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KAPITEL EINS

Es gibt keinen Anfang. Ich kann mich nicht erinnern, dass es bei mir zu Hause eine Zeit gab, in der Momma und Daddy keine Schwierigkeiten miteinander hatten«, begann ich. »Manchmal waren sie lieb zueinander, aber wie meine Granny immer sagt, war das wie auf den Regenbogen nach dem Sturm zu warten. Manchmal tauchte der Regenbogen auf, aber meistens nicht. Ich glaube, es kam so weit, dass ich überrascht war, wenn sie sich miteinander unterhielten, ohne sich vor Ende des Gespräches anzuschreien.

Misty sagte gestern, dass manche Leute sich wegen Geldproblemen scheiden lassen. Also, das war nicht der einzige Grund, aus dem sich meine Eltern getrennt haben, aber es war sicher nicht hilfreich, dass mein Vater nicht viel verdiente und häufig arbeitslos war. Er war Anstreicher und Zimmermann, verrichtete aber auch andere Arbeiten. Er machte sich überall nützlich, nur nicht in seinem eigenen Haus. Wenn er arbeitete, arbeitete er hart und sehr lange. In Bezug darauf hatte er, glaube ich, einen guten Ruf, aber er gehörte keiner Gewerkschaft an und war auch nicht bei irgendeiner Firma angestellt, die ihm regelmäßige Arbeit garantierte. Daher gab es lange Phasen, in denen es schwer war für uns, und meine Momma ist nicht gerade eine sparsame Hausfrau. Ich weiß nicht, ob Daddy sie je als Hausfrau bezeichnete. Er hatte andere Bezeichnungen für sie, und die waren alle nicht besonders freundlich.

Mein Daddy ist ein gut aussehender Mann, stramme ein Meter dreiundneunzig. Jeder, der einen Blick auf ihn warf, glaubte, er müsse auf der Highschool ein guter Ballspieler gewesen sein.

Aber er erzählte mir immer, er sei zu langsam gewesen, um ein guter Sportler zu sein. Er sagte, sein Problem sei, dass er zu lange nachdenke, bevor er etwas tue. Er sagte, er arbeite gerne sehr genau und das helfe ihm bei seiner Arbeit als Anstreicher und Zimmermann.

Momma ist völlig anders. Sie denkt nicht lange nach, bevor sie etwas tut. Meistens denkt sie, glaube ich, überhaupt nicht. Sie tut einfach, was sie will, wann sie es will. Deswegen haben sie sich oft gestritten. Daddy sagte, sie hätte ein Gehirn wie ein Haus ohne Türen. Das Zeug flöge einfach so rein und raus. Sie erwiderte darauf, sie wäre ein Sozialhilfefall im Rentenalter, bevor er überhaupt etwas täte. Granny nannte sie immer Öl und Wasser.

Vermutlich hätten sie überhaupt nicht heiraten sollen, aber meine Momma war schwanger mit mir, bevor sie heirateten, und so, wie Daddy manchmal redete, warf er ihr deswegen wohl vor, welche harten Zeiten sie durchmachten. Wenn sie sich über irgendetwas beschwerte, erinnerte er sie immer daran, dass sie diejenige war, die schwanger geworden war, als ob Männer auch schwanger werden könnten, aber vernünftig genug waren, es nicht zu tun.«

Misty lachte und Jade lächelte. Auch Cathy lächelte. »Das wäre gut. Das wäre wenigstens fair«, meinte Misty. »Zumindest wüssten sie, wie es wirklich ist. Meiner Mutter würde das gefallen. Sie wäre begeistert, wenn mein Vater unter Morgenübelkeit litte und Wehenschmerzen hätte.«

»Männer sind Babys«, verkündete Jade, als stünde sie auf einem Berg. »Wenn sie schwanger werden müssten, stünde die Menschheit auf der Liste der bedrohten Arten.«

Wir alle lachten, auch Dr. Marlowe. Das machte es mir leichter zu reden, aber ich zögerte dennoch und schaute Dr. Marlowe auf der Suche nach Ermutigung an, bevor ich in allen Einzelheiten über Momma zu reden begann.

