Читать книгу Jade - V.C. Andrews - Страница 6
ОглавлениеKAPITEL EINS
Solange ich mich erinnern kann, arbeiteten meine Eltern beide, obwohl wir nie Geld brauchten. Meine Mutter hat mir erzählt und mich besonders in letzter Zeit häufiger daran erinnert, dass sie, nachdem ich auf die Welt gekommen war, sechs Monate zu Hause blieb, um mich zu stillen und zu versorgen. Es hört sich immer an, als wären diese sechs Monate das größte Opfer ihres Lebens gewesen. Sie sagt immer, mein Vater würde nicht einmal daran denken, Urlaub zu nehmen, um sich um mich zu kümmern, obwohl er selbständig und niemandem außer sich selbst verantwortlich ist. Das, so sagt sie mir, sei der große Unterschied zwischen ihnen, und deshalb sollte ich es nicht in Erwägung ziehen, bei ihm zu leben.
Jetzt erzählt sie mir, dass neueste Studien in Frauenzeitschriften behaupten, die Mutter müsse während der prägenden Jahre ihres Kindes nicht so viel zu Hause sein, wie früher angenommen wurde.
Haben Sie das auch gelesen, Dr. Marlowe?«, fragte ich sie. »Ich habe ähnliche Thesen und Argumente gelesen, bin aber noch nicht zu einem endgültigen Schluss gekommen«, erwiderte sie. »Auch für die andere Seite gibt es gute Argumente.« »Also, ich glaube, sie erzählt mir das, weil mein Daddy behauptet, ich hätte weniger Probleme, wenn meine Mutter sich liebevoller um mich gekümmert hätte. Ich weiß, dass der Antrag meines Vaters auf Sorgerecht zum Teil damit begründet wird.«
Ich wandte mich den anderen Mädchen zu, die verloren wirkten. Ich hatte Cats Geschichte noch nicht gehört, aber ich wusste, dass weder Star noch Misty in die Löwengrube eines Scheidungsgerichts geworfen worden waren. Als sie mir zuhörten, lernten sie wirklich etwas Neues.
»Mein Vater und sein Anwalt behaupten, meine Mutter sei sich meiner Bedürfnisse nicht bewusst gewesen. Er sagt, sie sei zu egozentrisch, deshalb hätten sie nur ein Kind bekommen. Sobald ihm klar geworden sei, was für eine miserable Mutter sie war, entschied er, keine weiteren Kinder zu bekommen.« Star grunzte.
»In meinem und besonders in Rodneys Fall hatten wir Glück, dass unsere Momma nicht mehr Zeit mit uns verbrachte«, meinte sie. »Sonst wären wir vielleicht nie geprägt worden.«
Dr. Marlowe überraschte uns mit einem kleinen Lachen. Ich fuhr fort.
»Natürlich sagt meine Mutter, dass sie beschloss, keine weiteren Kinder zu bekommen, weil sie wusste, was für ein erbärmlicher Vater mein Vater war und sein würde. Sie sagt, er könnte sein Versagen als Vater nicht ihrer Karriere anlasten. Sie behauptet, ihre Verpflichtungen mir gegenüber würden dadurch nicht beeinträchtigt.«
»Deine Mutter arbeitet also immer noch?«, fragte Misty.
»Machst du Witze? Natürlich.«
»Was tut deine Mutter denn?«, wollte Misty wissen.
»Sie ist Verkaufsleiterin in einer großen Kosmetikfirma – wenn du möchtest, könnte ich deiner Mutter vermutlich einen tollen Rabatt verschaffen«, sagte ich, weil ich mich daran erinnerte, wie besessen ihre Mutter von ihrem Aussehen war. »Meine Mutter macht sich nie Gedanken über Rabatte«, erwiderte sie. »Je mehr sie ausgibt, desto mehr kann sie sich darüber beklagen, dass ihre Unterhaltszahlung zu gering ist, um ihr den Lebensstandard zu garantieren, den sie vor ihrer Scheidung gewohnt war«, verkündete Misty mit dramatischer Geste, die ein Lächeln auf mein Gesicht zauberte.
