Читать книгу Jade - V.C. Andrews - Страница 5

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PROLOG

Obwohl ich schon oft in Dr. Marlowes Praxis gewesen war, konnte ich mich aus irgendeinem Grund nicht an die Miniaturstanduhr auf dem unteren Regalbrett links von ihrem Schreibtisch erinnern. Sie hatte ein Gehäuse aus dunklem Kirschbaumholz und römische Ziffern. Das kleine Pendel schwang geräuschlos entschlossen hin und her, was meine Aufmerksamkeit auf sich zog und mich einige Augenblicke lang hypnotisierte, während alle darauf warteten, dass ich anfing.

Mein Herz schien synchron mit dem Pendel der kleinen Uhr zu schlagen, und ich dachte, warum können wir uns unsere Herzen nicht als kleine Uhren in uns vorstellen. Noch bevor wir geboren werden, ziehen die Zauberhände der Liebe unserer Eltern sie auf. Vielleicht steht die Länge unseres Lebens in direktem Verhältnis dazu, wie sehr unsere Eltern uns gewollt haben. Vielleicht sollte irgendein Verhaltensforscher einmal in einer Studie untersuchen, wie lange unerwünschte Kinder leben, und das mit Kindern aus vollkommenen Kleinfamilien vergleichen. Niemand in diesem Zimmer wäre vermutlich besonders glücklich über die Ergebnisse.

Ich spürte die Blicke der anderen Mädchen auf mir ruhen und wusste genau, was jede von ihnen dachte. Was machte ich eigentlich hier? Ich sah aus, als käme ich aus einer dieser perfekten Kleinfamilien. Wie schrecklich konnte meine Geschichte schon sein? Warum benötigte ich die Dienste eines Psychiaters?

Ich konnte verstehen, warum sie solche Fragen stellten. Ganz gleich, was zwischen meiner Mutter, meinem Vater und mir vorgefallen war, ich nahm mich immer zusammen, bewahrte mit einer Pose königlichen Selbstbewusstseins Haltung. Vermutlich habe ich das von meiner Mutter, obwohl auch mein Vater alles andere als ein unsicherer Mensch ist. Meine Mutter will es sich einfach nie anmerken lassen, wenn sie im Nachteil ist. Selbst wenn sie bei einer Auseinandersetzung den Kürzeren zieht, kann sich der Gewinner nie sicher sein, ob er wirklich gewonnen hat. In ihrem Blick spiegelt sich keine Niederlage. Nie lässt sie die Schultern hängen; nie senkt sie niedergeschlagen den Kopf.

Mutter wird wütend, aber sie verliert nicht die Beherrschung. Beherrschung ist der Grundzug ihres Wesens. Mein Vater will mir weismachen, dass genau diese Besessenheit, alles unter Kontrolle zu halten, zu dem geführt hat, was er ihren ehelichen Weltuntergang nennt.

Vermutlich hat er Recht mit seiner Einschätzung. Es ist das Ende einer Welt – einer Welt, von der ich in meiner Unschuld glaubte, sie würde bestehen, solange meine Eltern lebten. Ich dachte immer, sie würden einander so sehr lieben, dass das Pendel der Uhr des einen bald stillstehen würde, sobald die andere aufhörte zu schlagen.

Natürlich glaubte ich, das würde sich erst in vielen, vielen Jahren ereignen, wenn selbst ich schon alt war. Unsere Welt war so behütet, dass ich wie in einer großen Seifenblase lebte, die tödliche Krankheiten, schwere Unfälle, Verbrechen und Unglück fern hielt. Ich fuhr aus meinem luxuriösen Zuhause in Beverly Hills in feudalen Limousinen zu Privatschulen mit blitzsauberen Fluren und neuen Tischen. Von einer schützenden Umgebung wurde ich sicher in eine andere befördert.

In der Welt, in der ich aufwuchs, wurde es nicht geduldet, dass einem unbehaglich war, das kam einem Verrat all unserer Hoffnungen gleich. Schuhe mussten perfekt sitzen, Socken weich sein, Kleidungsstücke durften nicht kratzen. Unsere Mahlzeiten mussten anständig gekocht und ausreichend warm sein, unser Badewasser genau die richtige Temperatur haben. Unsere Betten rochen frisch. Wir schliefen wie auf Wolken und ließen nicht zu, dass sich Alpträume in unsere Traumhäuser schlichen.

