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Neuplatonische Dämonen

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Eine der schwerwiegendsten Fragen, denen Theologen aller Religion begegnen, die an einen einzigen, allmächtigen und ewigen Gott glauben, lautet: In welchem Verhältnis steht ein solcher unveränderlicher Gott zu einer Schöpfung, die sich in ständigem Fluss, in ständiger Bewegung befindet? Oder, um es mit den Worten der alten Philosophen zu formulieren: Wie verhält sich der eine zu dem Mannigfaltigen? Ein Ansatz wäre, den Schöpfer als von seiner Schöpfung abgetrennt und entrückt zu betrachten. In einer solchen Perspektive würden hin- und herfliegende Engel Neuigkeiten aus der erschaffenen Welt zum Schöpfer bringen, aber auch Botschaften Gottes zum Menschen. Diese Sichtweise herrschte lange vor. Ein anderer fruchtbarer Ansatz jedoch ist, dass die göttlichen Kräfte des allmächtigen Wesens durch verschiedene Ausströmungen in die erschaffene Welt hineinfließen. In dieser Sicht werden Weisheit, Licht und Kraft durch einen Fluss von der Quelle zu den geschaffenen Lebewesen transportiert. Diejenigen, die der Quelle näher stehen, werden natürlich mehr Licht, mehr Macht und mehr Weisheit empfangen. Die Engel, die Gott näher stehen als die Menschen, erhalten verhältnismäßig stärkere Dosen. Menschliche Wesen erhalten eine geringere Menge Weisheit, Licht und Macht als die Engel, jedoch mehr als die Tierwelt, und Tiere wiederum erhalten mehr als Pflanzen, Steine und so weiter. Die absteigende Hierarchie von Bewusstsein ist deutlich erkennbar.

Diese Sichtweise ist vor allem von neuplatonischen Schulen entwickelt worden und hat auch in die jüdische, christliche und islamische Religionsphilosophie Einzug gefunden. Wir finden ihre Wurzeln bei Plato bzw. schon früher im fünften vorchristlichen Jahrhundert bei Parmenides von Elea, der einen großen Einfluss auf Plato ausübte.21 Erst Plotin (203–262 n. Chr.) hat diese Sichtweise systematisiert: Das Eine steht zuoberst an der Spitze der Schöpfung; von dort fließt der nous, der göttliche Verstand, durch Emanation aus, um eine Welt des reinen Intellektes zu schaffen. Der nous ist, wie seine Quelle, universell und transzendent. Hier entspringt, auch wieder durch Emanation, Seele – sowohl die universelle „Weltseele“ als auch individuelle Seelen. Die Welt der Sinne befindet sich jenseits dieser drei Stufen oder auch Hypostasen. Die bloße Materie ist für Plotin ohne Leben und starr, da das ursprüngliche Licht von Stufe zu Stufe abnimmt.

Es ist durchaus überraschend, dass so viele religiöse Denker neuplatonische emanationistische Lehren übernommen haben, obwohl ihr Kerngedanke religiösen Schöpfungsdogmen zu widersprechen scheint. Andererseits kann biblische Exegese zu verschiedensten Interpretationen führen – und die traditionelle Erzählung, in der Gott erst spricht und dann das Licht in die Welt kommt, kann tatsächlich als Beleg für diese Sichtweise gelten. Vor allem aber der Anfang des Johannesevangeliums, in dem das Wort die schöpfende Urkraft ist, scheint für den Emanationismus zu sprechen.

Ein wichtiges Element bei diesem Emanationsvorgang, in dem der göttliche Geist und die Seele erschaffen werden, ist, dass ihm ein Prozess der Rückkehr entspricht. Der nous oder göttliche Intellekt kann sich durch Kontemplation des Einen mit demselben wiedervereinigen.