»Vermutlich ist dir das nicht klar, aber dabei handelt es sich um eine wichtige rechtliche Erwägung«, sagte ich ihr.
»Wobei?«
»Dass der Ehefrau und dem Kind oder den Kindern der Lebensstil garantiert wird, den sie vor der Scheidung genossen. Das gehört zu den Dingen, die der Richter berücksichtigt, wenn er die Unterhaltszahlung festlegt, falls meine Mutter gewinnt. Meine Mutter möchte gerne als unabhängig betrachtet werden, aber ihr Anwalt möchte, dass sie auf Unterhaltszahlung klagt, deshalb trägt mein Vater immer noch die ganze Last der Ausgaben für ihr Wohlergehen ebenso wie für meines.«
Ich machte eine Pause und schaute sie an.
»Seid ihr immer noch fasziniert? Erinnert euch das an eure Lieblingsseifenoper?«
Misty hielt ihr Lächeln unter Kontrolle.
»Was macht dein Vater?«, wollte Star wissen.
»Mein Vater ist Architekt. Er ist sehr erfolgreich und hat einige der großen Gebäude in Los Angeles entworfen sowie eines der riesigen Einkaufscenter, die gerade gebaut werden. Auch einige Gebäude außerhalb Kaliforniens stammen von ihm, eines sogar in Kanada. Meine Mutter und ihr Anwalt haben versucht, eine große Sache aus dieser Reise zu machen, um darauf hinzuweisen, dass er zu viel weg ist, um eine angemessene elterliche Fürsorge und Überwachung zu gewährleisten, besonders für einen jungen weiblichen Teenager.
Mein Daddy hält dagegen, dass der dicht gedrängte Terminkalender meiner Mutter schlimmer sei als seiner und dass auch sie häufig im Auftrag ihrer Firma reise und daher zu viel weg sei, um angemessene elterliche Fürsorge und Überwachung zu gewährleisten. Sie haben sich gegenseitig unter Strafandrohung ihre Reisequittungen, Geschäftstagebücher und Kreditkartenabrechnungen vorlegen lassen, um ihre Argumente vor Gericht zu unterstützen.«
Ich überlegte einen Augenblick und schaute Dr. Marlowe dann an.
»Ich habe mich gefragt, was passiert, wenn der Richter zu der Ansicht gelangt, beide haben Recht. Dann stehe ich da mit Eltern, die beide außer Stande sind, mir angemessene elterliche Fürsorge zu gewähren, stimmt’s, Dr. Marlowe?«
»Diese Situation ist natürlich schon aufgetreten, aber ich bezweifle, dass dies bei dir der Fall sein wird, Jade.«
»Tatsächlich. Was für eine Erleichterung. Sonst hätte ich noch zu Star und ihrer Oma ziehen müssen.«
»Als könntest du es einen Tag ohne Hausmädchen, Chauffeure und so was aushalten«, konterte Star.
Misty lachte und Cat lächelte.
»Vielleicht hast du Recht«, gab ich zu. »Aber eines kann ich euch verraten … ich werde nichts aufgeben, um ihnen das Leben leichter zu machen. Sie haben mich in Erwartung eines luxuriösen Lebens großgezogen, und dafür müssen sie jetzt sorgen. Garantierung des gewohnten Lebensstandards, erinnert ihr euch?«
Alle hörten auf zu lächeln. Ich lehnte mich zurück.
»Ihr wisst alle, dass ich eine Beverly bin. Star hat mich erst vor wenigen Minuten so genannt«, sagte ich und schaute Misty an, die uns von ihrem Freund erzählt hatte. Er bezeichnete verzogene reiche Mädchen als Beverlys, weil sie aus Beverly Hills kamen. »Ich schäme mich nicht, reich zu sein. Ich finde nicht, dass ich verzogen bin. Ich finde, ich bin behütet aufgewachsen.«
»Behütet vor was?«, fragte Star. »Bestimmt nicht vor dem Unglücklichsein.«
»Es gibt Abstufungen von Unglücklichsein und verschiedene Dinge, die einen unglücklich machen. Ich muss mir keine Sorgen machen, wenn ich etwas kaufen will und irgendwo hinwill.«
»Tolle Sache«, meinte Star spöttisch.
