Читать книгу Blumen der Nacht - V.C. Andrews - Страница 9
Der Dachboden
ОглавлениеEs wurde zehn Uhr morgens und später.
Was von unserer täglichen Ration an Essen übriggeblieben war, verstauten wir am kühlsten Ort, den wir finden konnten, nämlich unter der Kommode. Die Mädchen, die Betten machten und die oberen Zimmer aufräumten, mußten inzwischen mit Sicherheit in die unteren Etagen abgezogen sein, und sie würden dieses Stockwerk hier oben für die nächsten vierundzwanzig Stunden nicht mehr zu Gesicht bekommen.
Wir hatten unser Zimmer natürlich längst ziemlich satt und waren neugierig, die äußeren Regionen unseres so begrenzten Reiches endlich in Augenschein zu nehmen. Christopher und ich nahmen je einen Zwilling an der Hand, und wir steuerten leisen Schrittes die Abstellkammer an, in der sich noch immer unsere beiden unausgepackten Koffer befanden. Wir wollten mit dem Auspacken noch warten. Wenn wir geräumige, freundlichere Quartiere beziehen konnten, würde das Personal uns die Koffer auspacken, wie sie es in den Filmen machten, und wir könnten dann in der Zwischenzeit einen Spaziergang unternehmen. Tatsächlich konnten wir ja doch mit Sicherheit davon ausgehen, daß wir nicht mehr in diesem Zimmer versteckt sein würden, wenn die Mädchen hier zu ihrer monatlichen Reinigung auftauchten. Bis dahin befanden wir uns bestimmt längst in Freiheit.
Voran mein älterer Bruder, der Cory fest an der kleinen Hand hielt, so daß er nicht fallen konnte, dahinter ich mit Carrie auf den Fersen, stiegen wir die dunkle, enge, steile Treppe hinauf. Die Wände dieses Aufgangs standen so eng beieinander, daß wir sie fast mit den Schultern berührten.
Und da war er!
Natürlich hatten wir schon vorher Dachböden gesehen, wer hätte das nicht? Aber niemals einen Dachboden wie diesen!
Wir standen wie angewurzelt und starrten ungläubig in die Runde. Riesig, dämmrig, staubig und dreckig schien dieser Dachboden sich meilenweit vor uns auszudehnen. Die entfernteste Wand war so weit weg, daß sie im staubigen Dunst zu verschwimmen schien. In der Luft hing ein unangenehmer Geruch nach Verfall, nach alten verrotteten Dingen, nach Dingen, die tot waren und nicht begraben. Soviel Staub erfüllte die Luft, daß alles sich in den Staubwirbeln zu bewegen schien, ein Flirren und Flimmern lag besonders über den düsteren fernen Ecken und Winkeln.
Vier Dachfenstergruppen gab es an den beiden Frontseiten. Die schrägen Querwände schienen fensterlos, aber es gab Abzweigungen zu anderen Flügeln des Bodens, die wir nicht einsehen konnten, bevor wir nicht in die düstere Hitze dieses Ortes weiter vordrangen.
Schritt für Schritt machten wir uns langsam und vorsichtig auf den Weg, eng aneinandergedrängt wie ängstliche Tiere.
Der Boden bestand aus langen, an der Oberfläche morschen Holzdielen. Kleine Tiere huschten und raschelten in den Schatten, ohne daß wir sie jemals hätten genau erkennen können. Es gab genug Möbel hier oben, um mehrere Häuser damit auszustatten. Dunkle, massige Möbelstücke, aufgestapelte Nachttöpfe, Wasserkrüge, die in Waschschüsseln standen, über zwanzig hintereinander aufgereiht. Und dann gab es dort ein rundes hölzernes Ding, das wie eine Art eisenbeschlagener Badezuber aussah. Wie konnte man nur so eine Badewanne auf dem Speicher aufheben?
Wertvollere Möbel waren mit weißen Tüchern abgedeckt, die unter dem abgelagerten Staub von Jahrzehnten ergraut sein mußten. Was da unter diesen schmutzstarrenden Leichentüchern hockte, jagte mir eine Gänsehaut nach der anderen den Rücken hinunter, denn diese grotesken Hügel erschienen mir wie unheimliche, schauerliche Möbelgespenster, die im staubigen Zwielicht wisperten und flüsterten. Und ich wollte nicht hören, was sie sich zuraunten.
Dutzende von schweren Schrankkoffern waren an den Wänden entlang aufgereiht, alle lederbezogen, mit Eisenschlössern und Messingbeschlägen; jeder über und über mit Reiseaufklebern bedeckt. Diese Kisten mußten alle mehrfach um die Welt gereist sein. Riesige Schrankkoffer waren dabei, in die ein Sarg hineingepaßt hätte.
Gigantische Kleiderschränke standen in einer stummen Reihe am gegenüberliegenden Ende des Dachbodens. Als wir sie untersuchten, stellten wir fest, daß sie alle bis oben hin voller alter Kleider waren. Wir fanden Bürgerkriegsuniformen von den Konföderierten neben denen der Union, was Christopher und mich zu allerlei Spekulationen veranlaßte, während die Zwillinge verängstigt um sich blickten und nicht von unserer Seite wichen.
»Glaubst du, unsere Ururgroßväter waren während des Bürgerkrieges so unentschieden, daß sie nicht wußten, zu welcher Seite sie gehören wollten, Christopher?«
»Man sollte ihn eigentlich besser den Krieg zwischen den Bundesstaaten nennen«, antwortete er.
»Meinst du sie waren Spione?«
»Was weiß ich?«
Geheimnisse, überall Geheimnisse! Bruder gegen Bruder sah ich diese uralte Familie kämpfen – oh, wie toll, wenn wir in den alten Familiengeheimnissen schnüffeln könnten! Vielleicht ließen sich hier irgendwo alte Tagebücher entdecken!
