich den Doktor, der hinter dem Wandschirm hervorkommt. Als er ihn sieht, zuckt der Mann zusammen.
DOKTOR: (Hat sich wieder gefasst.) Mit was kann ich dienen?
MANN: Ich… Ich… Ich…
DOKTOR: Wer sind Sie?
MANN: Ich… Ich… Ich…
DOKTOR: Ja, Sie, Sie, Sie! Nicht ich, Teufel auch!
MANN: Ich… Ich denke nicht, dass mein Name für Sie irgendeine Bedeutung hat.
DOKTOR: Warum nennen Sie ihn dann nicht?
MANN: Wirklich, warum?
DOKTOR: Genau das sage ich auch: Warum?
MANN: Also, schauen Sie, wir sagen beide „warum“?
DOKTOR: Und warum nennen Sie ihn denn dann nicht?
MANN: Weil darin kein Bedarf besteht.
DOKTOR: Hören Sie auf, auszuweichen und sagen Sie es direkt: An was leiden Sie?
MANN: Kann ich mit Ihnen von Mann zu Mann reden?
DOKTOR: Selbst wenn wir es noch so wollten, wir können nicht von Frau zu Frau reden.
MANN: Sie haben Recht.
DOKTOR: Nun, packen Sie schon aus, zieren Sie sich nicht, was haben Sie?
MANN: Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll…
DOKTOR: Nur Mut, da gibt´s doch nichts zu schämen. Mit solchen Problemen, wie Sie, hat fast jeder Mann zu tun.
MANN: Woher kennen Sie meine Probleme?
DOKTOR: Ich kann sie mir denken.
MANN: Sie können sie nicht kennen. Sache ist die, dass… Wie soll ich sagen…
DOKTOR: Nun aber, werden Sie nicht rot. Sie sind beim Arzt. Und hier werden Geheimnisse gehütet.
MANN: (Schwankt.) Nun, gut. Ehrlich gesagt, ich hatte zuerst geplant, mich krank zu stellen. Aber jetzt denke ich, warum nicht alles so sagen, wie es ist?
DOKTOR: Sie sind also nicht krank?
MANN: Nein.
DOKTOR: Was machen Sie denn dann hier?
MANN: Ich suche eine Frau.
DOKTOR: Soll ich Ihnen ein Geheimnis verraten? Ich bin keine Frau.
MANN: Mir ist nicht nach Späßen zumute. Die Sache ist sehr ernst.
DOKTOR: Wer ist sie für Sie? Ehefrau, nicht wahr?
MANN: (Nach einigem Schwanken.) Ja.
DOKTOR: Und was habe ich damit zu tun?
MANN: Ich weiß, dass sie gerade erst hier war.
DOKTOR: Ich veröffentliche keine Informationen über meine Patienten.
MANN: Diesmal müssen Sie eine Ausnahme machen.
DOKTOR: Interessant. Und warum?
MANN: Weil ich sie bis zum Gedächtnisverlust liebe.
DOKTOR: Ihre Frau?!
MANN: Ja. Na und?
DOKTOR: Nichts. Sehr rührend.
MANN: Also, wo ist sie?
DOKTOR: Ihre Frau war nicht hier.
MANN: Sie war, und ich weiß das genau.
DOKTOR: Wie ist ihr Familienname?
MANN: Glöckner.
DOKTOR: (Betroffen.) Glöckner? Sind Sie sicher?
MANN: Sicher.
DOKTOR: Nicht Klingler?
MANN: Nein.
DOKTOR: Nicht Scheller? Und nicht Läuter?
MANN: Aber nicht doch!
DOKTOR: So-so… (Geht aufgeregt im Zimmer hin und her.) Das heißt, Ihre Frau heißt… Wie nochmal?
MANN: Glöckner.
DOKTOR: Großartig. Als Sie hereinkamen, scheint mir, haben Sie jemanden getroffen. Erinnern Sie sich?
MANN: Meinen Sie jene Frau, in dem taillierten englischen Kostüm, mit dunklen Augen, einem Muttermal auf der linken Wange, mit einem lilafarbenen Chiffonschal um den Hals und einem schwarzen Koffer in der Hand?
DOKTOR: Genau die. Was sagen Sie zu ihr?
MANN: Nichts. Ich hab ihr keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt.
DOKTOR: So-so… Keine Aufmerksamkeit geschenkt. Keinerlei. (Platzt aus sich heraus.) Hauen Sie von hier ab, und zwar sofort! Und lassen Sie sich hier nie mehr blicken!
MANN: Doktor, ich verstehe Sie nicht. Warum…
DOKTOR: (Unterbricht ihn.) Weil Sie gerade eben mit der Nase auf Madame Glöckner gestoßen sind. Angenommen, Sie haben ihr keine Aufmerksamkeit geschenkt. Aber sie ging ja auch völlig ruhig vorbei!
MANN: Aber ich habe keine Ahnung, wer sie ist. Ich habe sie nie vorher gesehen!
DOKTOR: Das heißt, sie – ist nicht Ihre Frau?
MANN: Natürlich nicht! Außerdem bin ich seit langem geschieden. Schon zwei Jahre.
DOKTOR: Wie „geschieden“? Sie lieben doch Ihre Frau bis zum Gedächtnisverlust!
MANN: Ja-ja, natürlich… Danach habe ich wieder geheiratet.
DOKTOR: Sie haben wieder geheiratet? Sehr gut. Und Ihre Frau heißt, wie sagen Sie…
MANN: Glöckner, Marina Glöckner.
DOKTOR: Wie sagten Sie? Marina?
MANN: Ja, Marina.
DOKTOR: Aber sie ist doch verheiratet! Mit Anton!
MANN: (Betroffen.) Mit welchem Anton?
DOKTOR: Mit ihrem Mann.
MANN: Das kann nicht sein! Sie ist nicht verheiratet! Ich will sagen, sie ist mit mir verheiratet.
DOKTOR: (Nachdenklich.) Nun denn, vielleicht erklärt das einiges… Also, was wollen Sie nun von mir?
MANN: Ich weiß, sie war hier. Vielleicht kommt sie nochmal her. Helfen Sie mir, sie zu treffen.
DOKTOR: Ich befasse mich nicht mit der Suche fremder Ehefrauen. Und ich bin mir nicht sicher, dass Marina Ihre Frau ist. Und ich bin mir nicht sicher, dass sie Marina heißt. Und ich bin mir nicht sicher, dass sie hierher kommt. Und noch weniger sicher bin ich mir, dass sie überhaupt existiert.
MANN: Sie existiert!
DOKTOR: Dann gehen Sie nachhause und warten Sie dort auf sie. (Schiebt ihn zum Ausgang.)
MANN: (Wehrt sich.) Doktor, ich flehe Sie an…
DOKTOR: Ich kann mit nichts helfen. Auf Wiedersehen. Nicht hier – das ist der Ausgang nur für Patienten. Hierher, bitte.
Er begleitet den Mann zur anderen Tür hinaus und bleibt dann alleine neben dem Tisch mit dem Beruhigungsmittel. In seinem Gesicht ist völliges Unverständnis zu lesen.
Zweiter Akt
Der Doktor ist in seinem Kabinett. Marina tritt ein, gekleidet in ein sehr schickes Kleid.
MARINA: (Fröhlich.) Guten Tag, Doktor! Hier bin ich wieder!
DOKTOR: (Äußerst kühl.) Wer sind Sie, eigentlich?
MARINA: (Verwundert, aber nicht ohne Charme.) Mein Gott, Was geht in Ihrem Kopf vor? Mich innerhalb einer halben Stunde zu vergessen? Ausreichend, mein Kleid zu wechseln, und Sie erkennen mich schon nicht mehr!
DOKTOR: Ich erkenne Sie hervorragend. Und genau deshalb würde ich gerne wisse, wer Sie sind. Weisen Sie ein Dokument vor.
MARINA: Weshalb?
DOKTOR: Deshalb, weil Sie nicht einmal Zeit dazu fanden, sich vorzustellen.
MARINA: Ich heiße Marina, das wissen Sie doch.
DOKTOR: Woher weiß ich, dass Sie tatsächlich Marina heißen? Übrigens, falls tatsächlich Marina, dann bedeutet das noch gar nichts. Einen Ausweis, bitte.
MARINA: Ich trage keine Dokumente bei mir.
DOKTOR: Und ich wiederhole noch einmal – Ausweis.
Marina öffnet ihre Handtasche und kramt darin, aber anstelle eines Ausweises bringt sie ein Taschentuch hervor, beginnt zu schluchzen und sich die Tränen abzuwischen..
DOKTOR: (Besorgt.) Was ist mit Ihnen?
(Marina antwortet nicht. Der Doktor gießt ihr aus der Karaffe Wasser ein und reicht es ihr.)
MARINA: (Weist das Wasser zurück.) Lassen Sie mich!
DOKTOR: Was ist los? Sind Sie mit mir beleidigt?
MARINA: Was denken Sie denn?
DOKTOR: Weshalb?
MARINA: (Unter Tränen.) Und Sie fragen noch, weshalb? Sie haben auf mich einen sehr guten Eindruck gemacht, mehr noch – Sie gefielen mir. Mir schien, dass auch Sie mir zugetan waren… ich kam zu Ihnen mit offenem Herzen, und was erlebe ich in Wirklichkeit? Kälte, Misstrauen, erniedrigende Fragen… (Schluchzt.)
DOKTOR: Beruhigen Sie sich…
MARINA: Lassen Sie mich gehen.
DOKTOR: Sie kennen nicht alle Umstände. Sache ist die, es kam ohne Sie… Unwichtig.
MARINA: Wer kam? Eine andere Frau? (Der Doktor schweigt.) Und nannte sich auch seine Frau?
DOKTOR: Ja.
MARINA: Na, und? Haben Sie denn das geglaubt? Kommen denn zu Ihnen wenige Verrückte?