Es lag nicht daran, dass ich mich ihrer schämte, obwohl ich jedes Recht dazu gehabt hätte. Momma hatte so vieles getan, dass ich am liebsten den Kopf in den Sand gesteckt hätte. Ich fand es grauenhaft, Freunde aus der Schule zu treffen, wenn ich mit Momma zusammen war. Es war nicht nur völlig unberechenbar, was sie sagen oder tun würde, normalerweise hatte sie blutunterlaufene Augen und stank wie »One-Eyed Bill’s Bar and Grill« an der Südostecke unseres Apartmentblocks in West-Los Angeles. Dort gab es einen Barhocker, auf dem quasi Mommas Name stand. Ich hatte gehört, wenn sie hereinkam und jemand auf dem Hocker saß, stand er oder sie auf, schaute sich nach einem anderen Hocker um oder blieb stehen.

Als ich erst sieben war, schickte Daddy mich, um sie zu holen, wenn er nach Hause kam und feststellte, dass sie kein Essen für uns machte. Ich hasste es, dorthin zu gehen, aber schon damals wusste ich, dass Daddy mich schickte, weil sie einen fürchterlichen Streit bekommen hätten, der in einer Schlägerei ausartete, wenn er gegangen wäre. Daddy prügelte sich sogar mit anderen Barbesuchern, die das Gefühl hatten, Momma beschützen zu müssen, oder mit ihr geflirtet hatten und ihr jetzt imponieren wollten.

Manchmal brauchte ich so lange, um sie zu bewegen, mit mir nach Hause zu kommen, dass ich anfing zu weinen. Das machte sie normalerweise wütend, weil sich die anderen Stammgäste dann lustig über sie machten und sie aufforderten zu gehen. Wenn sie trank, gab es nichts, das Momma mehr ärgerte, als ihr zu sagen, was sie tun sollte. Es war, wie eine Zündschnur an einer Dynamitstange anzuzünden. Sie kochte vor Wut, wurde richtig unangenehm und explodierte dann in einem Schwall von Flüchen und schmiss manchmal sogar mit Sachen um sich oder schlug nach jemandem, besonders nach Daddy oder mir. Als Rodney noch ein Baby war, hatte ich Angst, wenn er auf dem Küchenboden herumkroch, weil dort immer Scherben von den Tellern, die sie an die Wand schmiss, herumliegen konnten.

Aber mein Zögern, über sie zu erzählen, hatte einen anderen Grund. Trotz allem, was ich Granny immer erzählte, verabscheute ich es, Momma zu hassen. Mit all den üblen Erinnerungen waren viele gute vermischt. Oft hatte sie mich im Arm gehalten, mir vorgesungen, mir die Haare gekämmt und mich geküsst. Sie nannte mich immer ihren Schatz und hatte große Träume für mich. All diese Erinnerungen hatten einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen, und ich hatte das Gefühl, sie zu betrügen, wenn ich über die schlechten Dinge redete.

Im Augenblick schien Dr. Marlowe aber genau das von mir zu erwarten. So wie sie darüber redete, war es wie Gift im Körper zu behalten, wenn ich das Schlechte verschwieg.

»Ich kann mich nicht genau daran erinnern, wann meine Momma anfing zu trinken«, begann ich, »aber es war immer eine Menge, und es war immer schlecht, besonders für mich und meinen Bruder Rodney.«

Sie alle hörten auf zu lächeln, ihre Augen wurden hart und kalt wie die Augen jener, die Schreckliches gesehen hatten und wussten, was ich mitmachte, wenn ich all das erzählte, denn es gab keine Möglichkeit, es zu erzählen, ohne es noch einmal zu durchleben. Als ich mich wieder an das fünfjährige Mädchen erinnerte, kamen all die Dämonen zurück, all die dunklen Schatten, die jedes Mal in meinem Zimmer spukten, wenn etwas Schreckliches zwischen Momma und Daddy passiert war.