Ich fand nicht, dass ich besonderes Glück gehabt hatte. Ich wurde in ein Leben des Luxus geboren, das ich zunächst für mich entdeckte und dann sehr schnell auch erwartete. Ich hatte keine tief schürfende philosophische Erklärung dafür, warum ich so viel hatte und die Menschen, die ich von meiner Limousine aus sah, so wenig. Irgendeine gewaltige Macht hatte entschieden, dass es so sein sollte, und so war es. Damit hatte es sich.

Als ich älter wurde und meine Mutter über die Dinge sprach, die sie im Leben erreicht hatte, und als mein Vater das Gleiche tat, begriff ich, dass sie verdient hatten, was wir besaßen, und dass es uns deshalb zustand.

»Schäme dich nie, weil du mehr hast als andere«, schärfte meine Mutter mir ein. Wenn sie solche Erklärungen abgab, klang es, als hielte sie eine Vorlesung. »Diejenigen, die weniger besitzen, genieren sich nicht, mehr zu wollen, besonders das, was du besitzt. Neid führt immer zu Ressentiments. Sei vorsichtig, wem du vertraust. Vermutlich verstecken sie hinter einer dunklen Brille und einem falschen Lächeln nur ihren Neid«, warnte sie mich.

Wie klug sie doch war. Wie klug sie beide waren.

Nachdem die Seifenblase geplatzt war, saß ich hier zusammen mit Leuten, die mir fremd waren und von mir erwarteten, dass ich mich ihnen anvertraute. Wir vier nahmen an etwas teil, das unsere Therapeutin Gruppentherapie nannte, bei dem man über sich selbst, über seine intimsten Geheimnisse sprach in der Hoffnung, dass wir einander helfen würden zu verstehen und zu akzeptieren, was uns widerfahren war. Je aufrichtiger wir waren, desto größer waren unsere Erfolgschancen. Das erforderte viel Vertrauen.

So wie Dr. Marlowe redete, klang es, als sei es ihr wichtiger, unser Vertrauen zu gewinnen, als das Geld zu kassieren, das sie bekam, um uns zu helfen, uns wieder auf ein normales Leben einzustellen.

Ich liebe diesen Begriff »einstellen«. Es klang so, als hätten wir alle eine defekte Mechanik, die von unserer Psychiaterin mit der Drehung einer Schraube hier, dem Ersetzen eines Bolzens dort sowie viel Öl und Schmiere an Stellen, die knirschen und quietschen, repariert wird.

Als ich diese anderen Mädchen zum ersten Mal sah, wurde mir klar, dass keine glücklich war, hier zu sein. Keine von uns war gerne hierher gekommen. Oh, damit meine ich nicht, dass wir schreiend und um uns tretend hergeschleppt worden wären, obwohl es bei Star fast so klang. Sicher ist, dass jede von uns lieber anderswo wäre. Cathy, der wir den Spitznamen Cat gegeben haben, hat ihre Geschichte noch nicht einmal erzählt, aber ein Blick in ihr Gesicht reichte aus, und ich wusste, dass sie sich am meisten davor fürchtete, hier zu sein. Vielleicht fürchtete sie sich überall. Misty sah so aus, als sei ihr am wenigsten unbehaglich, dennoch rutschte und zappelte sie herum wie jemand, der auf einem Ameisenhaufen sitzt, und ließ ihren Blick nervös von einer zur anderen wandern.

Gestern sprach Star über Zeiten in ihrem Leben, in denen sie das Gefühl hatte, es regnete Schmerzen. Obwohl sie aus einer völlig anderen Welt kommt, wusste ich genau, was sie meinte. Unsere Welten unterscheiden sich sehr, aber ähnlich dunkle Wolken waren über uns aufgezogen, und wir wurden vom Wahnsinn unserer Eltern in einem Platzregen aus Wut und Hass durchnässt. Vermutlich waren wir einfach Menschen, die von der gleichen Flut erfasst und auf das gleiche Floß gezogen worden waren, das jetzt hin- und hergeschleudert wurde, während wir verzweifelt auf das Ende des Sturms warteten.