DOKTOR: Das Problem ist doch das, dass auch Anton sie seine Frau genannt hat.
MARINA: Und Sie wissen nicht, dass er kein Gedächtnis hat? Und kam sie tatsächlich hierher?
DOKTOR: Sie kam, natürlich.
MARINA: (Geht zur Tür und ruft den Mann.) Lieber, komm hierher. (Tritt ein.) Sag, kam während meiner Abwesenheit irgendeine Frau hierher?
ANTON: (Arglos.) Ich hab´ niemanden gesehen.
MARINA: Und hat sie sich deine Frau genannt?
ANTON: Wie kann sie sich so nennen, wenn sie doch gar nicht hier war?
MARINA: Und du – hast du sie nicht deine Frau genannt?
ANTON: Du bist die Einzige für mich auf der Welt und du weißt das sehr gut. (Küsst sie.)
MARINA: Danke, Lieber. (An den Doktor gewandt.) Nun, glauben Sie jetzt?
DOKTOR: Ich weiß nicht, was ich denken soll… Übrigens, es gibt noch einen Umstand… Außer der Frau kam auch ein Mann hierher…
MARINA: Na, und?
DOKTOR: Er behauptete, dass er… Dass er Ihr Mann ist.
MARINA: Mein Mann? (Lacht schallend.) Mein Gott, wie schwer ist es, Psychiater zu sein! Wer kommt nicht alles zu Ihnen! (Lacht immer noch.)
DOKTOR: Was ist hier so lächerlich?
MARINA: Und dieser Mann hat nicht behauptet, dass er Napoleon ist?
DOKTOR: Nein. Er behauptete nur, dass er Ihr Man ist. Warum haben Sie das vor mir verborgen?
MARINA: Aber hier ist doch mein Mann, vor Ihnen! Brauchen Sie noch Beweise? Bitte. (An den Mann gerichtet.) Mein Lieber, zieh das Hemd aus und zeig dem Doktor dein Muttermal unter dem linken Schulterblatt. (Zieht folgsam sein Hemd aus. Der Doktor besieht sich das Muttermal. Marina wendet sich an den Doktor.) Haben Sie sich überzeugt?
DOKTOR: Ja.
ANTON: Doktor, ist dieses Muttermal nicht gefährlich?
DOKTOR: Nein.
ANTON: (Hartnäckig.) Trotzdem, ich möchte Sie bitten, es zu entfernen. Ich fürchte, dass es sich in ein Krebsgeschwür verwandelt.
DOKTOR: Ich versichere Ihnen, es ist harmlos. Und, außerdem bin ich kein Chirurg.
ANTON: Wir könnten das gleich jetzt machen. (Zieht wieder das Hemd aus.)
DOKTOR: (Leidend.) Ich hab´ doch gesagt, ich bin kein Chirurg.
ANTON: Und was sind Sie, Urologe? Das trifft sich sehr gut. Gerade auf diesem Gebiet habe ich große Probleme. Wenn ich versuche zu…
MARINA: (Unterbricht ihn.) Stör den Doktor nicht, Lieber. Zieh das Hemd an. (Er zieht sich folgsam an.) Und jetzt zieh die Hosen aus und zeig dem Doktor… (Er macht sich am Gürtel zu schaffen.)
DOKTOR: Das muss nicht sein, ich glaube Ihnen.
MARINA: Ich wollte Ihnen nur noch ein Muttermal zeigen, auf dem…
DOKTOR: Ich verstehe. Das muss nicht sein.
ANTON: Also, Hosen ausziehen, oder nicht?
DOKTOR: Das braucht es nicht.
ANTON: Ich zieh´ sie trotzdem aus. Wenn Sie schon Urologe sind, dann will ich Ihnen auch gleich zeigen…
MARINA: (Unterbricht ihn.) Danke, Lieber, das muss nicht sein. Wart bitte im Wartezimmer auf mich. Aber geh nicht weg. (Eindringlich.) Hast du verstanden? Geh nirgendwo hin. Wir fahren bald zusammen nachhause. (Anton geht hinaus.)
DOKTOR: Entschuldigen Sie, dass ich mir erlaubt habe, an Ihnen zu zweifeln. Ich bekenne, dass mich jener Mann durcheinander gebracht hat.
MARINA: Und Sie sind sicher, dass er überhaupt hierher kam?
DOKTOR: Was heißt “sicher”? Natürlich kam er! (Erinnert sich an sein Leiden.) Obwohl… Denken Sie, dass er nicht kam?
MARINA: Das hat keine Bedeutung.
DOKTOR: Nein, mir scheint, er kam. Nun, gut. Angenommen, dass er, Ihren Worten nach, ein Verrückter ist. Aber jene Frau zeigte mir ihre Dokumente, und Sie, entschuldigen Sie, kenne ich nicht einmal dem Namen nach.
MARINA: Wie können Sie das nicht wissen? Nicht länger, als heute Morgen, haben Sie mir selbst zweimal angerufen und mich Marina genannt.
DOKTOR: (In die Enge getrieben.) Ach, ja, richtig… Das hab´ ich vergessen… Aber, verstehen Sie, ich bin nicht sicher…
MARINA: (Marina öffnet ihre Handtasche, steckt das Taschentuch hinein, nimmt die Puderdose heraus und bringt sich in Ordnung. Als sie die Puderdose zurück legt, ruft sie freudig aus.) Oh! Es scheint, ich hab` ein Dokument dabei. Und sogar mit Foto. Das ist mein Führerschein. Hier, bitte, schauen Sie.
DOKTOR: Das muss nicht sein, ich glaube Ihnen.
MARINA: Jetzt glauben Sie, nach fünf Minuten hören Sie wieder auf, zu glauben. Wie alle Männer. Schauen Sie trotzdem. (Der Doktor nimmt unwillig das Dokument in die Hand.) Was steht da?
DOKTOR: „Marina Glöckner“.
MARINA: Ist der Stempel in Ordnung?
DOKTOR: In Ordnung. (Er gibt ihr das Dokument zurück. Sie steckt es in die Handtasche und zieht Fotos hervor.)
MARINA: Mein Mann hat Ihnen erzählt, dass wir in derselben Schule gelernt haben?
DOKTOR: Welcher Mann? Anton? Er hat.
MARINA: Hier, schauen Sie, wie wir als Kinder waren. Lustig, nicht wahr?
DOKTOR: Sie haben sich fast nicht verändert.
MARINA: Danke. Und hier sind wir beide schon erwachsen.
DOKTOR: Das war wahrscheinlich kurz vor der Hochzeit?
MARINA: Ja.
DOKTOR: Wie schön Sie sind!
MARINA: (Verführerisch.) Wollen Sie sagen, dass ich jetzt nicht mehr so bin?
DOKTOR: Jetzt sind Sie noch besser.
MARINA: Danke. (Steckt die Fotos weg.) Ich sehe, Sie sind ein Frauenheld. Ich weiß nicht, ob eine Frau hierher kam, aber von was ich überzeugt bin ist, dass Sie auch sie zum Abendessen eigeladen haben.
DOKTOR: Ich schwöre Ihnen, ich habe niemanden eingeladen! Und überhaupt kam niemand hierher! (Verwirrt.) Oder kam doch? Verdammtes Gedächtnis… Es scheint, ich sollte die Praxis aufgeben. (Gießt sich die nächste Portion Tropfen ein.)
MARINA: (Nimmt ihm das Fläschchen weg.) Hören Sie auf, Tropfen zu nehmen. Sind Sie Arzt, oder kein Arzt?
DOKTOR: (Stöhnt.) Ich bin Arzt. (Verwirrt.) Oder kein Arzt? (Fasst sich.) Was rede ich da für Unsinn! Natürlich Arzt.
MARINA: Und wenn Sie Arzt sind, dann bringen Ihnen die Patienten auch Cognac. Bringen sie, oder bringen sie nicht?
DOKTOR: (Unsicher.) Natürlich bringen sie.
MARINA: Also, dann trinken Sie einen Doppelten. Das hilft sofort.
DOKTOR: Das prüfen wir sofort. (Öffnet die Bar.) So viel Cognac. (Erfreut.) Das heißt, ich bin Arzt. (Ergreift eine Flasche.) Schließen Sie sich an?
MARINA: Ich habe Ihnen noch nicht verziehen.
DOKTOR: Ach, lassen Sie doch. Trinken wir. (Gießt mit zitternden Händen Cognac in zwei Schwenker ein.)
MARINA: (Beobachtet ihn mitleidig.) Mein Lieber, schauen Sie sich im Spiegel an: Verwirrter Blick, zitternde Hände. Was geht mit Ihnen vor?
DOKTOR: Ich gebe zu, dass ich heute nicht ganz in Form bin. Müdigkeit, Gedächtnisverlust, verwirrte Gedanken, Schwindelgefühle… Ich fürchte, das alles nennt sich mit einem Begriff – Alter.
MARINA: Dummes Zeug. Sie brauchen bloß eine warme, fürsorgliche, weibliche Hand, das ist alles. Haben Sie eine Frau?
DOKTOR: Frau? Lassen Sie mich nachdenken… (Grübelt.) Ich bin jetzt in so einem Zustand, dass ich mich sogar daran nicht mehr erinnere. (Erinnert sich.) Was rede ich denn da? Natürlich erinnere ich mich. Ich bin Witwer, schon viele Jahre. Die Kinder sind erwachsen, leben einzeln, ich habe sie schon lange vergessen. Übrigens, um die Wahrheit zu sagen, haben sie mich vergessen. Ich bin völlig einsam… Ich verstehe nicht, was mit meinem Gedächtnis passiert ist? Das kam so unerwartet…
MARINA: Leiden Sie bloß nicht darunter.
