Читать книгу Blumen der Nacht - V.C. Andrews - Страница 8
Großmutters Haus
ОглавлениеDer Tag dämmerte grau hinter den schweren zugezogenen Vorhängen, die aufzuziehen uns streng verboten war. Christopher setzte sich als erster auf, reckte sich gähnend und grinste zu mir herüber. »Hallo, Wuschelkopf«, begrüßte er mich. Sein Haar war dabei mindestens so wuschelig wie meins, ja, eigentlich war er derjenige mit den meisten Locken. Ich werde nie begreifen, warum Gott Christopher und Cory so ausgeprägte Locken mitgab, während das Haar von Carrie und mir nur stark gewellt war. So sehr Christopher mit dem Stolz des echten Jungen versuchte, sich diese »weibischen« Locken glattzukämmen, so sehr versuchte ich, mir welche hineinzudrehen, und hoffte, Christophers Lockenpracht würde einfach eines Tages zu meinem Kopf hinüberspringen.
Ich setzte mich auf und sah mir das Zimmer an. Es war etwa fünf mal fünf Meter groß. Geräumig eigentlich, aber mit den beiden Doppelbetten, einer hohen Kommode, einem großen Kleiderschrank, zwei dick gepolsterten Stühlen, einem Ankleidetisch zwischen den beiden Fenstern mit einem eigenen kleinen Stuhl davor und noch einem Mahagoni-Tisch mit vier Stühlen dazu wirkte der Raum eher klein. Überfüllt. Zwischen den beiden Betten stand noch ein anderer Tisch mit einer Lampe darauf. Insgesamt befanden sich vier Lampen im Zimmer. Dieses schwere, dunkle Mobiliar stand auf einem verblaßten roten Orientteppich mit goldenen Fransen. Er mußte einmal prächtig ausgesehen haben, aber jetzt war er alt und abgetreten. Die Wände waren cremefarben tapeziert, mit weißem Muster. Die Tagesdecken der Betten waren goldfarben und aus einem schweren Stoff, den ich für gesteppten Seidensatin hielt. An den Wänden hingen drei Gemälde. Und man muß schon sagen, da blieb einem die Luft weg! Groteske Dämonen jagten nackte Menschen durch rotglühende Höhlen. Teuflische Ungeheuer verschlangen andere arme Seelen. Mit noch zappelnden Beinen hingen sie in den geifernden Höllenmäulern, von langen, gelblich schimmernden Fängen durchbohrt.
»Vor dir siehst du dort die Hölle, wie manche Künstler sie sich vorstellen«, informierte mich mein allwissender Bruder. »Zehn zu eins, daß unser Engel von Großmutter diese Drucke aufgehängt hat, damit wir eine Vorstellung haben, was uns blüht, falls wir einmal wagen sollten, ihr nicht zu gehorchen. Vom Stil her könnte das Goya sein.« Auch an Kunstverstand ließ mein Bruderherz sich nicht so leicht überbieten.
Er wußte alles. Direkt nach dem Wunsch, Arzt zu werden, war Künstler sein zweites Traumziel. Er besaß ein ungewöhnlich ausgeprägtes Zeichentalent und konnte dazu wunderbar mit Aquarellfarben, Öl, allem, was es gab, umgehen. Er war einfach in allem gut, außer darin, sich irgendwo zurückzuhalten oder sein Licht unter den Scheffel zu stellen.
Kaum machte ich die erste Bewegung, um aufzustehen, sprang mein Bruder aus dem Bett und war vor mir im Bad. Warum mußten Carry und ich auch das Bett haben, das am weitesten von der Badezimmertür entfernt stand? Ungeduldig saß ich auf dem Bettrand, baumelte mit den Beinen und wartete darauf, daß Christopher wieder herauskam.