Als ich jetzt hier saß und über mein Leben erzählen sollte, hatte ich das Gefühl, als sei ich in den Mittelpunkt dieses Kreises aus Augen und Ohren geschoben worden. Zwei Tage lang hatte ich als Zuschauerin am Rand gesessen und zugeschaut, als ich zuerst Misty und dann Star zuhörte. Dabei konnte ich eine Distanz zwischen mir und den anderen aufrechterhalten und reserviert wie meine Mutter bleiben. Vielleicht hatte ich ja diesen Wunsch, alles zu kontrollieren, geerbt. Heute war mein Tag, und plötzlich fühlte ich mich nackt, war mir jedes Makels bewusst wie ein Objekt unter Glas im Biologieraum. Tränen sind intimer als Lächeln. Warum sollte ich sie mit diesen Mädchen teilen?

Schaut sie euch doch an: Misty mit ihrem albernen kleinen Lächeln und ihrem T-Shirt, das verkündet Boykottiert Kinderarbeit, Schluss mit Teenagerschwangerschaften; Star, ein schwarzes Mädchen, das mir am liebsten jedes Mal, wenn ich den Mund aufmachte, an die Kehle gegangen wäre, und Cathy, ein mausgesichtiges Mädchen, das so verängstigt wirkte, als würde es am liebsten seine eigene Zunge verschlucken, wenn es mit einem Kommentar herausplatzte und wir uns zu ihm umdrehten. Diese drei sollten meine neuen Vertrauten werden, meine Adoptivschwestern im Unglück? Wohl kaum.

Die ganze Nacht hatte ich mir Gedanken über diese Sitzung gemacht, und als die Limousine mich heute Morgen zu Dr. Marlowes Haus brachte, saß ich dort, starrte die Haustür an und fragte mich, was ich eigentlich hier tat. Die Frage lag noch immer in der Luft. Ich erzähle diesen Leuten doch keine intimen Dinge über mich selbst, nur weil auch sie aus zerbrochenen Familien stammten. Sie sind noch schlimmer als Fremde. Ihre Welt ist so weit von meiner entfernt, als kämen sie von einem anderen Stern. Sie glauben doch nur, ich sei ein verzogener Fratz.

»Ich kann das nicht«, erklärte ich und schüttelte den Kopf, nachdem eine ganze Zeit Schweigen und gespannte Erwartung vorgeherrscht hatten. »Es ist zu dämlich.«

»Oh, ich verstehe. Für mich war das gestern nicht dämlich«, meinte Star, und ihre ebenholzschwarzen Augen verwandelten sich in winzige glühende Kohlen, »aber für dich ist es heute dämlich.«

»Für mich war es auch nicht dämlich«, meinte Misty mit weit aufgerissenen Augen. »Für mich nicht!«, betonte sie, als ich ihr einen Blick zuwarf, der bat: »Verschont mich.«

Cat hielt den Blick gesenkt. Am liebsten wäre ich über den Boden gekrabbelt, hätte mich auf den Rücken gedreht, zu ihr hochgeschaut und sie gefragt: »Findest du es in Ordnung, über deinen Schmerz zu sprechen? Wenn ja, müssen wir uns dann alle so auf den Boden legen und zu dir hochschauen?«

»Du hast gestern ohne Probleme dagesessen und zugehört und deine Kommentare über mein Leben abgegeben«, murmelte Star.

»Das hier ist doch nicht ›Zeig mir deins, dann zeig ich dir meins‹. Ich habe nie versprochen, das zu tun. Ich schulde euch nichts«, erklärte ich entschlossen.

»Das habe ich auch nicht behauptet. Glaubst du etwa, ich sei gespannt drauf, deine Geschichte zu hören?«

»Gut, dann werde ich dir überhaupt nichts erzählen«, sagte ich und kehrte ihr den Rücken zu.

»Sehr oft«, begann Dr. Marlowe leise nach einem bedrückenden Moment des Schweigens, »benutzen wir Wut, um unerfreulichen Dingen aus dem Weg zu gehen. Tatsächlich wird die Unerfreulichkeit durch die Wut nur verlängert, und das macht es umso schwieriger für uns.«

»Uns?«, fuhr ich sie an.