Dieses emanationistische System wurde im 5. Jahrhundert durch Proklos (410–485 n. Chr.), dem letzten großen Philosophen der platonischen Akademie Athens, beträchtlich erweitert. Seinem Verständnis nach wurde alles im Kosmos nach neun Emanationsketten angeordnet, die von dem Einen ausgehen. Diese neun Ketten unterstehen neun Rängen von Göttern. Von diesen Rängen stehen einige über dem Kosmos, einige darin, und einige sowohl darin als auch außerhalb. Jeder Rang umfasst mehrere Götter, oft ein Dreiergespann, und unter jedem dieser Götter, gleichsam als Emanationsketten, stehen die ihnen jeweils zugehörigen Lebewesen, die in größerem oder geringerem Maße ihre Eigenschaften teilen. Unter den hier aufgeführten Lebewesen sind uns die Daimonen bekannt, welche die Befehle der Engel ausführen, aber auch andere Kreaturen. So unterstehen etwa der Sonne Sonnendaimonen; in der Tierwelt unterstehen der Sonne der Löwe, der Hahn, der Schwan und der Skarabäus; als Pflanze zählt hierzu die Sonnenblume. Gold, Chrysolith und Karfunkel sind ihre Steine; Weihrauch, Myrrhe, Zimt, Safran und Narde zeigen offen ihren Einfluss, wie auch gelber Honig oder Menschen mit goldenem, lockigen Haar. Ebenso unterstehen Jupiter (Zeus) Silber, Saphir, Topas, Wein und jovianische Daimonen.22

Jede Macht in der göttlichen Sphäre hat ihr eigenes Gefolge von Dämonen, Kreaturen und Stoffen, das sie beeinflusst. Diese „Daimonen“ sind nicht dasselbe wie das, was wir allgemein unter „Dämonen“ verstehen (die wir später in Kapitel 3 besprechen werden), obwohl die beiden Wörter offensichtlich miteinander verwandt sind.

Die Daimonen23 sind eher engelhafte Kräfte, die tun, was Engel tun, obwohl sie zuweilen auch Ärger bereiten und sich eher wie Dämonen verhalten können.

Bei dem Geist Ariel aus Shakespeares The Tempest handelt es sich genau um diese Art von Daimon. Ariel ist ein Geist, der an einen menschlichen Meister gebunden ist und ihm dienen muss. Was Ariel an Prospero gebunden hat, ist dessen Wissen über natürliche und übernatürliche Wissenschaften der in Proklos‘ Schriften besprochenen Art. Ariels erster Auftritt zu Beginn der zweiten Szene teilt uns als Erstes mit, welche Art von Diensten er leistet:

Heil, großer Meister! Heil dir, weiser Herr!

Ich komme, deinen Winken zu begegnen.

Sei’s fliegen, schwimmen, in das Feuer tauchen,

Auf krausen Wolken fahren: schalte nur

Durch dein gewaltig Wort mit Ariel

Und allen seinen Kräften.

Dann berichtet er, was er soeben bewerkstelligt hat:

Des Königs; jetzt am Schnabel, jetzt im Bauch,

Auf dem Verdeck, in jeglicher Kajüte

Flammt’ ich Entsetzen; bald zerteilt’ ich mich

Und brannt’ an vielen Stellen; auf dem Mast,

An Stang’ und Bugspriet flammt’ ich abgesondert,

Floß dann in eins. Zeus’ Blitze, die Verkünder

Des schreckbar’n Donnerschlags, sind schneller nicht

Und Blick-entrinnender; das Feu’r, die Stöße

Von schweflichtem Gekrach, sie stürmten, schien’s,

Auf den gewaltigen Neptun und machten

Erbeben seine kühnen Wogen, ja

Den furchtbar’n Dreizack wanken.

