Читать книгу Aldarúun - Valeria Kardos - Страница 2

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„Mama, ich brauche dringend eine Waffe“, rufe ich und stolpere fast über unsere Koffer.

„Was hältst du hiervon?“, murmelt sie und betrachtet nachdenklich unsere alte Axt, die wir vor einiger Zeit gegen eine modernere mit leichtem Plastikgriff ersetzt haben.

„Perfekt!“ Ich schnappe sie mir und versuche, die richtige Haltung für mich zu finden, als es wieder laut knallt. Wir können ein Knacken hören, lange wird die Tür nicht mehr halten.

Liliana erbleicht, sie hatte wohl etwas mehr Vertrauen in das Eichenholz gesetzt.

„Verdammt! Was würde ich jetzt für eine Schrotflinte geben, ich würde kurzen Prozess mit ihnen machen und –“

Die schwere Kellertür zerbirst und drei fauchende Bestien springen die schmale Treppe herunter.

„Ziel auf ihre Köpfe, da müssten sie am empfindlichsten sein“, ruft mir Liliana zu und umklammert ihre provisorische Waffe. Während wir in den hinteren Teil des Kellers stolpern, versuchen wir alle drei im Blickfeld zu behalten, aber sie teilen sich bereits auf. Die in der Mitte hat ein Auge verloren und wirkt besonders wütend. Es ist nur ein leises Knurren zu hören und das Klackern ihrer riesigen Krallen, die sich in den brüchigen Steinboden des Kellers fressen. Trotz ihrer massigen Leiber bewegen sie sich mit erstaunlich geschickter Leichtigkeit.

„Anja, wir müssen die Luke neben dem Weinregal öffnen“, sagt Liliana neben mir leise.

„Die haben wir schon ewig nicht mehr benutzt. Keine Ahnung, wo der Schlüssel ist“, erwidere ich und beobachte die linke Bestie, die sich alarmierend schnell nähert.

Ich habe euch einmal überlebt, das schaffe ich auch ein zweites Mal!

Grimmig umklammere ich meine Axt mit beiden Händen. Irgendwie hat Lilianas kämpferisches Wesen auf mich abgefärbt und ich komme nicht umhin, sie zu bewundern.

„Was glaubst du wohl, weshalb ich in der Küche war?“, sagt sie und greift langsam in die Tasche ihres Morgenmantels, ohne ihren Blick von unseren Angreifern zu wenden. Sie zieht einen alten, leicht angerosteten Schlüssel aus der Tasche.

„Pass auf!“, schreie ich, als sich die von rechts näher kommende Bestie plötzlich aufrichtet und auf Liliana zuspringt. Sie weicht aber geistesgegenwärtig nach rechts aus und schlägt noch in der Drehung mit dem Schürhaken zu. Sie trifft die Bestie hart im Magen, woraufhin sie jaulend in den hinteren Bereich des Kellers zurückweicht. Triumphierend zwinkert Liliana mir zu.

Ein seltsames Raunen geht durch den Keller, als die anderen beiden plötzlich stehen bleiben. Ich höre wieder diese seltsamen Zischlaute, mit denen sie sich scheinbar verständigen.

Neben mir schnipst Liliana mit dem Finger, um meine Aufmerksamkeit zu erlangen. „Fang! Du bist näher dran. Ich kümmere mich um die beiden da“, ruft sie, scheinbar bestärkt von ihrem Erfolg, und wirft mir den Schlüssel zu. Ich fange ihn auf und trete vorsichtig nach hinten. Beide Wesen knurren und verfolgen mich mit ihren Augen.

Nur keine hektischen Bewegungen.

Vorsichtig schiebe ich den Schlüssel in die Luke, die früher zum Abladen von Kohle benutzt wurde.

Warum greifen sie nicht an?

Aber da beginnt eines von ihnen zu sprechen. Zischlaute, die ich nicht verstehe, und ich höre wieder dieses ominöse Wort: „Súrrr …“

Auch dieses Mal bewegen sich die Lippen nicht und trotzdem wird es lauter.

Brüllt sie mich etwa an?

Ich blicke zu Liliana rüber, die angewidert den Kopf schüttelt. Also ist es keine Einbildung, sie kann es auch hören. Da holt die Bestie plötzlich aus und zerhaut wütend eines der Metallregale, als wäre es aus Papier. Vor Schreck weiche ich zurück, bis ich die Wand in meinem Rücken spüre.

„Duck dich!“, brüllt Liliana und ich sehe aus dem Augenwinkel, wie eine der Bestien sich von links angeschlichen hat und mich anspringt. Gerade noch rechtzeitig rolle ich mich zur Seite weg, sodass sie, ohne mich zu erwischen, hart gegen die Wand prallt. Ihre langen Fangzähne haben meine Kehle nur um wenige Zentimeter verfehlt. Ich stehe bereits wieder auf den Beinen, während sich die Bestie noch benommen aufrappelt, da ergreife ich instinktiv die Initiative. Ich nehme all meine Kraft und meinen Mut zusammen und schlage zu.

Sie schreit nur kurz auf, als meine Axt ihren Kopf spaltet, und bleibt nach wenigen Zuckungen leblos liegen.

Benommen starre ich auf das tote Ding vor mir und kann nicht fassen, was gerade passiert ist – ich habe ein lebendes, atmendes Wesen getötet!

Aber ich weiß auch, dass ich es mir jetzt nicht leisten kann, einen Moralischen zu bekommen, da sich im Hintergrund ein Kreischen erhebt.

„Beeil dich!“, höre ich Lilianas verzweifelte Stimme.

Ich drehe am Schlüssel und das Schloss geht sofort auf – aber die Tür klemmt. Der Rahmen muss sich im Laufe der Jahre verzogen haben.

„Auf den Boden!“, ruft Liliana und ich reagiere wieder, so schnell es mir möglich ist, aber dieses Mal habe ich nicht so viel Glück. Die scharfen Krallen verfehlen mich zwar, aber das Gewicht des massigen Körpers erwischt mich mit ganzer Wucht. Wir krachen beide gegen die Lukentür, die nach diesem Aufprall mit einem leisen Knarren aufgeht.

Kühle Nachtluft strömt herein, als ich mich wieder aufrappele. Meine Schulter brennt wie Feuer. Die Bestie hat sich an der Türklinke verletzt und schüttelt benommen den Kopf. Liliana greift nach meinem Arm und hilft mir auf die Beine, dann zieht sie mich langsam von der Luke weg. Noch vom Aufprall benommen, versuche ich zu begreifen, warum wir uns vom Ausgang wegbewegen und nicht darauf zu. Vorsichtig drehe ich meinen schmerzenden Kopf, da erkenne ich den Grund: Vor der Luke steht die vierte Bestie und versperrt uns den Weg.

„Oh verdammt! Das sieht nicht gut aus“, flüstere ich.

„Bleib dicht bei mir und denk dran: Augen und andere Weichteile“, raunt Liliana und drückt mir unauffällig die Axt wieder in die Hand.

Die vierte Bestie springt in den Keller und gesellt sich zu ihren Artgenossen. Liliana und ich stehen Rücken an Rücken, unsere Waffen fest umklammert, als die drei beginnen uns zu umkreisen. Es ist offensichtlich, dass sie uns überlegen sind, daher wundert es mich, dass sie nicht angreifen. Spielen sie vorher mit ihren Opfern wie die Katze mit der Maus? Einer von ihnen zischt etwas und die anderen geben merkwürdige kehlige Geräusche von sich, fast wie ein Lachen. Und dann wird es mir klar: Sie verhöhnen uns und sie wollen, dass wir uns fürchten.

Diese Biester denken!

Ich umklammere meine Axt so fest, dass die Handknöchel weiß durchschimmern, als die drei sich plötzlich aufrichten und erstarrt innehalten.

Es hallt durch die Nacht, wie das Geheul eines aufkommenden Sturms. Ein Donnern, kurz bevor der Blitz einschlägt. Laut, furchteinflößend und … majestätisch schön!

Unsere drei Angreifer weichen irritiert in die hinteren Ecken des Kellers zurück. Liliana und ich sind für einen Augenblick vergessen. Das ist unsere Chance! Ich schnappe mir Lilianas Hand und ziehe sie zur Luke. Wir sind gerade hinausgeklettert, als drinnen bereits ein wütendes Zischen zu hören ist. Viel Vorsprung bleibt uns nicht.

„Was um Himmels willen war dieses Donnern gerade?“, fragt Liliana keuchend, als wir über den Hof laufen.

„Ich habe keine Ahnung, aber was immer es war, es hat uns vorerst das Leben gerettet“, antworte ich.

Etwas ratlos bleiben wir stehen. Wir haben keinen konkreten Fluchtplan, deswegen hat auch niemand von uns an die Autoschlüssel gedacht.

„Die Polizei müsste doch jeden Augenblick kommen. Wir sollten uns so lange dort drin verbarrikadieren“, sage ich und deute auf unseren alten Schuppen.

„In diesem baufälligen Verschlag? Die husten das Ding doch einmal an und es fällt in sich zusammen“, antwortet Liliana kopfschüttelnd.

Im Keller erhebt sich wildes Geheul und die Luke wird regelrecht aus den Angeln gehoben.

„Lauf!“, schreie ich und ziehe Liliana am Ärmel. Sie rafft ihren Morgenmantel hoch und rennt los.

„Wir sollten den Feldweg runter der Polizei entgegenrennen“, ruft sie keuchend.

„Okay!“

Meine Lungen brennen und es ist so dunkel, dass ich kaum die eigene Hand vor Augen erkenne, geschweige denn einen Weg. Ständig stoße ich an Steine oder Wurzeln. Ich höre, wie unsere Verfolger näher kommen, da stolpere ich und falle der Länge nach hin. Liliana bleibt stehen und rennt zu mir zurück. „Los, steh auf!“ Sie packt mich am Ärmel, aber da wird sie bereits von einem schweren Körper angesprungen und niedergeworfen. Ich kann ihren erstickten Schrei hören, als sie hart auf dem Boden aufschlägt.

„Mama?“, schreie ich entsetzt und versuche in der Dunkelheit etwas zu erkennen, höre aber nur ihr angsterfülltes Wimmern. Ich will gerade aufstehen, da spüre ich plötzlich etwas Nasses im Gesicht. Als ich hochsehe, erkenne ich den Umriss eines der Wesen, das sich langsam über mich beugt. Sein Speichel tropft mir ins Gesicht.

Sie haben uns also doch erwischt!

Aus dieser Sache kommen wir nicht mehr raus – nicht ohne Hilfe! Wo ist denn nur die verdammte Polizei?

Es kommt wieder wie ein Donnerschlag, ein Brüllen so gewaltig, dass ich denke, die Erde tut sich auf. Ich erkenne vage, wie sich die Bestien ducken und fauchend zurückweichen. Doch sie kommen nicht weit.

Riesige Schatten reißen sie von den Beinen und drücken sie zu Boden. Gebannt starre ich in die Dunkelheit, sehe aber nur schattenhafte Bewegungen.

Plötzlich greift etwas nach meinem Arm. Ich zucke zusammen, aber es ist nur Liliana, die mich aus der Gefahrenzone ziehen will. Ich rappele mich auf und folge ihr hinter eine Baumreihe. Sie humpelt.