»Für mich ist es das, und ganz gleich, wie du dich hier aufführst, für dich ist es das auch«, sagte ich und rief mir dabei den Ratschlag meiner Mutter in Bezug auf Leute, die weniger besaßen, ins Gedächtnis.
»Du hast ja keine Ahnung«, fauchte Star.
»Ach, aber du?«
Sie ging in Verteidigungshaltung, indem sie ihre Arme verschränkte und sich gerader aufrichtete.
»Habt ihr ein großes Haus?«, fragte sie mich.
»Größer als dieses«, antwortete ich und schaute mich im Praxisraum um, der zugegebenermaßen ziemlich groß war. An einem Ende standen ein Schreibtisch und Regale, am anderen Sofas, Stühle und Tische. Riesige Fenster gingen auf den Garten hinaus. »Natürlich hat mein Vater unser Haus entworfen. Es ist kein Haus im Tudorstil. Er fand, davon gäbe es schon zu viele in Los Angeles.
Es ist ein so genanntes zweigeschossiges neoklassizistisches Haus. Am Eingang hat es einen halbkreisförmigen Vorbau mit ionischen Säulen; außerdem zwei seitliche Veranden. Alle Fenster sind rechteckig, mit doppelten Schiebefenstern. In jedem schiebbaren Teil befinden sich neun Fensterscheiben. Das ist ganz einzigartig und zieht immer viel Aufmerksamkeit auf sich. Autos verlangsamen ihre Geschwindigkeit, wenn sie bei uns vorbeikommen, und die Leute starren herein, obwohl es viele prächtige Häuser in der Gegend gibt.
Wie groß ist dieses Haus, Dr. Marlowe, vierhundert Quadratmeter?«, fragte ich sie.
»So in etwa«, erwiderte sie.
»Unseres ist ungefähr doppelt so groß. Hast du jetzt eine Vorstellung davon?«, fragte ich Star.
»Ihr habt also ein großes Haus. Hast du auch ein eigenes Auto?«, forschte Star weiter.
»Ich bekomme dieses Jahr eins. Ich habe mich noch nicht entschieden, welches ich will. Meine Mutter schlug vor, ich sollte mir ein Jaguar-Coupé wünschen, nachdem mein Vater einen Ford Taurus vorgeschlagen hatte. Jetzt ist mein Vater eher für einen Mustang. Beide sind verführerisch. Bis ich mich entscheide, steht mir eine Limousine zur Verfügung, wann immer ich irgendwo hinmuss.«
»Toll. Ich bin froh, dass du mir das alles erklärt hast«, spottete
Star. »Du hast also eine Transportmöglichkeit. Ich wette, du besitzt auch viele Kleider.«
»Mein begehbarer Kleiderschrank ist fast ein Drittel so lang wie dieser Raum und voll mit den neuesten Kleidern.« Ich warf Misty einen Blick zu. »Nach dem, was du mir erzählt hast, besitzt du auch schöne Kleidung, aber im Gegensatz zu dir trage ich sie auch. Dieses graue ärmellose Etuikleid, das ich heute trage, ist von Donna Karen«, erklärte ich.
»So etwas Teures habe ich nicht«, erwiderte Misty. »Wohl aber meine Mutter.«
»Du armes Ding«, bedauerte Star sie und wandte sich wieder mir zu. »Und passend zu deinem teuren Kleiderschrank hast du ein Hausmädchen, Gärtner und eine Köchin, wette ich.«
»Ja, das habe ich tatsächlich. Im Augenblick haben wir ein Hausmädchen namens Rosina Tores. Sie ist etwa fünfundzwanzig Jahre alt und stammt aus Venezuela. Die Köchin heißt Mrs Caron und kommt aus Frankreich. Sie war einmal eine erstklassige Köchin in einem berühmten Restaurant.«
»Unser Hausmädchen ist unsere Köchin«, sagte Misty. »Ihr habt eine eigene Köchin? Wow.«
»Ihr habt also ein großes Haus und Autos und ein Hausmädchen und eine tolle Köchin, und dennoch sage ich, na und«, erklärte Star. »Zahl dem Hausmädchen und der Köchin und dem Chauffeur kein Geld mehr und du wirst erleben, wie schnell sie aufhören, sich um dich zu kümmern. Und wenn du nach Hause kommst, hast du nur noch mehr Platz für deine Einsamkeit in deinem tollen großen Haus. Für all dein Geld kannst du dir nicht kaufen, was ich habe.«
»Was wäre das, Armut?«
»Nein, eine Oma, die mir Liebe schenkt, und nicht weil sie dafür angestellt worden ist«, sagte sie voller Freude. Sie sah aus wie ein kleines Mädchen, das eine Stecknadel in den wunderschönen Ballon eines anderen piekst.