DOKTOR: Ich leide auch nicht. Wenn Sie in der Nähe sind. Wissen Sie, ich beneide sogar Ihren Mann. Ich würde auch mit Freuden alles zum Teufel vergessen: Einsamkeit, ermüdende Arbeit, Steuerinspektoren, neidische Kollegen, streitende Nachbarn, beharrliche Patienten mit ihren dauernden Beschwerden und Krankheiten, und gleichzeitig meine eigenen. An nichts denken, sich an nichts erinnern, neben einer schönen Frau sitzen mit einem Cognac, vergessen, dass du alt für sie bist, oder bald alt wirst, alles vergessen und nur die momentane Minute genießen…
MARINA: Also dann lassen Sie uns doch für den Augenblick leben. Buße, Bedauern, Nachdenken, die kommen danach, aber jetzt lassen Sie uns des Lebens freuen. (Hebt ihr Glas.) Auf unsere Gesundheit und unsere Erfolge! Auf das Glück!
DOKTOR: Danke. Mir ist so leicht mit Ihnen. Von Ihnen geht irgendein Licht aus. Sie sind wahrscheinlich sehr glücklich.
MARINA: Denken Sie nicht, dass ich es leicht habe. Ich weiß, was Einsamkeit ist.
DOKTOR: Sie haben Anton.
MARINA: Apropos, ich muss kontrollieren, ob er nicht gegangen ist. (Geht und kehrt schnell wieder zurück. Der Doktor besieht sich derweilen kritisch im Spiegel.)
DOKTOR: Alles in Ordnung?
MARINA: Ja. Es erscheint Ihnen wahrscheinlich seltsam, dass ich mich um ihn sorge, aber ich liebe ihn sehr. So sehr, dass ich bereit bin, ihm zuliebe große Dummheiten zu machen. (Kurzes Schweigen.) Aber das befreit mich nicht von Einsamkeit.
DOKTOR: Ich verstehe. (Nimmt sie an der Hand.)
MARINA: (Ohne die Hand zurückzuziehen.) Es ist Zeit für mich, zu gehen.
DOKTOR: Beeilen Sie sich nicht.
MARINA: Ich muss Anton heim bringen. (Will gehen.)
DOKTOR: (Hält sie fest.) Dann treffen wir uns heute?
MARINA: Wenn Sie es sich nicht anders überlegen oder vergessen.
DOKTOR: (Ereifert sich.) Ich – anders überlegen? Vergessen? Ja, ich… (Erinnert sich plötzlich wieder an die über ihn gekommene, seltsame Vergesslichkeit und unterbricht sich selbst.) Ich schreibe es auf. Für alle Fälle. (Macht einen Vermerk in seinem Tagebuch.)
MARINA: (Erhebt sich.) Und vergessen Sie nicht, die Krankengschichte und die Bescheinigung vorzubereiten.
DOKTOR: Für Sie mache ich alles, was Sie wünschen. Soll ich Sie begleiten?
MARINA: Nein, danke. Ich bitte Sie, sorgen Sie dafür, dass mein Mann nicht weg geht, solange ich ein Taxi suche.
Marina geht hinaus. Der Doktor, nachdem er lebhafter geworden ist und vor sich hin pfeift, setzt sich an den PC. Der Mann tritt ein. Er verhält sich völlig anders, als beim ersten Besuch. Seine Manieren sind selbstsicher und entschlossen.
DOKTOR: Sie wieder?
MANN: Wie Sie sehen.
DOKTOR: Was wollen Sie denn eigentlich?
MANN: Ich führe eine kleine private Nachforschung durch.
DOKTOR: Ich habe gleich begriffen, dass Sie ein Schnüffler sind.
MANN: Ich bin kein Schnüffler. Ich bin Finanzist.
DOKTOR: Falls Sie Steuerinspektor sind, zeigen Sie einen Ausweis vor.
MANN: (Hart.) Wo ist Marina?
DOKTOR: Haben Sie etwa sie verfolgt?
MANN: Kann sein.
DOKTOR: Leider kann ich mit nichts helfen. Sie ist, wie Sie sehen, nicht hier.
MANN: Ich habe doch gesehen, wie sie vor zwanzig Minuten hier herein kam.
DOKTOR: Aber Sie haben nicht gesehen, wie sie vor einer Minute hinaus ging.
MANN: Kommt sie zurück?
DOKTOR: Ich weiß nicht. Was wollen Sie von ihr?
MANN: Ich habe nicht das Recht, Ihnen das zu sagen.
DOKTOR: Kein Recht, dann sagen Sie auch nichts. Alles Gute.
MANN: Ich bin dringend verpflichtet, sie zu finden, verstehen Sie? Eine Frage auf Leben und Tod.
DOKTOR: Hier ist keine Detektei. Suchen Sie sie also auf der Straße. Und, bitte, halten Sie mich nicht auf. Übrigens, Besuche bei mir sind sehr kostspielig.
MANN: Ich bin bereit zu zahlen, wenn Sie helfen, sie zu finden.
DOKTOR: Ich nehme kein Bestechungsgeld.
MANN: Wirklich?
DOKTOR: Ich nehme Honorare.
MANN: Also bin ich bereit, Ihnen ein Honorar zu bezahlen.
DOKTOR: Ich nehme es nur für Behandlung und nicht für die Bereitstellung von Information. Ich wünsche Ihnen Erfolg, und stören Sie mich nicht bei der Arbeit. Zu mir kommt man nur nach vorheriger Anmeldung. (Schiebt den Mann höflich zum zweiten Ausgang.) Ich bitte Sie. Nein, durch diese Tür. Durch diese kommen nur meine Kranken herein.
MANN: Nun denn, dann schicke ich Ihnen tatsächlich einen Steuerinspektor. (Schaut den Doktor aufmerksam an.) Nun, erschreckt?
DOKTOR: Nicht sehr.
MANN: Umsonst. Ich bin sicher, dass Sie es nicht mögen, Steuern zu zahlen.
DOKTOR: Ich, nicht mögen?
MANN: Sie.
DOKTOR: Ich?!
MANN: Sie.
DOKTOR: Na und? Wer mag das?
MANN: Vielleicht veranstalten wir eine kleine Prüfung?
DOKTOR: Bitte. Meine Einkünfte weiß ich gut zu verbergen.
MANN: Und ich weiß sie gut zu finden.
DOKTOR: Hören Sie auf, mir zu drohen. Ich hab doch gesagt, dass ich keine Prüfung fürchte.
MANN: Weil Sie kein Bestechungsgeld nehmen?
DOKTOR: Nein. Weil ich es gebe. Alles Gute.
MANN: (Ändert den Ton.) Doktor, Sie wissen doch, dass ich jetzt eine äußerst private Angelegenheit habe, die weder Verbindung zur Medizin, noch zu Steuern hat. Ich brauche Marina.
DOKTOR: Auf Wiedersehen. Die Ausgangstür ist hier.
MANN: (Bleibt in der Türe stehen.) Doktor, warum kommt sie eigentlich zu Ihnen? Haben Sie etwas mit ihr?
DOKTOR: Sie betrifft das in keiner Weise.
MANN: Ist sie denn krank?
DOKTOR: Jegliche Einzelheiten bezüglich meiner Besucher, gesund oder krank, verlassen nicht die Grenzen dieses Kabinetts.
MANN: (Trocken, fast drohend.) Hervorragend. Obwohl ich spüre, dass es zwischen ihnen irgendeine Verbindung gibt, und ich halte es für meine Pflicht, Sie zu warnen: Seien Sie vorsichtig!
DOKTOR: Ich welchem Sinn?
MANN: In allen Sinnen. Sie ist verwirrt und weiß selbst nicht, was sie macht. (Wendet sich zum Gehen.) Wenn Sie sie trotzdem sehen, sagen Sie, dass ich versuche, sie zuhause anzutreffen und, falls ich sie nicht finde, wieder hierher komme.
DOKTOR: Ich glaube nicht, dass ich Sie hereinlasse.
MANN: Und ich glaube, dass ich Sie nicht fragen werde.
(Der Mann geht. Der Doktor setzt sich wieder an den PC. Marina tritt ein.)
MARINA: Gehe ich Ihnen noch nicht auf die Nerven?
DOKTOR: So schnell haben Sie ein Taxi gefunden?
MARINA: Ich hab´ keines gesucht… Ich habe beschlossen, meinen Mann in meinem Auto mitzunehmen. Es steht hier ganz in der Nähe, auf einem Parkplatz. Bewachen Sie ihn noch zwei Minuten, gut? (Schaut den Doktor aufmerksam an.) Was ist schon wieder passiert?
DOKTOR: Gerade eben hat wieder dieser… Nun… Ihr Mann nach Ihnen gefragt.
MARINA: Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich keinen Mann habe! Außer Anton versteht sich.
DOKTOR: Ich weiß nicht, ich weiß nicht… Er hat mich gewarnt, dass man mit Ihnen vorsichtig sein muss. Er hat sogar versucht, mir zu drohen.
MARINA: Hat er nicht erklärt, um was es geht?
DOKTOR: Nein, aber er hat gesagt, dass es sehr wichtig ist. Eine Frage auf Leben und Tod.
MARINA: (Sehr verwirrt.) Es scheint, ich kann mir vorstellen, von wem die Rede ist.
DOKTOR: Ist er tatsächlich Ihr Mann?
MARINA: Nicht ganz…
DOKTOR: Nicht ganz?
MARINA: Überhaupt nicht. Das ist mein Kollege… Genauer, sogar mein Vorgesetzter.
DOKTOR: Sagen Sie die Wahrheit?
MARINA: Ich schwöre.
DOKTOR: Und was will er so Wichtiges von Ihnen?
MARINA: Nichtigkeiten. Er ist einfach, wie soll ich Ihnen das sagen… leicht ungleichgültig gegenüber mir und ziemlich eifersüchtig. Er schüchtert alle meine Bekannten ein. Er will ewig mit mir etwas klären, etwas bereden… Und dabei immer dringend.
DOKTOR: Ich verstehe.
MARINA: Also, ich gehe, das Auto holen.