„Bist du verletzt?“

„Ich bin nur etwas unglücklich gestürzt und habe mir die linke Seite geprellt. Nicht so schlimm“, flüstert sie. Liliana war schon immer hart im Nehmen.

Wir hören einen kurzen, erstickten Schrei, als Sekunden später ein lautes Siegesgebrüll ertönt.

„Was um alles in der Welt ist das?“, stöhne ich und halte mir die Ohren zu.

Ein weiterer riesiger Schatten huscht an mir vorbei und tosende Kampfgeräusche sind zu hören. Eine der Bestien zischt im Todeskampf, bis nach wenigen Augenblicken wieder Stille einkehrt.

Ich vernehme ein leises Knurren, das sich langsam entfernt.

Erstaunt blicke ich in die Richtung und versuche etwas zu erkennen, als ein Wagen mit Blaulicht den Feldweg hochfährt.

Die Polizei ist jetzt schon seit geschlagenen vier Stunden hier. Während die Spurensicherung fieberhaft arbeitet, werden wir von zwei Beamten befragt. Liliana wächst über sich hinaus und erzählt aus dem Stegreif eine Überfallgeschichte, die sogar in sich stimmig ist. Sie lügt, dass sich die Balken biegen, ich nicke nur ab und an zur Bestätigung. Ich bin erschöpft, verwirrt und zum Umfallen müde. Als die Polizisten endlich gehen, erscheint bereits die Morgenröte.

8

Gerädert von der kurzen Nacht blinzele ich müde zum Wecker: kurz nach ein Uhr. Vorsichtig schiebe ich meine Decke zur Seite und schlüpfe in meine blauen Plüschpantoffeln. Meine Schulter schmerzt nach den gestrigen Ereignissen wieder. Schlurfend steige ich die Treppe hinunter und schaue mich nach Liliana um. Ich höre sie in der Küche werkeln. Ein kurzer Rundblick im Flur zeigt mir das Ausmaß der Verwüstung. Die Möbel sind zum größten Teil zertrümmert und mehrere Fenster eingeschlagen. Die Polizeibeamten hatten uns zwar nahegelegt, in ein Hotel zu ziehen, aber wir waren einfach zu erschöpft. Sie verklebten daraufhin freundlicherweise die Fenster mit Folien, um wenigstens etwas die Kälte auszusperren.

Ich laufe in die Küche, um zu sehen, wie es Liliana nach dieser Horrornacht geht. Sie hat Kaffee aufgesetzt und den Backofen angemacht. Als sie mich hört, dreht sie sich um und kommt mit offenen Armen auf mich zu. „Wie geht es dir, Angyalom?“, fragt sie und schaut mich eindringlich an.

„Ich bin okay, aber was ist mit dir, Mama?“

„Unverwüstlich – wie ein alter VW Käfer“, antwortet sie mit ihrem süßen Akzent und macht eine wegwerfende Handbewegung.

„Und deine Prellungen?“

„Werden schon heilen!“

Sie ist stark und ich bin froh darüber, denn eine ängstliche, weinerliche Person könnte ich an diesem Morgen nicht ertragen.

„Weißt du, egal wie schlimm die Lage sein mag, etwas Gutes habe ich zu berichten“, sagt sie strahlend und schiebt die Brötchen in den Ofen.

„Eine gute Nachricht ist jetzt genau, was ich brauche.“

„Der Plasmafernseher hat es überlebt!“

„Wie schön, dass du Prioritäten setzt.“ Grinsend hole ich die Kaffeebecher aus dem Schrank.

Bevor wir in den frühen Morgenstunden müde ins Bett gefallen waren, haben wir kein Wort mehr über den Angriff verloren. Doch jetzt, finde ich, ist ein guter Zeitpunkt, dieses Thema wieder aufzugreifen. „Du hast der Polizei letzte Nacht ja eine wilde Geschichte aufgetischt.“

Sie dreht sich nicht um, sondern beginnt, Käse und Wurstaufschnitt auf einem Teller anzurichten – sehr langsam, wie ich finde.

„Nun, die Wahrheit hätten sie uns wohl auch kaum abgenommen“, antwortet sie in einem belanglosen Tonfall.

„Was genau ist denn die Wahrheit? Ich meine, uns ist beiden doch wohl klar, dass solche Tiere nicht existieren! Aber trotzdem waren sie hier und haben uns fast getötet!“

Schweigen.

„Außerdem hat die Polizei nirgendwo Kadaver gefunden. Also sind sie wieder, wie damals in der Tiefgarage, verschwunden. Aber so etwas dürfte eigentlich nicht passieren – nicht in meiner Welt!“

Schweigen.

„Mama, du weißt etwas! Das ist mir schon seit dem Krankenhaus klar, also bitte rede mit mir.“

Seufzend dreht sie sich um, greift nach meiner Hand und zieht mich zum Küchentisch rüber. „Seit deiner Geburt habe ich mich vor diesem Tag gefürchtet. Doch ich bin in letzter Zeit wohl etwas nachlässig geworden, vermutlich weil bisher nie etwas passiert ist. Die Alltagsroutine hat mich unvorsichtig werden lassen.“

„Was meinst du damit? Hast du so einen Angriff etwa erwartet?“, frage ich irritiert.

„Vielleicht nicht so einen Angriff. Ich hatte keine Ahnung, was passieren könnte, außer dass wir in Gefahr waren … genaugenommen dass du stets in Gefahr warst!“

Meine Kinnlande klappt runter.

„Ich? Warum?“

Sie atmet geräuschvoll aus und bedenkt mich mit einem sonderbaren Blick. So hat sie mich noch nie angesehen und es gefällt mir ganz und gar nicht.

„Anja, was ich dir jetzt zu sagen habe, ist sehr, sehr wichtig! Ich möchte, dass du mir aufmerksam zuhörst und dich vor allem nicht aufregst. Kriegst du das hin?“

„Aufmerksam zuhören?“

„Nein, Schatz, dich nicht aufregen.“

„Wie kann ich dir das versprechen, wenn ich nicht weiß, worum es geht?“

Resigniert fährt sie sich durchs Haar. „Das, was uns letzte Nacht widerfahren ist, hängt mit der Herkunft deines Vaters zusammen. Ich hatte dir zwar erzählt, dass er durch einen Verkehrsunfall ums Leben kam, aber das war nicht die Wahrheit.“ Sie schluckt und blickt zu Boden. „Er wurde ermordet!“

„Ermordet?“, flüstere ich bleich. „Von wem? Warum?“

„Das weiß ich bis heute nicht, es ging alles so verdammt schnell! Attentäter, sagte man mir nur.“

Attentäter? Wer zur Hölle war mein Vater?

Sprachlos und völlig geplättet beobachte ich, wie Liliana aufsteht und sich ans Fenster stellt. Sie spricht weiter, aber ihre Stimme klingt seltsam fremd.

„Als es passierte, war ich gerade mal zwei Tage in der Villa zu Besuch. Ich war so jung und unerfahren und von Hakon wusste ich so gut wie nichts. Außer, dass er aus einem sehr reichen und mächtigen Haus stammte. Kennengelernt habe ich damals aber nur seine Großtante Sophia. Sie war in höchstem Maße einschüchternd und ließ mich nur allzu deutlich spüren, dass sie weder mich noch meine Herkunft billigte.“

Liliana macht eine Pause und fährt eine imaginäre Linie am Fensterrahmen entlang. „Es regnete. Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen. Es war einer dieser grauen, kalten Herbsttage und ich hatte wieder einen fürchterlichen Streit mit Sophia hinter mir. Ich saß heulend auf dem Bett und Hakon versuchte zu vermitteln, aber ich reagierte auf seine Beschwichtigungsversuche wie ein trotziges Kind. Er sagte, er würde mir etwas Zeit geben und später wiederkommen.“ Eine Träne läuft über ihr hübsches Gesicht. „Er wollte wiederkommen …“

„Was ist passiert?“, frage ich vorsichtig.

„Er kam nicht wieder. Kurze Zeit später fand man ihn blutüberströmt im Garten. Ein Dolch steckte in seinem Hals.“

Mir bleibt vor Schreck die Luft weg und ich sehe, wie sich Lilianas Haltung versteift.

„Ich war wie von Sinnen und wollte nicht von seinem toten Körper weichen, aber Sophia betrachtete mich wie ein lästiges Insekt, das sie am liebsten zertreten hätte. Ich hatte es nur Alvar zu verdanken, dass sie mich nicht sofort vor die Tür setzte.“

„Wer ist Alvar?“

„Seine genaue Funktion hat sich mir nie ganz eröffnet. Er ist wohl eine Art Berater der Gollnir-Familie und Hakon legte stets großen Wert auf seine Meinung. Er war der Einzige, der mir in meiner Trauer beistand. Ich denke, ohne ihn wäre ich damals zerbrochen.“

Liliana dreht sich um und lehnt sich mit dem Rücken gegen das Fenster. „Ich wusste erst seit ein paar Tagen, dass ich schwanger war. Hakon und ich hatten uns nur Alvar anvertraut, doch jetzt musste auch Sophia eingeweiht werden. Sie ist fast ausgeflippt, als sie davon erfuhr. Zuerst dachte ich, es wäre wegen meiner unstandesgemäßen Herkunft, aber es ging ihr gar nicht um mich – sie war deinetwegen so aufgeregt! Sie baten mich kurz darauf zu einer geheimnisvollen nächtlichen Unterredung und Alvar berichtete mir, dass die komplette Gollnir-Familie ausgelöscht werden sollte. Hakon war ein Einzelkind und Sophia nur angeheiratet, daher war mit Hakons Ermordung die Blutlinie erloschen – zumindest sollten das alle weiterhin so glauben. Niemand durfte zu diesem Zeitpunkt erfahren, dass es doch einen Nachkommen gab – dich!“

In meinem Kopf dreht sich alles, während Liliana sich wieder an den Küchentisch setzt. „Sie sagten, dass sie zu diesem Zeitpunkt meinen Schutz nicht gewährleisten konnten, da sie niemandem trauten, noch nicht einmal der Dienerschaft. Also gaben sie mir eine größere Geldsumme und legten mir nahe, ins Ausland zu fliehen. Hakons Attentäter würden auch hinter mir her sein, wenn sie je von deiner Existenz erfahren sollten. Alvar befahl mir, sämtliche Brücken hinter mir abzubrechen und auf gar keinen Fall mit irgendjemandem darüber zu sprechen. Ich sollte anfangs nie lange an einem Ort bleiben. Es durften keine Spuren bleiben, die man zu mir – und damit zu dir – hätte zurückverfolgen können. Er kümmerte sich um alle notwendigen Papiere, Einreisegenehmigungen und was sonst noch von Nöten war, um neu anzufangen. Mein eigentliches Ziel war Paris. Dort wollte ich schon immer leben, aber das Schicksal hatte wohl andere Pläne für mich. Anfangs beherzigte ich noch Alvars Rat und zog alle paar Jahre in eine andere Stadt, aber ich beobachtete mit wachsender Sorge deine Veränderung. Die ständigen Ortswechsel waren nicht gut für dich; du wurdest immer verschlossener. Ich wollte, dass du eine unbekümmerte und fröhliche Kindheit hast. Also kaufte ich von dem letzten bisschen Geld, das noch übrig war, unser Häuschen. So sind wir dann hier gestrandet.“

Ich nicke benommen und versuche das eben Gehörte zu verarbeiten. „Hast du jemals wieder etwas von den Gollnirs gehört?“, frage ich nachdenklich. „Ich meine, irgendwie bin ich doch auch ein Teil dieser Familie?“

„Nein, nie wieder! Und – ehrlich gesagt habe ich das bisher auch nicht bedauert. Aber die jüngsten Ereignisse zeigen wohl, dass mich die Vergangenheit letztendlich doch eingeholt hat.“

„Ein solcher Aufwand, nur um mich vor irgendwelchen dubiosen Attentätern zu schützen? Wer um Himmels willen war mein Vater?“

„Ich weiß nicht viel über die Gollnirs, außer dass es sich um ein sehr altes und mächtiges Adelsgeschlecht handelt.“

Und zum zweiten Mal klappt meine Kinnlade runter. „Ich gehöre zum ungarischen Adel?“

„Nicht direkt zum ungarischen Adel“, antwortet Liliana zögernd und schaut mich wieder auf diese sonderbare Art an.