Unter vielem Recken und Strecken und Herumgekrabbel wachten Carrie und Cory in den fremden Betten auf. Schließlich setzten sie sich gleichzeitig auf und gähnten simultan, als wären sie ihre eigenen Spiegelbilder. Dann verkündete Carrie in definitivem Ton: »Mir gefällt es hier nicht.«
Das war absolut keine Überraschung. Carrie war schon mit einer festen Meinung zu allem auf die Welt gekommen. Schon bevor sie sprechen lernte, wußte sie genau, was sie mochte und was sie nicht mochte. Und sie wußte, wie man das anderen deutlich machte. Für Carrie gab es dabei nie den Mittelweg – entweder himmelhoch jauchzend oder todtraurig. Wenn sie vergnügt war, hatte sie die niedlichste, hübscheste kleine Stimme der Welt. Es klang fast wie Vogelgezwitscher. Das Problem war nur, daß sie den ganzen Tag lang zwitscherte, solange sie nicht gerade schlief. Carrie redete mit Puppen, Teetassen, Teddybären und anderen Stofftieren. Alles, was stumm blieb und ihr nicht davonlaufen konnte, war ihr eine umfassende Unterhaltung wert. Irgendwann hatte ich aufgehört, ihr beständiges Geschnatter noch bewußt wahrzunehmen. Es wurde einfach zu einem vertrauten Hintergrundgeräusch.
Cory war völlig anders. Während Carrie drauflosschwatzte, saß er still und aufmerksam lauschend da. Ich erinnere mich, daß Mrs. Simpson von ihm sagte, er sei »eines von den stillen Wassern, die tief sind«.
»Cathy«, zwitscherte meine kleine Schwester, »hast du gehört, daß ich gesagt habe, daß es mir hier nicht gefällt?«
Als Cory das hörte, sprang er aus seinem Bett und rannte zu uns. Er schlüpfte unter die Bettdecke und kuschelte sich eng an Carrie, die Augen weit aufgerissen und verängstigt. Auf seine ruhige Art fragte er: »Wie sind wir hierhergekommen?«
»Letzte Nacht. Wir sind mit dem Zug gefahren. Weißt du nicht mehr?«
»Nein, ich weiß gar nichts mehr.«
»Wie wir durch den Mondschein gewandert sind? Über die Hügel? Es war sehr schön.«
»Wo ist die Sonne? Ist noch Nacht?«
Die Sonne war hinter den Vorhängen versteckt. Aber wenn ich das Cory erzählt hätte, wäre er sofort zum Fenster gerannt, um die Vorhänge aufzureißen. Und wenn er erst einmal nach draußen gucken würde, dann würde er auch hier raus wollen. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte.
Im Flur machte sich jemand an unserem Türschloß zu schaffen. Das ersparte mir die Antwort. Unsere Großmutter trug ein großes Tablett, bedeckt von einem weißen Tuch, herein. Auf sehr brüske, geschäftsmäßige Art erklärte sie, daß sie nicht den ganzen Tag über mit Tabletts in der Hand die Treppen herauflaufen könne. Einmal am Tag, nicht mehr. Wenn sie zu oft käme, würde das Personal etwas merken.
»Von nun an werde ich besser einen Picknick-Korb benutzen«, sagte sie, als sie das Tablett auf dem kleinen Tisch absetzte. Sie wandte sich mir zu, als sei ich die Verantwortliche für das Essen hier. »Du hast dafür zu sorgen, daß ihr mit diesen Sachen den ganzen Tag auskommt. Teile es in drei Mahlzeiten ein. Eier, Schinken, Toast und Corn Flakes sind für das Frühstück. Die belegten Brote und die heiße Suppe in der kleinen Thermosflasche eßt ihr mittags. Das gebratene Hähnchen, der Kartoffelsalat und die Bohnen sind das Abendessen. Das Obst könnt ihr zum Nachtisch essen. Und wenn ihr bis heute abend artig seid und euch gut benommen habt, bringe ich euch vielleicht noch etwas Eis oder Kuchen. Süßigkeiten gibt es keine. Nie. Wir dürfen nicht zulassen, daß ihr Zahnschmerzen bekommt, denn es sind keine Zahnarztbesuche möglich, bevor euer Großvater gestorben ist.«
Christopher kam vollständig angezogen aus dem Bad und starrte genau wie ich unangenehm berührt unsere Großmutter an, die so gleichgültig über den Tod ihres Mannes sprach. Es klang, als rede sie über irgendeinen Goldfisch in China, der über kurz oder lang in seinem Goldfischglas eingehen mußte. »Und putzt euch deshalb nach jeder Mahlzeit die Zähne«, fuhr sie fort. »Und kämmt euch anständig die Haare, wascht euch sauber und sorgt dafür, daß ihr immer vollständig angezogen seid. Ich ertrage keine Kinder mit schmutzigen Händen, ungewaschenen Gesichtern und laufenden Nasen.«
Gerade als sie das sagte, begann Cory die Nase zu laufen. Fast automatisch wischte ich sie ihm mit einem Papiertaschentuch, das ich noch bei mir hatte. Armer Cory, er hatte im Sommer immer Heuschnupfen, und sie haßte Kinder mit laufenden Nasen.