(William Shakespeare, The Tempest, I, 2)

Aus der Sicht der Reisenden war Ariel ein Dämon: Sie sprangen in das tosende Meer und Ferdinand rief: „Die Höll‘ ist leer und alle Teufel hier.“ Doch von Prosperos Standpunkt aus ist Ariel ein dienstbarer Geist und Miranda eine „Cherubim“.24 Während Gelehrte noch immer über Shakespeares Quellen streiten, wissen wir heute, dass zu seinen Zeiten ein Wiederaufleben neuplatonischen Gedankenguts stattfand, hauptsächlich vorangetrieben durch die Übersetzungen Marsilio Ficinos aus Florenz (1433–99), die sich seinerzeit großer Beliebtheit erfreuten.25

Neben einigen Werken des Proklos hat Ficino zwei Aufsätze übersetzt, die sich speziell mit Daimonen beschäftigen. Der eine Aufsatz war ein Text von Porphyrios, einem Schüler Plotins, der im 3. Jahrhundert n. Chr. schrieb; der andere stammt von Michael Psellos, einem byzantinischen Gelehrten des 11. Jahrhunderts. Porphyrios hat den Versuch unternommen, genau zu erklären, was diese Daimonen sind und was sie tun. Er beschreibt sie als

ein[en] Schwarm unsichtbarer Wesen, die Plato, ohne sie zu unterscheiden, Daimonen nannte. Man hat einigen von ihnen Namen gegeben und sie empfangen von allen Ehren wie die Götter und werden auch angebetet. Andere haben in den meisten Ländern keine Namen, und sich […] in Dörfern sowie in einigen Städten einen Namen und einen Kultus angeeignet.26

Platon hat in seinem bekannten Dialog Kratylos Daimonen beschrieben und ihren Namen aus dem griechischen Wort daēmon hergeleitet, das „wissend oder weise“ bedeutet. Er verortet sie auf der Erde als Nachfahren eines ausgestorbenen goldenen Geschlechtes, die als „des Wehs Abwehrer, der sterblichen Menschen Behüter“ (Hesiod, Werke und Tage, zitiert nach Kratylos, 397) tätig sind und beim Regieren der Welt helfen (Politikos, 271). Im Symposion beschreibt Plato die Liebe als einen Daimon, d. h. einen mächtigen Geist, der zwischen Göttern und Menschen steht und Botschaften in beide Richtungen übermittelt (Symposion, 202). Im Timaios (41–42) werden die Aufgaben der Weltschöpfungen von einem Schwarm von Göttern und Gotteskindern (oder jüngeren Göttern) durchgeführt. Ihre Aufgabe besteht darin, die Elemente Erde, Luft, Wasser und Feuer zu vermischen, um Körper für die gottgeschaffene Seele zu bilden. Sokrates sagte von sich, dass er einen Daimon hatte, der ihn davon abhielt, Falsches zu tun, und ihm zufolge hat jeder Mensch seinen persönlichen Daimon (Phaidon, 108–8, 113). Diese Daimonen und auch die niederen Götter wurden in der späten Antike als Engel betrachtet.

Die theologische Grundsatzfrage, ob Engel verehrt werden sollen oder nicht, ist unter Gelehrten überwiegend mit einem deutlichen „Nein“ beantwortet worden – und das, obwohl in einigen (auch gnostischen) Sekten sowie in der katholischen Kirche bis heute Gebete an Engel gesprochen werden. Eine Textstelle in einem Gedicht John Donnes (gest. 1631) gibt uns einen Hinweis darauf, dass dies trotz Verbots der Obrigkeit früher auch in der anglikanischen Kirche üblich war:

Also in einer Stimme, also in gestaltloser Flamme

berühren Engel uns oft und werden verehrt.