Ein ganz merkwürdiges Gefühl macht sich tief in meinem Bauch breit. Ich fühle, dass der große Knall noch kommt.

„Okay, nicht ungarisch, dann vielleicht österreichisch?“, hake ich ungeduldig nach.

„Die Gollnirs haben nur eine Residenz in Budapest, aber sie sind nicht aus Ungarn. Genaugenommen sind sie noch nicht einmal von dieser Welt!“

Ich starre sie ungläubig an. „Wie meinst du das?“

„Angyalom, du bist nur zur Hälfte ein Erdenmensch!“

9

In meinem Kopf beginnt sich alles zu drehen. Ich spüre, wie mir das Blut aus dem Gesicht weicht und das Atmen immer schwerer fällt.

Liliana betrachtet mich mit wachsender Sorge. „Um Himmels willen, du wirst doch jetzt nicht ohnmächtig?“

Sie springt auf und schenkt mir ein Glas Wasser ein.

„Ich bin in der Twilight-Zone“, murmele ich benommen.

Liliana streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und drückt mir das Glas in die Hand. „Ich kann mir vorstellen, dass das jetzt ein Schock für dich ist. Wären diese Bestien nicht aufgetaucht, hätte ich es dir wahrscheinlich nie erzählt. Ich wollte stets, dass du ein normales und glückliches Leben führst. Manchmal sollte man die Vergangenheit einfach ruhen lassen.“

„Herrgott, ich stamme von E.T. ab! Also ich denke schon, dass das erwähnenswert ist! Wie konntest du mir diese Wahrheit nur all die Jahre vorenthalten?“, fahre ich sie wütend an.

„Es tut mir leid, Angyalom“, flüstert sie und schaut bedrückt zu Boden. „Ich wollte die richtigen Entscheidungen für dich treffen, doch ich war noch so jung und unerfahren – und mutterseelenallein.“

Mein schlechtes Gewissen rührt sich. Sie war damals jünger als ich jetzt und ich kann nur erahnen, was sie durchgemacht hat. Hochschwanger, ohne den Schutz der Familie oder Freunde in einem fremden Land, und als ständiger Begleiter die Angst. Das war kein Leben für einen jungen Menschen. Ich bin beschämt über meinen egoistischen Ausbruch. „Verzeih mir, ich bin so ein Stoffel. Es ist nur … oh Gott, es ist, als hätte mir jemand den Teppich unter den Füßen weggezogen.“

Liliana schenkt uns Kaffee ein, dann setzt sie sich wieder an den Küchentisch. In meinem Kopf sprudeln die Fragen fast über. „Also wer oder was war mein Vater? Ein Außerirdischer? Muss ich befürchten, dass mir irgendwann Schuppen wachsen?“

„Nein, natürlich nicht. Die Gollnirs sind Menschen wie du und ich. Sie sind nur nicht von hier. Ihre Welt heißt Aldarúun.“

„Aldarúun“, wiederhole ich ehrfürchtig. „Ist das ein anderer Planet? Wie sind sie hierhergekommen? In Raumschiffen?“

„Nein, sie kamen durch ein Dimensionsportal.“

„Ein Dimensionsportal?“, wiederhole ich skeptisch. „Klingt weit hergeholt.“

„Ach ja? Und was hat uns gestern angegriffen?“, erwidert sie trocken. „Mutierte Eichhörnchen?“

„Wenn solche Portale wirklich existieren, warum wurden sie bisher nicht entdeckt?“

„Weil sie vor sehr langer Zeit versiegelt wurden. Nur wenigen Auserwählten ist es gestattet, die Tore zu passieren – und dazu gehören eben Mitglieder der Gollnir-Familie.“

„Nun, scheinbar entspricht das nicht mehr ganz den Tatsachen, denn mittlerweile kommen wohl auch andere Wesen durch das Tor“, antworte ich.

„Irgendetwas muss passiert sein“, murmelt Liliana und wirft mir einen düsteren Blick zu. „Etwas Schlimmes! Und wir sind hier nicht mehr sicher.“

Seufzend setze ich meine Tasse ab. Irgendwie kann ich das alles nicht glauben, aber meine verletzte Schulter sowie unsere zertrümmerte Einrichtung sind Zeugen für die jüngsten Ereignisse.

„Und was waren das für merkwürdige Schatten?“

„Ich habe keine Ahnung, Anja. Aber wir verdanken ihnen unser Leben.“

Wir sitzen stumm da und nippen an unserem Kaffee.

„Was machen wir denn jetzt?“, unterbreche ich die Stille. „Wenn sie wirklich hinter mir her sind, bedeutet es ja wohl, dass meine Existenz – und noch viel schlimmer, mein Aufenthaltsort kein Geheimnis mehr ist. Ich bezweifele, dass das der letzte Angriff war. Hatte man dir denn keine Anweisungen gegeben, falls wir doch irgendwann entdeckt werden?“

„Ich glaube, so weit hat damals keiner gedacht. Alvar wollte zu diesem Zeitpunkt lediglich verhindern, dass zu viele von meiner Existenz wussten, geschweige denn Zeuge meiner Schwangerschaft wurden. Er wollte warten, bis sich die politischen Wogen geglättet haben, und mich dann zurückholen. Aber er ist nie wieder aufgetaucht.“

„Kann es sein, dass du dich zu gut versteckt hast?“, frage ich schmunzelnd.

„Möglich“, antwortet sie grinsend. „Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte unser Leben wunderbar so weiterlaufen können.“

„Tja, ich schätze, diese Option steht nicht mehr zur Debatte“, sage ich.

„Da hast du recht, Schatz“, sagt Liliana plötzlich mit fester Stimme und setzt geräuschvoll ihre Tasse ab. „Es wird Zeit, dass die Herrschaften endlich Verantwortung übernehmen. Niemand hatte mich auf solch eine Situation vorbereitet. Ich werde versuchen, Sophia zu finden und zu kontaktieren. Zwar kann ich mich an die Adresse nicht mehr erinnern, aber dieses Haus ist eines der größten und elegantesten in ganz Budapest. Irgendwie werde ich sie schon finden. Du bist ein Mitglied dieser Familie und ich werde dein Recht jetzt einfordern. Hoffentlich haben sie ihren Aufenthalt dort nicht bereits abgebrochen. In der Zwischenzeit werden wir Vorkehrungen treffen. Wir werden in jedem Raum Waffen deponieren: Äxte, Baseballschläger, Pfeffersprays … alles, was wir auftreiben können. Wir wissen nicht, wann der nächste Angriff kommt, aber dieses Mal werden wir vorbereitet sein. Außerdem werde ich eine Schrotflinte besorgen.“

„Aber du hast keinen Waffenschein?“

„Nein, aber ich habe Beziehungen“, antwortet sie augenzwinkernd und öffnet die Backofentür, um die Brötchen rauszuholen.

Nach dem Frühstück beginnen wir das Chaos im Wohnzimmer zu beseitigen. Als ich noch schlief, hat Liliana einen Glaser und einen Schreiner angerufen, die noch heute vorbeikommen wollen.

„Vielleicht können wir das eine oder andere Möbelstück retten“, sage ich hoffnungsvoll und schaue mich um.

Das Sofa hat nur ein paar Kratzspuren abbekommen, da könnten wir eine Decke überwerfen. Der Wohnzimmertisch ist zu Bruch gegangen, aber das Gestell steht noch. Hier dürfte eine neue Glasplatte ausreichen. Aber die Regale und der Fernsehsessel sind nur noch zersplitterte Einzelteile.

„Ich habe ein bisschen Reservegeld, falls mal etwas mit dem Auto sein sollte“, sagt Liliana, „das wird für die Reparatur der Tür und der Fenster reichen.“

Ich beginne gerade die Scherben zusammenzufegen, als ich mitten in der Bewegung innehalte und zur kaputten Verandatür sehe. Liliana, die gerade erörtert, was die Handwerker wohl für ihre Arbeit nehmen werden, folgt meinem Blick. „Ah, da bist du ja schon wieder“, sagt sie und ein verzücktes Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht. „Sie stand schon heute Vormittag da. Irgendwann war sie dann weg.“

Auf der Terrasse sitzt eine kleine schwarze Katze und schaut neugierig in unser verwüstetes Wohnzimmer. Mit vorsichtigen Schritten gehe ich auf sie zu, um sie nicht zu erschrecken. „Hey, du kleine Schönheit, wer bist du denn?“

Katzen sind mein Ein und Alles! Ich würde mir gerne eine halten, aber Liliana und ich sind den ganzen Tag nicht zu Hause.

Langsam senke ich meine Hand, aber sie weicht zurück und beobachtet mich wachsam.

„Hm, hast du sie schon mal gesehen? Ich weiß mit Sicherheit, dass die Burkhardts keine Katze haben, und das sind so ziemlich unsere einzigen Nachbarn.“

„Keine Ahnung, wo sie herkommt, aber sie ist wirklich bildhübsch“, sagt Liliana.

Ich betrachte sie genauer. Sie hat ein seidiges schwarzes Fell mit weißen Pfötchen und Kragen. Auch die Schnurrbarthaare sind weiß, was einen schönen Kontrast auf dem schwarzen Fell bildet.

„Sie trägt kein Halsband, ob sie wohl tätowiert ist?“ Ich bücke mich zu ihr runter und versuche, in ihre Ohren zu schauen, kann aber nichts erkennen.

„Viele Katzen haben heutzutage auch einen Chip“, meint Liliana.

„Haben wir Milch im Haus?“

Sie nickt und läuft in die Küche. Eine Minute später kommt sie mit einem kleinen Schälchen wieder. Gebannt beobachten wir das kleine Fellknäuel, aber es unternimmt keine Anstalten, von der Milch zu trinken. Es starrt mich nur mit kreisrunden Augen an.

Es ist Nachmittag und die Handwerker nehmen Maß für die neuen Fenster. Irgendwann schaue ich wieder auf die Veranda und stelle fest, dass die Schüssel leer und die Katze verschwunden ist. Lächelnd packe ich das Geschirr in die Spülmaschine.