Ich schaute Dr. Marlowe an. Ihr Blick war so fest auf mich gerichtet, dass ich merkte, wie mein Gesicht heiß wurde.
»Ich habe auch Großeltern«, wandte ich ein.
»Tatsächlich?«, fragte Misty mit einem Gesichtsausdruck, als erwarte sie rührselige Geschichten über Familientreffen und Feiertage. Mir fiel es fast noch schwerer, sie zu enttäuschen als mich selbst. Wartet, bis ihr von meinem letzten Weihnachtsfest gehört habt, dachte ich.
»Ja, nur wohnen sie weit weg. Die Eltern meines Vaters wohnen an der Ostküste. Er hat zwei Brüder und eine Schwester, die alle verheiratet sind und Kinder haben. Die Eltern meiner Mutter leben in Boca Raton in Florida. Sie sind im Ruhestand. Meine Mutter hat einen Bruder, der an der Wall Street arbeitet. Er ist unverheiratet.«
»Was sagen deine Großeltern zu der Scheidung?«, fragte Misty.
»Nicht viel, zumindest nicht zu mir. Die Eltern meines Vaters sagten, er müsse seine Probleme selbst lösen, und die meiner Mutter meinten, sie sei jetzt alt genug, um mit solchen Krisen fertig zu werden.«
»Laden sie dich zu sich ein?«, wollte Star wissen.
»Manchmal, aber nicht in letzter Zeit«, gestand ich. »Vermutlich glauben sie alle, ich befände mich in einem fürchterlichen Zustand und damit könnten sie nicht fertig werden. Aber ich besuche sie sowieso nicht gerne«, fügte ich hinzu. »Ich weiß nicht, was ich da soll, und sie jammern alle ständig über ihre Wehwehchen und ihre Verdauungsprobleme.
Außerdem«, wurde mir plötzlich klar, »wenn ich mich entscheiden würde, die Eltern meines Vaters zu besuchen, würde meine Mutter erwarten, dass ich genauso viel Zeit bei ihren Eltern verbringe.«
»Darüber streiten sie sich?«, fragte Misty fassungslos.
»Sie streiten sich sogar über das Briefporto. Mein Zuhause ist wie ein Kriegsgebiet. Manchmal habe ich das Gefühl, mein Leben zu riskieren, wenn ich nur zwischen ihnen hindurchgehe.« »Du meinst, sie wohnen immer noch zusammen in dem Haus?«, fragte Cat verblüfft.
Ich hatte sie fast vergessen, weil sie so still war. Ganz bestimmt hatte ich nicht erwartet, dass sie jedem meiner Worte so aufmerksam folgte.
»Ja. Natürlich benutzen sie nicht mehr das gleiche Schlafzimmer, aber sie sind beide zu Hause, wenn sie in Los Angeles sind.«
»Warum?«, fragte Misty und schnitt dabei eine Grimasse. »Ich meine, sie stecken mitten in einer schlimmen Scheidung und so, warum sollten sie dann noch zusammen wohnen wollen?« »Meiner Mutter ist einmal herausgerutscht, dass mein Vater ausziehen wollte. Aber sein Anwalt erklärte ihm, dass es im Allgemeinen schwieriger sei, das Sorgerecht für ein Kind zugesprochen zu bekommen, wenn man die elterliche Wohnung ohne das Kind verlassen hat. Sie sagt, das sei der einzige Grund, warum er noch bei uns sei.«
»Wow«, meinte Misty. »Dein Vater muss dich wirklich lieben, wenn er bereit ist, allein deswegen in einem so emotionalen Schussfeld zu leben.«
»Ihre Mutter könnte ausziehen, tut es aber nicht. Vergiss das nicht«, erinnerte Star sie.