(Donne, Air and Angels)

Auch im Judentum gibt es eine bekannte Sabbathymne, die die Engel grüßt und in ihrer dritten Strophe um ihren Segen bittet, obwohl die Engelverehrung im Judentum streng verboten ist.27 In den vergangenen Jahrhunderten haben viele Juden sich geweigert, diese Verse zu rezitieren, weil sie sie als unangemessene Verehrung betrachteten (trotz Jakobs Beispiel in Genesis 32,26). Rabbi David ibn abi Zimra aus dem 16. Jahrhundert wurde einmal gefragt, ob man Dämonen, die als Überbringer und Ursache von Krankheiten galten, Weihrauch spenden dürfe – nicht um sie zu verehren, sondern um sie daran zu hindern, Unheil zu stiften. Er bespricht die Frage weitschweifig und ausführlich, bevor er schlussfolgert, dass es nicht ratsam sei, zumal auf das Herbeirufen von Dämonen die Todesstrafe stehe. Man dürfe nur „heilige Namen“ anrufen, und es mache letztlich keinen Unterschied, ob man Engel oder Dämonen befrage.28

In der klassischen Antike dagegen war die Verehrung von Daimonen sehr wohl erlaubt, und Porphyrios legt aufs Genauste dar, welche Art von Opfergaben für welche Art von Geistern geeignet seien. Opfer in Form von Früchten und Blumen seien vorzuziehen, wogegen Fleisch bösartige Dämonen anziehe. Denn die bösartigen Dämonen erschlichen sich ihre Speisen durch Trug und List, und stählen oftmals die ursprünglich für Götter vorgesehenen Opfergaben. An dieser Stelle wird nicht klar, ob die gutartigen Daimonen essen, um ihren Geistkörper zu nähren, oder ob stattdessen sie es sind, die andere durch das nähren, was von ihnen ausgeht.29 Denn wenn sie äßen, stünde dies in Widerspruch zu dem üblichen Zug der Engel, enthaltsam zu sein. Denn, Abrahams drei Engel einmal ausgenommen, Engel essen und trinken üblicherweise nicht. Klar wird dagegen, dass bösartige Daimonen essen und dass sie Unheil anrichten können, wenn sie durch Vernachlässigung erzürnt werden. Die gutartigen Daimonen dagegen tun denjenigen Gutes, die sie um Hilfe bitten und ihnen Gebete darbringen. Was die gutartigen von den bösartigen zu unterscheiden scheint, ist die Selbstkontrolle:

Alle Daimonen sind von der universellen Seele ausgehende Seelen. Sie beherrschen große Teile der Gebiete unter dem Mond. Sie besitzen auch Geist, d. h. einen immateriellen Körper. Die Daimonen, welche die meiste Beherrschung über ihren eigenen Körper haben, sind gut und tun Gutes, während diejenigen, die die geringste Beherrschung über ihren Körper haben, böse sind und Böses tun.

(Porphyrios, Über die Enthaltsamkeit II, 38)

Keine der beiden Arten hat einen physischen Leib, und doch sind sie durchaus auch für Störungen in ihrem Geistkörper anfällig.30 Diejenigen Daimonen, die keine Kontrolle über ihren eigenen Geistkörper haben und sich deshalb von Zorn und Wollust fortreißen lassen, verdienen den Namen „Dämonen“. Dagegen die Daimonen, die ihre Geistkörper beherrschen, tun dies mittels der Vernunft. Sie sind diejenigen, die über die Schöpfung walten. Sie werden beschrieben, als wären sie zugleich Naturgötter und Engel,

ob sie Gewalt haben über bestimmte Tiere oder bestimmte Früchte, oder über die Bedingungen, die zu deren Wohlergehen beitragen, so wie Regen, milder Wind, moderate Jahreszeiten und alles Weitere, was zu diesen beiträgt. Wiederum in der Welt der Menschen haben die guten Daimonen den Vorsitz über die Künste, Musik, Medizin, Gymnastik und ähnliche Disziplinen …

Unter diesen guten Daimonen befinden sich diejenigen, die zu „den Transmittern“ gezählt werden, wie Platon sie nennt, die die Belange der Menschen vor die Götter bringen und sie ihnen vortragen. Sie übermitteln den Göttern unsere Gebete wie Richtern, und sie bringen uns der Götter Befehle und Weisungen sowie Prophezeiungen.