Am nächsten Morgen sind wir beide schon ziemlich früh wach und laufen uns im Badezimmer über den Weg. Liliana spült sich gerade den Mund aus und stellt ihre Zahnbürste in den Becher. „Nach dem Frühstück fahre ich rasch einkaufen. Vorher rufe ich aber meinen Chef an und versuche ein paar Tage Urlaub zu bekommen, damit ich mit der Suche nach Sophia beginnen kann – und wir dieses Chaos wieder in den Griff kriegen.“

Ich bin froh, dass ich diese Diskussion mit Herrn Meinel nicht führen muss, da ich noch die nächsten vierzehn Tage krankgeschrieben bin.

Nach dem Duschen laufe ich die Treppe hinunter und freue mich auf eine schöne Tasse Kaffee, als ich um die Ecke biege und Liliana fast über den Haufen renne. Überrascht bleibe ich stehen. Sie schaut Richtung Veranda und schüttelt ungläubig den Kopf. „Nun sieh dir das an, Anja.“

Ich folge ihrem Blick und muss unweigerlich grinsen. Die hübsche schwarze Katze sitzt wieder da und beobachtet uns aufmerksam, und – sie ist nicht allein! Eine zweite, mit der gleichen Färbung, sitzt neben ihr und blickt neugierig zu uns rüber.

„In der Katzenwelt hat sich wohl herumgesprochen, dass es hier Milch für lau gibt“, sagt Liliana lächelnd und betrachtet die beiden liebevoll.

„Vielleicht könntest du etwas Trockenfutter mitbringen?“, schlage ich vor.

„Das ist eine gute Idee. Ich fahr dann mal los. Bis später.“

Nachdem sie weg ist, beschließe ich, mir die zwei kleinen Besucher genauer anzuschauen. Diejenige, die heute dazugekommen ist, wirkt etwas fülliger, aber ansonsten unterscheiden sie sich kaum. Ich setze mich im Schneidersitz auf den Boden und betrachte die beiden lächelnd. „Meine Güte, ich könnte nicht entscheiden, wer von euch beiden hübscher ist. Wenn ich doch nur wüsste, zu wem ihr gehört?“

Sie wirken nicht wie Streuner, denn ihr Fell sieht sehr gepflegt aus und sie sind gut im Futter. Doch sie benehmen sich seltsam. Irgendwie sind sie stets in Lauerstellung. Jede meiner Bewegungen wird aufmerksam verfolgt und sie geben keinen Laut von sich.

Gerade, als ich die Spülmaschine anwerfen will, höre ich Lilianas Auto in der Auffahrt. Ich laufe ihr entgegen, um ihr beim Hereintragen der Einkäufe zu helfen.

„Gott, war das wieder ein Gedränge und eine Schlange, die bis zu den Kühltheken reichte. Ich verstehe nicht, warum sie keine zweite Kasse öffnen, wenn es so voll ist“, schimpft Liliana lauthals.

Sie hat tatsächlich Katzenfutter gekauft und ich breite die Dosen auf dem Küchentresen aus. Ungläubig lese ich, was auf den Etiketten steht: „Forelle mit Lachs in feiner Kräutersoße? So etwas Edles essen noch nicht mal wir.“

„Ach, Unsinn! Die tun da nur Fischreste rein. Außerdem habe ich mal gelesen, dass Katzenfutter zu neunzig Prozent aus Wasser besteht. Die Fleischreste werden mit Flüssigkeit aufgebläht, weil Katzen faule Trinker sind und sie durch das Nassfutter ihren Feuchtigkeitshaushalt regulieren“, erklärt sie und packt weiter die Sachen weg.

Als wir am Abend endlich mit unseren Aufräumarbeiten fertig sind, setzen wir uns müde an den Esszimmertisch. Ich habe uns Ravioli aus der Dose warm gemacht, da wir beide zu müde zum Kochen sind. Den beiden Pelzköpfen haben wir jeweils eine Dose Katzenfutter aufgemacht, aber sie haben nur daran geschnuppert und sind wieder verschwunden.

„Na, deine Forelle mit Lachs in feiner Kräutersoße scheint bei unseren kleinen Gästen nicht wirklich anzukommen“, sage ich grinsend und schaue den beiden Fellknäueln hinterher. Liliana schnaubt etwas von „verwöhnten Viechern“, als sie kurze Zeit später den Inhalt der Schüsseln in die Toilette kippt.

Nächster Morgen. Es ist kurz vor halb neun. Ich stehe im Badezimmer und binde meine Haare gerade zu einem Pferdeschwanz, als Liliana wild gestikulierend hereinstürzt.

„Das glaubst du nie! Nie im Leben!“, sprudelt es aus ihr heraus. Sie packt meine Hand und zieht mich hinter sich her. Ich will sie fragen, was in sie gefahren ist, aber sie faselt nur etwas von Klonen und anderem wirren Zeug. Sie zerrt mich ins Wohnzimmer und deutet auf die Verandatür. „Da! Sieh dir das an!“

Jetzt verstehe ich ihre Aufregung. Unser üblicher kleiner Gast sitzt wieder vor der Tür, samt seinem rundlichen Freund – und einem dritten pelzigen Neuzugang.

„Die vermehren sich wie die Gremlins“, sagt Liliana aufgeregt, „ich wette mit dir, die sind aus irgendeinem Labor entflohen.“

„Sicher“, erwidere ich spöttisch und betrachte die Neue. Sie ist etwas größer als die anderen zwei, hat aber das gleiche Fell und dasselbe eigentümliche Verhalten. Ich gehe langsam auf die drei zu, und sie weichen dieses Mal nicht zurück, auch nicht, als ich in die Knie gehe. „Wer seid ihr bloß? Und wo kommt ihr her?“, denke ich laut, als sich plötzlich unser erster kleiner Gast erhebt und langsam auf mich zutapst. Ich habe meine Hände auf die Knie gelegt und warte überrascht ab. Sie kommt vorsichtig näher, schnuppert und leckt ein paar Mal über meine Hand. Dann setzt sie sich auf ihre Hinterläufe und schaut mich auf diese sonderbar eindringliche Art an.

„Da wird doch nicht etwa jemand noch zutraulich?“, frage ich erstaunt und betrachte das hübsche kleine Gesicht mit den weißen Schnurrbarthaaren.

Vorsichtig strecke ich ihr meine Hand entgegen, und sie rührt sich nicht von der Stelle. Ihr Fell ist seidig weich und ich würde sie am liebsten auf den Arm nehmen, aber ich will mein Glück nicht überstrapazieren. Ich fahre ihr ein paar Mal vorsichtig durchs Fell, da steht sie wieder auf und tapst zu ihren beiden Artgenossen zurück.

„Nanu, das war aber seltsam, fast wie ein Freundschaftsangebot“, sagt Liliana im Hintergrund. Sie kommt näher und geht ebenfalls in die Hocke. „Übrigens, was mir an ihnen aufgefallen ist: Alle drei sind Kater.“

„Ehrlich? Bist du sicher?“

„Sie sind nicht kastriert. Sie haben noch ihre kleinen schwarzen Bällchen.“

Liliana erhebt sich lachend, als sie meinen pikierten Gesichtsausdruck sieht, und verschwindet in der Küche. Auch ich mache mich wieder an die Arbeit.

Liliana und ich haben Wetten abgeschlossen, wie viele noch in den nächsten Tagen auftauchen würden, aber wir liegen beide falsch.

10

Der Angriff ist jetzt fünf Tage her. Die Fenster und die Terrassentür sind repariert. Das Restgeld hat Liliana beiseitegelegt. Wer weiß, was noch auf uns zukommt.

Sie ist stellvertretende Abteilungsleiterin eines Baumarktes und hat ihren Chef tatsächlich überreden können, ihr kurzfristig zwei Wochen Urlaub zu gewähren. Somit hat sie die letzten Tage damit verbracht, herumzutelefonieren – und ist tatsächlich fündig geworden. Alvar war hocherfreut, dass es uns gut geht, und sagte, dass er schon länger nach uns suche. Außerdem, dass wir so schnell wie möglich aufbrechen sollten, da weiterhin Gefahr drohe. Beschützen könnten sie uns am besten in der Villa. Wir haben so etwas nicht nur geahnt, sondern auch befürchtet.

Es ist Freitag und wir wollen morgen Abend losfahren, da nachts die Autobahn nicht so voll ist. Alvar sagt, wir dürfen mit niemandem über unsere Flucht reden – auch nicht mit Ramona. Das schmeckt mir gar nicht, aber ich füge mich. Da wir nicht wissen, wann wir wieder zurückkommen werden, haben Liliana und ich beschlossen, den letzten Tag in unserem geliebten Zuhause mit ihr zu verbringen. Wir haben unseren Frauenabend vorverlegt, der einmal im Monat stattfindet. Eingeführt haben wir ihn vor etwa einem Jahr, als Ramona wieder einmal ihren Liebeskummer auf unserem Sofa ausweinte.

Ich war in der Stadt, um noch ein paar Besorgungen für unsere Reise zu erledigen, und schiebe gerade den Schlüssel in die Haustür, als ein kleiner schwarzer Blitz um die Ecke schießt. „Hey, Dickerchen, wo kommst du denn her?“ Ich bücke mich und streichele sein seidiges Fell, während er sich schnurrend gegen meine Hand drückt.

Den kleinen Kater nennen wir Kleiner, den dicken Kater Dicker und den großen Kater … na, wer hätte das gedacht … Großer. Ich weiß, einfallsloser geht es nicht mehr, aber wir wollten unsere Herzen nicht allzu sehr an die drei Racker binden. Leider ist das in den letzten Tagen bereits passiert. Sie sind so unglaublich zutraulich und liebenswert. Warum mussten sie uns ausgerechnet jetzt zulaufen?

Verdammt – echt schlechtes Timing!

Ich muss morgen dringend die Burkhardts fragen, ob sie sie aufnehmen. Die kleine Natalie wird sich bestimmt freuen.

Ich schließe die Tür auf. „Na, komm rein, mein Süßer! … Mama? Wo steckst du?“

„In der Küche“, höre ich eine gedämpfte Stimme. Ich lege meine Tasche ab und folge ihr. Dicker tapst hinter mir her.

Liliana sitzt am Küchentisch und umklammert eine Tasse. Ihr Ausdruck ist starr auf ihren Tee gerichtet.

„Was ist los?“, frage ich besorgt und setze mich ihr gegenüber. Sie blickt kurz auf. Ihre Kiefer mahlen. „Alvar sagt, dass wir uns keine Sorgen machen müssen. Das Haus Gollnir wird vor Ort alles regeln – was auch immer das bedeutet. Ich habe für all das hier so hart gearbeitet …“

„In drei Monaten beginnt meine Ausbildung, denkst du, bis dahin ist alles geregelt?“

Liliana wirft mir einen merkwürdigen Blick zu. „Ich hoffe es“, antwortet sie leise. „Aber irgendwie habe ich ein ganz merkwürdiges Gefühl.“

„Wie meinst du das?“, frage ich stirnrunzelnd.

„Sie haben mich damals nicht ohne Grund weggeschickt. Und scheinbar hat sich das Problem in den letzten zwanzig Jahren nicht aufgelöst.“

„Verstehe.“ Ich atme geräuschvoll aus und blicke auf meine Fingernägel. Es ist still. Nur das Ticken der Wanduhr ist zu hören. „Also, willst du damit sagen, dass wir vielleicht eine lange Zeit nicht mehr zurückkommen werden?“, frage ich tonlos.