»Und benehmt euch anständig im Badezimmer«, sagte sie und warf besonders Christopher und mir einen strengen Blick zu. Christopher lehnte jetzt provozierend lässig an der Badezimmertür. »Jungen und Mädchen dürfen niemals zusammen das Bad benutzen.«
Ich fühlte, wie mir die Wangen heiß wurden! Wofür hielt uns diese Frau eigentlich?
Danach bekamen wir etwas zu hören, das uns von nun an immer wieder zu Ohren kam – wie eine kaputte Schallplatte. »Und denkt daran, Kinder, Gott sieht alles! Gott sieht alles Böse, was ihr hinter meinem Rücken tut! Und Gott wird es sein, der euch strafen wird, wenn ich es einmal versäumen sollte!«
Aus einer Tasche ihres Taftkleides zog sie ein Blatt Papier. »So! Auf diesem Blatt habe ich euch die Regeln aufgeschrieben, die ihr strikt zu befolgen habt, solange ihr unter meinem Dach weilt.« Sie legte die Liste mit den Regeln auf den großen Tisch und erklärte, daß wir das alles zu lesen und auswendig zu lernen hätten. Dann wirbelte sie herum, um hinauszustürmen ... nein, doch nicht, sie steuerte auf eine zweite Tür neben dem Bad zu, die wir bis jetzt noch nicht hatten inspizieren können. »Kinder, hinter dieser Tür ist eine Abstellkammer, an deren Rückseite sich eine weitere kleine Tür befindet. Von dort führt die Treppe auf den Dachboden. Oben auf dem Dachboden gibt es genug Platz für euch, um zu spielen, herumzulaufen und in angemessenen Grenzen laut zu sein. Aber ihr geht niemals dort hinauf, solange es nicht zehn Uhr morgens ist. Vor zehn sind die Mädchen im zweiten Stock zum Bettenmachen, und sie könnten eure Schritte hören. Nach zehn ist es den Dienstboten verboten, sich im zweiten Stock aufzuhalten. Irgendeiner von ihnen stiehlt. Solange ich diesen Dieb nicht eigenhändig erwischt habe, auf frischer Tat, bleibt der zweite Stock nach dem Bettenmachen gesperrt, und ich bin ständig anwesend, solange vom Personal jemand dort arbeitet. In diesem Haus gelten unsere eigenen Regeln, Regeln, die wir aufgestellt haben und für die wir auch harte Strafen haben, falls jemand sie nicht befolgt. Wie ich letzte Nacht schon erklärt habe, müßt ihr jeden letzten Freitag im Monat sehr früh auf den Boden und dort still sitzen, ohne einen Laut von euch zu geben oder mit den Füßen zu scharren – habt ihr mich verstanden?« Sie starrte uns der Reihe nach eindringlich an, um ihren Worten mit diesem bösen Blick den rechten Nachdruck zu verleihen. Die Zwillinge sahen sie mit einer eigenartigen Faszination an, fast ehrfürchtig. Zuletzt informierte sie uns noch einmal darüber, daß sie an den bewußten Freitagen diesen Raum und das Bad gründlichst begutachten würde, ob wir auch keine Spuren unserer Anwesenheit hinterlassen hatten.
Nachdem alles gesagt war, ging sie. Wieder wurden wir eingeschlossen. Nun konnten wir wenigstens Luft holen.