(Porphyrios, Über die Enthaltung, II, 38)

Da sie keinen materiellen Leib besitzen, sind Daimonen für unsere Sinne nicht wahrnehmbar, obwohl sie gelegentlich verschiedene Formen und Gestalten annehmen können. Es gibt sogar einen Hinweis darauf, dass ihr Geistkörper in einem geringen Maße an Körperlichkeit teilhaben könnte. Bösartige Daimonen leben gewiss näher an der Erde und schmieden allerlei Täuschungen und Listen gegen uns, währen die gutartigen Daimonen oben in den Himmeln leben. Gutartige und bösartige Daimonen sind allgegenwärtig, wie Philon bereits aufgezeigt hat, und bevölkern den Raum zwischen Erde und Himmel.31

Porphyrios hat die Weltsichten Platos und Plotins zusammengefasst und dargelegt, doch sein eigentliches Ziel bestand darin, die griechische Philosophie gegen die Lehren des aufsteigenden Christentums zu verteidigen. Dies erklärt, warum seine Werke in der westlichen Kirche so lange mit Argwohn betrachtet wurden. Dennoch lag er hinsichtlich der Daimonen sehr nah bei den Sichten Origenes‘, der ein früher Kirchenvater und der etwas ältere Zeitgenosse seines Mitstudenten Plotins war.32 Origenes behauptet jedoch zusätzlich zu Porphyrios, dass alle Seelen ursprünglich gleich geschaffen wurden, doch, ihrer Glückseligkeit müde, einige von ihrem höheren Stand herabfielen und ihren Platz als Engel, Sterne, Menschen oder Dämonen33 fanden.

Bei all diesen antiken Autoren erkennen wir, wie das Primat des „Einen“ sowie sein Verhältnis zu dem kaleidoskopisch „vielen“ sich durchzieht. Diese Gedanken hatten ihren Ursprung bei Parmenides und Platon. Philon wandte sie auf den Gott der Juden an, und bei Plotin erreichten sie ihre Blüte,34 wonach Origenes, Porphyrios und später Proklos sie weiter ausarbeiteten und in der späten Antike bekannt machten.

In Ägypten finden wir dieselben Gedanken in den Hermes Trismegistos zugeschriebenen Schriften. Hierbei handelt es sich um etwa 200 v. Chr. in Ägypten verfasste Texte in griechischer Sprache, die antikes Wissen aus griechischen und jüdischen Quellen mit ägyptischen Elementen vereinigen. In den als Corpus Hermeticum bekannten Dialogen erfahren wir, dass die Sonne eine entscheidende Rolle dabei spielt, die Verteilung der daimonischen Kräfte in den Himmeln aufrechtzuerhalten:

Erhalter und Ernährer jeder Gattung (von Lebewesen) ist die Sonne. Und wie der geistige Kosmos den sichtbaren umfaßt, ihn erfüllt und ihm Umfang und Gewicht gibt durch die unterschiedlichen und vielgestaltigen Formen, so umfaßt auch die Sonne alle Dinge im Kosmos, gibt allem, was entstanden ist, Umfang und Gewicht und schenkt ihm Kraft. Und wenn es stirbt und vergeht, nimmt sie es wieder auf.

Unter ihr fand der Chor, besser die Chöre der Dämonen ihren Platz; denn es sind viele und verschiedenartige, aufgestellt unter den Stern-Bezirken, für jeden von ihnen die gleiche Anzahl. So verteilt, dienen sie jedem einzelnen der Sterne.