»Ich bin ein Mensch, deshalb bin ich nicht vollkommen. Darum sage ich wir, uns. Ich verstehe diese Dinge aus eigener Erfahrung, was mir hilft, euch zu helfen«, sagte sie. »Vergesst nicht, auch ich habe einmal im Mittelpunkt gestanden. Ich weiß, dass es schwierig und schmerzhaft ist, aber es hilft.«

»Ich sehe nicht ein, wie es mir helfen soll, einfach nur über mich zu reden.« Ich sah Misty an. »Fühlst du dich besser, seit du geredet hast?«

Sie zuckte die Achseln.

»Ich weiß nicht, ob ich mich besser fühle. Allerdings hatte ich das Gefühl, eine Last abgeladen zu haben. Ja«, meinte sie und legte nachdenklich den Kopf schief, »vielleicht fühle ich mich besser. Wie ist es mit dir, Star?«

Star wandte sich ab.

»Es ist ihr egal, was du empfindest oder nicht. Sie versucht einfach nur davonzulaufen«, sagte sie und machte mit dem Hinterkopf eine ruckartige Bewegung in meine Richtung.

»Wie bitte?«, sagte ich. »Davonlaufen? Wovor denn?«

»Dies ist ein Prozess«, unterbrach Dr. Marlowe mit etwas erhobener Stimme. »Ein Prozess muss sich auf Vertrauen gründen. Das sagte ich bereits. Du musst es versuchen, Jade. Bestimmt hast du während der letzten zwei Tage einige Dinge gehört, die dir helfen, deine eigene Situation besser einzuschätzen. Zumindest weißt du jetzt, dass du nicht allein bist.«

»Ach nein?«, höhnte ich. »Nicht allein?« Ich starrte Misty einen Augenblick an. »Eine Sache gefiel mir, die du während deiner Sitzung gesagt hast. Mir gefiel, dass du uns als Waisen mit Eltern bezeichnet hast. Glauben Sie mir, Dr. Marlowe«, sagte ich, wieder zu ihr gewandt, »wir sind allein.«

»Die WME! Wir sollten uns T-Shirts mit so einem Aufdruck machen lassen!«, rief Misty und hopste vor Begeisterung hoch, als säße sie auf Sprungfedern.

»Genau, wir könnten einen Club gründen«, meinte Star trocken. Sie schaute mich an. »Oder eine neue Straßengang mit einer Beverly als Anführerin.«

»Einer Beverly?«

Ich schüttelte den Kopf. Das war unmöglich. Ich hätte nicht zustimmen sollen, daran teilzunehmen.

»Vergiss es«, murmelte ich.

»Es ist schwer anzufangen, stimmt’s?«, sagte Misty.

»Das liegt daran, dass meine Situation ganz anders ist als eure«, erklärte ich.

»Klar«, bestätigte sie grinsend und verzog dabei ihr Näschen.

»Du bist etwas Besonderes. Wir nicht.«

»Sieh mal. Du hast uns erzählt, dass dein Vater dich und deine Mutter verlassen hat und mit einer Freundin zusammengezogen ist, stimmt’s?«

»Und?«

Ich schaute Star an.

»Und du hast erzählt, wie deine Eltern dich im Stich gelassen haben, und jetzt leben du und dein Bruder bei deiner Großmutter, stimmt’s?«

»Wie sie sagte, und?«

»Also ist meine Situation ganz anders. Meine Eltern kämpften um mich wie rollige Katzen und tun es immer noch. Keiner von ihnen will nachgeben. Ihr wisst nicht, wie das ist. Ich fühle mich … als würde ich in Stücke gerissen, erschlagen mit Fragen von Anwälten, Psychologen und Richtern!«

Ich wollte nicht schreien, aber es platzte aus mir heraus. Tränen quollen aus meinen Augen, als sich mir die Kehle zuschnürte, weil ich krampfhaft versuchte, sie zurückzuhalten. Wer wollte vor denen schon weinen?

Star wandte sich mir zu und schaute mich an. Cat hob langsam den Blick, als seien ihre Augen schwere Stahlkugeln, und Misty nickte mit leuchtenden Augen. Plötzlich wirkten alle interessiert.