„Gut möglich, Anja.“

Ich nicke stumm und wieder ist nur das Ticken der Uhr zu hören.

Liliana legt ihre Hand auf meine und lächelt mir aufmunternd zu. „Jetzt warten wir erst einmal ab, was kommt. Antworten werden wir in Budapest erhalten. Und dann können wir immer noch entscheiden, was wir tun werden.“

Ich lächele zurück, bin aber trotzdem nicht glücklich, wie alles verläuft.

„Wann will Moni hier sein?“, fragt Liliana.

„In einer Stunde“, antworte ich. „Das lässt mir noch Zeit für ein Bad.“ Ich stehe auf und gehe die Treppe hoch.

Das Wasser läuft noch in die Badewanne, da höre ich ein Kratzen an der Tür. Ach ja, wie konnte ich das vergessen! Ich öffne sie einen Spalt und die drei kleinen Pelzköpfe huschen herein. Sie setzen sich auf ihre üblichen Beobachtungsplätze: Dicker auf die Waschtruhe, Großer auf den Badewannenrand am Fußende und Kleiner am Kopfende. Normalerweise scheuen sie das Wasser wie jede andere Katze auch, aber mein tägliches Waschen scheint sie zu faszinieren.

Die Woche war anstrengend – nicht nur physisch, auch mental –, und das warme Wasser ist eine Wohltat. Ich entspanne mich und schließe die Augen. Jetzt bloßnicht einschlafen, denke ich, aber das warme Wasser sowie der Stress, der von mir abfällt, tun ihr Übriges …

„Aauu!“ Hustend richte ich mich in der Wanne auf und habe den Geschmack des Badeöls im Mund. Ich begreife, dass ich tatsächlich eingenickt und wohl ins Wasser gerutscht bin. Etwas brennt auf meiner Schulter, und als ich den Kopf drehe, sehe ich rote Striemen von einer Katzentatze.

„Hast du mich gerade gehauen?“

Völlig perplex blicke ich zu dem kleinen Pelzgesicht hoch, denn das ist ein Verhalten, das ich bei ihm bis jetzt noch nie erlebt habe. Kleiner beginnt sich gleichmütig das Fell zu putzen.

Es klingelt, als ich gerade die Treppe hinunterlaufe. Liliana ist bereits an der Haustür und lässt einen wild plappernden Rotschopf herein. Ramona umarmt uns stürmisch, ohne ihren Redeschwall zu unterbrechen. „Hi, ihr Süßen, wie schön, euch zu sehen. Also ich habe Neuigkeiten ohne Ende! Ich war doch gestern in diesem neuen Fitnessstudio, das in der Innenstadt aufgemacht hat, und ich sage euch, wirklich hochmodern“ – sie schnalzt mit der Zunge – „die haben sogar eine Farbsauna und ein Jacuzzi, also einen richtigen Wellnessbereich, und das ohne Preisaufschlag und – oh, hallo, mein Kleiner! Meine Güte, was bist du denn für ein süßes Kerlchen? Anja, du hast am Telefon echt nicht übertrieben, der ist ja wirklich süß – und so ein seidiges Fell! Wir werden gleich ganz ausgiebig schmusen, aber lass Tante Moni erst mal ihre Einkäufe auspacken – Liliana, hast du an die Limetten gedacht? Caipirinha ohne Limetten geht gar nicht – also, wo war ich? Ach ja, das Studio ist echt der Hammer, aber einen Parkplatz finden? Vergiss es! Habe auch prompt ein Knöllchen kassiert – aber Mädels – ich habe den süßesten Jungen der ganzen Welt kennengelernt. Er ist dort Trainer und …“

Wann holt sie mal Luft?

Grinsend folge ich den beiden Frauen in die Küche.

Wir haben bereits den dritten Cocktail gemixt und die Stimmung ist, trotz des Geheimnisses, das auf uns lastet, erstaunlich ausgelassen. Ramona besitzt einfach die seltene Gabe, durch ihr optimistisches und fröhliches Wesen jeden mitzureißen. Wir haben es uns auf dem Boden auf Decken, umringt von Kissen, gemütlich gemacht, während Liliana an der Kante des Sofas lehnt. Die Trümmer der kaputten Regale haben wir im Laufe der Woche bereits entsorgt und unsere spartanische Einrichtung Ramona lediglich so erklärt, dass wir uns neu einrichten wollen.

Auf dem Sofa liegt Großer und schläft tief und fest, Dicker hat es sich auf Lilianas Schoß bequem gemacht und lässt sich schnurrend den Hals kraulen. Kleiner liegt neben Ramona auf dem Rücken und streckt selig alle vier Pfoten von sich, als sie seinen Bauch zu knuddeln beginnt.

„Also bei mir hat er das noch nie gemacht“, sagt Liliana lachend und nippt an ihrem Glas.

„Ich habe eben eine besondere Wirkung auf Männer“, gluckst Ramona und wirft uns einen gespielt lasziven Schlafzimmerblick zu. „Die sind ja zum Anbeißen süß. Werdet ihr sie behalten?“, fragt sie lachend. Liliana und ich werfen uns verstohlene Blicke zu, was Ramona nicht entgeht. Sie runzelt die Stirn und schaut abwechselnd zu mir und Liliana.

„Apropos Männer, Moni, wie sieht es denn bei dir mal mit etwas Beständigem aus?“, lenkt Liliana vom Thema ab. „Nichts gegen deinen strammen neuen Fitnesstrainer, aber seien wir mal ehrlich, wie lange dauerte deine längste Beziehung bis jetzt? Eine Woche?“

„Liliana, wie soll ich wissen, welches Obst ich mag, wenn ich nicht mal den ganzen Obstkorb durchprobiert habe?“

„Entbehrt nicht einer gewissen Logik“, antwortet meine Mutter augenzwinkernd.

„Also mal ehrlich, Süße, den Obstkorb dürftest du doch schon mindestens dreimal durchprobiert haben“, sage ich kichernd und muss Sekunden darauf schon einem Kissen ausweichen, das aus Ramonas Richtung auf mich zugeflogen kommt.

„Du doofe Nuss, ich bin lediglich sexuell aktiv“, echauffiert sie sich. „Ich meine, ich bin zwanzig und habe eine ausgeprägte Libido! Ich muss regelmäßig Sex haben, sonst“ – sie ringt nach den richtigen Worten – „sonst bekomme ich Pickel!“

Ich muss mich beherrschen, um nicht wieder laut loszuprusten, und auch Liliana nippt an ihrem Cocktail, um ihren Lachanfall zu unterdrücken.

„Pickel?“, wiederhole ich mit unschuldiger Miene.

„Jawohl, und Herzrhythmusstörungen“, antwortet sie beleidigt. „Das habe ich in einer sehr seriösen Zeitschrift gelesen. Das ist wissenschaftlich erwiesen!“ Trotzig reckt sie ihr Kinn in die Höhe.

„Ja, klingt wirklich sehr wissenschaftlich“, antwortet Liliana mit todernster Miene, bricht aber Sekunden später in lautes Gelächter los. Ich proste ihr kichernd zu.

Ramona nimmt Kleiner auf den Arm. „Also wenn die Damen sich wieder eingekriegt haben, möchte ich darauf hinweisen, dass ich wenigstens lebe, wohingegen andere in diesem Raum ein Klosterleben führen.“ Sie blickt mich herausfordernd von der Seite an.

„Was kann ich dafür, dass der Obstkorb, den man mir vorgesetzt hat, voller fauler Äpfel ist“, erwidere ich lachend.

Liliana wischt sich eine Träne aus dem Auge und meint: „Angyalom, dir war doch bisher keiner gut genug. Du hattest an jedem, der mal Interesse an dir zeigte, etwas auszusetzen.“

„Na, es waren ja auch alles Idioten“, antworte ich abwinkend. „Ich habe manchmal das Gefühl, dass die gesamte Ausschussware der männlichen Gattung in meinem Umfeld ausgekippt wurde. Egal wo ich hintrete, nur Hohlköpfe, Machos oder Weicheier.“

„Meine Güte, was bist du desillusioniert und zynisch! Und das in deinem Alter, so habe ich dich aber nicht erzogen“, sagt Liliana kopfschüttelnd.

„Mama, ich bin weder desillusioniert noch zynisch, nur realistisch. Es gibt heutzutage keine Ehre und keinen Heldenmut mehr. Eigentlich hat es den nie gegeben, das war immer eine Erfindung der Literatur.“

„Nun, einen Helden gibt es aber doch“, sagt Ramona und lächelt wissend.

Auch Lilianas Augen funkeln, als sie sagt: „Du hattest ihn damals in den höchsten Tönen beschrieben, aber seitdem nie mehr ein Wort über ihn verloren. Wieso eigentlich?“

Ich versuche, mir das schöne Gesicht meines Retters wieder ins Gedächtnis zu rufen, aber es verblasst bereits. Das Einzige, was mich noch in meinen Träumen verfolgt, ist der intensive Blick aus diesen tiefgrünen Augen.

„Der Mann war zu schön, um wahr zu sein“, antworte ich leise. „Er war zu meinem Glück einfach zur rechten Zeit am rechten Ort! Aber glaubt mir, Chancen hätte ich bei so einem Mann auf keinen Fall.“

„Wieso glaubst du das?“, fragt Ramona überrascht.

„Ihr habt ihn nicht gesehen. Aber ich versichere euch, ich spiele definitiv nicht in seiner Liga!“

Die beiden Frauen wechseln betroffene Blicke. Ramona nimmt Kleiner vom Arm, dem das gar nicht gefällt, dann krabbelt sie zu mir rüber und legt ihre Arme um mich. „Also ehrlich, Süße, stell dein Licht nicht unter den Scheffel. Du bist wunderhübsch … du bist wie eine … eine … Zwiebel.“

„Eine Zwiebel?“

„Ich meine, du bist so facettenreich wie eine Zwiebel … okay, der Vergleich hinkt“, sagt sie grinsend. „Was ich sagen will, ist, dass du so viel mehr Größe und Charakter besitzt, als du es dir eingestehen möchtest. Na, und dein Aussehen spricht doch für sich. Ich beneide dich um deine wunderschöne dunkle Haarmähne und du hast an den richtigen Stellen Rundungen. Ich sehe mit meinen zwei kleinen Pickeln aus wie ein Junge.“ Sie blickt an sich herunter und rümpft die Nase.

„Also ich finde, du siehst fantastisch aus und deine Brüste passen eben zu deiner Figur“, sage ich und betrachte meine hübsche Freundin.

„Anja hat recht“, bestätigt Liliana und fügt trocken hinzu: „Außerdem – hättest du mehr Busen, würdest du vornüberkippen. Das wäre ganz schlecht für dein Gleichgewicht.“

Auf unser anschließendes Lachen schreckt sogar Großer auf. Dieser rote Wildfang wird mir unglaublich fehlen und ein Anflug von Traurigkeit erfasst mich. An Lilianas Gesichtsausdruck erkenne ich, dass sie ähnliche Gedanken haben muss.