Die Monster waren jetzt ein Teil von mir. Sie lagen schlafend herum und warteten nur darauf, aufgeweckt zu werden durch das Gebrüll von jemandem, durch den Anblick eines armen Kindes, das in der Gosse spielte, weil seine Mutter es vernachlässigte, durch das Heulen einer Krankenwagen- oder Polizeisirene oder auch nur durch das Weinen eines Menschen in der Dunkelheit, der genauso allein und verängstigt war, wie ich es gewesen war und vielleicht immer sein werde.

»Wenn ich jetzt daran zurückdenke, kommt es mir so vor, als ob immer viel getrunken wurde. Momma roch immer so sehr danach, dass ich glaubte, es sei eine Art Parfüm«, erzählte ich. Misty lachte.

»Natürlich war ich noch sehr klein, als ich das dachte.

Manchmal ließ sie mich einfach an der Tür stehen und tat so, als wüsste sie nicht, wer ich war. Ich hatte Angst, sie zu rufen, weil ich genau wusste, wie wütend sie das machte. Schließlich schaute sie Bill an und sagte: ›Meine Fußfessel ist von der Arbeit zurück.‹ Alle lachten gackernd und neckten sie, und sie gab mir die Schuld.

›Warum musste er dich herschicken?‹, fauchte sie mich dann an.

›Er möchte, dass du nach Hause kommst und uns Abendessen machst, Momma‹, erwiderte ich dann, worauf sie den Kopf schüttelte und mich nachäffte.

Sie starrte sich einige Augenblicke im Spiegel hinter der Bar an, stürzte ihr Bier mit einem Schluck herunter und erhob sich ein wenig schwankend.

›Was gibt’s zum Essen, Aretha?‹, rief jemand.

›Mein Herz‹, brüllte sie zurück, und alle Anwesenden lachten. Ich wartete auf dem Trottoir auf sie. Manchmal kam sie direkt heraus, manchmal fing sie aber auch wieder an zu trinken, dann musste ich noch einmal hineingehen, damit sie kam.

Normalerweise sagte sie nicht viel, wenn wir nach Hause gingen, aber wenn sie es tat, ging es fast immer darum, was für ein Riesenfehler ihr ganzes Leben war.

›Dieser Mann, der sich dein Vater nennt, hat mir ein leichtes Leben versprochen‹, behauptete sie. ›Er sagte, wir würden in einem hübschen Haus in einer schönen Gegend wohnen und ich hätte einen Garten wie meine Momma. Kein Rattenloch von Vierzimmerbruchbude, die es sich nicht lohnt zu putzen. Du wischst den Staub vom Tisch, und ein paar Minuten später schwebt er wieder zurück. Ich habe ihm gesagt, warum soll man sich die Mühe machen, wenn er sich über meine Haushaltsführung beschwerte.‹

Sie blieb stehen, betrachtete sich in einer Schaufensterscheibe und versuchte manchmal, ihr Haar glatt zu streichen oder das Kleid zurechtzuzupfen. Es war seltsam, dass Mommy, ganz gleich, was zwischen Daddy und ihr vorfiel, immer schön für ihn sein wollte.

Momma ist etwa einen Meter achtundsechzig. Ganz gleich, wie viel sie trank, anscheinend behielt sie immer ihre gute Figur. Sie bekam nie diese breiten Hüften, die viele Frauen ihres Alters haben, weil sie das übelste Zeug essen und trinken. Daddy sagte immer, der Alkohol sei ihr stattdessen zu Kopf gestiegen und hätte ihr Gehirn ertränkt. Ich fand sie immer hübsch; hässlich sah sie nur aus, wenn sie wirklich betrunken war. Ihre Unterlippe hängt dann herunter und die Augen werden matt. Daddy sagte ihr, er könne es nicht ertragen, sie anzusehen, wenn sie in diesem Zustand sei. Eines Tages, als sie einen Riesenkrach hatten, zog er ihr ein Kopfkissen über den Kopf und band es an ihrem Hals zu, so dass sie hilflos herumwirbelte, mit den Armen um sich schlug, Sachen herunterschmiss, über einen Stuhl stolperte und wie ein wildes Tier um sich trat.«

Cats Mund stand weit offen. Jade sah aus, als müsste sie sich übergeben, und Misty biss sich auf die Unterlippe und schaute Dr. Marlowe an. Mir kam in den Sinn, dass ihre Eltern sich vermutlich nur hässliche Worte und Drohungen an den Kopf warfen und auch das größtenteils durch teure Rechtsanwälte. Höchstwahrscheinlich konnten sie sich nicht einmal vorstellen, dass ihre Mütter und Väter einander körperliches Leid zufügten. Was ich ihnen erzählte und noch erzählen würde, kannten sie nur aus Film oder Fernsehen.