»Schaut mal hier!« rief Christopher und zog einen alten Anzug mit Samtbordüren heraus. Ekelhafte geflügelte Untiere stoben nach allen Seiten daraus hervor, als er ihn auseinanderfaltete, trotz des durchdringenden Geruchs nach Mottenkugeln.
Carrie und ich kreischten auf.
»Stellt euch nicht an wie Babys«, wies der große Bruder uns sofort zurecht. »Das sind nur Motten, ganz harmlose Motten. Die Larven sind es, die die Löcher in die Sachen fressen.«
Diese Einzelheiten waren mir ziemlich egal! Käfer blieb Käfer – ob als Larve oder ausgewachsen. Ich konnte überhaupt nicht begreifen, was Christopher an diesen alten Klamotten fand, aber diese steifen alten Anzüge, Mäntel und Hemden schienen ihn ungeheuer zu faszinieren.
Doch dann mußte auch ich zugeben, daß man in früheren Zeiten durchaus verstand, sich anzuziehen. All die Spitzen, Rosetten, Rüschen auf Samt und Seide! Wie phantastisch würde ich darin aussehen! Ich würde mir mit einem Fächer Kühlung zufächern und verführerisch mit den Augenlidern flattern.
Von dem ungeheuren Dachboden bisher eingeschüchtert, machte Carrie ihrer Angst plötzlich mit lautem Geschrei Luft und holte mich aus meinen schönen Gedanken schnell zurück ins Hier und Jetzt, wo es mir wesentlich weniger gut gefiel.
»Es ist so heiß hier, Cathy!«
»Ja, es ist heiß hier.«
»Ich mag das hier nicht!«
Ich warf einen Blick auf Cory, der sich verschüchtert umsah und meinen Rock festhielt. Also nahm ich ihn und Carrie bei der Hand und löste mich von der Faszination der alten Kleider, um mit den Zwillingen alles ansehen zu gehen, was dieser furchtbare alte Speicher Kindern zu bieten hatte. Es war nicht wenig. Tausende von alten Büchern in Kartons, Kisten und Regalen, Schreibtische, zwei hochgestellte Flügel, vorsintflutliche Radios, Telefone, Phonographen und Berge von Kartons mit undefinierbarem Kram, der inzwischen längst vermoderten Generationen schon überflüssig erschienen sein mußte. Kleiderständer und Schneiderbüsten in allen Formen und Größen, Vogelkäfige mit den verschiedensten Ständern dazu, Gartengerät, Besen, Schaufeln, gerahmte Fotografien von ausgesprochen blassen und irgendwie krank aussehenden Leuten, die, wie ich annahm, unsere toten Verwandten sein mußten. Alle hatten sie Augen, die hart waren, grausam, bitter, traurig, verlangend, hoffnungslos, leer, aber niemals, das kann ich schwören, sah ich irgendwelche glücklichen Augen. Einige lächelten. Die meisten nicht. Besonders hatte es mir ein junges Mädchen angetan, dessen rätselhaftes Lächeln mich an Mona Lisa erinnerte, nur daß sie viel hübscher war. Christopher verglich sie in ihrem altmodischen, engen Kleid, das zu einer Wespentaille zusammengeschnürt war, mit unserer Mutter. Die Ähnlichkeit war tatsächlich auffallend, aber wir kamen beide zu der Auffassung, daß Mammi viel, viel hübscher war.
Die Stille hier oben war so total und bedrückend. Man konnte seinen eigenen Herzschlag hören. Trotzdem würde es Spaß machen, hier jede Truhe, jede Kiste, jeden Koffer und jeden Schrank durchzustöbern. Wenn es nur nicht so heiß gewesen wäre! So stickig! Meine Lungen schienen mir schon vollgestopft mit Dreck und Staub und abgestandener Luft. Nicht nur das. Spinnweben hingen überall in den Winkeln und von den Dachbalken herab. In den Ecken huschte und krabbelte es fortwährend, und wenn ich auch nichts Genaues sehen konnte, dachte ich doch ständig an Mäuse und widerliche, fette Ratten. Wir hatten im Fernsehen einmal einen Film gesehen, in dem ein Mann sich auf dem Dachboden an einem Balken aufgehängt hatte. Und es gab noch diesen anderen Film, in dem ein Mann seine Frau in einen alten Schrankkoffer mit Messingbeschlägen und Eisenschlössern stieß, genau wie diese hier vor uns, dann den Deckel zuklappte, abschloß und die Frau dort drinnen sterben ließ. Ich starrte noch einmal lange auf die Koffer und fragte mich, was für Geheimnisse sie wohl bergen mochten, die das Personal nie erfahren durfte. Warum wäre ihm der Dachboden sonst so streng verboten gewesen?
Ich merkte, daß mein Bruder meine Reaktionen sehr genau beobachtete und mir offenbar die Gedanken ansah, die mich verunsicherten. Ich versuchte, meine Gefühle vor ihm zu verbergen, und wandte mich schnell ab – aber er hatte schon genug gesehen. Er nahm mich bei den Händen und sagte, so wie Daddy es gesagt hätte: »Cathy, alles geht in Ordnung. Es muß für alle Dinge, die uns sehr verwickelt und geheimnisvoll Vorkommen, eine sehr einfache Erklärung geben.«
Langsam drehte ich den Kopf zu ihm, überrascht, daß er mich trösten wollte und nicht aufziehen. »Warum, glaubst du, haßt die Großmutter uns? Warum sollte der Großvater uns wohl hassen? Was haben wir denn gemacht?«
Er zuckte verwirrt die Schultern, und gemeinsam zogen wir weiter, um den Dachboden noch genauer zu erkunden. Selbst unsere ungeübten Augen konnten ohne Schwierigkeiten ausmachen, wo neue Flügel an das alte Haus angebaut worden waren. Dicke, viereckige Balken, die lotrecht zum First hinaufragten, unterteilten den Speicher in bestimmte Sektionen. Ich dachte mir, daß wir, wenn wir nur lange genug herumwanderten, auch irgendwo eine Stelle finden müßten, an der die Luft ein wenig besser war.