DOKTOR: (Hält sie fest.) Ich will Sie nicht weglassen.
MARINA: (Befreit sich sanft.) Ich komm´ schnell zurück. Wirklich in einer Minute.
DOKTOR: Und fahren wieder weg.
MARINA: (Küsst ihn auf die Wange.) Um uns abends zu treffen.
Marina geht. Der Doktor lächelt glücklich. Er geht zum Spiegel, besieht sich kritisch, bringt die Krawatte und die Frisur in Ordnung, nimmt aus dem Schrank ein anderes, helleres Jackett und zieht es an. Johanna tritt ein, noch entschiedener als vorher eingestellt. Der Doktor, darauf eingestellt, den Gast mit offenen Armen zu empfangen, ist unangenehm überrascht.
DOKTOR: Sie sind das?
JOHANNA: Wen haben Sie denn erwartet?
DOKTOR: Eine andere Frau. Die Frau Ihres Mannes. Das heißt… Ich wollte sagen – Antons Frau. Das heißt…
JOHANNA: Antons Frau – das bin ich.
DOKTOR: Jetzt habe ich große Zweifel daran.
JOHANNA: Zum ersten Mal treffe ich einen Arzt, der sich anstatt mit Behandlung mit Ermittlung befasst. Ist die Krankengeschichte fertig?
DOKTOR: Nein. Und wenn sie es wäre, würde ich sie Ihnen nicht geben. Wer sind Sie eigentlich?
JOHANNA: Ich habe geahnt, dass Sie beliebige Ausflüchte suchen werden, nur um auszuweichen, und habe für diesen Fall das ganze Spektrum an Dokumenten der Reihe nach vorbereitet. (Zeigt einen ordentlich geführten Ordner.) Hier, mein Pass. Hier meine Heiratsurkunde mit Anton. Hier die Geburtsurkunden unserer Kinder, in denen übrigens die Namen der Eltern aufgeführt sind, das heißt meiner und der meines Mannes. Hier unser Hochzeitsbild, das hier auch, aber mit Gästen, und hier unsere Fotos mit den Kindern. Hier die Stromrechnung und andere auf unseren gemeinsamen Namen. Sind Sie jetzt zufrieden?
DOKTOR: (Völlig verblüfft sieht er die Papiere durch und gibt sie Johanna zurück.) Ich… Ich… (Will zu den Tropfen greifen, stellt aber das Fläschchen zur Seite und gießt sich eine großzügige Portion Cognac ein.) Das heißt, Sie sind trotzdem seine Frau?
JOHANNA: Wer denn sonst, Ihrer Meinung nach etwa die Großmutter?
DOKTOR: Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was ich denken soll. (Greift wieder zum Cognac.) JOHANNA: (Im Befehlston.) Stellen Sie das Glas zurück! (Schiebt die Flasche energisch zur Seite.) Ich beginne, mir ernsthaft Sorgen um die Gesundheit meines Mannes zu machen.
DOKTOR: Warum?
JOHANNA: Weil sein Arzt Alkoholiker ist.
DOKTOR: Ich trinke überhaupt nicht.
JOHANNA: Das sehe ich.
DOKTOR: Sind Sie wirklich seine Frau?
JOHANNA: Warum verwundert Sie das so?
DOKTOR: Ich würde mich nicht wundern, wenn… Wenn nicht die andere Frau gewesen wäre…
JOHANNA: (Hart.) Was die andere Frau betrifft, ist das ausschließlich das Ergebnis des Alkohols oder die Frucht Ihrer gestörten Wahrnehmung. Als Jurist weiß ich, dass Psychiater infolge dauernder Kontakte mit Verrückten nur schwer ihr seelisches Gleichgewicht bewahren. Vergessen Sie also diesen Wahn. Es war keine Frau da.
DOKTOR: Es war!
JOHANNA: (Unerbittlich.) Es war keine und kann keine gewesen sein. Sie kontrollieren sich nicht. Sie haben Probleme mit dem Gedächtnis. Sie haben sogar vergessen, dass Sie meinen Mann schon zwei Jahre behandeln. Sie haben seine Krankengeschichte verloren. Vielleicht haben Sie sie aus Unvorsichtigkeit oder Vorsatz vom PC gelöscht. Uns bleibt nichts anderes übrig, als sie wieder herzustellen. Dem Gesetz nach waren Sie verpflichtet, die Kranken-geschichte zu führen. Es wird Ihnen sehr schwerfallen, dem Gericht zu erklären, warum Sie das nicht getan haben.
DOKTOR: (Nervös.) Welches Gericht?
JOHANNA: Das Gericht, an das ich mich wende. Ich beabsichtige, meinen Mann in einer Pflegeeinrichtung unterzubringen, und Sie wissen ausgezeichnet, dass dazu eine lange und überzeugende Krankengschichte nötig ist.
DOKTOR: Sie wollen den Mann in ein Irrenhaus stecken?
JOHANNA: Achten Sie auf Ihre Ausdrucksweise. Wenn ich jemanden in ein Irrenhaus stecken will, dann sind Sie das. Und, glauben Sie mir, das gelingt mir. Schauen Sie sich im Spiegel an, betrachten Sie Ihren wahnsinnigen Anblick, und Sie stimmen mir zu.
DOKTOR: Geben Sie zu, dass Sie es satt haben, sich um den Mann zu kümmern, und Sie beschlossen haben, ihn loszuwerden.
JOHANNA: Erstens ist das meine Privatangelegenheit. Und zweitens, wenn es so wäre, was dann? Er hat vielleicht das Recht, seine wichtigste Verpflichtung zu vergessen, aber ich bin nicht verpflichtet, mein wichtigstes Recht zu vergessen. (Verächtlich.) Verstehen Sie das wenigstens, Doktor?
DOKTOR: „Verpflichtung“, „Recht“… Gleich zu sehen, dass Sie Jurist sind.
JOHANNA: Und das, dass ich Frau bin, ist nicht gleich zu sehen?
DOKTOR: Nicht gleich. Sie gleichen mehr der „Freiheitsstatue“.
JOHANNA: Von einem Arzt habe ich mehr Verständnis erwartet.
DOKTOR: Was wollen Sie von mir?
JOHANNA: Bescheinigung und Krankengeschichte.
DOKTOR: Nun, gut, kommen Sie morgen, ich bereite alles vor.
JOHANNA: Bis morgen denken Sie wieder irgendeine Ausrede aus. Ich brauche es heute. Jetzt.
DOKTOR: Jetzt beginnt bei mir die Sprechstunde im Krankenhaus. Ich muss gehen.
JOHANNA: Für lange?
DOKTOR: Etwa zwanzig Minuten.
JOHANNA: Ich werde warten.
DOKTOR: Heute schaffe ich es sowieso nicht. Eine Krankengeschichte wird nicht so schnell gefertigt, wie Sie glauben. Ich bitte Sie, kommen Sie morgen.
JOHANNA: Nein, ich gehe hier nicht weg, bevor ich die Bescheinigung nicht bekomme. (Setzt sich demonstrativ, nimmt ein medizinisches Journal und vertieft sich in dessen Lektüre, damit zeigend, dass sie vorhat, lange zu bleiben, und es nicht gelingen wird, sie loszuwerden.)
DOKTOR: (Hoffnungslos.) Aber ich muss wirklich in die Klinik hinunter.
JOHANNA: Gehen Sie, ich halte Sie nicht auf.
DOKTOR: Und Sie?
JOHANNA: Ich gehe und gebe Anton ein Butterbrot, dann bringe ich ihn hierher, und wir werden zusammen hier sitzen, bis wir unsere Krankengeschichte bekommen.
DOKTOR: Nun, denn… Wie es Ihnen beliebt.
Der Doktor gießt sich Cognac ein, dann, überlegt er es sich und nimmt das Fläschchen mit den Tropfen, dann wendet er sich wieder dem Cognac zu, und findet einen Kompromiss: Er gießt einige Tropfen in den Cognac, trinkt aus und geht, sich abwechselnd an Kopf und Herz fassend. Johanna begleitet ihn mit zufriedenem Blick, dann geht auch sie hinaus. Nach einiger Zeit kommen Marina und fast gleichzeitig der Mann herein.
MANN: Endlich habe ich Sie gefunden.
MARINA: Aufgespürt.
MANN: Ja, aufgespürt. Warum haben Sie vor mir verheimlicht, dass Sie verheiratet sind?
MARINA: Ich habe nichts verheimlicht.
MANN: Aber auch nie etwas davon erwähnt.
MARINA: Meinen Sie, eine Frau sollte ununterbrochen in Zeitungen, im Radio und Fernsehen verkünden, dass sie verheiratet ist? Oder umgekehrt, dass sie nicht verheiratet ist?
MANN: Nicht verkünden, aber auch nicht verheimlichen.
MARINA: Ich verheimliche nichts.
MANN: Wirklich? (Und da Marina nicht antwortet, fährt er fort.) Sie sind eine gefährliche Frau.
MARINA: Danke für das Kompliment.
MANN: Warum sagen Sie mir nicht die ganze Wahrheit?
MARINA: Sind Sie hierhergekommen, um private Verhältnisse zu klären?
MANN: Nein. Unser Thema wird viel ernster…
Johanna und Anton treten ein.
MARINA: Nun, weiter, warum hören Sie denn auf?
MANN: Das ist kein Gespräch für Außenstehende.
MARINA: Gut, setzen wir es in ein paar Minuten fort.
MANN: Ein paar Minuten – einverstanden, aber nicht mehr. (Geht hinaus.)
JOHANNA: Wer war das?
MARINA: Unwichtig. Wo ist der Doktor?
JOHANNA: Er ist in die Klinik gegangen.
MARINA: Und, wie ist er?
JOHANNA: (Zufrieden.) Genau so, wie er sein soll.
MARINA: Ganz?
JOHANNA: Es scheint so.