Mit grimmiger Entschlossenheit versuchte ich das Ganze zu einem Spiel zu machen. »Christopher Meißner, ich ernenne dich hiermit zum Vater.«
Er lachte und meinte sarkastisch: »Wen sonst? Als der Mann und als Haupt der Familie tue ich hiermit kund, daß man mich zu bedienen hat zur Tages- und zur Nachtzeit wie einen König. Weib, als die mir Untergeordnete und zur Sklavin gegeben nach Recht und Gesetz, decke den Tisch, trage das Essen auf und bereite das Mahl für deinen Herrn und Meister.«
»Sag das noch mal, Bruderherz!«
»Von nun an bin ich nicht mehr dein Bruder, sondern dein Herr und Meister. Du hast mir zu gehorchen, was immer ich auch von dir verlange!«
»Und wenn ich nun nicht gehorche – was machst du dann, Herr und Meister?«
»Dein Ton gefällt mir nicht. Ich bitte mir Respekt aus, wenn du mit mir sprichst.«
»Hohoho und dideldum! Der Tag, an dem ich respektvoll zu dir spreche, mein lieber Christopher, das wird der Tag sein, an dem du dir meinen Respekt verdient hast. Und das ist der Tag, an dem du ein Meter neunzig groß bist und der Mond am Mittagshimmel steht und ein Schneesturm ein Einhorn heranfegt, auf dem ein Reiter in strahlender, weißer Rüstung sitzt, der den Kopf eines grünen Drachen auf seine Lanze gespießt hat!« Zutiefst zufrieden mit seinem langen Gesicht rauschte ich mit Carrie an der Hand hoheitsvoll ins Bad, wo wir uns in aller Ruhe wuschen und anzogen, während der arme Cory ständig rief, er müsse mal.
»Bitte, Cathy! Laß mich rein! Ich guck’ auch nicht!«
Irgendwann wird auch ein Badezimmer langweilig, und als wir wieder herauskamen, war Cory tatsächlich vollständig angezogen. Und, was mich noch mehr überraschte, er mußte auf einmal überhaupt nicht mehr.
»Warum?« fragte ich. »Wag ja nicht, mir zu erzählen, du hättest ins Bett gepinkelt!«
Cory wies nur still auf eine große leere blaue Vase.
Christopher lehnte selbstzufrieden mit verschränkten Armen an der Kommode. »Das wird dich lehren, einen Mann zu ignorieren, den ein körperliches Bedürfnis peinigt. Wir Männer sind nicht wie ihr Weiber. Uns genügt im Notfall jeder kleinste Behälter.«
Bevor ich irgend jemand erlaubte, mit dem Frühstück zu beginnen, leerte ich die blaue Vase in die Toilette und spülte sie gründlich aus. Es war wahrscheinlich gar keine schlechte Idee, die Vase an Corys Bett immer griffbereit zu haben.
Wir setzten uns an den kleinen Tisch am Fenster. Die Zwillinge bekamen zusammengefaltete Kopfkissen untergelegt, damit sie wenigstens sehen konnten, was sie aßen. Alle vier Lampen brannten, aber es war ein deprimierendes Gefühl, hinter zugezogenen Vorhängen zu frühstücken, während draußen die Sonne schien.
»Kopf hoch, Schwester«, sagte mein unnachahmlicher großer Bruder. »Ich habe nur Spaß gemacht. Du brauchst keine Sklavin zu sein. Ich mag nur so gerne, wie du dich aufführst, wenn man dich ärgert. Dann gibst du die wunderbarsten Ergüsse von dir. Ich gebe zu, daß ihr Frauen an Beredsamkeit uns Männern um einiges voraus seid, so wie wir Männer damit gesegnet sind, auch in kleinste Gefäße urinieren zu können.« Und um mir deutlich zu zeigen, daß er gar kein so schlimmer Kerl war, half er sogar, den Zwillingen die Milch einzugießen, wobei er, wie ich zuvor, die Erfahrung machen konnte, daß aus einer riesigen Thermosflasche Milch in Gläser zu befördern, ohne dabei allzuviel zu verschütten, keine leichte Aufgabe ist.