Die Zwillinge begannen zu husten und zu niesen. Sie sahen uns vorwurfsvoll an, weil wir sie gegen ihren Willen an einem Ort herumschleppten, der ihnen ganz und gar nicht behagte.
»Paßt mal auf«, sagte Christopher, als die Zwillinge mit ernsthaftem Protestgeschrei begannen, »wir können ein Fenster ein paar Zentimeter aufmachen, das wird niemand von unten sehen können.« Dann ließ er meine Hand los und rannte vor. Er sprang über Kisten, kletterte über Kommoden und verschwand irgendwo, während ich mit den Kleinen an der Hand zurückblieb, die genau wie ich verängstigt erstarrten.
»Kommt her und guckt, was ich hier gefunden habe«, rief Christopher hinter einem Kistenberg hervor. In seiner Stimme schwang Begeisterung. »Wartet ab, bis ihr das hier gesehen habt!«
Wir rannten los, in der Erwartung, etwas Aufregendes, Wunderbares, Lustiges zu sehen zu bekommen, aber alles, was er uns zu zeigen hatte, war ein Zimmer. Ein richtiger an drei Seiten abgeschlossener Raum mit einer Decke, die zwischen den Dachbalken eingezogen war, und mit tapezierten Wänden. Es schien eine Art Klassenzimmer gewesen zu sein, denn es befanden sich fünf Pulte darin, die einem größeren Pult frontal gegenüberstanden. An den Wänden hingen alte Schiefertafeln mit niedrigen Bücherregalen darunter, in denen verstaubte, gebleichte alte Bände standen, über die sich mein ewiger Sucher nach Weisheit und Erkenntnis sofort auf den Knien rutschend hermachte. Bücher waren genug, um ihn alles andere vergessen zu lassen, wußte er doch, daß sie ihm Fluchtwege in andere Welten eröffneten.
Ich interessierte mich mehr für die kleinen Pulte, in deren Platten Namen und Daten eingeritzt waren: Jonathan, elf Jahre alt, 1864! Und Adelheid, neun Jahre alt, 1879! Oh, wie alt dieses Haus, dieses unglaubliche Foxworth Hall doch sein mußte! Aber warum hatten Eltern früher ihre Kinder hier herauf auf den Dachboden geschickt, um sie unterrichten zu lassen? Es mußten doch sicher Kinder gewesen sein, die willkommen, keine wie wir, die von den Großeltern verbannt worden waren. Vielleicht hatte man für sie die Fenster weit aufgestoßen. Und für sie würde das Personal auch im Winter Kohlen und Holz heraufgeschleppt haben, um damit die beiden Öfen zu feuern, die ich in den Ecken entdeckte.
Ein altes Schaukelpferd mit einem fehlenden Bernsteinauge wackelte unsicher auf seinen Kufen, den gelben Schwanz von Motten zerfressen. Aber dieses schwarzweiß gefleckte Holzpony reichte aus, Cory einen entzückten Schrei zu entlocken.
»Auf die Pferde!« Und das Pony, sicher jahrzehntelang nicht mehr geritten, galoppierte, mit allen Schrauben und Scharnieren Protest quietschend, los.
»Ich will auch reiten!« brüllte Carrie. »Wo ist mein Pferdchen?«
Schnell packte ich Carrie und hob sie hinter Cory auf das Pferd, so daß sie sich an seiner Hüfte festhalten konnte. Sie lachte begeistert und schaukelte wild mit den Beinen, bis das altersschwache Pferd sich fast überschlug. Ein Wunder, daß es nicht einfach auseinanderfiel.
Jetzt hatte ich Zeit, ebenfalls einen Blick auf die alten Bücher zu werfen, die Christopher so in ihren Bann gezogen hatten. Ohne den Titel zu lesen, zog ich eines aus dem nächststehenden Regal. Ich blätterte es auf, und Legionen von flachen Käfern krabbelten aus den Seiten, wild mit den winzigen Beinchen zappelnd. Ich ließ das Buch fallen – angewidert starrte ich auf die herausgerissenen Seiten, denn der Band hatte sich mir regelrecht unter den Händen aufgelöst. Ich haßte Käfer, am meisten Spinnen und an dritter Stelle Würmer. Und was da aus den Seiten schwärmte, schien eine Kombination von allen dreien zu sein.
Mein kleinmädchenhaftes Entsetzen reichte aus, Christopher fast hysterisch werden zu lassen. Als er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, nannte er meinen Ekel ein albernes Theater. Die Zwillinge zügelten ihren wilden Hengst und sahen mich verwundert an. Schnell faßte ich mich. Selbst kleine Ersatzmütter kreischen nicht wegen ein paar Käfern gleich los.
»Cathy, du bist zwölf, und es wird Zeit, daß du etwas erwachsener wirst. Niemand stellt sich wegen ein paar Bücherwürmern so an. Käfer gehören zur Natur. Aber wir Menschen sind die Herren dieser Natur, uns ist alles untertan. Auch dieser Raum hier ist gar nicht so übel. Viel Platz, große, helle Fenster, jede Menge Bücher und sogar ein paar Spielsachen für die Zwillinge.«
Toll. Da stand ein verrosteter roter Handwagen mit einer abgebrochenen Deichsel und einem fehlenden Rad – großartig. Dazu noch eine Art radloses grünes Tretauto. Phantastisch. Und trotzdem stand Christopher da und brachte unübersehbar seine Freude zum Ausdruck, einen Raum entdeckt zu haben, in dem Leute ihre Kinder irgendwann einmal versteckt hatten, damit sie sie nicht zu sehen brauchten, nicht zu hören, ja vielleicht, damit sie nicht einmal mehr an sie zu denken brauchten. Und er sah darin einen Raum mit Möglichkeiten für uns.