„Also irgendetwas ist anders als sonst“, sagt Ramona und blickt irritiert von einem zum anderen. „Was ist nur heute los mit euch? Habe ich da etwas nicht mitbekommen?“

„War nur eine harte Woche“, antwortet Liliana und winkt ab. „Wie wär’s, noch eine Runde, Mädels?“ Sie rappelt sich langsam auf und schubst Dickerchen sanft von ihrem Schoß, der missmutig brummt und sich ein paar Schritte weiter wieder zum Schlafen einkringelt.

„Was für eine Frage, die Nacht ist noch jung“, gluckst Ramona und verbirgt ihr Gesicht am Hals von Kleiner. Während Ramona noch seinen pelzigen Bauch knuddelt, kommt Liliana mit drei frisch gemixten Cocktails zurück.

Wir schaffen es tatsächlich, unsere Befangenheit vor den zukünftigen Ereignissen auszublenden, und genießen die Nacht in vollen Zügen.

11

Als ich am nächsten Morgen aufwache, habe ich das Gefühl, einen Waschbären im Mund zu haben. Wir trinken sonst nie Alkohol, aber dieser eine Abend im Monat ist uns dreien heilig und ohne Cocktails wäre es nicht dasselbe. Wir fühlen uns dann immer ein wenig wie die drei Frauen aus dem Film Die Hexen von Eastwick.

Ich will mich aus dem Bett schwingen, aber etwas drückt meine Beine nach unten. Als ich an mir runterblicke, sehe ich Kleiner, der es sich auf mir bequem gemacht hat. Als ich mich bewege, streckt er sich genüsslich und tapst dann langsam zu mir hoch.

„Oh, Schätzchen, bitte nicht auf meinen Bauch. Das tut dem Frauchen gar nicht gut“, jammere ich und schiebe ihn von mir. Irritiert stellt er sein Köpfchen schräg.

Vorsichtig setze ich mich auf und erwarte, dass sich gleich alles zu drehen beginnt, aber es bleibt aus. Ich habe dieses Mal nicht ganz so viel getrunken und bin gespannt, welche der beiden Damen ramponierter aussieht.

Ramona kommt mir auf dem Gang mit zerzausten Haaren in T-Shirt und Slip entgegen.

„Morgen, gut geschlafen?“

„Oohh … brüll doch nicht so“, antwortet sie krächzend und verschwindet mit schweren Augenlidern im Badezimmer, gefolgt von Kleiner. Grinsend laufe ich die Treppe hinunter.

Ich habe Kaffee aufgesetzt und den Esszimmertisch mit aufgebackenen Croissants, Brötchen und diversen Aufschnitten gedeckt, als zwei müde Gestalten langsam die Treppe herunterschlurfen.

„Guten Morgen, Ladys, Frühstück ist fertig. Wurde aber auch Zeit, dass ihr endlich runterkommt.“

„Danke, Angyalom, aber ich glaube, mein Frühstück heute wird nur aus Tomatensaft bestehen. Grundgütiger, vor zwanzig Jahren konnte ich solche Abende besser ab“, jammert Liliana und setzt sich vorsichtig, darauf bedacht, ihren Schädel nicht allzu großen Schwingungen auszusetzen.

Stöhnend stützt Ramona ihren Kopf auf den Händen ab und schließt die Augen. „Ich trinke nie wieder einen Schluck Alkohol!“

Liliana zieht amüsiert eine Augenbraue hoch. „Das hast du letzten Monat auch gesagt … und den Monat davor … und den Monat davor …“

„Schon gut! Was kann ich dafür, dass ich so ein Kurzzeitgedächtnis habe?“, erwidert Ramona giftig und wirft ihr einen Halt-bloß-die-Klappe-Blick zu.

Der Morgen danach ist doch immer wieder gleich.

Grinsend beiße ich in mein Croissant.

Nachdem Ramona noch half, das Chaos von gestern in der Küche zu beseitigen, steht sie nun im Flur und zieht sich ihre Jacke an. Für sie ist es nur ein einfacher Abschied, aber für uns ist es mehr. Liliana und ich tauschen bittere Blicke. Ach verdammt – ich halte es nicht mehr aus und falle meiner besten Freundin um den Hals. „Mensch, Süße, bitte pass auf dich auf“, sage ich und kämpfe gegen Tränen.

Sie blickt mich erstaunt an. „Sag mal, was ist denn mit dir los?“

„Meine Tochter ist heute ein kleines Sensibelchen“, sagt Liliana und wirft mir einen ermahnenden Blick zu.

„Was? Kriegst du etwa deine Tage?“, fragt Ramona lachend.

„Halt die Klappe, blöde Nuss“, erwidere ich und umarme sie noch mal grinsend.

Wir winken ihr zu, als sie vom Hof fährt.

Traurig blicke ich hinter ihr her. Liliana legt ihren Arm um mich und führt mich ins Wohnzimmer. „Das Thema Ramona ist noch nicht durch, Angyalom. Ich werde mit Alvar über sie reden, okay?“

Ich nicke und lächele.

Liliana blickt auf die Wanduhr. „Es ist jetzt halb drei. Um sechs Uhr möchte ich losfahren. Die Koffer sind alle gepackt, also was hältst du davon, wenn wir uns noch ein bisschen hinlegen? Schließlich werden wir die Nacht durchfahren.“

„Ich werde hier unten etwas schlafen“, antworte ich.

Liliana dreht sich um und geht die Treppe hoch.

Dicker macht es sich neben mir auf dem Sofa bequem und ich zappe eine Weile durchs Fernsehprogramm, bis ich irgendwann einschlafe.

Als ich aufwache, ist es eiskalt im Raum. Das Feuer im Kamin ist heruntergebrannt und ich ziehe die Decke über mich. Dicker ist verschwunden. Ich schaue auf die Wanduhr:

Viertel vor zehn. Oje!

Ich springe vom Sofa hoch und mache die Verandatür einen Spalt auf, damit die Katzen reinkommen können.

Verdammt.

Ich habe vergessen die Burkhardts zu fragen, ob sie die Katzen bei sich aufnehmen können. Am besten setze ich schon mal den Kaffee auf, den wir für die Reise mitnehmen wollen, und wecke anschließend Liliana.

Etwas Weiches streicht um meine Beine, als ich gerade die Kaffeemaschine mit Wasser fülle.

„Hey, Kleiner, wo kommst du denn her?“

Ich bücke mich, um meinen pelzigen Freund zu streicheln, und normalerweise streckt er sich meiner Hand entgegen, aber dieses Mal ist etwas anders. Er hat sich völlig versteift und starrt lauernd Richtung der offenen Verandatür. Jede Sehne und jeder Muskel ist angespannt.

„Was ist denn da draußen, mein Süßer? Eine Maus?“

Irritiert blicke ich zur Tür. Wir haben Vollmond und man kann draußen recht gut Umrisse erkennen, aber ich sehe nichts Ungewöhnliches. Da Katzen bekanntlich nachtaktiv sind und selbst bei schlechten Lichtverhältnissen noch vorbeihuschende Mäuse erkennen können, gebe ich zuerst nichts auf sein Verhalten – bis er anfängt zu knurren. Lauter, als ich es je bei einer Katze gehört habe!

Plötzlich macht Kleiner einen Satz und verschwindet mit wenigen kraftvollen Sprüngen nach draußen.

Seit den vergangenen Vorkommnissen reagiere ich sensibilisiert auf ungewöhnliche Veränderungen in meinem Umfeld, also schleiche ich durchs Wohnzimmer und spähe nach draußen. Doch es bietet sich mir nur der übliche friedliche Anblick der Felder und Wiesen, die mir so vertraut sind. Sicherheitshalber schließe ich die Tür. Ein Geräusch im Hintergrund lässt mich erschrocken herumfahren. Liliana steht vor mir und ist so blass wie die Wand.

„Sie sind wieder da!“, flüstert sie mit erstickter Stimme. „Ich habe sie von meinem Fenster aus gesehen. Sie laufen gerade über die Pferdekoppel der Burkhardts, wir haben also nicht viel Zeit.“

Ich versuche, die aufkeimende Panik zu unterdrücken, und folge meiner Mutter in die Küche. Wir haben uns in den vergangenen Tagen mit allem Möglichen, das nach einer potenziellen Waffe aussieht, aus dem Baumarkt, wo Liliana arbeitet, eingedeckt. Sogar eine Tackerpistole hat sie besorgt, aber am stolzesten ist sie auf ihre Schrotflinte, die sie auf dem Hochschrank in der Küche versteckt hat. Einer ihrer Kollegen ist Mitglied in einem Schützenverein und ein Waffennarr. Und da er ihr schon lange Avancen macht, stellte er nicht viele Fragen, als sie ihn um einen Gefallen bat.

Sie holt die geladene Flinte vom Schrank und sagt: „Wir müssen jetzt unbedingt einen kühlen Kopf bewahren. Ich habe drei oder vier gezählt, ich bin mir nicht ganz sicher. Du kommst mit der Axt am besten zurecht, richtig?“

„Ja, denke schon“, flüstere ich zitternd.

Liliana runzelt die Stirn, als sie mein kreidebleiches Gesicht sieht, und greift energisch mein Kinn. „Wir schaffen das, hörst du?“

Ich nicke stumm und gebe mir Mühe, dem Beispiel meiner tapferen Mutter zu folgen. Sie fürchtet sich auch, aber ich habe noch nie jemanden erlebt, der seine Emotionen so im Griff hat wie der kleine General.

„Gut, dann zieh dir festes Schuhwerk an und schnapp dir eine Axt und die Tackerpistole. Versuche ihnen damit zuerst die Augen auszuschießen“, sagt sie energisch.

Gerade, als ich loslaufen will, hören wir ein lautes Krachen im Wohnzimmer.

„Verdammt, sind die schnell! Schließ die Küchentür, los!“

Mit einem Satz bin ich dort und verschließe sie, da kracht bereits etwas Schweres gegen das Holz und ein lautes Knacken ist zu hören. Ein kleines Stück ist herausgebrochen und gibt einen Spalt frei, durch den uns ein gelbes Auge wütend anstarrt.

„Weg da!“, schreit Liliana. Ich springe zur Seite, da steckt sie auch schon den Lauf durch den Spalt und drückt ab.

Das anschließende Jaulen ist ohrenbetäubend und ich will mir die Ohren zuhalten, aber Liliana packt mich am Ärmel und zieht mich auf den Gang hinaus. Von dort aus können wir ins Wohnzimmer blicken und sehen, wie die Bestie röchelnd verendet. Aber einige Meter vor der zerschlagenen Verandatür nähern sich bereits weitere gelbe Augenpaare aus der Dunkelheit. Liliana springt zur Wohnzimmertür und verschließt sie.

„Wir warten, bis die anderen drin sind, dann verschwinden wir durch den Hinterausgang und laufen ums Haus zu meinem Auto“, flüstert sie. „Ich habe seit jener Nacht immer die Wagenschlüssel stecken lassen.“

Vor der Hintertür bleiben wir kurz stehen, während im Wohnzimmer unter lautem Poltern und Knurren unser restliches Mobiliar in seine Bestandteile zerlegt wird.

„Bitte lass nichts dort stehen, bitte lass nichts dort stehen“, bete ich leise. Dann drehe ich den Schlüssel um, schlucke kurz und öffne schwungvoll die Tür.

Nichts! Nur kühle Nachtluft.