»Das war nicht das Schlimmste«, sagte ich, »aber mein Vater war normalerweise ein gelassener Mensch.«

»Gelassen?«, fragte Jade höhnisch.

»Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals die Hand gegen mich oder meinen Bruder Rodney erhoben hätte, aber wenn meine Mutter so betrunken war, dass sie geiferte und fluchte und ihm alle möglichen Schimpfwörter an den Kopf warf, verlor er die Beherrschung.

Einmal, als ich erst fünf war, versuchte er sie zu ängstigen, indem er einen Teller zu Boden schmetterte. Sie wurde daraufhin nur noch wütender, schaufelte Tassen, Untertassen, Gläser und Schüsseln aus dem Schrank, schleuderte sie in alle Richtungen und schrie: ›Willst du was zerbrechen sehen, Kenny Fisher? Ich zeige dir, wie was zerbricht.‹

Er konnte sie nur aufhalten, indem er die Arme um sie legte und sie festhielt. Sie versuchte, ihn zu treten und sogar den Kopf so weit zu neigen, dass sie ihm in die Arme beißen konnte. Sie hatte ihn schon oft gebissen, aber er ist stark, er hebt sie dann hoch, trägt sie ins Schlafzimmer und wirft sie aufs Bett. Dort sitzt er praktisch auf ihr, während sie herumtobt und nach ihm schlägt, bis sie müde wird und einschläft.

Als er aus dem Schlafzimmer kam, hatte er Kratzer an Hals und Armen, die noch bluteten. Ich hatte zu viel Angst, um mich überhaupt zu rühren. Tatsächlich«, sagte ich und warf Dr. Marlowe einen Blick zu, »hatte ich mir sogar in die Hose gemacht.«

Die anderen starrten mich an, als sei ich ein Wesen vom anderen Stern. Ihr habt darum gebeten, also sollt ihr es auch bekommen.

»Ich hatte lange Zeit dieses Problem. Momma ging sogar einmal mit mir zum Arzt, und er sagte ihr, das sei alles nur in meinem Kopf. Sie wurde wütend auf ihn und nannte ihn einen Idioten, weil es doch in meinem Höschen war und nicht in meinem Kopf. Er wollte damals, dass ich zu einem Psychiater ging, woraufhin Momma ihn für verrückt erklärte, mich aus seiner Praxis zerrte und schrie, sie würde so einem Quacksalber keinen Pfennig bezahlen. Sie schwor, dass sie mich kurieren würde, und zwang mich, die nassen Unterhöschen zu tragen, selbst wenn Daddy sich über den Gestank beklagte.«

»Igitt«, stöhnte Jade. »Das ist ja widerlich. Kann ich ein Glas Wasser bekommen, Dr. Marlowe?«

»Natürlich. Wie ist es mit den anderen?« Sie lächelte Misty an. »Möchtest du Milch?«

»Nein, danke«, lehnte sie rasch ab. Sie sah aus, als hielte sie ihr Frühstück nur mühsam bei sich. »Ich nehme auch nur ein Glas Wasser.«

»In Ordnung. Ich hole euch einen Krug Eiswasser. Es ist so schwül, nicht?« Dr. Marlowe schaute mich an, und ich fand, sie wirkte erfreut. Vermutlich sollte ich unsere kleine Gruppe aufrütteln.

Sie erhob sich. Cathy sagte, sie müsse zur Toilette gehen, und ging mit ihr hinaus. Jade und Misty wandten sich mir zu.