Sicher, man könnte all die düsteren Ecken säubern und mit Insektenvernichtungsmittel besprühen, um diese krabbelnden Scheußlichkeiten umzubringen. Aber wie sollten wir diese Großmutter, diesen Großvater loswerden? Wie konnte man aus einem Dachboden ein Paradies, in dem Blumen blühten, machen, denn sonst war er ja doch nur ein etwas größeres Gefängnis als unser Zimmer darunter.
Ich rannte zu den Dachfenstern und kletterte auf eine Kiste, um an den hohen Fenstersims zu kommen. Verzweifelt versuchte ich zu sehen, wie hoch wir hier waren, wieviel Knochen wir uns brechen würden, wenn wir hinuntersprangen. Bäume wollte ich sehen, Blumen, Gras, wo die Sonne schien, wo die Vögel flogen, wo das wirkliche Leben war. Aber alles, was ich sah, war ein schwarzes Schieferdach, das sich weit vor dem Fenster ausbreitete und jeden Blick in die nähere Umgebung verhinderte. In der Ferne hinter dem Dach erkannte ich Baumwipfel; hinter den Baumwipfeln schwebten den Horizont einschließende Bergketten über blauem Dunst.
Christopher kletterte neben mir hoch und sah zusammen mit mir nach draußen. Ich spürte, daß seine Schulter, die meine berührte, leicht zitterte, und dieses Zittern lag auch in seiner Stimme, als er sagte: »Wir können noch immer den Himmel sehen, die Sonne, und nachts sehen wir den Mond und die Sterne, und Vögel und Flugzeuge fliegen über uns. Wir können unseren Spaß dabei haben, sie uns von hier anzusehen, bis wir wieder hier wegdürfen und niemals mehr hier heraufkommen werden.«
Er hielt inne und schien an die Nacht zu denken, in der wir hierhergekommen waren – war das erst letzte Nacht gewesen? »Ich wette, wenn wir eins der Fenster weit offenstehen lassen, fliegt eine Eule hier herein. Ich wollte immer schon eine Eule als Haustier.«
»Um Himmels willen, wie kann man nur an so einem gräßlichen Tier Gefallen finden?«
»Eulen können ihren Kopf ganz herumdrehen. Kannst du das etwa?«
»Ich will es auch gar nicht können!«
»Aber wenn du es wolltest, könntest du es auch nicht.«
»Na und? Du ja auch nicht!« Ich starrte ihn wütend an und wollte, daß er sich endlich genauso der Realität stellte, wie er es eben noch von mir verlangt hatte. Kein Vogel, und erst recht kein so kluger wie eine Eule, würde dieses Gefängnis hier auch nur für eine Stunde mit uns teilen wollen.
»Ich will ein Kätzchen haben«, rief Carrie und streckte die Arme aus, um zu uns heraufgehoben zu werden.
»Ich will einen kleinen Hund«, ergänzte Cory, als er neben Carrie aus dem Fenster spähte. Dann vergaß er den Gedanken an ein Spieltier sehr schnell, denn er brüllte plötzlich los: »Nach draußen, nach draußen! Cory will nach draußen! Cory will im Garten spielen! Cory will auf die Schaukel!«
Sofort stimmte Carrie ein. Und mit ihrer schrillen Mäusestimme konnte sie noch viel durchdringender schreien als Cory.
Bald hatten sie Christopher und mich soweit, daß wir am liebsten die Wände hochgegangen wären, nur um dieses »Nach draußen«–Geschrei nicht länger ertragen zu müssen.
»Warum können wir nicht rausgehen?« schrie Carrie und hämmerte mir mit ihren kleinen Fäusten vor die Brust. »Wiiiir finden es hier ganz scheußlich! Wo ist Mammi? Wo scheint hier die Sonne? Wo sind die Blumen? Warum ist es hier so heiß?«
»Sieh mal«, meinte Christopher und packte Carries Fäuste, was mir ersparte, weiter verprügelt zu werden, »ihr müßt euch das hier einfach als ›draußen‹ vorstellen. Es gibt keinen Grund, warum ihr hier nicht genauso schaukeln könntet wie im Garten. Cathy, laß uns mal nachsehen, ob wir hier nicht irgendwo ein Seil finden.«
Wir machten uns auf die Suche. Und wir fanden ein Seil in einem großen alten Holzkasten, der jede Art von Trödelkram enthielt. Ganz offensichtlich warfen die Foxworths niemals irgend etwas fort – alles wurde auf den Dachboden gebracht. Vielleicht hatten sie Angst, doch irgendwann einmal arm zu werden und dann zu brauchen, was sie gedankenlos fortgeworfen hatten.
Mit großem Geschick machte mein älterer Bruder sich daran, für Carrie und Cory Schaukeln zu bauen, für jeden von ihnen eine selbstverständlich. Denn wenn man es mit Zwillingen zu tun hat, dann darf man nie und nimmer etwas nur einem geben. Man muß von jeder Sache zwei haben. Als Sitze nahm Chris Bretter von einer zerbrochenen Kiste. Er fand sogar Sandpapier, mit dem er alles glattschmirgeln konnte.