»Sie tun das nicht für mich«, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen. Mir war nicht klar, dass ich die Zähne aufeinander presste, aber in der letzten Zeit ertappte ich mich immer häufiger dabei.
»Für wen tun sie es dann?«, fragte Cat.
»Für sich selbst. Das sagte ich doch bereits. Ich bin der Preis, die Trophäe, eine Möglichkeit, dem anderen eins auszuwischen. Hörst du denn nicht zu?«
Sie schüttelte den Kopf.
Alle wirkten immer noch sehr verwirrt über diese ganzen rechtlichen Manöver, die in einer Schlacht um das Sorgerecht durchgeführt wurden. Ich schaute Dr. Marlowe an, der ein kleines Lächeln um die Lippen spielte.
Ich seufzte tief, zog die Schultern hoch und ließ sie wieder sinken.
»In einem gewissen Sinne ist dieser Rechtskrieg und mein Status als Trophäe meine Geschichte«, sagte ich und kam damit wirklich zur Sache.
»Meine Eltern bekamen mich erst fast sechs Jahre, nachdem sie geheiratet hatten. Ich hatte immer den Verdacht, dass ich ein Versehen war. Meine Mutter vergaß die Pille zu nehmen oder ich gehöre zu dem geringen Prozentsatz von Schwangerschaften, die sich nicht verhüten lassen. Ich stelle mir gerne vor, dass sie eine wilde leidenschaftliche Zeit verbrachten und alle Vorsicht fahren ließen, dass beide, die normalerweise so perfekt funktionierten und wohl organisiert waren, spontan miteinander schliefen, als beide es am wenigsten erwarteten.
Und als Ergebnis: moi.«
Ich breitete die Arme aus. Misty lachte. Stars Lippen verzogen sich zu einer Art Lächeln. Cat starrte mich immer noch mit weit aufgerissenen Augen an.
»Als ich etwa neun war, saß ich oft im Wohnzimmer auf dem Boden, schaute mir ihre Urlaubsalben an und stellte mir Liebesszenen vor. Wie gesagt, sie besuchten so viele romantische Orte. Mir kam es vor, als hätten sie in einem Film gelebt. Ich konnte sogar die Musik hören.«
Misty senkte ihr Kinn auf die Handfläche und starrte mich an. Als ich fortfuhr, lag ein träumerischer Schleier auf ihrem Blick.
»Sie saßen in Venedig in einer Gondel und lauschten der Musik und dem Gesang. Hinterher rannten sie lachend hinauf in ihr Hotelzimmer, meine Mutter warf sich in die Arme meines Vaters, und als das Mondlicht durch das Fenster schien und jemand unten auf der Straße sang, zeugten sie mich.«
»Genau«, meinte Star. »Vermutlich passierte es auf dem Rücksitz eines Autos.«
»Bei dir vielleicht«, fauchte ich sie an. »Mein Vater und meine Mutter würden nie …«
»Warum belügst du dich selbst? Belügen dich nicht schon genug Leute?«, fragte sie wütend.
Ich starrte sie an und schaute dann zu Dr. Marlowe, die die Augenbrauen hochzog, was sie, wie ich festgestellt hatte, immer tat, wenn ein ihrer Meinung nach wertvoller Gedanke verlockend im Raume stand.
»Ich belüge mich nicht selbst. Früher war das vielleicht so. Ihr habt beide davon geredet, dass eure Eltern sich früher einmal geliebt haben und nett zueinander waren. Warum kann das bei mir nicht genauso gewesen sein?«, fragte ich mit einer Stimme, als bettelte ich.
Star schaute weg. Tief im Herzen wusste ich, dass auch sie sich gerne solchen Fantasien hingegeben hätte, aber Angst davor hatte nach dem, was sie durchgemacht hatte. Ich konnte ihr daraus keinen Vorwurf machen. Vielleicht hatte sie Recht.