(Corpus Hermeticum, XVI, 12–13)

Wir haben von Porphyrios erfahren, dass diese Geister oder Daimonen gut- oder bösartig in ihrem Handeln sein können; Hermes erzählt uns, dass sie auch beides sein können. Die Autorität über die Erde ist den Daimonen als Kollektiv gegeben, und daraus ergeben sich sowohl individuelle als auch kollektive Konflikte. „Denn sie formen unsere Seelen um und ermuntern sie in ihrem Sinne; dafür haben sie sich in unseren Nerven, in unserem Mark, unseren Venen und unseren Arterien und sogar in unserem Gehirn niedergelassen und durchdringen uns auch bis in unser Innerstes selbst“ (Corpus Hermeticum, XVI, 14). Sie sind als Beschützer den einzelnen Sternen zugeordnet und ergreifen bei unserer Geburt Besitz von uns, erschüttern die Seele und erschaffen unser Schicksal – doch der rationale Teil der menschlichen Seele ist von ihnen unabhängig.

Weil die Seele nicht vollkommen von diesen vermittelt auftretenden Daimonen abhängig ist, sagte Iamblichos von Chalkis im 3. Jahrhundert in seiner Schrift über Die Mysterien Ägyptens, dass es möglich sei, über sie hinauszugehen und höhere Mächte anzurufen, seien es Götter, Engel, Erzengel oder Helden. Er empfahl Gebete sowie Opfergaben, um Zugang zu dem Wissen dieser höheren Mächte zu erhalten, das wie eine Art Befähigung zu oder Zuteilwerden kreativer Kräfte wirken soll. Göttliche Inspiration könne durch Träume, durch tiefe Versunkenheit oder auch durch Besessenheit zuteilwerden. Durch das Aufsuchen göttlichen Lichts könne die Conditio humana überschritten werden, und durch entsprechende Vorbereitung und regelmäßige Übung könne man sein eigenes eingeschränktes Leben durch ein göttliches Leben ersetzen:

Denn das menschliche Geschlecht ist schwach und kümmerlich, es verfügt über wenig Voraussicht und ist von Geburt aus ohne Ziel. Doch es gibt ein Mittel gegen seine ihm innewohnende Zerstreuung, Wirrnis und Unbeständigkeit, und dies ist, so viel wie möglich am göttlichen Licht teilzuhaben.

(Iamblichos, Über die Mysterien)35

Es ging nicht so sehr darum, aus Eigennutz höhere Kräfte durch unlautere Praktiken auf die Ebene der Menschen herabzusenken – wie Kritiker solcher Riten oft eingeworfen haben (und Iamblichos‘ Lehrer Porphyrios war ein solcher strenger Kritiker) –, sondern darum, seinen eigenen Gesinnungen zu erlauben, gleichsam durch Anrufung von höheren Wesen auf deren Höhe aufzusteigen. Wie auch bei Porphyrios lag der Schwerpunkt streng auf der Läuterung von Leib und Seele, jedoch mit der zusätzlichen Dimension, in „das göttliche Feuer, das universell aus eigener Initiative brennt, selbstbeschworen und selbstversorgend“ (Über die Mysterien, IV, 3) aufgesogen zu werden. Ein solches Aufgesogenwerden sei möglich, weil die einzelnen Teile des Universums, obwohl sie verschieden sind, zueinander streben kraft der Tatsache, dass das Universum ein einziges Lebewesen sei (IV, 12). Der Raum zwischen Erde und Himmel sei somit auf jeder Stufe überwindbar, sei es mit kleinen oder mit großen Schritten.

Was Proklos danach an dieser Sicht weiter herausgearbeitet hat, ist der Mechanismus, durch den die Seele ihre rationalen Kräfte ausüben kann, um die Bindung an den Leib zu überschreiben und durch die verschiedenen Stufen zwischen Erde und Himmel aufzusteigen. Genauso wie alle Dinge unter den Sternen in einer Folge von abwärts gerichteten Emanationen und Einflüssen stehen, so könne auch jedes geschaffene und belebte Wesen die Kraft der „Reversion“ oder „Umkehr“ ausüben, um zurück in seine eigene „Ursache“ aufzusteigen – d. h. in das, was im Prozess des Ausfließens über ihn steht. Genauso, wie es ein Auswärtsfließen in die Schöpfung gibt, genauso gebe es auch einen Fluss der Rückkehr. Alles was existiert, entspringe aus einer einzigen, ersten Ursache, dem Guten. Je näher etwas dem Guten ist, desto größer seine Kraft. Was weiter entfernt ist, sei dennoch dazu in der Lage, in Richtung auf seine Ursache umzukehren, kraft dessen, was es von seiner Ursache in seinem Wesen noch in sich trage.36