Während er damit beschäftigt war, fand ich hinter einem Kistenstapel eine Leiter, der ein paar Sprossen fehlten, was Christopher aber nicht daran hinderte, über diese Leiter zu einem der Querbalken im Dachfirst hochzuklettern, um dort die Seile anzubinden. Ich sah zu, wie er dort oben auf dem Balken herumbalancierte – jeder Schritt war lebensgefährlich. Er richtete sich ganz auf, um sein Balancegeschick zu demonstrieren. Plötzlich verlor er das Gleichgewicht, schwankte! Schnell breitete er die Arme aus und fing sich wieder, aber mir hatte das gereicht. Mein Herz stockte mir fast, als ich ihn dort oben herumturnen sah, ohne jeden vernünftigen Grund, nur so aus Spaß, um eine Show abzuziehen. Es gab keinen Erwachsenen, der ihn hätte herunterrufen können. Ich versuchte es selbst, aber er lachte und machte noch mehr Unsinn. Also hielt ich den Mund, kniff die Augen fest zu und versuchte mit aller Gewalt, mir nicht vorzustellen, wie er mit ausgebreiteten Armen dort herunterstürzen würde, sich die Arme brechen, die Beine oder, noch schlimmer, das Rückgrat, den Hals! Er hatte es doch gar nicht nötig, sich da oben zu beweisen. Ich wußte doch, wie mutig er war. Die Schaukelseile waren längst verknotet. Warum kam er nicht endlich runter, damit mein Herz wieder normal schlagen konnte?
Es hatte Christopher Stunden gekostet, die Schaukeln zu bauen, und um sie aufzuhängen, hatte er sein Leben riskiert. Aber als er wieder wohlbehalten neben mir stand und wir die Zwillinge auf die Bretter gesetzt hatten, dauerte es keine drei Minuten, bis sie den Spaß an den neuen Schaukeln verloren hatten.
Carrie fing an: »Laßt uns endlich raus hier! Ich mag keine Schaukeln! Ich mag es hier überhaupt nicht! Hier ist es nicht schön! Gaaaar niiicht schöööön!«
Cory brauchte nicht lange, um sich der Meinung seiner Schwester lautstark anzuschließen. Sie steigerten sich gegenseitig in Rage. Geduld – ich mußte Geduld haben, mich verhalten wie ein Erwachsener, sie nicht anschreien, obwohl ich doch selbst nicht mehr wollte, als endlich hier aus diesem Loch herauszukommen!
»Hört jetzt sofort mit diesem Terror auf!« fuhr Christopher die Zwillinge an. »Wir spielen ein Spiel, und alle Spiele haben Regeln. Die Hauptregel in diesem Spiel ist, im Haus zu bleiben und dabei so leise zu sein wie nur möglich. Schreien und weinen ist verboten.« Seine Stimme wurde sanfter, als er ihre verweinten, erschrockenen Gesichter sah. »Stellt euch einfach vor, das hier ist ein Garten unter blauem Himmel mit grünen Blättern über uns, durch die eine helle Sonne scheint. Und wenn wir die Treppe hinuntergehen, spielen wir, das Zimmer da unten wäre unser Haus, ein großes Haus mit vielen Räumen.«
Er lächelte uns alle auf eine seltsame, entwaffnende Art an. »Wenn wir erst so reich sind wie die Rockefellers, werden wir nie wieder auf diesen Dachboden zum Spielen müssen oder in das Zimmer unten. Wir werden alle leben wie Prinzen und Prinzessinnen.«
»Glaubst du, die Foxworths haben soviel Geld wie die Rockefellers?« fragte ich ungläubig. Das wäre irre! Da könnten wir uns ja einfach alles kaufen! Und doch ... irgendwie erschien mir die ganze Sache nicht geheuer. Diese Großmutter, da war etwas in ihrem Verhalten, wie sie uns behandelte, als hätten wir überhaupt kein Recht, auf dieser Welt zu sein. Diese furchtbaren Worte: »So als gäbe es euch gar nicht!«
Wir durchstöberten weiter den Dachboden, jedoch ohne allzuviel Begeisterung, bis unsere Mägen zu knurren begannen. Ich sah auf meine Armbanduhr. Zwei. Mein älterer Bruder sah mich an, und ich sah die Zwillinge an. Sie waren am meisten auf regelmäßige Mahlzeiten eingestellt.
»Mittagessen«, verkündete ich aufmunternd.
Also ging es die Treppe runter, zurück in das widerwärtige Zwielichtzimmer. Wenn wir wenigstens die Vorhänge hätten zurückziehen dürfen. Wenn ...
Ich schien laut gedacht zu haben, denn Christopher meinte, das Zimmer habe eine Nordlage und selbst ohne die Vorhänge würde hier nie die Sonne hereinscheinen.
Da wir von jüngsten Jahren an uns nur sauber gewaschen zu Tisch gesetzt hatten und da Gott seine allgegenwärtigen Augen immer über uns wachen ließ, würden wir uns an alle Regeln halten und Gott immer Freude machen. Aber es würde Gott doch sicher nichts ausmachen, wenn wir Cory und Carrie zusammen in die Badewanne steckten, waren sie doch schließlich schon im Mutterleib zusammengewesen. Christopher nahm sich Cory vor, während ich Carries total verstaubte Haare wusch.
Und sicher konnte niemand etwas Böses daran finden, wenn Christopher sich mit mir unterhielt, während ich in der Badewanne lag. Wir waren keine Erwachsenen. Das war ja nicht dasselbe wie das Badezimmer gemeinsam »benutzen«. Mammi und Daddy hatten nie etwas Schlimmes in nackter Haut gesehen, aber als ich mir das Gesicht wusch, mußte ich wieder an den harten, kompromißlosen Blick der Großmutter denken. Sie würde etwas Böses darin sehen.