Ich holte tief Luft. Wie konnte ich es ihnen begreiflich machen? Ich wollte mich nicht wie ein Snob aufführen. Ich sprach langsam, den Blick zu Boden gerichtet, und schaute vermutlich auf die gleiche Fliese, die Cat meistens anstarrte.

»Als ich das erste Mal davon hörte, dass meine Eltern sich scheiden lassen wollten, machte ich mir nicht viel Gedanken über mich und bei wem ich leben sollte. Ich nahm einfach an, Väter gingen und Kinder blieben bei ihren Müttern. Ich war fast sechzehn, als das alles begann, und plötzlich wurde ich zum Preis in einem Wettkampf. Dieser Wettstreit sollte in einem Gerichtssaal ausgetragen werden; dabei wollten mein Vater und meine Mutter versuchen, einem Richter zu beweisen, dass der andere ungeeignet sei, das Sorgerecht für mich zu übernehmen.« Ich sah Star an. »Hast du irgendeine Ahnung, wie das ist?«

»Nein«, erwiderte sie ruhig. »Du hast Recht. Meine Eltern sind beide davor davongelaufen, das Sorgerecht und die Verantwortung zu übernehmen, aber das heißt nicht, dass ich nicht wissen will, wie es ist, Eltern zu haben, die einen wollen«, fügte sie hinzu.

Die Aufrichtigkeit in ihrem Blick überraschte mich. Ich spürte, wie das Blut, das mir bis in die Wangen gestiegen war, zurückwich, mein Herzschlag verlangsamte sich, während ich mich zurücklehnte. Ich warf Dr. Marlowe, die die Augenbrauen hochgezogen hatte, einen Blick zu.

Zu Anfang, als ich Dr. Marlowe aufsuchte, wollte ich sie hassen. Ich wollte, dass sie versagte. Ich wusste auch nicht warum. Vielleicht wollte ich nicht zugeben, dass ich sie brauchte. Vielleicht wollte ich das immer noch nicht, aber ich schaffte es nicht, sie nicht zu mögen. Sie wirkte immer so entspannt. Sie zwang mich nicht, irgendetwas zu tun oder zu sagen. Sie wartete, bis die Tore sich ein wenig mehr öffneten und ich Erinnerungen und Gefühle hinausfließen ließ. Auch jetzt verhielt sie sich so.

Immer noch fühlte ich mich verdreht und gespannt wie ein Gummiband, aber die Schmetterlinge in meinem Bauch schienen sich zu beruhigen. Vielleicht konnte ich es. Vielleicht sollte ich es, überlegte ich. Manchmal, wenn du dich selbst Dinge sagen hörst, bestätigst du deine eigenen Gefühle. Außerdem stimmte es, ich hatte heutzutage niemanden, mit dem ich reden konnte, außer mit meinem Spiegelbild.

Ich schaute zum Fenster hinaus. Es war ein viel schönerer Tag als gestern, nicht einmal der übliche Dunstschleier trieb an diesem Sommermorgen vom Meer herüber. Als ich aufwachte, war der Himmel bereits wolkenlos und klar. Als ich jetzt dasaß und in den blauen Himmel starrte, sah ich, wie Vögel in den Bäumen vor Dr. Marlowes Haus von Ast zu Ast flatterten. Ein Eichhörnchen huschte den Stamm hinunter, hielt inne, schaute in unsere Richtung und verschwand dann in einem Busch. Ich wünschte, ich könnte es genauso machen.

Unser Haus und unser Grundstück ist größer als das von Dr. Marlowe, aber wir befanden uns nur ein paar Kilometer vom Sunset Boulevard entfernt in einer der teuersten Gegenden von Beverly Hills, wo die von einem Wachdienst gut gesicherten Häuser sich im Besitz einiger der reichsten Leute des Landes, vielleicht der Welt befanden. Unsere Nachbarn waren Botschafter und Geschäftsmagnaten, selbst arabische Scheichs besaßen hier Häuser. Die Gegend gehörte zu einer der begehrtesten Wohngegenden. Meine Eltern hatten das Grundstück gekauft und dort gebaut, weil sie wussten, dass sich das so entwickeln würde. Kein Wunder, dass ich in dem Gefühl aufwuchs, in einer schützenden Seifenblase zu leben.