»Meine Mutter wurde schwanger«, stellte ich trocken fest, »gerade als sie befördert werden sollte. Das weiß ich genau, weil ich es schon so oft gehört habe, dass es nicht erfunden worden sein kann. Deshalb glaube ich, dass ich vermutlich ein Unfall war.«
»Warum ließen sie keine Abtreibung vornehmen?«, fragte Star.
»Manchmal glaube ich, das taten sie«, sagte ich.
Es war, als schaute ich in drei getrennte Spiegel und sah mein Gesicht in jedem von ihnen. Wie oft hatte jede von ihnen sich in der letzten Zeit genauso gefühlt, eine Last, unerwünscht?
»Sie wollten mich und dann auch wieder nicht. Ihr Leben war weniger kompliziert ohne mich, aber Eltern, Freunde, die Gesellschaft redete ständig davon, Kinder zu bekommen, eine Familie zu gründen. Meine Mutter war damals zweiunddreißig, und hinter ihr lauerte die biologische Uhr, deren Zeiger wie zwei riesige Zeigefinger auf sie deuteten und sie warnten, dass ihre Zeit ablaufe.
Auf jeden Fall, sobald sie feststellte, dass sie schwanger war, trafen sie die ersten von vielen … wie soll ich sie nennen?«, fragte ich mich und schaute Dr. Marlowe an. »Ehevereinbarungen?«
»Was ist das denn?«, fragte Star schnell.
»Viele Leute unterschreiben heute Vereinbarungen, bevor sie heiraten. Manche tun es, um ihren persönlichen Besitz zu schützen oder um zu garantieren, dass Dinge sich nicht ändern, die sie nicht geändert haben wollen, nur weil sie heiraten.« Ich machte eine Pause und lachte.
»Wie ihr seht, bin ich dank meiner Eltern schon die perfekte Anwaltsgehilfin.
Meine Eltern hatten vor ihrer Hochzeit keine Vereinbarungen getroffen, aber nachdem sie geheiratet hatten, kamen sie überein, dass bestimmte Dinge weiterlaufen sollten.
Nämlich dass meine Mutter ihre Karriere fortsetzen konnte und mein Vater alles in seinen Kräften Stehende tat, um das sicherzustellen. Die Natur und ungeschützter Sex hatten plötzlich eine neue Komponente in ihr Leben gebracht, einen Fötus, den sie Jade nennen würden. Ich bedrohte ihren wundervollen Status quo, daher mussten sie eine neue Vereinbarung treffen, verstehst du?«, fragte ich Star. Sie sah nicht so aus. »Ja?«
»Ich fühle mich wie ein Nagel, und du bist der Hammer. Ich bin doch nicht dumm«, meinte sie schnippisch.
»Also, ich will doch nur, dass du meine Situation richtig einschätzen kannst.«
»Einschätzen?«
Frustriert schaute ich Dr. Marlowe an. Merkte sie denn nicht, wie schwierig das alles für mich war? Diese Mädchen waren so … unkultiviert.
»Du erzähltest ihnen gerade von der Vereinbarung nach der Eheschließung«, sagte sie entschieden und beharrte somit darauf, dass ich es weiter versuchte. Ich seufzte und fuhr fort.
»Ach ja. Also, sie setzten sich hin und schrieben auf, was sie voneinander erwarteten, wenn man zuließ, dass ich auf die Welt kam«, sagte ich.
»Was sagst du da?«, fragte Star, die Augenbrauen hochgezogen wie Fragezeichen. »Wenn sie sich nicht geeinigt hätten, hätten sie dich nicht bekommen?«
»Ich versichere dir«, erwiderte ich, »dass ich keinen Zweifel daran habe, besonders nach den letzten sechs Monaten.« Star schüttelte den Kopf.
»Granny hat Recht. Reiche Leute sind nicht nur einfach anders; sie sind eine völlig andere Spezies.«
»Ich glaube nicht, dass nur das Geld die Leute anders macht«, meinte Misty. Sie schaute Cat an, die sich so fest auf die Unterlippe biss, dass ich Angst hatte, sie würde bluten. »Jade erzählte doch bereits, dass ihre Mutter nicht arbeiten musste und dass die Karriere beider Eltern große Probleme aufwarf, stimmt’s?«, fragte Misty Dr. Marlowe.