»Wir dürfen das nicht noch mal machen«, sagte ich zu Christopher. »Diese Großmutter – sie könnte uns dabei ertappen und etwas Schlimmes dabei denken.« Er nickte, als würde ihn die Sache nicht sehr interessieren. Aber er mußte in meinem Gesicht etwas gesehen haben, was ihn sich vorbeugen und den Arm um meine nackte Schulter legen ließ, so daß ich den Kopf an ihn legen konnte. Woher wußte er, daß ich eine Schulter brauchte, an der ich mich ausweinen konnte? Und genau das tat ich auch.
Christopher gab sich alle Mühe, mich zu trösten. Er erzählte mir von all den wunderbaren Dingen, die wir mit dem Geld der Foxworths tun konnten, von Festen, von meiner Ausbildung als Ballerina, daß ich ein Pferd haben würde. Beruhigend streichelte er mir den nassen Rücken, und als ich mich umwandte, ihm ins Gesicht zu sehen, wirkte sein Blick verträumt und weit weg.
»Sieh doch mal, Cathy, so furchtbar wird diese kurze Zeit, die wir hier eingeschlossen sind, schon nicht werden. Wir werden gar keine Zeit haben, uns sehr traurig zu fühlen, weil wir ständig damit beschäftigt sein werden, uns auszudenken, was wir mit dem ganzen Geld alles anstellen. Laß uns Mammi bitten, uns ein Schachspiel zu besorgen. Ich wollte schon immer gerne Schach lernen. Und wir können lesen. Von einer Sache lesen ist fast so schön, wie sie zu tun. Mammi sorgt schon dafür, daß es uns nicht langweilig wird. Sie wird uns täglich neue Spiele bringen. Die Wochen hier gehen vorbei wie der Blitz.« Er lächelte mich strahlend an. »Und hör von jetzt an bitte auf, mich Christopher zu nennen! Niemand kann mich noch mit Daddy verwechseln, deshalb heiße ich von nun an nur noch Chris, okay?«
»Okay, Chris«, sagte ich. »Aber die Großmutter – was, denkst du, wird sie machen, wenn sie uns beide zusammen im Badezimmer erwischt?«
»Uns die Hölle heiß machen – das weiß ich schon!«
Trotzdem sagte ich ihm, als ich aus der Wanne gestiegen war und mich abtrocknete, er solle nicht hinsehen. Er sah sowieso nicht hin. Wir kannten unsere Körper bereits gut genug, denn wir hatten uns nackt gesehen, solange ich mich erinnern kann. Und nach meiner Meinung war mein Körper der bessere. Zierlicher und hübscher.
Nachdem wir nun alle saubere Sachen angezogen hatten und gut rochen, setzten wir uns zu Tisch, um unsere Schinkenbrote und unsere lauwarme Gemüsesuppe aus der Thermoskanne zu verschlingen. Ohne Kekse für die Kleinen wurde es zu einem Mahl des Schreckens.
Chris begann ständig auf die Uhr zu sehen. Es mochte noch lange, lange dauern, bevor unsere Mutter sich wieder sehen lassen konnte. Die Zwillinge liefen nach dem Essen rastlos im Zimmer herum. Sie waren schlechtester Laune, und sie verliehen ihrem Mißfallen an unserer Lage nachdrücklich Ausdruck, indem sie auf alles eintraten und einschlugen, was ihnen in die Quere kam: Betten, Stühle, Schränke. Von Zeit zu Zeit warfen sie Chris und mir anklagende Blicke zu. Chris ging schließlich zur Dachbodentreppe, wollte hinauf zum alten Klassenzimmer und den für ihn so faszinierenden Büchern, und ich schickte mich an, ihm zu folgen.
»Nein!« brüllte Carrie los. »Nicht auf den Speicher gehen! Da oben gefällt es mir nicht! Hier unten gefällt es mir auch nicht! Gar nichts gefällt mir hier! Überhaupt nichts! Du sollst nicht mehr meine Mammi sein, Cathy! Wo ist meine richtige Mammi? Wo ist sie hingegangen? Sag ihr jetzt sofort, daß sie zurückkommen muß und uns hier wegholen. Es ist ganz eklig hier, ganz furchtbar fies! Ich will wieder im Sandkasten spielen!« Sie rannte zur Flurtüre und drückte die Klinke herunter. Als sie merkte, daß die Tür abgeschlossen war, kreischte sie los wie ein in die Falle geratenes Tier. Sie brüllte nach ihrer Mammi und hämmerte mit den kleinen Fäusten auf das alte Eichenholz. Die Mammi mußte sofort kommen und sie aus diesem finsteren Loch hier herausholen, die Mammi, die Mammi!
Ich lief zu ihr, um sie in den Arm zu nehmen, und wurde mit Fußtritten und noch wilderem Gebrüll empfangen. Es war, als hätte ich eine Wildkatze auf dem Arm. Chris konnte sich gerade noch Cory packen, der sofort seiner Zwillingsschwester zu Hilfe kommen wollte. Alles, was uns noch einfiel, war, die beiden auf ihre Betten zu legen, ein paar Kinderbücher aus den Koffern zu holen und ein Mittagsschläfchen vorzuschlagen. Verheult und widerwillig starrten sie uns an, beruhigten sich aber allmählich.
»Ist es schon Abend?« wimmerte Carrie, die vom vielen Weinen und Brüllen ganz heiser klang. »Ich möchte doch nur so gerne, daß die Mammi wieder kommt. Warum kommt sie denn nicht?«
»Peter, das Kaninchen!« sagte ich und schlug Corys Lieblingsbuch auf, in dem es auf jeder Seite ein großes buntes Bild gab, und allein schon deswegen war »Peter, das Kaninchen« ein ganz ausgezeichnetes Buch. Schlechte Bücher hatten keine Bilder. Carrie mochte »Die drei kleinen Schweinchen« am liebsten, aber Chris hätte es schon wie früher Daddy vorlesen müssen, mit Knurren und Quieken und einer tiefen Wolfsstimme. Und ich war mir nicht sicher, ob er damit überzeugen konnte.