Carrie warf auf die Spiegeleier und den Schinken nur einen Blick und begann zu jammern. »Wiiiir mögen keine Eier mit Schinken! Wiiiir mögen nur Müsli! Müsli mit Haferflocken! Wo ist mein Müsli? Müsli mit Nüssen!« Sie brüllte los: »Ich will mein Müsli mit Nüssen und Rosinen! Ich will kaltes Frühstück.«
»Jetzt hör mal zu«, erklärte ihr der neue Mini-Vater, »du ißt, was du auf den Teller bekommst, und maulst nicht rum. Und du weinst nicht, schreist nicht und kreischst nicht! Hast du das verstanden? Das ist auch kaltes Essen. Du kannst Corn Flakes haben, und die Eier sind im übrigen auch schon kalt.«
Im Handumdrehen hatte Christopher sein kaltes Ei mit Schinken heruntergeschlungen, zusammen mit den kalten Toasts. Die Zwillinge aßen aus Gründen, die ich nie verstehen werde, ohne jeden weiteren Kommentar ebenfalls alles auf. Ich bekam allerdings das ungute Gefühl, daß unser Glück mit den Zwillingen nicht mehr lange anhalten konnte. Für einen Augenblick waren sie von einem strengen älteren Bruder beeindruckt, aber das würde sich bald ändern.
Nachdem wir mit dem Essen fertig waren, räumte ich die Teller wieder ordentlich auf das Tablett. Und erst in diesem Moment fiel mir ein, daß wir das Tischgebet vergessen hatten. Schnell stellten wir uns an den Tisch, griffen uns bei den Händen, verbeugten uns dann und legten schließlich die Hände vor der Brust zusammen.
»Herr, vergib uns, daß wir gegessen haben, ohne dich vorher um Erlaubnis zu bitten. Laß es bitte nicht die Großmutter erfahren. Wir schwören, daß es nicht wieder vorkommen soll. Amen.« Nachdem ich das Gebet beendet hatte, nahmen Christopher und ich uns die Liste mit Großmutters Geboten vor. Sie war in Großbuchstaben getippt, als ob wir zu dumm wären, Handschrift zu lesen.
Und damit die Zwillinge, die gestern nacht zu müde gewesen waren, um unsere Lage zu verstehen, nun mitbekamen, was uns hier erwartete, begann mein Bruder die Liste der niemals zu übertretenden Gesetze laut vorzulesen – Regeln, Gesetze, was immer das sein sollte. Er schaffte es dabei, die Großmutter so überzeugend zu imitieren, als würde sie selbst die Anweisungen geben.
»Erstens« – er las mit kalter, flacher Stimme – »ihr habt immer vollständig bekleidet zu sein.« O Junge, wie er es schaffte, dieses »immer« überzeugend klingen zu lassen!
»Zweitens: Ihr führt niemals ohne Grund den Namen des Herrn im Mund und erbittet zu jeder Mahlzeit seinen Segen. Und wenn ich auch nicht immer im Zimmer sein werde, um zu sehen, ob ihr dies tut, so wird Er dort oben immer zuhören und aufpassen.
Drittens: Ihr öffnet niemals die Vorhänge oder schaut auch nur zwischen ihnen hindurch.
Viertens: Ihr sprecht niemals zu mir, ohne daß ich euch vorher angesprochen habe.
Fünftens: Ihr werdet dieses Zimmer immer aufgeräumt und ordentlich halten und immer nach dem Aufstehen sofort die Betten machen.
Sechstens: Ihr gebt euch niemals dem Müßiggang hin. Ihr werdet euch fünf Stunden am Tag der Schulbildung widmen und den Rest der Zeit dazu nutzen, eure Fähigkeiten und besonderen Talente auf sinnvolle Weise zu üben. Falls ihr keine besonderen Talente, Fähigkeiten oder Begabungen besitzt, werdet ihr die Bibel lesen, und falls ihr nicht lesen könnt, dann werdet ihr still dasitzen und die Bibel ansehen und durch die pure Konzentration eurer Gedanken die Wege des Herrn zu begreifen versuchen.