All diese neuplatonischen Theorien sind für unsere Untersuchung aus zwei Gründen von Bedeutung. Erstens zeigen sie, wie der Glaube an Daimonen in der heidnischen Antike viele Gemeinsamkeiten mit Judentum, Christentum und dem späteren Islam teilt. Sie teilten vor allem die Vorstellung eines Kosmos, der unter der Vorherrschaft einer höchsten göttlichen Kraft steht, jedoch durch das beständige Treiben eines Heeres unsichtbarer Kräfte gelenkt und geformt wird, die wir Engel oder Dämonen nennen.

Zweitens erinnern sie uns daran, dass zahllose Generationen einen sehr ausgebildeten Sinn dafür hatten, dass der Raum zwischen Erde und Himmel von solchen Kräften belebt sein muss. Solche Glaubensinhalte finden sich selbstverständlich auch in anderen Kulturen, vom indischen Subkontinent bis zu den amerikanischen Ureinwohnern und darüber hinaus. Zum Beispiel die Dakinis im tibetanischen Buddhismus scheinen Iamblichos‘ und Proklos‘ Daimonen besonders ähnlich zu sein. Doch wir wollen vorerst bei den kulturellen Reichtümern unserer westlichen Traditionen verweilen, um die weitere Entwicklung dieser kraftvollen Vorstellungen nachzuzeichnen.

Hier müssen wir zwei Spuren nachfolgen. Die eine ist diejenige der griechischen Philosophie, wie sie sich durch die arabischsprachigen Länder des Nahen Ostens, Nordafrikas und Spaniens fortsetzte. Die andere führt uns zu den griechischsprachigen Christen Byzanz‘. Beide Wege führen letztendlich zum selben Ziel, nämlich zu einem breiteren Wissen und Verständnis der Himmel – doch sie unterscheiden sich geringfügig hinsichtlich ihres Charakters und ihrer Entwicklung, vor allem durch die astronomischen Fortschritte der damaligen arabischen Gelehrten.

Indem wir also zunächst der arabischen Spur folgen, ist der herausragende Vertreter der arabischen Engelslehre der persische Gelehrte Ibn Sina (980–1037), im Westen bekannt als Avicenna und vor allem berühmt für seine medizinischen und philosophischen Lehren. Die Rezeption von Avicennas Kanon der Medizin hat in Italien zur Gründung der Medizinschule von Salerno geführt,37 während seine Philosophie im muslimisch-jüdisch-christlichen Spanien wärmstens aufgenommen wurde, von wo aus sie sich in ganz Europa ausbreitete.38

Viele Ansichten Avicennas gründeten auf denjenigen al-Fārābīs (872–951), der die meiste Zeit seines Lebens in der abbasidischen Hauptstadt Bagdad verbrachte. Für al-Fārābī und Avicenna nahm die Schöpfung der Welt von einer ersten Ursache oder einem ersten Intellekt ihren Ausgang. Durch Anschauung seiner eigenen Existenz erschuf er einen zweiten Intellekt. Dieser brachte durch die Kontemplation seiner Emanation von Gott einen ersten Geist hervor, der die Sphäre der Sphären belebe, das Universum. Durch seine Selbstkontemplation habe er Materie hervorgebracht, die das Universum füllt und den ersten Himmel bilde, die Sphäre der Planeten. Die Selbstkontemplation des ersten Intellektes habe auch einen permanenten unaufhörlichen Fluss in Gang gesetzt, der alles Weitere hervorbringe: die höhere himmlische Rangordnung der Cherubim und eine niedere himmlische Rangordnung, die Avicenna mit Engeln der Herrlichkeit bevölkert, die die Himmel zum Leben erwecken. Diese Engel haben keine Sinneswahrnehmungsorgane, doch sie verfügen über Vorstellungskraft und dies befähigt sie dazu, eine Rückkehr zu ihrem Ursprung zu begehren. Ihre Suche nach dem Weg verursache die ewige Bewegung im Himmel, und ihre Vorstellungskraft inspiriere Menschen unmittelbar zu prophetischen Visionen.