»Laßt Chris jetzt bitte wieder auf den Dachboden gehen, damit er sich auch ein schönes Buch suchen kann, und während er das Buch sucht, lese ich euch aus ›Peter, das Kaninchen‹ vor. Wollen doch mal sehen, ob Peter es heute nicht schafft, sich in den Garten vom Farmer zu schleichen und die ganzen Mohrrüben und Kohlköpfe wegzuknabbern. Und wenn ihr einschlaft, während ich euch vorlese, dann träumt ihr die Geschichte selbst weiter.«
Es dauerte etwa fünf Minuten, und die beiden waren fest eingeschlafen. Cory drückte sein »Peter, das Kaninchen«–Buch fest gegen die kleine Brust, um Peter den Übergang in Corys Traum so leicht wie möglich zu machen. Ein warmes, weiches Gefühl stieg in mir auf. Mir tat die Seele weh wegen dieser beiden kleinen Wesen, die so sehr eine wirkliche Mutter brauchten und nicht eine Spielmammi, die gerade erst zwölf Jahre alt war. Ich fühlte mich damals nicht viel anders als mit zehn. Wenn ich bald zur Frau werden sollte, hatte ich jedenfalls noch nicht genug davon gespürt, um mich reif und befähigt zu fühlen, für andere die Mutterrolle zu übernehmen. Gott sei Dank würden wir hier ja nicht länger eingeschlossen sein! Was sollte ich bloß tun, wenn die Kleinen krank wurden oder sich beim Spielen ernsthaft verletzten? Würde mich überhaupt irgendwer hören, wenn ich gegen die verschlossene Tür klopfte?
Während ich von düsteren Zweifeln geplagt wurde und mir elender vorkam als jemals zuvor, suchte Chris in dem alten Dachboden-Klassenzimmer nach verstaubten, käferverseuchten Büchern, damit wir etwas zu lesen hatten. Wir hatten ein Scrabble dabei, damit hätte ich jetzt vielleicht gerne gespielt, aber meine Nase in alte Bücher stecken wollte ich garantiert nicht.
»Hier«, sagte er und warf mir ein Buch zu, das ich unwillkürlich auffing. Vorsichtshalber versicherte er mir, daß es völlig käferfrei sei. Er fürchtete wohl einen weiteren hysterischen Anfall. »Spielen können wir später noch, wenn die Zwillinge wach sind. Du gibst ja doch immer gleich auf, wenn du verlierst.«
Er warf sich in einen der komfortablen Polsterstühle und schlug eine leicht vergilbte Ausgabe von »Tom Sawyer« auf. Ich legte mich auf mein Bett und begann über König Artus und seine Ritter der Tafelrunde zu lesen. Und, ob man es glaubt oder nicht, an diesem Tag öffnete sich mir die Tür zu einer Welt, von deren Existenz ich zuvor nichts geahnt hatte. Eine wunderbare Welt, in der es wahrhafte Ritter gab, romantische Liebe und schöne Frauen, die man auf ein Podest stellt und aus der Ferne liebend verehrt. An diesem Tag begann meine Liebesaffäre mit dem Mittelalter, die ich nie wieder aufgeben sollte, denn waren nicht auch alle Ballette nach Märchen geschrieben worden? Und waren alle Märchen nicht die Geschichten des Mittelalters?
Ich war diese Art von Kind, das immer nach Elfen Ausschau hielt, die auf stillen Wiesen tanzten. Ich wollte an Hexen glauben, an Zauberer, Menschenfresser, Riesen und magische Worte. Mir gefiel es nicht, die ganze Magie von der Wissenschaft aus der Welt erklärt zu bekommen. Damals wußte ich nicht, daß ich bereits in einem mächtigen, finsteren Schloß lebte, über das eine böse Hexe und ein Menschenfresser herrschten. Ich ahnte nicht, daß es moderne Zauberer gab, die aus Geld einen magischen Bann spinnen konnten ...
Als das Tageslicht hinter den vorgezogenen Vorhängen verdämmerte, saßen wir vier an unserem kleinen Tisch und aßen Brathähnchen (kalt), Kartoffelsalat (lauwarm) und Bohnengemüse (kalt und fettig). Chris und ich aßen schließlich das meiste von diesem frugalen Mahl, so kalt und unappetitlich es auch sein mochte. Die Zwillinge stocherten nur darin herum und beklagten sich ständig, daß es ihnen nicht schmeckte. Hätte Carrie weniger gejammert, hätte Cory wahrscheinlich wesentlich mehr gegessen.
»Apfelsinen«, sagte Chris und gab mir eine zum Schälen, »sehen nicht komisch aus und werden auch nie warm gemacht. Dafür steckt in Apfelsinen aber flüssiger Sonnenschein.« Junge, diesmal hatte er das Richtige gesagt. Die Zwillinge machten sich begeistert an ihren flüssigen Sonnenschein – endlich hatten sie etwas, das zu essen Spaß machte.
Inzwischen mußte es draußen Nacht geworden sein. Nicht, daß wir hinter den Vorhängen einen großen Unterschied festgestellt hätten. Wir knipsten alle Lampen an, und die Zwillinge begannen in verträglicher Laune mit ihren Spielzeugautos zu spielen. Sie rutschten auf dem Boden herum und fuhren die Apfelsinenschalen nach Florida, dem Abfalleimer in der Ecke. Schon nach kurzer Zeit war nichts mehr davon zu sehen, daß wir die beiden gerade erst frisch und sauber angezogen hatten.