»Siehst du deine Mutter noch oft?«, fragte Misty.

»Nein. Ich erzähle das gleich, wenn sie wiederkommen«, sagte ich. »Sonst müsste ich mich ständig wiederholen, und das sind Sachen, über die ich nicht gerne spreche.«

Sie nickte. Sie waren beide einen Augenblick still, aber ich konnte sehen, wie es in Jades Gehirn arbeitete.

»Es ist wirklich nicht meine Angelegenheit«, sagte sie leise, »aber wie kann sich deine Großmutter unter den gegebenen Umständen Dr. Marlowe leisten? Ich meine, ich weiß, was das meine Eltern kostet«, fügte sie hinzu und schaute Misty an, die nickte.

»Das Gericht ordnete an, dass irgendeine Behörde dafür zahlt. Ich kenne auch nicht alle Einzelheiten, aber niemand hat von meiner Großmutter oder mir Geld verlangt. Wenn das passierte, würde ich nicht wiederkommen. Das ist sicher. Wir haben bessere Verwendung für Grannys Geld.«

Beide hatten Mitleid mit mir.

»Macht euch um mich keine Sorgen«, fuhr ich sie scharf an.

»Ich bin nicht auf der Suche nach Mitleid oder Almosen von irgendjemand, und ich würde lieber nicht hierher kommen, aber ich muss.«

Sie nickten beide, bemüht, nicht zu mitleidig zu wirken, damit ich nicht wütend auf sie wurde.

Cat kehrte als Erste zurück und wich meinem Blick aus.

»Du siehst heute gut aus«, meinte Misty zu ihr. »Allerdings solltest du dir den Pony schneiden.«

»Du hast auch Spliss«, teilte Jade ihr mit. »Wo lässt du dir die Haare schneiden?«

»Meine Mutter schneidet mir die Haare«, erwiderte Cat.

»Dann sag ihr einfach, sie soll es ein bisschen kürzer schneiden«, meinte Misty mit einem Achselzucken.

Sie ist gar nicht so übel. Zumindest ist sie nicht so hochnäsig. Dr. Marlowe stellte das Tablett mit dem Krug voller Eiswasser und den Gläsern auf den Tisch.

»Ich habe heute eine Überraschung für euch«, sagte sie. »Da wir heute Morgen ein wenig später angefangen haben, fände ich es nett, eine richtige Mittagspause zu machen. Deshalb lasse ich uns Pizzas bringen.«

»Vielleicht brauche ich gar nicht so lange«, warf ich ein.

»Dann wird Jade anfangen«, erwiderte Dr. Marlowe rasch. Cat wirkte erleichtert, dass nicht sie die Nächste war. Wenn sie an die Reihe kam, würde sie bestimmt nicht auftauchen.

Dr. Marlowe goss jeder ein Glas Wasser ein. Dann nickte sie mir zu fortzufahren.

»Als ich fast neun Jahre alt war, wurde Momma wieder schwanger«, erzählte ich. »Ich dachte, sie würde nie noch ein Baby bekommen. So lange hatte sie es vermieden, schwanger zu werden. Erst viel später erfuhr ich, dass Momma zwischenzeitlich schon einmal schwanger gewesen war. Sie hatte ein Baby verloren, als ich erst zwei Jahre alt war, bei uns in der Badewanne.«

Die drei erstarrten voller Angst, dass ich beschreiben würde, wie das geschah. Ich überlegte kurz, entschied mich aber dagegen. Als ich stattdessen über die nächste Schwangerschaft sprach, wirkten sie alle sehr erleichtert. Am liebsten wäre ich vor Lachen laut herausgeplatzt. Allmählich genoss ich die Grimassen, die schockierten und angewiderten Gesichtsausdrücke.

Dr. Marlowe las mir das am Gesicht ab. Sie warf mir einen entsprechenden Blick zu, und das selbstgefällige Lächeln verschwand schnell aus meinem Gesicht.