MARINA: Ist er in die Klinik gegangen, um zu behandeln, oder sich behandeln zu lassen?
JOHANNA: Um zu behandeln.
MARINA: Ich an seiner Stelle, würde mich behandeln lassen.
JOHANNA: Ich sehe, er tut dir Leid.
MARINA: Und dir nicht?
JOHANNA: Mir tun wir alle Leid.
MARINA: Er ist ein sehr guter Mensch.
JOHANNA: Wir sind auch keine schlechten Leute.
MARINA: Bist du sicher?
JOHANNA: Du brauchst mich nicht mit Fragen zu löchern. Ich schlaf´ auch so nächtelang nicht.
MARINA: (Anteilnehmend.) Du siehst nicht besonders aus.
JOHANNA: Du auch.
MARINA: Glaubst du, mir fällt es leicht?
JOHANNA: Und du glaubst, mir ist lustig dabei zumute?
ANTON: Um die Wahrheit zu sagen, auch für mich ist es kein Zuckerlecken.
JOHANNA: (Beißend.) Für ihn ist es „kein Zuckerlecken“! Und wegen wem, glaubst du, befinden wir beide uns hier?
ANTON: (Schuldbewusst.) Wegen mir.
JOHANNA: Gut, dass wenigstens du das begreifst. (Pause.)
ANTON: Eigentlich werde ich hier nicht mehr gebraucht. Kann ich gehen?
MARINA: Keinesfalls! Dich darf man nirgendwo allein hinlassen.
JOHANNA: Du weißt, dass wir dir das verbieten.
ANTON: Ich bin kein Kind.
MARINA: Hör auf! Wir haben auch so die ganze Zeit Angst, dass du wieder irgendetwas anstellst.
ANTON: Ich habe mich doch zu eurem Wohl bemüht.
JOHANNA: Danke, du hast uns schon viel Wohl bereitet.
ANTON: Ich will von hier weg.
JOHANNA: Wir wollen alle weggehen.
ANTON: Ich bin müde.
MARINA: Wir sind alle müde.
ANTON: Das ist alles ermüdend und unangenehm. Ich geh´.
JOHANNA: (Hält ihn fest.) Sitz!
MARINA: Hör auf, nervös zu sein, Lieber. Soll ich dir einen Kaffee machen?
JOHANNA: Lass das, du hast ihn auch so verwöhnt.
MARINA: Was soll ich tun? Ich liebe ihn.
JOHANNA: Ich liebe ihn auch. Aber man darf mit ihm doch nicht die ganze Zeit zu nachsichtig sein. Und woher nimmst du hier Kaffee?
MARINA: Aus der Thermoskanne des Doktors.
ANTON: Lasst uns lieber Cognac trinken. Er hat viel davon. (Öffnet die Bar.)
MARINA: Nein, Lieber, das dürfen wir nicht. Wir müssen in Form sein.
ANTON: Ihr liebt mich so, und ich verursache euch nur Unannehmlichkeiten. Glaubt ihr, dass mich das Gewissen nicht quält?
JOHANNA: Anstelle von Gesprächen über das Gewissen, solltest du dich lieber bemühen, gesund zu werden.
ANTON: Ich bemühe mich. Aber diese Anwandlung ist stärker, als ich.
JOHANNA: Nicht sie ist stärker, sondern du bist schwächer.
MARINA: Du solltest ihm nichts vorwerfen. Das ist nicht der Zeitpunkt dazu.
JOHANNA: Du beschützt ihn ewig.
MARINA: Und du willst, dass ich ihn angreife? (Pause.)
JOHANNA: Es ist Zeit, auseinanderzugehen.
MARINA: (An Johanna.) Gehen wir, ich will dir etwas sagen.
ANTON: Ich geh´ mit euch.
JOHANNA: Nein, bleib hier! So werden wir ruhiger sein.
Marina und Johanna gehen. Bleibt alleine im Sessel des Doktors. Der Doktor tritt ein.
ANTON: Zu wem möchten Sie?
DOKTOR: Ich? Zu niemandem.
ANTON: Der Doktor ist nicht da. Warten Sie im Wartezimmer.
DOKTOR: Der Doktor bin ich!
ANTON: Seit wann?
DOKTOR: Wie, „seit wann“?
ANTON: Seit wann sind Sie Doktor?
DOKTOR: Ich bin es schon immer. Und werde es sein, bis ich verrückt werde. Was dank Ihnen sehr bald passieren wird.
ANTON: Nun, wenn Sie Doktor sind, dann gestatten Sie mir, eine Frage zu stellen. Aber ärgern Sie sich bloß nicht… Erinnern Sie mich, wie ich heiße.
DOKTOR: Haben Sie das denn wieder vergessen?
ANTON: (In die Enge getrieben.) Ja, irgendwie… Ärgern Sie sich bloß nicht.
DOKTOR: Ich ärgere mich auch nicht. Ich bin außer mir. Man kann das Gedächtnis verlieren, aber doch nicht bis zu so einem Grad!
ANTON: (Schuldbewusst.) Zum letzten Mal, Ehrenwort. Ich werd´s nicht mehr vergessen.
DOKTOR: Nun, gut. Sie heißen… (Hält inne.) Sie heißen… (Ist verwirrt.) Und wozu wollen Sie das alles wissen?
ANTON: Nun, wie denn… Vielleicht fragen Sie plötzlich danach?
DOKTOR: Wozu sollte ich fragen? Ich weiß es auch so.
ANTON: Dann also, wie denn?
DOKTOR: Sie heißen… Sie heißen… Warten sie… (Blättert in seinen Aufschrieben.) Sie heißen… Aha. (Feierlich.) Marina Glöckner.
ANTON: Ich – Marina?
DOKTOR: Nein, warten Sie… Das ist offenbar nicht Ihr Name. Aber Sie heißen… Ich hab´s doch aufgeschrieben… (Stöbert wieder in Papieren.) Hier:. (Wiederholt mit zusammengebissenen Zähnen.) Anton Glöckner, und seien Sie verdammt! Und wie viele Frauen Sie haben, wissen Sie?
ANTON: (Denkt angespannt nach.) Ich weiß nicht.
DOKTOR: Und ich weiß es auch nicht. Gehen Sie ins Wartezimmer und erinnern Sie sich. Und stören Sie mich nicht beim Arbeiten. Ich muss… schreiben… (Hält inne.) Verdammt nochmal, was muss ich schreiben?
ANTON: Meine Krankengeschichte.
DOKTOR: Richtig. Woher wissen Sie?
ANTON: Ich weiß nicht.
DOKTOR: Nun gut, gehen Sie mit Gott ins Wartezimmer und sitzen Sie dort ruhig.
ANTON: (Geht zum Ausgang, bleibt aber stehen. Scharf.) Doktor…
DOKTOR: (Fasst sich an den Kopf.) Was denn noch?
ANTON: Wissen Sie, welches mein Hauptproblem ist?
DOKTOR: Fehlendes Gedächtnis.
ANTON: Nein. Fehlendes Geld.
DOKTOR: Das ist für alle das Hauptproblem.
ANTON: Aber für mich besonders. (Unerwartet.) Leihen Sie mir etwas.
DOKTOR: Ich würde Ihnen leihen, aber Sie vergessen, es zurückzugeben.
ANTON: Ich vergesse es nicht. Ich unterschreibe eine Quittung.
DOKTOR: Und verschwinden.
ANTON: Wohin kann ich denn? Mein Pass ist doch bei Ihnen. Im äußersten Fall gibt Ihnen meine Frau das Geld zurück.
DOKTOR: Welche von beiden?
ANTON: (Vertraulich.) Versetzen Sie sich in meine Situation.
DOKTOR: Das würde ich mit Vergnügen machen, aber ich weiß nicht, worin sie besteht.
ANTON: Kommt es denn nicht vor, dass ein Mann zwei Frauen hat?
DOKTOR: (Mit großem Interesse.) Und Sie haben zwei?
ANTON: Eine.
DOKTOR: Welche denn?
ANTON: (Zweifelnd.) Ich weiß nicht.
DOKTOR: Ich verstehe nichts.
ANTON: Ich auch. Doktor, ich brauche dringend Geld. Eine Frage auf Leben und Tod. Leihen Sie mir welches. Ich gebe es Ihnen heute wieder zurück.
DOKTOR: Wie viel brauchen Sie?
ANTON: Wenigstens eintausend Euro.
DOKTOR: „Wenigstens“?
ANTON: Wenn Sie mit eintausend Probleme haben, geben Sie mir zwei.
DOKTOR: Um Sie loszuwerden würde ich sogar drei geben.
ANTON: (Erfreut.) Ich nehme auch vier.
DOKTOR: Vier gebe ich nicht. Drei auch. Aber tausend gebe ich. Unter der Bedingung, dass ich Sie hier nie mehr sehe.
ANTON: Abgemacht.
DOKTOR: (Nimmt Geldscheine aus dem Geldbeutel.) Nehmen Sie! Und – kehrt um, vorwärts Marsch!
ANTON: Zu Befehl!
Der strahlende Anton eilt davon. Der Doktor kehrt an den PC zurück. Aber die Arbeit klappt nicht. Marina tritt ein.
MARINA: (Beunruhigt.) Wo ist mein Mann?
DOKTOR: Er ist hier. Ich habe gerade erst mit ihm gesprochen.
MARINA: Sie sehen ziemlich betrübt aus. Ist etwas passiert?
DOKTOR: Ich muss zugeben, ich bin in eine teuflisch unangenehme Situation gekommen. In eine richtige Falle.
MARINA: Erzählen Sie, um was geht es? Vielleicht kann ich Ihnen helfen.
DOKTOR: Nein, das können Sie nicht.
MARINA: (Nimmt ihn sanft an der Hand.) Erzählen Sie trotzdem. Ihnen wird wenigstens leichter.
DOKTOR: (Wischt sich die Stirn ab.) Verzeihen Sie, aber wer sind Sie – Marina oder Johanna?