Es fiel mir überhaupt nicht schwer, mich in dieser Umgebung hier wohl zu fühlen. Dr. Marlowe verstand es gut, mir das Gefühl zu geben, als stattete ich ihr nur einen Besuch ab. Ich hatte nicht das Gefühl, mich in Behandlung zu befinden, obwohl ich genau wusste, dass es so war. Ich vermutete … nein, ich hoffte tief im Innersten, dass es mehr war, dass ich bei jemand war, der sich aus anderen als professionellen Gründen etwas aus mir machte.

Dr. Marlowe hatte uns erzählt, dass sie und ihre Schwester Scheidungswaisen waren. Sie hatten bei ihrem Vater gelebt. Obwohl sie andere Erfahrungen gemacht hatte, gab es einige Ähnlichkeiten, etwas, das ihr half, Mitgefühl zu empfinden. Sie hatte Recht. Es half mir, mit ihr zu sprechen.

Vielleicht bestand ihre Methode, Vertrauen bei uns zu erwecken, darin, uns ein bisschen über sich selbst zu erzählen. Vielleicht war das einfach nur eine Technik. Vielleicht machte es mir nichts aus. Vielleicht doch.

»Ich bin wie jede andere hier«, gab ich zu. »Ich will meine Eltern nicht hassen.«

»Gut«, ermutigte Dr. Marlowe mich. Ich hörte und spürte, wie die anderen sich entspannten. »Das ist ein guter Start, Jade.« Ihre Augen waren erwartungsvoll auf mich gerichtet.

»Sie waren früher einmal ineinander verliebt«, begann ich. »Sie müssen verliebt gewesen sein. Ich habe all die Bilder gesehen. Händchen haltend gingen sie am Strand spazieren. Sie lächelten in die Kamera, während sie zum Dinner am Tisch saßen. Sie besaßen Fotos des anderen, der lächelte, vom Pferd herab winkte, aus dem Auto oder vom Boot. Sie küssten sich unter dem Eiffelturm in Paris, in einer Gondel in Venedig und sogar auf einem Riesenrad in irgendeinem Vergnügungspark. Ich dachte immer, verliebter als diese beiden konnte man nicht sein.

Jetzt glaube ich, zwei Menschen können sich nicht mehr hassen als diese beiden.«

Ich machte eine Pause, weil ich spürte, dass mein Gesicht wieder vor Frustration und Verwirrung hart wurde.

»Und ich soll jetzt lieber mit einem als mit dem anderen leben.«

»Tust du das?«, fragte Misty.

»Nein«, erwiderte ich wahrheitsgemäß. »Meistens möchte ich bei keinem von ihnen wohnen.«

»Wessen Schuld ist das?«, fragte Dr. Marlowe mich. Sie hatte mir diese Frage schon früher gestellt, und ich war ihr ausgewichen. Jetzt schaute ich die anderen an. Alle schienen an meiner Antwort interessiert zu sein, selbst Cat starrte mich eindringlich an.

Ich schaute von einer zur anderen, sah ihre verzweifelten Blicke, die mein Gesicht absuchten.

»Ich weiß es nicht!«, brüllte ich sie an.

»Ich auch nicht«, sagte Misty.

Star schüttelte nur den Kopf. Auch sie kannte die Antwort nicht.

Ich sah Cat an. Das Entsetzen stand ihr wieder ins Gesicht geschrieben.

»Das wollen wir also hier herausfinden«, sagte Dr. Marlowe.

»Ihr seid alle schon so weit gekommen. Warum macht ihr nicht noch ein paar Schritte, um zu sehen, wohin sie führen? Ist das die Mühe nicht wert, Jade?«

Ich wandte mich ab, unter meinen Lidern brannten Tränen.

»Jade?«

»Ja«, sagte ich schließlich und schaute unter Tränen zu ihr auf.

»In Ordnung«, sagte ich. »Ich werde es versuchen.«

Und wieder verließ ich meine kostbare Seifenblase und trat hinaus, dorthin, wo der Regen kalt und die Sonne heiß war und die Menschen einander häufig und gerne belogen.

Jade

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