Die übrigen Himmel sind in sieben weitere unterteilt, deren jeder von einem Intellekt beherrscht wird, der seinen eigenen Engel erschafft, der mit einer der sieben planetaren Sphären in Verbindung steht: Saturn, Jupiter, Mars, die Sonne, Venus, Merkur und der Mond (dies ist die klassische ptolemäische Unterteilung der Himmel, die die Erde als Zentrum des Systems voraussetzt.39 Dieses System behielt seine Gültigkeit, bis Kopernikus und Galileo Galilei es infrage stellten und schließlich widerlegten). Der Engel Gabriel, der sowohl im Christentum als auch im Islam eine besondere Bedeutung für die Menschen hat, wird mit dem Mond assoziiert und ist dementsprechend der Erde am nächsten. Später wurden diese von den Intellekten geschaffenen Engel mit den Intellekten selbst gleichgesetzt. Als solche bewegten sie die Sphären, und jeder Engel lasse dabei seine eigene Melodie erklingen – so erschüfen die Engel die himmlische Harmonie, die Musik der Sphären.40

Unter der Ebene des neunten Intellektes, d. h. unter dem Mond – die „sublunare Welt“ der Dichter – befindet sich unsere irdische Welt, die von dem ersten Intellekt dermaßen weit entfernt ist, dass der nächste Emanationsschritt darunter in einer Explosion in Splitter zerfällt. Deshalb gibt es keinen weiteren Himmel, sondern menschliche Seelen, und sie sind mit genau den Sinnesorganen ausgestattet, die den höheren Engeln fehlen. Doch sie sind im Vergleich zu den Engeln schwach von Intellekt, Vorstellungskraft und der Fähigkeit, andere zu erleuchten. Um mit ihrem in dieser Hinsicht derart limitierten Potenzial überhaupt etwas bewerkstelligen zu können, sind sie auf Erleuchtung durch „Engel“ angewiesen. Dies ist der zehnte Engel, eine Art universeller engelhafter Geist – deutlich zu unterscheiden von Plotins nous. In der Renaissance hat Ficino ähnlich gedacht und „Engel“ als eine einzelne Wesenheit wiederentdeckt, die neben den mannigfaltigen Engeln, wie wir sie kennen, existiere.

Für al-Fārābī und Avicenna sind diejenigen, die am meisten erleuchtet sind, die Propheten, die über Intellekt, Vorstellungskraft, Vision und die Gabe, andere zu inspirieren, verfügen. Propheten könnten darüber hinaus von den den Planeten zugehörigen Engeln erleuchtet werden (z. B. Gabriel). Manche Menschen empfingen vom zehnten „Engel“ genügend Licht, um zu schreiben, zu lehren, Gesetze weiterzugeben und zum Wohlergehen der Gesellschaft beizutragen. Andere empfingen gerade genug, um für sich selbst zu sorgen – und einige unglückliche Seelen nicht einmal das. Doch dieser zehnte Engel wird für Avicenna zum Spender eines Teiles des kollektiven Bewusstseins an jede Seele, die zugleich einen Anteil an der Unsterblichkeit verteilt. Für Avicenna ist die letzte Stufe des menschlichen Lebens die Wiedervereinigung mit „Engel“.41

Von Gabriel bis Luzifer

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