Chris bot mir etwas zu freundlich an, jetzt mit mir Scrabble zu spielen, aber jetzt hatte ich keine Lust mehr. Ich ließ mich auf eines der Betten sinken und erlaubte mir, ganz den düsteren Gedanken nachzuhängen, die mich schon seit unserer Ankunft hier beschlichen hatten. Bisher hatte ich meine Ängste immer versucht zurückzudrängen, doch nun schweifte ich durch die endlosen dunklen Flure meines sich immer mehr vertiefenden Mißtrauens. Hatte Mammi uns wirklich alles über diesen Ort gesagt? Hatte sie uns die ganze Wahrheit gesagt? Und während wir warteten und warteten und warteten, gab es keine Katastrophe, die ich mir nicht vorstellte. In erster Linie beschäftigte ich mich allerdings mit Feuer. Geister, Ungeheuer und anderer Dachbodenspuk kamen direkt danach. Aber in diesem abgeschlossenen Raum war Feuer für mich das Furchtbarste, was ich mir denken konnte.
Und die Zeit verging so langsam. Chris auf seinem Stuhl mit seinem Buch warf immer wieder einen verstohlenen Blick auf die Uhr. Die Zwillinge hatten inzwischen alle Apfelsinenschalen nach Florida transportiert und wußten nun nicht mehr, wohin sie ihre Lastwagen dirigieren sollten. Für die Überquerung der Karibik fehlte ein Boot. Warum hatten wir kein Spielzeugschiff mitgenommen?
Ich riskierte einen längeren Blick auf die Höllenbilder an den Wänden und mußte bewundern, wie grausam und raffiniert diese Großmutter doch war. Warum dachte sie einfach an alles? Es war auch einfach nicht fair von Gott, wenn er sein aufmerksames Auge ständig auf vier Kinder richtete, wo doch draußen in der Welt so viele Menschen böse Taten begingen. An Gottes Stelle, aus seiner alles sehenden, alles wissenden Perspektive, würde ich meine Zeit nicht damit verschwenden, ständig auf vier vaterlose Kinder zu achten, die auch noch in einem Schlafzimmer eingeschlossen waren. Ich hätte mir etwas Unterhaltsameres angesehen. Abgesehen davon war Daddy ja jetzt da oben – er würde dafür sorgen, daß Gott sich unserer annahm und ein paar kleinere Fehler übersah.
Trotz meiner Ablehnung holte Chris dann die Spielekassette mit den über vierzig verschiedenen Spielen. »Was ist los mit dir?« fragte er, während er nach dem richtigen für mich suchte. »Warum sitzt du so still da und siehst so verängstigt aus? Hast du Angst davor, daß ich mal wieder gewinne?«
Spiele, ich dachte nicht an Spiele. Ich erzählte ihm von meinen Sorgen wegen eines Feuers und von meiner Idee, aus in Streifen gerissenen Bettüchern ein Seil zu knoten, an dem wir, wie ich es in vielen der alten Filme gesehen hatte, aus dem Fenster zur Erde klettern konnten. Falls heute nacht ein Feuer ausbrechen sollte, hätten wir so die Möglichkeit zu entkommen. Die Zwillinge würden wir uns auf dem Rücken festbinden.
Noch nie hatte ich in seinen blauen Augen soviel Respekt gesehen. Sie leuchteten vor Bewunderung auf. »He, das ist wirklich eine phantastische Idee, Cathy! Klasse! Genau das werden wir tun, falls hier einmal ein Feuer ausbrechen sollte – was allerdings nicht passieren wird. Und es ist ganz prima zu wissen, daß du in so einem Fall nicht bloß losheulen würdest. Wenn du vorausplanst und Überlegungen für unerwartete Ereignisse triffst, zeigt das, wie du langsam erwachsen wirst, und das gefällt mir.«
Du meine Güte, nach zwölf Jahren härtester Bemühungen war es mir tatsächlich gelungen, den Respekt und die Zustimmung meines älteren Bruders zu erringen – etwas, an dessen Möglichkeit ich kaum noch geglaubt hatte. Ein gutes Gefühl, zu wissen, daß wir miteinander klarkommen würden, wo wir jetzt auf so engem Raum Zusammensein mußten. Wir tauschten ein Lächeln aus, mit dem wir uns versicherten, daß wir es schaffen würden, gemeinsam bis zum Ende der Woche auszuhalten. Unsere neu gefundene Kameraderie schuf eine Sicherheit, ein Stückchen froher Hoffnung wie ein starker Händedruck.
Dann wurde zerstört, was wir gerade aufgebaut hatten. Ins Zimmer kam unsere Mutter, und sie ging so merkwürdig, machte das seltsamste Gesicht. Wir hatten so lange auf ihre Rückkehr gewartet. Aber irgendwie bereitete es uns nun nicht die ersehnte Freude, sie wieder bei uns zu sehen. Vielleicht war es nur die Großmutter, die ihr so dicht auf den Fersen folgte, mit diesen steinharten, bösen grauen Augen. Vielleicht war es der Blick aus diesen Augen, der unseren Enthusiasmus so schnell erstickte.
Ich erschrak. Etwas Schlimmes war passiert! Ich wußte es! Ich wußte es einfach!
Chris und ich saßen zusammen auf einem Bett. Wir hatten Scrabble gespielt und uns dabei gelegentlich angesehen und gemeinsam die zerknautschte Tagesdecke glattgezogen.
Eine Regel verletzt ... nein, zwei ... ansehen war genauso verboten wie Unordnung.
Und die Zwillinge hatten ihre Spielzeugautos über den Boden verstreut, dazu ein paar vergessene Apfelsinenschalen vom Florida-Transport – der Raum war nicht richtig sauber und aufgeräumt.
Drei Regeln gebrochen.
Und Jungen und Mädchen waren zusammen im Badezimmer gewesen.
Und vielleicht hatten wir auch noch irgendein anderes Gebot verletzt, denn wir spürten sofort, was immer wir taten, Gott und die Großmutter standen darüber in geheimer Verbindung.