»Nachdem meine Mutter schwanger geworden war, beruhigte sich die Situation bei uns zu Hause eine Zeit lang. Momma reduzierte sogar ihren Alkoholkonsum, weil der Arzt ihr gesagt hatte, sie könnte damit dem Baby schaden. Sie hielt auch die Wohnung sauberer und kochte wieder; Daddy bekam mehr Arbeit. Wir hatten ein wenig Geld und unternahmen schöne Sachen zusammen wie Ausflüge zum Magic Mountain oder zu Knotts Berry Farm. Wir besuchten auch Daddys Cousin Leonard in San Diego und gingen in den Zoo.

Zu dem Zeitpunkt war Momma schon ganz schön dick. Manchmal trat Rodney gegen die Bauchdecke, dann rief sie mich, damit ich meine Hand auf ihren Bauch legte und ihn spüren konnte. Wir wussten noch nicht, dass es ein Junge war, aber ich war so aufgeregt, dass ich ein Geschwisterchen bekam. Ich dachte, es würde Spaß machen, ein kleines Baby im Haus zu haben und auf es aufpassen zu können. Ich hatte ja keine Ahnung, wie oft ich auf es würde aufpassen müssen.« »Sehr oft?«, fragte Misty.

Ich starrte sie einen Augenblick an.

»Manchmal hatte ich den Eindruck, er hielt mich für seine Mutter und nicht für seine Schwester.«

»Schrecklich«, sagte Jade. »Dir so eine Verantwortung aufzubürden, als du selbst noch so jung warst.«

»Tja, was du tun musst, tust du, es sei denn, alle möglichen Dienstboten erledigen das für dich«, erwiderte ich ihr.

Sie wandte den Blick ab.

»Als Momma etwa im siebten Monat war, hatte Daddy wieder keine Arbeit, und wir mussten jeden Groschen umdrehen. Momma konnte das nicht ausstehen. Aus reiner Bosheit wurde sie noch verschwenderischer. Das war wohl ihre Art, Daddy mitzuteilen, dass er besser bald neue Arbeit finden sollte. Sie hatte nicht vor, auf irgendetwas zu verzichten, besonders nicht auf ihre Zigaretten oder ein gelegentliches Bier.

Eines Abends kurz darauf, während Daddy versuchte, Arbeit zu finden, ging sie zu ›One-Eyed Bill’s‹. Als er nach Hause kam und feststellte, dass sie weg war, bekam er einen Wutanfall. Diesmal schickte er nicht mich, um sie zu holen. Schließlich war sie schwanger und sollte nicht trinken, deshalb ging er selbst und riss fast die Tür aus den Angeln, als er aus der Wohnung stürzte.

Bei ›One-Eyed Bill’s‹ schlug er einen Mann, der sich zwischen ihn und Momma stellte, und die Polizei musste kommen. Das werde ich nie vergessen«, sagte ich und schaute zu Boden. Die Erinnerung legte einen Augenblick lang einen Eispanzer um mein Herz.

»Ich saß im Wohnzimmer, sah fern und schaute immer wieder zur Tür aus Angst, in welchem Zustand Momma sein würde, wenn sie hereinkam, als ich es klopfen hörte und eine Polizistin und einen Polizisten sah. Die Polizistin war schwarz.

Sie kannte meinen Namen und alles und sagte mir, sie sei gekommen, um sicherzugehen, dass mit mir alles in Ordnung war. Daddy hatte ihr gesagt, dass ich da war. Sie sagte, ich müsste eine Weile mit ihnen kommen, aber ich schüttelte den Kopf und fing an zu weinen. Ich versuchte sogar, ihnen wegzulaufen, aber sie erwischten mich und nahmen mich mit auf die Polizeiwache. Ich erinnere mich daran, dass ich glaubte, verhaftet worden zu sein, weil ich Mommas Tochter war und weil sie so böse war.«

Ich blickte auf. Die drei Mädchen starrten mich an, keine von ihnen holte Luft.

»Sie gaben mir heiße Schokolade und Kekse, während sie darauf warteten, was mit Daddy und Momma geschehen würde. In der Bar war einiges zu Bruch gegangen, aber One-Eyed Bill machte keinerlei Ansprüche gegen sie geltend; Daddy wurde freigelassen, musste aber vor Gericht erscheinen. Als der andere Mann dort nicht auftauchte, wurden alle Vorwürfe gegen Daddy fallen gelassen, aber es reichte, um Momma in Angst zu versetzen.