MARINA: Ich bin Marina.
DOKTOR: Ja, richtig. Wissen Sie, mit mir geht etwas unverständliches vor sich. Im Kopf verwirrt sich alles, ich begreife nichts. Von mir wird eine Krankengschichte gefordert, und ich, da können Sie mich umbringen, erinnere mich nicht, dass ich sie geschrieben habe. Und wenn ich sie nicht geschrieben habe oder aus Versehen gelöscht, dann kann ich große Schwierigkeiten bekommen.
MARINA: Dann schreiben Sie doch eine neue, worin besteht das Problem? Ist es das denn wert, den Kopf hängen zu lassen?
DOKTOR: Eine fiktive Krankengschichte mit unechtem Datum zu verfassen, ist ungesetzlich. Damit stolpere ich in noch größere Unannehmlichkeiten.
MARINA: Ach, wer erfährt denn davon?
DOKTOR: Wenn es eine Prüfung gibt, kann man das ganz leicht aufdecken. Der PC fixiert doch automatisch das Erstellungsdatum einer Datei. Übrigens, Sie werden wohl kaum etwas davon verstehen.
MARINA: Und darin besteht das ganze Problem?
DOKTOR: Im technischen Sinn, ja. Über Gewissensbisse und Berufsehre red´ ich schon gar nicht. Die interessieren in unserer Zeit niemanden.
MARINA: Mir scheint, ich kann Ihnen helfen.
DOKTOR: Wie?
MARINA: Habe ich Ihnen denn nicht gesagt, dass ich von Beruf Programmiererin bin?
DOKTOR: Sie?!
MARINA: Und Ihr technisches Problem ist aus Sicht eines Programmierers nur ein Nichts. Setzen Sie sich neben mich.
Beide setzen sich an den PC. Marinas Finger fliegen schnell über die Tastatur.
Hier, schauen Sie… Wir öffnen eine Datei mit der Krankengeschichte Antons… Der PC zeigt an, dass sie heute geschaffen wurde. Richtig?
DOKTOR: Richtig.
MARINA: Jetzt eine kleine Korrektur… Schauen Sie jetzt – wann wurde die Datei geschaffen?
DOKTOR: (Schaut auf den Bildschirm.) Vor zweieinhalb Jahren. Einfach unglaublich! Wie haben Sie das geschafft?
MARINA: (Zitiert mit Ironie den Doktor.) Wissen und Arbeit.
DOKTOR: Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll!
MARINA: Danken brauchen Sie nicht. (Schwankend.) Und jetzt will ich Ihnen etwas sehr wichtiges sagen… (Verstummt.)
DOKTOR: Nun, was schweigen Sie denn?
MARINA: Es ist schwer, mich zu überwinden. Aber ich werd´s doch sagen.
Der Mann tritt ein. Marina verstummt. Sie ist sehr verwirrt.
MANN: (An Marina.) Jetzt verstecken Sie sich nicht vor mir. (An den Doktor. Sein Ton ist hart,) Lassen Sie uns bitte alleine.
Der Doktor blickt fragend auf Marina. Sie nickt ihm zu. Der Doktor geht hinaus. Pause.
MARINA: Nun, reden Sie.
MANN: Sie wissen hervorragend, um was es geht.
MARINA: Nicht ganz.
MANN: Dann führe ich die Sache so klar und kurz aus, wie möglich, zudem wenig Zeit übrig bleibt. Sie haben aus der Bank die Ihnen bekannte Summe entwendet. Das Geld ist zwar nicht auf Ihr Konto überwiesen, aber Sie wissen bestens, was darauf steht.
MARINA: Gefängnis.
MANN: Völlig richtig. Sie galten als gebildete Mitarbeiterin. Ehrlich gesagt, ich bewundere auch jetzt noch Ihre Kunstfertigkeit, mit der Sie diese Operation durchgeführt haben. Zwei Jahre hat die Bank nicht bemerkt, wie eine einzige Zeile im Computerprogramm zu dem Geldverlust geführt hat.
MARINA: Man muss noch beweisen, dass ich diese Zeile einfügt habe.
MANN: Experten werden das beweisen.
MARINA: Unklar, wer erfahrener ist – ich oder Ihre Experten. Was wollen Sie von mir?
MANN: Geben Sie das Geld zurück, und die Bank wird Sie nicht vor Gericht bringen.
MARINA: Woher diese Milde? Daher, dass Sie mir gegenüber nicht ganz gleichgültig sind?
MANN: Sie wissen, dass ich Ihnen gegenüber wirklich nicht ganz gleichgültig bin, aber in diesem Fall sind rein kommerzielle Gründe wichtiger. Die Bank braucht wirklich nicht, dass der Öffentlichkeit bekannt wird, dass unsere Mitarbeiter das Geld der Anleger stehlen. Dann verlieren wir tausende Kunden und hunderttausende Euro. Deshalb sind wir interessiert, diese Sache zu vertuschen.
MARINA: Wann muss man das Geld zurückgeben?
MANN: Heute. Andernfalls werden Sie morgen verhaftet.
MARINA: Heute kann ich nicht. Und morgen, übrigens, auch nicht. Und übermorgen.
MANN: Warum?
MARINA: Was macht den Unterschied?
MANN: Gut. Ich hab´ gesagt, was ich sagen sollte. Denken Sie nach. Ich wiederhole: Zeit haben Sie wenig. (Steht auf, geht zum Ausgang, bleibt stehen. Sein Ton verändert sich.) Marina, Sie wissen doch, wie ich zu Ihnen stehe.
MARINA: Ich weiß.
MANN: Weshalb haben Sie das gemacht?
MARINA: Weil… Weil ich es getan habe.
MANN: Und wo ist denn trotzdem das Geld?
MARINA: Ich habe es nicht für mich genommen.
MANN: Das habe ich vermutet. Dann soll eben jener Mensch sitzen! Letztendlich hat nämlich er sich das Geld von dem Konto angeeignet, und Sie sind formell fast nicht schuldig. Jene Zeile im Programm kann man als technischen Fehler erklären. Was sagen Sie dazu?
MARINA: (Nach einigem Schweigen.) Lassen Sie mich etwas nachdenken. Warten Sie unten im Café, ich werde Sie rufen. Und solange habe ich eine Bitte an Sie. In diesem Café sitzt eine Frau namens Johanna. Bitten Sie sie, heraufzukommen.
MANN: Gut.
Der Mann geht. Der Doktor tritt ein.
DOKTOR: Wer ist dieser Mann?
MARINA: Der Vizepräsident der Bank.
DOKTOR: Was wollte er von Ihnen?
MARINA: Unwichtig. Doktor, ich will Ihnen etwas gestehen.
DOKTOR: (Versucht zu scherzen.) Ich hoffe, Ihre Liebe?
MARINA: Nein, einfach ein Geständnis. Obwohl, ich verberge nicht, dass Sie mir sehr sympathisch sind. Deshalb muss ich Ihnen auch etwas gestehen. (Verstummt.)
DOKTOR: Sie wollten mir auch davor etwas sehr wichtiges sagen, aber die Ankunft dieses Mannes störte dabei.
MARINA: Ja.
DOKTOR: Dann gestehen Sie doch endlich!
MARINA: Sie werden mich verachten.
DOKTOR: Unsinn. (Und da Marina schweigt, fährt er fort.) Wenn Sie sich nicht entschließen, zu gestehen, dann erlauben Sie mir das zu tun. Sie sind die Frau, von der ich schon lange geträumt habe. Wenn Sie nicht verheiratet wären, würde ich Ihnen einen Antrag machen. Lachen Sie mich nur nicht aus.
MARINA: Ich möchte weinen und nicht lachen.
DOKTOR: Überlegen Sie: Wenn es nicht gelingt, Ihren Mann zu heilen, dann müssen Sie sich trotzdem von ihm trennen. Und dann werde ich mich um ihn und um Sie kümmern. Ich bin nicht jung und nicht hübsch…
MARINA: (Unterbricht ihn.) Sie sind nicht alt und sehr wohl anziehend.
DOKTOR: Danke. Aber ich wollte sagen, dass ich dafür völlig versorgt bin und mich bemühe, Sie glücklich zu machen. Und, die Hauptsache, ich verhalte mich Ihnen gegenüber gut.
MARINA: Das ist wirklich die Hauptsache.
DOKTOR: Und jetzt sagen Sie, was Sie mir sagen wollten.
MARINA: Aber nun fällt es mir noch schwerer, mich dazu durchzuringen. Sache ist die, dass…
Johanna tritt ein. Überrascht davon, Marina mit dem Doktor zusammen zu sehen, bleibt sie abrupt stehen.
JOHANNA: Du hast mich gerufen?
MARINA: Ja.
DOKTOR: (Verwundert.) Wie, Sie kennen sich?!
MARINA: Wie Sie sehen.
DOKTOR: Ich verstehe gar nichts.
MARINA: Bald werden wir alles erklären. Lassen Sie uns nur zuerst alleine miteinander reden. Ich werde Sie rufen. (Pause. Der Doktor geht hinaus.)
JOHANNA: Was ist passiert?
MARINA: Alles ist aufgeflogen. Die Bank fordert Geld.
JOHANNA: (Erschüttert.) Schon?
MARINA: Irgendwann musste das passieren.
JOHANNA: Und trotzdem ist es so unerwartet. Und so schrecklich. (Fasst sich wieder.) Wir müssen handeln.
MARINA: Du meinst die Sache mit dem Doktor?
JOHANNA: Ja. Heute noch, gleich jetzt müssen wir ihn bis zum Ende bringen.
MARINA: Ich will nicht.
JOHANNA: Warum?
MARINA: Überleg selbst, welche verhassten Rollen wir spielen. Wirst du dich denn danach noch selber achten können?
JOHANNA: Lieber sich selbst nicht achten in Freiheit, als sich achten im Gefängnis.