Wie auf Kommando rennen wir los. Im Haus ist ein lautes Kreischen zu hören und wie Holz zersplittert. Sie folgen uns und unser Vorsprung ist mickrig. Als wir den Vorhof erreichen, bleiben wir stehen und Liliana späht um die Ecke. „Da ist keiner, lauf!“

Wir rennen weiter und haben ihren kleinen Golf mit wenigen Schritten erreicht. Ich reiße die Beifahrertür auf und sitze zwei Sekunden später bereits im Wagen, aber als Liliana gerade nach dem Türgriff greifen will, wird sie von etwas aus der Dunkelheit angesprungen. Sie stürzt und die Flinte entgleitet ihr und landet mit einem lauten Rums auf der Motorhaube. Stöhnend reibt sie sich ihren verletzten Arm, während die graue Bestie sich knurrend umdreht und wieder zum Angriff übergeht. Ich reiße die Beifahrertür auf und springe hinaus. Im Vorbeilaufen schnappe ich mir die Flinte von der Motorhaube und setze an, komme aber nicht zum Schuss, da mittlerweile zwei weitere Bestien um die Ecke hechten und eine Warnung zischen. Die Bestie, die Liliana bedroht, dreht sich um und schlägt mir die Waffe so blitzschnell aus der Hand, dass ich nur eine kurze Bewegung aus dem Augenwinkel wahrnehme. Eine Sekunde später spüre ich auch schon den Schmerz in meinem Handgelenk und schreie laut auf. Die Flinte hat sich in den weichen Erdboden gebohrt und bleibt dort stecken.

Eine große Klaue packt mich am Hals und drückt mich zu Boden. Die Bestie blickt mich hasserfüllt an. „Súrrr“, zischt sie wieder dieses Wort voller Abscheu und ich klammere mich an ihrem Arm fest. Die lederne Haut fühlt sich ungewöhnlich an.

Trotz der Angst ist mein Verstand in diesem Augenblick erstaunlich klar und ich registriere sogar Kleinigkeiten. Ein spitzer Stein bohrt sich in meinen Rücken und durch einen leichten Windstoß wird feiner Staub aufgewirbelt. Zum ersten Mal sehe ich mir diese Abscheulichkeit genauer an und mir fällt auf, dass sie keine Ohren hat, nur kleine Löcher an den Stellen, wo die Ohrmuscheln eigentlich sitzen sollten. Sie hat zwar menschliche Züge, aber sie ähnelt eher einem großen, nackten Gorilla. Und sie spricht wieder. Diese zischenden Laute hallen in meinem Kopf wider. Kündigt sie etwa meinen baldigen Tod an? Warum?

Mir wird schlagartig bewusst, dass sie nicht einfach blind töten. Es ist eine Hinrichtung und sie wollen diesen Akt genießen.

Doch plötzlich reißen alle drei ihre hässlichen Köpfe hoch und schnüffeln. In diesem Augenblick ist wieder dieses geheimnisvolle Brüllen zu hören, wie wir es beim Angriff vor ein paar Tagen vernommen haben. Die Bestien weichen fauchend zurück. Mein Angreifer lässt meinen Hals los, das gibt mir Gelegenheit, mich schnell wegzurollen.

Ab da geht alles sehr schnell.

Ein riesiger schwarzer Körper springt geschmeidig aus der Dunkelheit und stößt meinen Angreifer gegen die Hollywoodschaukel, die sofort in ihre Einzelteile zerbricht.

Es ist eine Raubkatze mit glänzendem schwarzem Fell und sie ist riesig. Größer als ein Königstiger. Ihre wallende silberfarbene Mähne schimmert im Mondlicht. Und obwohl sie einen muskulösen Körper hat, wirkt sie schlank und geschmeidig. Sie hebt ihren Kopf und zwei funkelnde, bernsteinfarbene Augen blicken mir unmittelbar entgegen. Trotz der Angst, die mich in diesem Augenblick regelrecht lähmt, bin ich fasziniert von der Schönheit und der Eleganz dieses majestätischen Geschöpfes. Es öffnet sein Maul und lässt eine Reihe messerscharfer Zähne aufblitzen, wobei die Eckzähne wesentlich länger sind als bei normalen Raubkatzen; eher wie bei einem Säbelzahntiger. Außerdem hat es lange Ohren, die nach oben zu kleinen Büscheln zusammenlaufen – wie bei Luchsen.

Die Bestie rappelt sich auf und attackiert das schöne Geschöpf, doch dieses haut mit seiner riesigen Pranke nach seinem Gegner, der sich wiederum flink wegduckt. Die Bestie fackelt nicht lange und schlägt nun ihrerseits mit ihrer Klaue zu, trifft aber nur die Mähne. Beide Kontrahenten stellen sich auf ihre Hinterläufe und sind in dieser Position weit über zwei Meter hoch. Unser Haus im Hintergrund wirkt winzig, beinahe wie ein Puppenhaus.

Ich suche Liliana. Sie liegt auf dem Boden und beobachtet angsterfüllt die anderen zwei Bestien, die ihr bedrohlich nahe kommen. Sie sind nur noch einen Schritt entfernt, als eine zweite Raubkatze aus der Dunkelheit ins Kampfgeschehen springt und sich zähnefletschend über Liliana stellt.

Beschützend!, stelle ich erstaunt fest.

Die beiden grauen Wesen beginnen, das schöne Tier zu umkreisen – mit meiner vor Angst erstarrten Mutter darunter. Ihre gelben Augen glühen vor Hass, während sie auf eine Angriffsgelegenheit warten. Das Fell der Raubkatze hat sich aufgestellt und es wirkt dadurch noch bedrohlicher, während ihr langer Schwanz wild um sich peitscht. Liliana wirkt unter diesem riesigen Raubtier wie eine zerbrechliche Porzellanpuppe.

Ein weiteres Brüllen ertönt und ein mit messerscharfen Zähnen gespickter Kiefer schießt hervor und gräbt sich tief in das Bein einer der Bestien. Sie kreischt laut und versucht, ihre Klauen in den Hals der Raubkatze zu hauen, doch diese weicht immer wieder geschickt aus, ohne ihren Biss auch nur für eine Sekunde zu lockern. Stattdessen legt sie ihre riesige Pranke auf den wild um sich schlagenden Leib und reißt mit einem kurzen Ruck das Bein heraus. Blut spritzt in alle Richtungen und ich bedecke mein Gesicht, aber mein Shirt bekommt das meiste ab. Die Bestie schreit wie am Spieß und schlägt mit ihren restlichen Gliedmaßen wild um sich, bis sie endlich langsam verstummt und reglos liegen bleibt. Erstarrt vor Angst schaue ich zur Raubkatze hoch. Blut tropft aus ihrem Maul, da hebt sie plötzlich den Kopf und gibt ein lautes Brüllen von sich, dass ich denke, die Blätter fallen vor Schreck von den Bäumen.

Ich drehe mich zu Liliana um, sie ist mittlerweile zur Hauswand gekrabbelt und beobachtet das ganze schaurige Szenario mit panikerfüllten Augen. Ihre Bluse ist zerrissen und sie blutet am Arm. Da auch ich im Augenblick unbeobachtet bin, krieche ich auf allen Vieren zu ihr rüber, und wir nehmen uns in die Arme. Mein Angreifer liegt ebenfalls zerlegt auf dem Boden und wir beobachten, wie die drei Raubkatzen langsam die letzte Bestie umkreisen. Sie scheinen sich ihrer Sache sehr sicher zu sein, denn sie nehmen sich viel Zeit. Man hört nur ein leises Knurren, das aus den tiefsten Winkeln ihrer Eingeweide zu kommen scheint. Die graue Bestie dreht sich panisch um die eigene Achse und sucht nach einer Fluchtmöglichkeit, aber sie weiß, dass sie hier nicht mehr lebend herauskommt. Mit einem letzten verzweifelten Aufschrei erhebt sie sich auf ihre Hinterläufe und stürmt auf ihre Gegner zu.

Ich höre nur noch das Reißen von Fleisch und das Krachen von Knochen, dann tritt Stille ein.

Die drei Raubkatzen stehen im Kreis vor den Überresten ihres letzten Gegners und ihr seidiges Fell glänzt wie Silber. Sie erheben gleichzeitig ihre Köpfe gen Himmel und ein Siegesgebrüll, laut und wild, erfüllt die Nacht.

12

Es ist so still, dass ich sogar das Klopfen meines Herzens als laut empfinde. Ich greife vorsichtig neben mich und taste nach Lilianas Hand, die wiederum zitternd ihre Nägel in meine Handfläche gräbt.

„Bist du okay?“, frage ich flüsternd.

„Ja … denke ich“, antwortet sie zaghaft. Ich sehe sie nicht, da ich gebannt auf die drei kalbgroßen Raubtiere vor uns starre. Sie haben ihre Köpfe gedreht und schauen uns mit großen bernsteinfarbenen Augen an, dann setzen sie sich langsam in unsere Richtung in Bewegung.

„Oh Gott“, murmelt Liliana neben mir und ich halte vor Schreck die Luft an. Sie haben uns zwar gerettet, aber vielleicht nur, weil wir ihre Beute sind? Habe ich das Beschützen von vorhin vielleicht missinterpretiert?

Sie scheinen nur aus Muskeln und Sehnen zu bestehen und ich vermute, dass ein Prankenhieb ausreicht, um meinen kleinen Fiat Panda wie einen Ball durch die Luft zu schleudern. Außerdem sind wir wohl kaum schnell genug. Weglaufen würde nicht viel bringen. Panisch schiele ich nach der Schrotflinte, die nur einen Meter vor mir im Boden steckt, als etwas sehr, sehr Merkwürdiges passiert.

Die Luft um die drei Raubkatzen beginnt zu flimmern wie an sehr heißen Tagen und ein leichter Wind kommt auf. Ich traue meinen Augen nicht, als sie plötzlich zu schrumpfen beginnen. Die großen Luchsohren werden kleiner und auch die Mähne zieht sich langsam in die Haut zurück. Selbst die langen Fangzähne fahren wie bei Vampiren zurück in den Kiefer.

Als die drei vor uns zum Stehen kommen, hört das Flimmern auf und sie sind auf die Größe von normalen Hauskatzen geschrumpft.

Großer, Dicker und Kleiner!

Völlig ungläubig schaue ich in sechs kleine vertraute Bernsteinaugen und merke, wie mein Unterkiefer herunterklappt. Während sich Großer gleichmütig das Fell zu putzen beginnt, lässt sich Dicker mit einem geräuschvollen Gähnen neben Lilianas Beinen nieder. Kleiner tapst direkt auf meinen Schoß und kringelt sich dort laut schnurrend zusammen.

Ich weiß nicht mehr, wie lange wir auf dem Boden hocken, aber es kommt mir wie eine Ewigkeit vor.

„Was ist hier gerade passiert?“, frage ich völlig benommen. Liliana atmet geräuschvoll aus und erhebt sich schwerfällig. „Komm rein, wir müssen reden“, sagt sie tonlos und tritt durch die Verandatür, die nur noch in Fetzen hängt.

Vorsichtig schiebe ich Kleiner von meinem Schoß, der mich überrascht anschaut und nicht ganz zu verstehen scheint, warum er jetzt seine bequeme Position aufgeben soll.