»Das sind Fragen, die Jade beantworten muss.«
»Ich bin deiner Meinung. Geld macht nicht notwendigerweise egoistisch«, bestätigte ich. »Gestern hast du uns doch erzählt, wie egoistisch deine Eltern waren«, erinnerte ich Star. »Ja, aber es einfach alles aufzuschreiben.« Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Und wenn sie sich nicht geeinigt hätten, hätten sie dich daran gehindert, geboren zu werden … das ist so kaltherzig.«
»Was haben sie denn aufgeschrieben?«, fragte Misty. »Haben sie dir das je erzählt?«
»Natürlich. Sie werfen es sich doch dauernd an den Kopf. Als Erstes stimmten sie überein, dass meine Mutter nur sechs Monate zu Hause blieb und dass mein Vater hinterher das Kindermädchen von seinem Geld bezahlen würde.«
»Was soll das heißen, von seinem Geld?«, fragte Star.
»Sie führen immer Buch darüber, was sie verdient haben. Sie haben getrennte Konten und verständigen sich darüber, für was sie beide zahlen müssen wie Hypothek, Grundbesitzsteuer, Rechnungen für Strom, Gas und Wasser. Sie hat ihr Auto und er seines. Die Kosten für jedes Auto halten sie getrennt. Das Essen wird natürlich geteilt, da es sich dabei um grundlegende Unterhaltskosten handelt.«
Star starrte mich mit offenem Mund an, als stammte ich wirklich von einem anderen Stern.
»Sie tun das, um ihre Integrität zu wahren. Meine Mutter ist keine radikale Feministin, aber sie glaubt, dass es wichtig ist, ihre eigene Identität zu bewahren, und wenn sie all ihr Geld ihrem Ehemann aushändigt, verliert sie diese Identität. Mein Vater würde ihr ganz bestimmt nicht all sein Geld aushändigen.«
»Nennt sie sich denn Mrs Lester?«, wollte Star mit spöttisch verzogenen Lippen wissen.
»Im beruflichen Bereich benutzt sie ihren Geburtsnamen Maureen Mathews.« Ich überlegte einen Augenblick. »Sie bekommen oft Einladungen, auf denen steht Mr Michael Lester und Ms Maureen Mathews.«
»Meine Mutter hat wieder ihren Geburtsnamen angenommen«, sagte Misty. Sie wandte sich an Cat. »Was ist mit deiner Mutter?«
»Sie auch«, bestätigte sie.
»Bei deinen Eltern hört es sich an, als wären sie geschieden, noch bevor sie geheiratet haben«, murmelte Star.
Ich musste fast lachen. Das hatte ich auch schon gedacht.
»Was kam noch mit in die Vereinbarung?«, erkundigte Misty sich.
»Nachdem meine Mutter wieder anfing zu arbeiten, sollte mein Vater einen großen Anteil an den Verpflichtungen für mich übernehmen. Wenn ich zum Arzt gebracht werden musste, hatte er die Arbeit zu verlassen. Beim nächsten Mal war sie dann an der Reihe. Das Gleiche galt für Schulveranstaltungen, Zahnarztbesuche, Hautarztbesuche, Augenarztbesuche, Kieferorthopädenbesuche …«
»Wir haben es kapiert«, meinte Star.
»Haben sie tatsächlich Buch darüber geführt?«, erkundigte sich Misty.
Ich nickte.
»Ich wuchs in dem Glauben auf, jeder hätte einen großen Kalender an der Küchenwand, auf dem die Initialen des Vaters in einigen Kästchen stehen und die der Mutter in anderen. Als ich meine Freundinnen besuchte und dort keinen Kalender sah, fragte ich danach. Da lachten sie entweder oder schauten mich seltsam an. Manche gaben zu, dass ihre Eltern kleine Taschenkalender für ihre Termine hatten, aber nur wenige redeten so darüber sie ich.
Ab dem Zeitpunkt fühlte ich mich wohl anders als meine Freunde. Tatsächlich begann ich mich wegen all dem schuldig zu fühlen.«
»Warum?«, fragte Cat und schaute wie üblich fast unmittelbar darauf zu Boden.