Siebtens: Ihr putzt euch jeden Tag nach dem Frühstück die Zähne und jeden Abend, bevor ihr zu Bett geht.
Achtens: Sollte ich jemals Jungen und Mädchen dabei erwischen, daß sie gemeinsam im Badezimmer sind, werde ich euch ohne zu zögern und ohne Erbarmen die Haut in Fetzen prügeln.«
Mein Herz schien mir auszusetzen. Himmel, was für eine Großmutter hatten wir da erwischt?
»Neuntens: Ihr werdet alle vier immer sittsam und höflich sein – in eurem Benehmen, euren Worten und euren Gedanken.
Zehntens: Ihr werdet niemals die intimen Teile und Stellen eures Körpers befühlen oder damit spielen, noch werdet ihr sie im Spiegel ansehen, noch werdet ihr an sie denken, nicht einmal, wenn ihr euch wascht.«
Unerschütterlich las Christopher weiter. Nur ein Funkeln seiner Augen verriet, daß er innerlich lachen mußte.
»Elftens: Ihr werdet keinen bösen, sündigen oder lüsternen Gedanken erlauben, in eurem Kopf zu verweilen. Ihr werdet eure Gedanken immer sauber, ehrlich und fern von allem, was euch verderben könnte, halten.
Zwölftens: Ihr werdet euch jeden Blickes auf ein Mitglied des anderen Geschlechtes enthalten, der nicht absolut notwendig ist.
Dreizehntens: Diejenigen von euch, die lesen können, und ich hoffe, das sind wenigstens zwei, werden jeder abwechselnd eine Seite aus der Bibel vorlesen, und zwar täglich, so daß die jüngeren Kinder von den Worten des Herrn erfahren und ihren Nutzen daraus ziehen.
Vierzehntens: Ihr werdet jeder täglich baden und sorgfältig den Rand der Wanne abwischen, so daß das Bad zu jeder Zeit so fleckenlos sauber ist, wie ihr es bei eurem Einzug hier vorgefunden habt.
Fünfzehntens: Ihr werdet jeder, auch die Zwillinge, mindestens einen Bibelspruch pro Tag auswendig lernen. Und wenn ich es verlange, werdet ihr mir diese Bibelsprüche aufsagen, genau wie ich auch darüber wachen werde, daß ihr eure Bibelseiten gründlich lest.
Sechzehntens: Ihr werdet das Essen, das ich euch täglich bringe, bis auf den letzten Bissen aufessen, so daß nichts vergeudet wird, und ihr werdet nichts davon wegwerfen oder verstecken. Es ist eine Sünde, gutes Essen zu verschmähen, solange so viele Menschen auf der Welt verhungern.
Siebzehntens: Ihr werdet niemals nur in euren Nachtkleidern durch das Zimmer laufen, nicht einmal vom Bett zum Bad oder vom Bad zum Bett. Ihr werdet immer einen Bade- oder Hausmantel darüber tragen und natürlich auch über eurer Unterwäsche, falls ihr jemals schnell das Bad verlassen müßt, weil ein anderes Kind die Toilette benutzen will. Ich verlange, daß jeder, der unter diesem Dach lebt, sich zu jeder Zeit gesittet und anständig verhält – in allen Dingen und bei jeder Gelegenheit.
Achtzehntens: Ihr werdet in Habachtstellung treten, sobald ich in dieses Zimmer komme, die Arme gerade an die Seiten gepreßt und aufrecht. Ihr werdet nicht die Fäuste ballen, um damit stummen Widerstand auszudrücken, noch ist es euch erlaubt, mir in die Augen zu sehen, noch werdet ihr versuchen, mir gegenüber Zeichen der Zuneigung zum Ausdruck zu bringen, noch werdet ihr hoffen, meine Freundschaft, mein Mitleid, meine Liebe oder meine Zuneigung zu gewinnen. Dies ist für immer unmöglich. Weder euer Großvater noch ich können zulassen, daß wir jemals irgend etwas fühlen für solche, die nicht den rechten Zwecken dienen.«
Ohhh! Diese Worte sollten weh tun, und das taten sie auch. Selbst Christopher stockte, und in seinen Augen flackerte so etwas wie Verzweiflung, das er aber schnell mit einem Grinsen überspielte. Er griff nach Carrie und kitzelte sie, bis sie laut kicherte. Dann zwickte er Cory in die Nase, so daß er in Carries Kichern einstimmte.