Sie benahm sich hinterher eine ganze Weile anständig, und dann wurde Rodney in unserem Badezimmer geboren.«

»Was sagst du da?«, fragte Jade sofort. Ihr Kopf wirbelte so schnell zu mir herum, dass ich schon glaubte, er würde sich immer weiter auf ihrem Hals drehen.

»Daddy war nicht zu Hause«, erzählte ich weiter und ignorierte sie einfach. »Es war mitten am Nachmittag. Ich war gerade aus der Schule zurückgekommen. Damals war ich in der fünften Klasse. Ich betrat die Wohnung und rief wie immer nach Momma, aber sie antwortete nicht. Ich schaute im Schlafzimmer nach ihr, aber da war sie nicht. Dann hörte ich ihren Schrei und lief ins Badezimmer.

Sie lag auf dem Boden, und ich konnte sehen, wie das Baby kam. Bei diesem Anblick blieb ich wie angewurzelt stehen. Sie schrie mich an, Hilfe zu holen, den Notruf zu wählen. Ich fing an zu weinen. Ich konnte nicht anders, und sie schrie und brüllte mich immer weiter an. Schließlich ging ich zum Telefon und sagte der Vermittlung, dass meine Momma auf dem Boden des Badezimmers ein Baby bekäme. Ich gab ihr unsere Adresse und legte auf. Dann hörte ich Rodney schreien, und als ich wieder ins Badezimmer schaute, hatte Momma ihn auf dem Bauch liegen, aber überall war Blut und die Nachgeburt und …«

»Oh, mein Gott, müssen wir uns das anhören?«, rief Jade mit ekelverzerrtem Mund.

Cathy war schneeweiß, Misty saß mit weit aufgerissenen Augen und offen stehendem Mund da, so dass ich praktisch sehen konnte, was sie zum Frühstück gegessen hatte.

»Ich möchte dich nicht aus der Fassung bringen, Jade, aber du solltest wissen, wie Stars Leben aussieht. Wenn du dann an der Reihe bist, solltest du nichts zurückhalten aus Angst, die anderen aus der Fassung zu bringen.«

»Als hätte ich etwas so Grässliches zu erzählen«, erwiderte Jade und verdrehte ihre grünen Augen Richtung Decke.

»Was für dich vielleicht nicht so unangenehm ist, könnte es aber für Star sein.«

»Oh, bitte.«

»Warum steckst du dir nicht die Finger in die Ohren?«, schlug ich ihr vor.

Sie sah aus, als wollte sie etwas erwidern, hielt sich aber zurück.

»Beschreib einfach zu Ende, was geschah, Star«, befahl Dr. Marlowe.

»Sie bat mich, ihr ein Handtuch zu geben. Das tat ich, dann holte ich ihr etwas heißes Wasser, und danach warteten wir. Der Krankenwagen kam, Rodneys Geburt wurde ordnungsgemäß zu Ende geführt, aber sie nahmen die beiden trotzdem mit ins Krankenhaus. Granny kam, um auf mich aufzupassen, und schließlich tauchte Daddy auf und sah nach Rodney und Momma. Es ging ihr gut, aber sie war fuchsteufelswild auf ihn, weil er nicht da gewesen war. Im Krankenhaus stritten sie miteinander. Daddy verteidigte sich, weil er auf der Suche nach einem Job gewesen war, aber Momma brüllte ihn an, dass sie bei der Geburt seines Sohnes beinahe gestorben wäre.

Von Anfang an ließ sie es so klingen, als sei Rodney nur sein Sohn und sie hätte ihn nur zur Welt gebracht. Sie machte Daddy Vorwürfe für all die Arbeit und all die Probleme. Die Krankenschwester musste sie bitten, mit der Brüllerei aufzuhören.