»Weil ich wusste, dass meine Mutter lieber anderswo war oder mein Vater eine wichtige Konferenz verschieben musste, nur weil er gezwungen war, stattdessen Dinge mit mir zu tun. Als ich älter wurde, mieteten sie einfach eine Limousine, um mich zu fahren, wann immer das möglich war. Aber lange Zeit musste einer von ihnen bei mir sein; außerdem gibt es Orte und Veranstaltungen, bei denen die Anwesenheit eines Elternteils erforderlich ist.«
»Alle Ausgaben für dich teilten sie, richtig?«, fragte Misty.
»Fast alle. Manchmal kaufte mein Vater etwas, mit dem meine Mutter nicht einverstanden war, oder umgekehrt. Das regelten sie so, dass der andere sich daran nicht zu beteiligen brauchte.« »Sie waren schon immer so, und du dachtest, sie wären ineinander verliebt?«, fragte Star mit einem höhnischen Lächeln.
»Ja, das tat ich. Aber ich glaube nicht, dass sie von Anfang an so waren. Wie gesagt, ich glaube, anfangs waren sie sehr romantisch, aber allmählich fühlten sie sich …«
»Was?«
Ich schaute Dr. Marlowe an. Ohne Zweifel war sie sehr interessiert an meiner Antwort. Ich hatte lange gebraucht, um sie zu finden, viele Stunden, in denen ich beobachtet habe, wie meine Eltern sich stritten und sich allmählich in der Rolle der Fremden wohler fühlten als in der der Liebenden.
»Bedroht«, sagte ich.
Star schaute Misty an, die die Achseln zuckte.
»Kannst du erklären, was du damit meinst, Jade?«, bat Dr. Marlowe mich so leise, dass ich ihre Frage fast nicht hörte.
»Ich glaube, beiden wurde klar, wie viel sie von sich selbst aufgeben mussten, damit die Ehe funktionierte, und als ich kam, stieg der Preis noch höher. Meine Mutter hatte immer Angst, sie würde an Wert verlieren, wenn sie Kinder bekäme, und mein Vater hatte immer Angst, er würde umso schwächer werden, je mehr meine Mutter von ihm verlangte.«
»Hat sie Recht damit?«, fragte Star Dr. Marlowe. »Weiß sie, was sie da sagt?«
»Vielleicht«, erwiderte Dr. Marlowe.
»Sagen Sie eigentlich nie ja oder nein«, fauchte Star sie an.
Dr. Marlowe sah sie gelassen an. »Ja«, antwortete sie schließlich mit regungslosem Gesichtsausdruck. Wir lachten alle los. Es war ein gutes Gefühl, als zögen wir alle am gleichen Strang. So wie Star mich anschaute, wusste ich, dass ihr eine weitere pikante Frage auf der Zunge lag.
»Was ist denn hiermit?«, fragte sie und machte eine ausgreifende Geste in den Raum hinein.
»Hiermit?«
»Die Besuche bei der Therapeutin. Wer bezahlt die?«
»Oh, beide gemeinsam«, sagte ich. »Obwohl außer Frage steht, dass mein Vater glaubt, es sei die Schuld meiner Mutter, und meine Mutter glaubt, es sei die meines Vaters.«
»Wie konnten sie sich dann darüber einig werden?«, fragte Misty.
»Der Richter zwang sie dazu«, erklärte ich.
»Der Richter zwang sie?«
»Im Augenblick hat der Staat die Vormundschaft über mich übernommen«, sagte ich. »Du hattest wohl nicht so viel mit der Scheidung deiner Eltern zu tun, oder?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Du?«, fragte sie.
»Machst du Witze? Ich habe zwei neue beste Freunde«, erzählte ich ihr.
»Wen?«, fragte Star.
»Die Anwälte meiner Eltern«, sagte ich und lachte.
Keine der andern lachte mit.
Sie starrten mich alle nur an. Warum lachten sie nicht auch, fragte ich mich.
Bis ich spürte, wie mir die erste Träne über die Wange rollte.