»Christopher«, rief ich alarmiert. »So wie sich das anhört, wird es unserer Mutter niemals gelingen, die Zuneigung ihres Vaters zurückzugewinnen! Und noch viel weniger wird er jemals einen Blick auf uns werfen wollen! Warum? Was haben wir getan? Es gab uns doch noch gar nicht, als unsere Mutter in Ungnade fiel, weil sie diese schreckliche Sache machte, wegen der Großvater sie enterben mußte. Warum haßt man uns hier so?«
»Bleib ganz ruhig«, erwiderte Chris und ließ den Blick noch einmal über die lange Liste wandern. »Du darfst nichts von diesem Zeug ernst nehmen. Diese alte Frau spinnt, sie hat einfach nicht mehr alle Tassen im Schrank. Niemand, der so clever ist wie unser Großvater, kann so verrückte Vorstellungen haben wie seine Frau – wie könnte er sonst Milliarden Dollar verdient haben?«
»Vielleicht hat er das Geld gar nicht selbst verdient, sondern nur geerbt.«
»Ja, Mammi hat uns erzählt, daß er etwas geerbt hat, aber das hat er verhundertfacht, also muß er irgendwo auch etwas Hirn im Kopf haben. Aber irgendwie hat er bei seiner Frau offenbar eine erwischt, die nicht ganz richtig im Kopf ist – so was soll auch bei reichen Leuten schon mal Vorkommen.« Er grinste und fuhr mit der Liste fort.
»Neunzehntens: Wenn ich in dieses Zimmer komme, um euch Milch und Essen zu bringen, werdet ihr mich nicht ansehen, mich nicht ansprechen, noch irgendwie respektlos von mir denken oder von eurem Großvater, denn Gott wacht über uns, und Er liest jeden unserer Gedanken. Mein Mann ist ein starker Mann, und selten hat ihn jemand hintergehen können. Er hat eine Armee von Ärzten und Schwestern und Technikern, die sich um alle seine Bedürfnisse kümmern, und er hat Maschinen, die die Funktion jedes seiner Organe übernehmen können, falls ihn eines im Stich lassen sollte. Glaubt also nicht, daß etwas so Nebensächliches wie das Herz einen Mann aus Stahl zu Fall bringen kann.«
Puh! Ein Mann aus Stahl als Gegenstück zu dieser Großmutter. Seine Augen mußten auch grau sein. Böse, harte, stahlgraue Augen – denn wie unser Vater und unsere Mutter bewiesen, ziehen sich ähnliche Menschen an.
»Zwanzigstens:«, las Christopher weiter, »Ihr werdet nicht springen, nicht schreien, nicht rufen und nicht laut sprechen, damit euch das Hauspersonal in den unteren Etagen nie hören kann. Und ihr werdet immer weiche Pantoffeln tragen und niemals Schuhe mit harten Sohlen.
Einundzwanzigstens: Ihr werdet sparsam mit dem Toilettenpapier umgehen, ebenfalls mit der Seife, und ihr werdet selbst die Toilette säubern, falls sie jemals verstopft sein sollte. Gelingt es euch nicht, selbst einen solchen Schaden zu beheben, wird die Toilette unbenutzbar bleiben, solange ihr hier seid, und ihr werdet die Nachttöpfe benutzen müssen, die dann eure Mutter für euch zu leeren hat.