MARINA: Wir verhalten uns unwürdig.
JOHANNA: Wir kämpfen nur für uns selbst.
MARINA: Und vernichten ihn dabei.
JOHANNA: Ich verstehe nicht – hast du dich etwa in den Doktor verliebt?
MARINA: Und wenn es so wäre, was dann?
JOHANNA: Na das, dass sich Frauen in einem bestimmten Alter eben nicht mehr verlieben.
MARINA: So ein Alter gibt es für Frauen nicht.
JOHANNA: Verlier den Verstand nicht. Wir haben trotzdem keinen anderen Ausweg.
MARINA: Es gibt einen Ausweg: Alles gestehen.
JOHANNA: Und unser Leben zerstören.
MARINA: Keine Sorge, ich nehm´ alles auf mich.
JOHANNA: Du hältst das für Heldentum, aber es ist Dummheit.
MARINA: Das ist Berechnung. (Sanft.) Überleg selbst. Wenn wir unseren Plan umsetzen, dann sitzen wir höchstwahrscheinlich alle vier: Wir drei wegen Betrugs, und der Doktor wegen der gefälschten Krankengeschichte. Aber im Fall eines Geständnisses sitze nur ich alleine, und ihr bleibt in Freiheit. Ihr werdet mir Päckchen bringen. Außerdem habt ihr Kinder, und ich bin alleine. Nicht zu reden vom reinen Gewissen.
JOHANNA: (Nach langem Schwanken.) Wahrscheinlich hast du Recht. (Weint.) Was bin ich nur für ein Mensch: Die Dummheiten haben wir zusammen gemacht, aber ausbaden musst du sie alleine. Verzeih mir. (Umarmt Marina.)
MARINA: Na, na, wer wird denn gleich? (Beide weinen sich an den Schultern der anderen aus.) Also, nun, rufen wir den Doktor?
JOHANNA: Ruf ihn, wenn du willst.
MARINA: (Geht zur Türe und ruft den Doktor.) Sie können eintreten. (Der Doktor kommt herein. Die Frauen trocknen ihre Tränen ab.) Setzen Sie sich. (Er setzt sich.)
MARINA: Jetzt erklären wir Ihnen alles. Sache ist die, dass… (Zu Johanna.) Erzähl besser du.
JOHANNA: Gut. (Zum Doktor.) Nehmen Sie zuerst Ihre Tropfen. (Er nimmt sie gehorsam ein.) Sind Sie bereit, zuzuhören?
DOKTOR: Ja.
JOHANNA: Beginnen wir damit, wer wer ist. Ich bin die Frau von Anton, er ist mein Mann, Marina ist seine Schwester und er ihr Bruder. Klar?
DOKTOR: (Völlig überrascht.) „Er ist mein Mann, Marina seine Schwester…“ (Klarheit bekommend.) Aber das ist doch wunderbar! Das verändert die Sache vollkommen. Wir heilen ihn und dann…
JOHANNA: Warten Sie. Ihn braucht man überhaupt nicht zu heilen, denn er ist absolut gesund.
DOKTOR: Gestatten Sie, aber sein Gedächtnisverlust…
MARINA: Simulation, alles nur gespielt. Er hat ein hervorragendes Gedächtnis. Nicht von ungefähr gilt er als der beste Kartenspieler in der Stadt.
DOKTOR: Warum haben Sie denn dann…
JOHANNA: (Im Ton eines Rechtsanwalts.) Doktor, wenn Sie dauernd Fragen stellen, kommen wir nie zum Ende.
DOKTOR: Entschuldigen Sie.
JOHANNA: Jetzt hören Sie. Vor zwei Jahren hat Anton im Casino eine erhebliche Summe Geld verspielt. Er fleht Marina an, ihm die Summe zu besorgen und verspricht, sie schnell zurückzugeben. Andernfalls, sagte er, würde man ihn erschießen. Marina besorgt ihm über die Bank Geld, und ich habe sie leider nicht von diesem Schritt abgebracht. Ich hatte Angst um den Mann und die Kinder.
DOKTOR: Und was war dann weiter?
JOHANNA: Weiter hat Anton, anstatt die Summe zurückzugeben, auch dieses Geld verspielt. Die Schulden verdoppelten sich. Er rennt wieder zur Schwester und fleht sie an, ihn zu retten. Marina liebt den Bruder bis zum Gedächtnisverlust und gibt nach. Und so versanken wir langsam aber sicher in einem Loch, aus dem wir nicht mehr herauskommen. Sie stellen sich nicht vor, wie schwer das ist: Zu wissen, dass der Mann ein Spieler ist, dass er auf der schiefen Bahn ist und die ganze Familie mit sich zieht, ihn zu lieben und retten zu wollen und nicht in der Lage zu sein, irgendetwas zu ändern…
DOKTOR: So… Aber was habe ich mit all dem zu tun?
JOHANNA: (Verwirrt geworden.) Ehrlich gesagt, diesen Teil der Geschichte zu erzählen ist besonders unangenehm, aber wer „A“ sagt, muss auch „B“ sagen. Uns an Sie zu wenden, das ist meine eigene Idee.
DOKTOR: Und worin bestand die Idee?
JOHANNA: Wir begriffen, dass man uns dicht auf den Fersen ist und aufdecken wird, und in mir reifte der Plan, schnellstens dafür zu sorgen, dass Anton für unzurechnungsfähig erklärt wird. Dann könnte er Gericht und Urteil überstehen. Aber dazu brauchte man die Bescheinigung eines kompetenten und ordentlichen Arztes. So eines, wie Sie.
DOKTOR: Ach, so liegt die Sache…
JOHANNA: Wir begriffen, dass auf gewöhnlichem Weg von Ihnen eine Bescheinigung zusammen mit der Krankengeschichte zu bekommen unmöglich ist.
DOKTOR: Richtig.
JOHANNA: Und so habe ich mir ausgedacht, einen massierten Angriff gegen Sie zu starten, um Sie durcheinanderzubringen, in völlige Verwirrung, um auf diese Weise zu bekommen, was wir brauchten. Wir studierten die Symptome der Krankheit aus einem Fachbuch und haben Ihnen zu dritt dieses Spektakel vorgespielt. (Schuldbewusst.) Ich gestehe, dass das nicht klug war, unordentlich und grausam. Wir bedauern das sehr.
Marina sitzt die ganze Zeit mit gesenktem Kopf.
DOKTOR: Was weiter?
JOHANNA: Nichts. Aus.
DOKTOR: Marina, wollten Sie mir das gestehen?
MARINA: (Ohne den Kopf zu heben.) Ja.
JOHANNA: Jetzt können Sie uns hinaus werfen. Aber wir werden auch selbst gehen. Wir bitten nicht um Verzeihung – wir verdienen sie nicht. (Nimmt Marina an der Hand und geht mit ihr zum Ausgang.)
DOKTOR: Warten Sie. (Freudig.) Sie denken, dass Sie mich betrübt hätten, aber tatsächlich haben Sie mich sehr erfreut.
JOHANNA: Womit?
DOKTOR: (Findet seinen Optimismus und seine Selbstsicherheit wieder.) Erstens damit, dass Sie gestanden und dadurch die Schuld von sich genommen haben. Zweitens, weil ich mich noch vor einer halben Stunde für einen Schwachsinnigen hielt, jetzt aber überzeugt bin, dass ich vollkommen gesund bin. Und die Hauptsache, Marina erweist sich nicht als verheiratet, sondern als frei!
JOHANNA: Ja, frei. Wenn man nicht berücksichtigt, dass man sie für etwa acht Jahre hinter Gitter bringt.
DOKTOR: (Erschreckt.)Wie, „acht Jahre“? (An Marina.) Ist das wahr?
Marina zuckt wortlos mit den Schultern.
JOHANNA: Morgen wird man sie verhaften.
DOKTOR: Das lasse ich nicht zu!
JOHANNA: Was werden Sie tun können?
DOKTOR: Ich weiß noch nicht, aber ich lasse das nicht zu! Ich werde protestieren! Ich… Ich werde Ihnen eine Bescheinigung ausstellen, dass Sie unzurechnungsfähig sind. Allen dreien. Und mir selbst auch, für alle Fälle.
JOHANNA: Doktor, seien Sie ernst. Die Bank fordert die sofortige Rückgabe des Gelds.
DOKTOR: Wer fordert? Dieser Vizepräsident, der mehr einem Schnüffler gleicht? Rufen Sie ihn hierher. Ich reguliere diese Sache.
JOHANNA: Doktor, das ist unmöglich.
DOKTOR: Kleinigkeiten. Rufen Sie Ihren Bankier.
Johanna und Marina tauschen Blicke aus. Marina geht schulterzuckend hinaus.
JOHANNA: Wie wollen Sie die Sache mit der Bank regeln?
DOKTOR: Sehr einfach. Ich bezahle ihr dieses lächerliche Geld.
JOHANNA: Sie stellen sich die Summe nicht ganz vor, um die es geht.
DOKTOR: Das interessiert mich nicht.
JOHANNA: Ich fürchte, dass Ihr Geldbeutel nicht ausreicht.
DOKTOR: Keine Angst. Ich bin ein sehr vermögender Mann.
JOHANNA: Aber um wessen Willen sein Geld verlieren, wegen unbekannter Leute, die Sie außerdem noch betrogen haben? Brauchen Sie denn kein Geld?
DOKTOR: Und wozu nützt es mir? Ich esse nichts Fettes, Salziges, Scharfes, Teures und Gutes. Wie alle reichen Leute halte ich Diät und arbeite die übrige Zeit.
Marina und der Vizepräsident treten ein. Der Doktor wendet sich an den Mann.
Mein Lieber, darf man denn wegen irgendwelchem Geld eine so reizende Frau verfolgen?
VIZEPRÄSIDENT: Geld ist natürlich Unsinn. Es gibt im Leben wichtigere Dinge: Liebe, Schönheit, Gesundheit, Güte…
DOKTOR: Ganz genau.