Ich stehe ebenfalls auf und folge Liliana ins Wohnzimmer, das wieder einem Schlachtfeld gleicht. Wir drehen das Sofa um und setzen uns. Ein bedrückendes Schweigen liegt eine Zeitlang in der Luft. Die drei Pelzköpfe betreten das Wohnzimmer und beobachten uns neugierig.

„Hast du eine Ahnung, was sie sind?“, frage ich.

„Nein, aber ich denke, dass Alvar uns das beantworten kann“, murmelt Liliana nachdenklich.

„Glaubst du, sie sind unseretwegen hier? Ich meine, zu unserem Schutz?“, frage ich stirnrunzelnd.

„Wir sind – dank ihnen – noch am Leben, also würde ich sagen, ja.“

In meinem Kopf schwirrt es.

Schweigen.

„Wie geht es deinem Arm?“

Sie betrachtet ihn kurz. „Nichts gebrochen, aber hilfst du mir gleich, ihn zu verbinden?“

„Selbstverständlich.“

Es folgt eine weitere Schweigeminute.

„Okay, wie ist der Plan?“, will ich wissen.

„Ich rufe Alvar an und sage ihm, dass wir uns auf den Weg machen. Schau dich nochmals in deinem Zimmer um, ob du auch nichts vergessen hast. In einer Stunde fahren wir los.“

„Ich will nicht weg, Mama“, sage ich leise und kämpfe mit den Tränen.

Seufzend nimmt sie mich in die Arme. „Ich auch nicht, mein Schatz, aber wir haben keine andere Wahl. Es geht ums Überleben. Ich habe dich dreimal fast verloren. Noch einmal werde ich das nicht riskieren.“

Ich schließe meine Augen und vergrabe mein Gesicht an ihrer Schulter.

Ich stehe vor meinem Bett und blicke mich in meinem kleinen Zimmer um. Es ist so weit. Abschied nehmen. Ich packe noch ein paar Badutensilien ein, dann schalte ich das Licht aus und gehe die Treppe hinunter.

Liliana hat bereits alles in ihren Golf gepackt. Der ist definitiv in einem besseren Zustand als mein altersschwacher Fiat, und weitaus geräumiger. Trotzdem schiele ich sehnsüchtig zu meinem kleinen Auto rüber und bilde mir ein, dass es mir ebenfalls traurig entgegenblickt.

Liliana nimmt mir die Reisetasche ab und schiebt sie in die letzte Lücke des Kofferraums. Jetzt passt wirklich nichts mehr hinein.

„Hast du Alvar erreicht?“, frage ich.

„Ja, und er war geschockt, als ich ihm von dem dritten Angriff berichtete.“

„Hast du ihn auch auf die drei Pelzköpfe angesprochen?“

„Ja, aber er wollte am Telefon nichts erzählen. Er sagte nur, dass wir sie unbedingt mitbringen sollen.“

„Aber es sind trotz allem Katzen!“, erwidere ich verwirrt. „Wir haben über tausend Kilometer vor uns und können sie nicht stundenlang in einen Katzenkorb sperren. Abgesehen davon haben wir noch nicht mal welche.“

Liliana zieht belustigt eine Augenbraue hoch. „Angyalom, ernsthaft jetzt? Nach allem, was passiert ist, glaubst du noch, dass sich diese drei in einen Katzenkorb sperren lassen? Wir wissen doch wohl beide, dass das keine normalen Hauskatzen sind?!“

„Nein, natürlich nicht, aber … ach Gott, ich weiß auch nicht.“

„Vorschlag zur Güte, wir fragen sie einfach selber?“, sagt sie und beginnt zu kichern, als sie meinen verdutzten Gesichtsausdruck sieht.

Sie läuft zur hinteren Beifahrertür und öffnet sie. Dann wendet sie sich an die Pelzköpfe, die uns neugierig beobachten, und sagt: „Na, Jungs, wollt ihr hierbleiben, wo ihr es bequem habt, oder uns in diesem kleinen, engen, klapprigen Auto, das die ganze Nacht schaukeln und wackeln wird, nach Budapest begleiten?“

Drei schwarze Fellknäuel schießen, kaum dass Liliana ihren Satz beendet hat, auf den Rücksitz und kringeln sich schnurrend ein.

„Ich schätze, das Problem wäre gelöst“, sagt sie fröhlich und schlägt die Wagentür zu.

Ich versuche es erst gar nicht zu begreifen und laufe ums Auto herum.

„Also?“ Liliana schaut mich fragend an.

„Also los“, antworte ich und steige ein.

„Ich fahre als Erstes, versuche du, ein wenig zu schlafen. Wenn ich müde werde, löst du mich ab. Ist das okay für dich?“, fragt sie und legt den Gurt an.

„Ja, sicher, kein Problem.“

Als der Wagen losrollt, drehe ich mich noch einmal um und betrachte traurig mein geliebtes Zuhause. Ich habe hier so viele glückliche Jahre verbracht und Fetzen von schönen Erinnerungen tauchen vor meinem geistigen Auge auf.

Ich beobachte, wie es langsam hinter einem Hügel verschwindet, dann drehe ich mich zurück und starre stumpf in die Dunkelheit, die uns langsam verschluckt.

Der Neubeginn

13

Wir fahren auf der A3 Richtung München. Es ist drei Uhr morgens und bis auf ein paar vereinzelte Wagen sind wir alleine auf der Autobahn. Ich habe meinen Kopf ans Fenster der Beifahrertür gelehnt und blicke hinaus in die Dunkelheit.

Normalerweise müsste mein Verstand laut rattern, aber ich empfinde in mir nur Leere, als hätte mir jemand mein Gehirn entnommen und durch Watte ersetzt.

Liliana scheint in Gedanken versunken, da ihre Kiefermuskeln zucken.

Ich drehe mich nach hinten und betrachte die schwarzen Fellknäuel, die zusammengerollt friedlich auf dem Rücksitz schlafen. Es ist fast unfassbar, dass diese kleinen Rabauken vor noch nicht mal vier Stunden riesige, gefährliche Raubtiere waren – ehrlich gesagt, kann ich es immer noch nicht glauben.

Eigentlich ist es verboten, Tiere ohne angeschnallten Korb zu transportieren, aber was ist an der ganzen Situation schon normal?

Ich drehe mich wieder nach vorne. „Mama, darf ich dich was fragen?“

„Selbstverständlich, Liebes.“

„Wie ist diese Sophia so?“

„Oh Gott, Anja, von allen Fragen musstest du mir die schlimmste stellen“, antwortet sie und lacht bitter. „Sophia ist … nun ja … speziell.“

„Speziell?“

„Sie ist eine mächtige Frau, die es gewohnt ist, Befehle zu erteilen, die sofort und ohne Widerspruch ausgeführt werden. Von ihren Untergebenen erwartet sie absoluten Gehorsam! Freidenker, Reformen und Veränderungen, egal welcher Art, sind ihr höchst zuwider. Traditionen und strenge Regeln stehen bei ihr über allem. Sie ist arrogant, stur und völlig humorlos. Wir haben uns noch nie leiden können.“ Grinsend wirft sie mir einen Seitenblick zu. „Aber ich will nicht schlecht über sie reden.“

„Ja, ja, schon klar.“ Kichernd schlage ich vor, kurz für einen Kaffee anzuhalten, da wir schon eine Weile unterwegs sind und ich das Steuer übernehmen will. Schlafen kann ich eh nicht und vielleicht lenkt mich das Autofahren ein wenig ab. Liliana begrüßt diesen Vorschlag und fährt beim nächsten Parkplatz raus. Wir frösteln etwas, als wir aussteigen, aber die frische Luft tut gut. Ich nehme die Thermoskanne aus dem Korb und schraube den Verschluss ab. Heißer Dampf steigt auf, als ich die Tassen fülle, und Liliana öffnet die Beifahrertür. „Hey, ihr Mäusetiger, wir machen einen kurzen Halt. Also wenn ihr austreten wollt, dann hurtig.“

Kaum, dass sie die Worte ausgesprochen hat, schießen auch schon drei schwarze Blitze aus dem Wagen.

„Ich wage es gar nicht zu fragen, aber verstehen sie uns? Ich meine, die menschliche Sprache?“ Erstaunt blicke ich ihnen hinterher, wie sie in den Büschen verschwinden.

„Ich habe keine Ahnung“, antwortet Liliana kopfschüttelnd.

Ich sollte wohl langsam aufhören, in normalen Maßstäben zu denken.

Eine Zeitlang genießen wir schweigend unseren Kaffee, aber ich bin neugierig. „Du hast gesagt, dass Sophia eine sehr mächtige Frau ist, aber irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass Alvar im Hintergrund die Strippen zieht.“

Sie schmunzelt über ihren Tassenrand. „Gut erkannt, Angyalom, aber ich verstand seine Funktion schon damals nicht. Und ich habe mich nicht getraut, Fragen zu stellen, da mich diese Menschen und dieses pompöse Haus furchtbar einschüchterten.“

„Du und schüchtern?“, frage ich lachend. „Das kann ich mir so gar nicht vorstellen.“

Sie zwinkert frech.

Ich hole die belegten Brote aus dem Korb und reiche Liliana eins rüber. „Warum haben sie sich für die Residenz gerade Budapest ausgesucht?“, frage ich kauend. „Wieso nicht einen schönen Ort wie Hawaii oder Monaco?“

„Weil sich das Portal dort in der Nähe befindet.“

„Weißt du, wo genau?“

Liliana schüttelt den Kopf. „Im Grunde genommen weiß ich genauso wenig wie du. Hakon erzählte mir von seiner Herkunft erst, als wir in der Villa waren, und auch das waren nur kryptische Andeutungen.“

„Nicht sehr ermunternd, in eine ungewisse Zukunft zu fahren.“

„Wem sagst du das“, erwidert sie mit hochgezogener Augenbraue. „Angyalom, lass uns weiterfahren, mir wird langsam kalt. Außerdem bin ich müde und würde gerne ein bisschen schlafen.“

Ich nicke und schaue mich nach unseren kleinen Reisegefährten um, die ich noch irgendwo in den Büschen vermute, aber sie sitzen im Hintergrund und beobachten uns aufmerksam.

„Na? Habt ihr auch alles schön mitbekommen?“, frage ich erstaunt und blicke in drei kreisrunde Augenpaare. „Man möchte fast meinen, dass sie uns zuhören.“

„Wenn ich bedenke, was in letzter Zeit passiert ist, halte ich nichts mehr für unmöglich“, meint Liliana nachdenklich und schraubt die Thermoskanne wieder zu.

Ich laufe um das Auto herum, während Liliana die hintere Beifahrertür öffnet. Ohne Aufforderung springen die drei Pelzköpfe auf den Rücksitz und kringeln sich zum Schlafen ein, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.

Während sich Liliana anschnallt, fahre ich wieder auf die Autobahn raus.

Es dämmert, als wir kurz vor der österreichischen Grenze bei Passau ankommen. Obwohl ich die ganze Nacht nicht geschlafen habe, bin ich kaum müde. Liliana hingegen ist tief und fest neben mir eingeschlafen und schnarcht leise. Ich drehe die Heizung etwas auf und mache das Radio an. Leise, damit Liliana nicht aufwacht. Je näher wir dieser mysteriösen Familie Gollnir kommen, desto nervöser werde ich.

Aldarúun

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