Zweiundzwanzigstens: Die Jungen waschen ihre Sachen in der Badewanne, desgleichen die Mädchen. Eure Mutter wird sich um das Bettzeug und die Handtücher kümmern. Die Matratzenbezüge werden einmal in der Woche gewechselt, und sollte ein Kind das Bett nässen, werde ich eure Mutter anweisen, euch Gummiunterlagen zu bringen und das Kind, das seine Blase nicht kontrollieren kann, streng zu bestrafen.«
Ich stöhnte und legte meinen Arm um Cory, der sich wimmernd an mich kuschelte, als er das hörte. »Psssst! Du brauchst keine Angst zu haben. Sie wird nie davon erfahren, wenn dir nachts mal was passiert. Wir werden dich schützen. Irgendwie verstecken wir einfach das nasse Bettzeug, so daß niemand was merken kann.«
Chris kam zum Schluß. »Hier ist noch ein abschließender Absatz, der nicht zu den Regeln gehört, sondern wohl als Warnung gedacht sein soll. Sie schreibt: Ihr könnt davon ausgehen, daß ich diese Liste von Zeit zu Zeit, wie es sich ergibt, erweitern und verlängern werde, denn ich bin eine sehr aufmerksame Frau, die nichts übersieht. Glaubt nicht, daß ihr mich hintergehen könnt, meiner spotten oder auf meine Kosten irgendwelche Scherze treiben, denn wenn ihr das versuchen solltet, werden eure Rücken und eure Seelen tiefe Narben für den Rest eures Lebens tragen, und ich werde euren Stolz und eure Selbstachtung für immer brechen. Und wißt von nun an, daß ihr niemals in meiner Gegenwart den Namen eures Vaters erwähnen oder in irgendeiner Weise von ihm sprechen dürft, und ich selbst werde meinen Blick niemals dem Kind zuwenden, das ihm am meisten ähnlich sieht.«
Das war es. Ich sah Christopher fragend an. Hatte er den gleichen Eindruck wie ich – daß aus gewissen Gründen unser Vater der Anlaß für die Enterbung unserer Mutter gewesen sein mußte und er ihr den Haß ihrer Eltern eingebracht hatte?
Und fand er auch, dies alles klinge, als sollten wir für eine lange, sehr lange Zeit hier eingeschlossen bleiben?
O Gott, o Gott, o Gott! Ich würde es nicht einmal eine Woche hier aushalten!
Wir waren keine Teufel, aber ganz bestimmt waren wir auch keine Engel! Und wir brauchten einander, mußten uns ansehen, uns in den Arm nehmen dürfen!
»Cathy«, sagte mein Bruder ruhig mit einem schiefen Lächeln um die Lippen, während die Zwillinge uns gespannt beobachteten, um an unseren Reaktionen festzustellen, wie bedrohlich die Lage für sie selbst wohl war, »sind wir so häßlich und ohne jeden Charme, daß eine alte Frau, die unseren Vater und unsere Mutter aus unerfindlichen Gründen haßt, uns für immer widerstehen kann? Das ist ein Trick, eine Masche. Sie meint nichts davon wirklich.« Er deutete auf die Liste, die er inzwischen zu einer Schwalbe gefaltet hatte, und warf sie über die Betten. Auch als Papierflieger war mit ihr nicht viel los.
»Sollen wir einer alten Frau glauben, die geistesgestört sein muß und in eine Anstalt gehört – oder sollen wir der Frau glauben, die uns liebt, der Frau, die wir kennen und der wir vertrauen? Unsere Mutter wird für uns sorgen. Sie weiß, was sie tut, darauf kann man sich verlassen.«
Er hatte recht. Ja, natürlich. Mammi war diejenige, der wir vertrauen konnten, nicht diese verrückte Alte mit ihren Wahnsinnsideen, ihren Schrotflinten-Blicken und ihrem bösen, messerscharfen Mund.
Innerhalb kürzester Zeit mußte der Großvater dort unten dem Charme unserer Mutter erliegen, und wir würden die Treppen hinuntersteigen, in unseren besten Kleidern und unser gewinnendstes Lächeln auf den Lippen. Und er würde uns ansehen und merken, daß wir nicht häßlich oder dumm, sondern normal genug waren, um uns ein wenig zu mögen, wenn nicht sogar etwas mehr als ein wenig. Und vielleicht, wer wollte das schon wissen, würde er eines Tages sogar so etwas wie ein bißchen Liebe für seine Enkel aufbringen.