VIZEPRÄSIDENT: Andererseits, wenn Geld Unsinn ist, warum es dann nicht zurückgeben?
DOKTOR: Weil ihr Bruder es im Casino verspielt hat. Sie hat keinen einzigen Cent.
VIZEPRÄSIDENT: (An Marina.) Stimmt das? (Marina antwortet nicht.) Warum haben Sie das früher nicht gesagt?
MARINA: Was hätte das geändert?
VIZEPRÄSIDENT: Im Grunde nichts. Aber jetzt verstehe ich wenigstens Ihr Verhalten. Allerdings, das Geld muss trotzdem zurückgegeben werden.
DOKTOR: Sagen Sie, wie viel? (Zieht den Geldbeutel heraus.)
VIZEPRÄSIDENT: Die Summe ist armselig, man kann sagen ein Nichts, einfach lächerlich, eine völlige Kleinigkeit, es lohnt sich nicht, darüber zu reden.
DOKTOR: Können Sie die annähernde Summe nennen?
VIZEPRÄSIDENT: Zwei Millionen Euro.
DOKTOR: Zwei Millionen Euro?!
VIZEPRÄSIDENT: So etwa. Wie Sie verstehen, darf man das als Bank nicht als Verlust bezeichnen. Viel ernster ist die Tatsache der Entwendung und des Betrugs. Glauben Sie mir, mir wird es sehr schwer fallen, die Sache zu vertuschen.
DOKTOR: Ich verstehe und schätze das sehr. (Steckt den Geldbeutel ein. An Marina.) Ich fürchte, Liebe, ich bin nicht in der Lage, der Bank diese nichtige Summe zurückzugeben. Wie hat es denn Ihr Bruder fertig gebracht, so eine Unsumme zu verspielen?
JOHANNA: (Beunruhigt.) Übrigens, wo ist er?
MARINA: Wirklich, wo ist Anton? (Sieht sich unruhig um.) Sieh nach, vielleicht ist er im Wartezimmer.
JOHANNA: (Johanna geht eilig hinaus und kommt schnell zurück. In ihrem Gesicht Verwirrung.) Dort ist er nicht.
MARINA: (Mit niedergeschlagener Stimme.) Wir haben ihn wieder weggelassen.
DOKTOR: Ich verstehe nicht, dass Sie so besorgt um ihn sind. Sie sagen doch, dass er absolut gesund ist!
JOHANNA: Ja, er ist gesund, aber…
DOKTOR: Was, aber?
MARINA: Verstehen Sie, er ist sehr besorgt, dass wir seinetwegen in Schwierigkeiten geraten sind.
DOKTOR: Na, und?
MARINA: Und er hat die Wahnidee, das ganze Geld wieder zurückzugewinnen. Und je mehr er spielt, desto mehr verspielt er. Deshalb haben wir in den letzten Wochen versucht, ihn nicht aus den Augen zu verlieren.
JOHANNA: Marina, beruhig´ dich. Ich glaube, er ist nicht im Casino. Jetzt hat er doch einfach gar nichts zum Spielen. Ich habe ihm alles Geld weggenommen, sogar das Kleingeld.
DOKTOR: Hm… Ich fürchte, ich habe einen Irrtum zugelassen.
Die Frauen sehen den Doktor fragend an, der fühlt sich in die Enge getrieben und bekennt. Ich habe ihm welches geliehen.
JOHANNA: Wie viel?
DOKTOR: Tausend Euro.
JOHANNA: Sie sind verrückt geworden!
DOKTOR: (Schuldbewusst.) Ja, seit heute Morgen.
MARINA: (Ein Mobiltelefon klingelt. Marina nimmt es aus der Handtasche.) Hallo!.. Ja, mein Lieber. Wo bist du? (Hört lange zu. Alle folgen ihr gespannt. Ihr Gesicht drückt abwechselnd Angst, Hoffnung, Enttäuschung und Freude aus. Diese Veränderungen spiegeln sich sofort in den Gesichtern der anderen wider. Marina beendet das Gespräch.)
JOHANNA: Und, was?
MARINA: Natürlich ist er sofort, nachdem er das Geld erhalten hat, ins Casino gerannt.
JOHANNA: (Enttäuscht.) Hab ich´s doch gewusst
MARINA: Und hat fast alles verspielt.
JOHANNA: Wie immer.
MARINA: (Feierlich.) Aber dann hat er zwei Millionen Euro gewonnen! Er hat schon ein Taxi gerufen und fährt hierher mit dem Geld.
Allgemeiner Jubel.
JOHANNA: (Umarmt Marina.) Was für ein Glück! (An den Vizepräsidenten.) Gleich jetzt geben wir Ihnen das Geld zurück. Um nicht in Versuchung zu geraten.
VIZEPRÄSIDENT: Glauben Sie mir, ich bin darüber mehr froh, als irgendjemand anderer. Der Skandal in der Bank, Marina auf der Anklagebank, die Schlagzeilen in den Zeitungen… Das hätte mich um den Verstand gebracht.
DOKTOR: Ende gut, alles gut. Lassen Sie uns aus diesem Anlass Champagner trinken! (Öffnet eine Flasche und gießt jedem ein.) Auf was trinken wir?
JOHANNA: Auf den glücklichen Zufall.
MARINA: Auf das Glück!
Anton tritt ein, mit einem Köfferchen in der Hand. Ihn trifft ein Schwall von Grüßen und Glückwünschen.
DOKTOR: Ich begrüße Sie, mein Lieber. Wirklich, Sie haben mich den ganzen Tag an der Nase herum geführt, und dafür sollte man Ihnen den Kopf abreißen, aber, wie man so sagt, die Sieger verurteilt man nicht. Ihrer Schwester zuliebe verzeihe ich Ihnen.
JOHANNA: (Umarmt den Ehemann.) Wenn du wüsstest, wie wir uns aufgeregt haben!
MARINA: Endlich machen wir ein für alle Mal Schluss mit diesem Wahnsinn. Gib ihm (Nickt in Richtung des Bankiers.) dieses verhasste Geld.
ANTON: (Verwirrt.) Welches Geld?
MARINA: Die Millionen, die du gewonnen hast.
ANTON: Welche Millionen?
MARINA: Die du mitgebracht hast. Wo sind sie? In dem Köfferchen? (Anton schweigt schuldbewusst. Marina, die plötzlich die Situation erkennt, öffnet mit einem Ruck den Koffer. Er ist leer.) Was bedeutet das? Hast du uns betrogen? Hast du nichts gewonnen?
ANTON: Doch, ich habe gewonnen! Ich habe zwei Millionen gewonnen. Stell dir vor, zwei Millionen!
MARINA: (Mit einem Seufzer der Erleichterung.) Nun, dann gib sie der Bank zurück. Wo sind sie?
ANTON: Verstehst du, ich habe sie in den Koffer gelegt, das Taxi gerufen und dich angerufen. Und dann dachte ich: Wenn ich heute schon so ein Glück habe, dann setze ich nochmal auf das Pferd. Um nicht nur die Schulden zu tilgen, sondern auch euch abzusichern.
JOHANNA: Und alles verspielt?
ANTON: Nein, nicht alles.
JOHANNA: (Atmet erleichtert auf.) Gott sei Dank.
ANTON: Nicht alles, sondern zweimal so viel. Versteht ihr, nachdem ich alles verspielt hatte, habe ich mich entschlossen, alles auf vabanque zu setzen. Nun, und… (Verstummt.)
VIZEPRÄSIDENT: Wie groß ist denn jetzt die Schuldensumme?
ANTON: (Verwirrt.) Vier Millionen.
Alle sind schockiert. Marina fällt kraftlos in den Sessel. Der Doktor trinkt das nächste Glas Cognac. Der Vizepräsident fasst sich an den Kopf..
JOHANNA: Wenn du nur nicht zurückgekommen wärst.
ANTON: Aber ich weiß einen Ausweg!
JOHANNA: (Müde.) Welchen?
ANTON: Gebt mir wenigstens noch tausend, und ich gewinne alles zurück! Ich schwöre es euch!
Alle schweigen. Als Erster erholt sich der Doktor vom Schock.
DOKTOR: Sagen Sie, Anton, schämen Sie sich nicht, so ein Leben zu führen?
ANTON: Und welches Leben wollten Sie, das ich führe? Ein langweiliges, graues Dasein eines kleinen Angestellten? Ein Leben, wo heute, wie gestern ist und morgen wie heute? Jeden Groschen zu zählen und jeden Cent zu sparen? Sich zu langweilen und das Wochenende zu erwarten, den Urlaub, die Rente? Ist es nicht besser zu riskieren, alles was du hast auf ein Pferd zu setzen, vabanque zu spielen?
DOKTOR: Und wenn du verspielst? Gehst du ins Gefängnis?
ANTON: Und wenn schon? Womit ist das Gefängnis schlechter, als dieses graue, tägliche erniedrigende Leben, ein Leben ohne Risiko, ohne Funken, ohne Schärfe, ohne Pfeffer?
DOKTOR: (Der Doktor nimmt langsam den Geldbeutel und zieht Geldscheine heraus. Anton streckt ihm erfreut die Hand entgegen, aber der Doktor weicht mit ihr zur Seite aus und wendet sich an Marina.) Geben?
MARINA: (Müde.) Wie Sie wollen. Zwei Millionen Schulden, vier, acht, sechzehn – was macht den Unterschied? Trotzdem absitzen.
DOKTOR: Aber es gibt doch trotzdem keinen anderen Ausweg. Und vielleicht klappt´s? (Er gibt Anton das Geld. Dieser ergreift es erfreut und macht sich auf den Weg zum Casino.)
ANTON: Ich komm´ bald zurück, und alles wird gut! Ihr werdet sehen! Ich gewinne! Ich gewinne auf jeden Fall!
ENDE