Momma und Rodney blieben nur eine Nacht im Krankenhaus. Ich fuhr mit zu Granny, die mich am nächsten Tag nach Hause brachte. Es war eine Sache, Rodney im Krankenhaus hinter der Scheibe zu sehen, und eine ganz andere, ihn in seiner kleinen Wiege neben Mommas und Daddys Bett zu sehen. Ich fand, sein Anblick war wie ein Wunder. Sein Kopf war nicht viel größer als einer meiner Gummibälle, und wenn er schrie, streckte er seine kleinen dicken Ärmchen in die Luft und ruderte mit seinen winzigen Fäustchen in der Luft, als suchte er nach jemandem oder etwas, das er boxen konnte. Lange Zeit stand ich dort und beobachtete, wie er atmete und dann aufwachte und schrie. Dazu holte er erst Luft und stieß dann einen schrillen kleinen Schrei aus.

Das Einzige, was ihn zu beruhigen schien, war, wenn Momma ihm ihre Brustwarze in den Mund schob.«

»Oh, mein Gott«, murmelte Jade, aber sowohl Cathy als auch Misty wirkten fasziniert. »Willst du uns jetzt den Stillvorgang in allen Einzelheiten beschreiben?«

»Ängstigt dich das?«, schoss ich zurück.

»Es ängstigt mich nicht, aber ich werde es nicht tun.«

»Meine Mutter hat es auch nicht getan«, sagte Misty. »Sie hatte irgendwo gelesen, dass es ihre Brust verunstalten und ihre Figur ruinieren könnte. Was ist mit deiner Mutter?«, fragte sie Cathy.

Cat schüttelte heftig den Kopf.

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie mit einer Stimme, die nur wenig lauter war als ein Flüstern.

»Du hast sie nie gefragt?«, hakte Misty nach.

»Nein«, gestand sie. Sie sah aus, als würde sie am liebsten aufspringen und aus dem Zimmer rennen, wenn Misty nicht aufhörte.

»Es ist doch ganz natürlich, darauf neugierig zu sein«, murmelte Misty, die nicht schlecht dastehen wollte, weil sie gefragt hatte.

»Es ist nicht notwendig, das zu wissen«, beharrte Jade. »Es ist genauso, als würde man etwas über die Darmbewegungen eines Menschen hören.«

»Ist es nicht!«

»Ich hoffe nur, das kommt nicht als Nächstes dran«, murmelte Jade, ohne mich anzuschauen.

»Wir wissen schon, welche Komplexe sie hat«, meinte Misty.

»Du weißt überhaupt nichts über mich!«, schrie Jade. »Welches Recht hast du, mich zu beurteilen?«

»Mädchen«, ermahnte Dr. Marlowe uns ruhig, »das bringt nichts, wenn ihr einander nicht wenigstens ein Minimum an Respekt erweist. Keine hier hat es leicht gehabt, aber wenn ihr einander nicht die Chance gebt, euch so weit wie möglich zu öffnen, könnt ihr einander nicht helfen.«

Jade wirkte nicht überzeugt, nahm aber eine entspanntere Haltung auf ihrem Platz ein, und Misty sah aus, als täte es ihr Leid.

»So wie meine Granny über das neue Baby redete, dachte ich immer, wir würden eine glückliche Familie, sobald Rodney geboren war. Aber Momma beklagte sich immer mehr über unser Leben. Daddy bekam neue Arbeit, aber er verdiente nie genug Geld für uns. Wenn sie miteinander stritten oder sich anbrüllten, hörte ich immer, wie sie ihm die Schuld an Rodney gab und behauptete, er sei derjenige gewesen, der einen Sohn haben wollte. Sie redete so, als wollte sie ihn nicht. Wenn ich mein Brüderchen anschaute, konnte ich mir gar nicht vorstellen, dass irgendjemand, am wenigsten seine eigene Mama, ihn nicht wollte.

Er hatte als Baby ständig Koliken. Nichts schien zu helfen. Er weinte viel, dann tobte Momma durch die Wohnung und beschwerte sich darüber, dass der Arzt keine Ahnung hatte und dass sie noch verrückt würde. Sie brachte Daddy dazu, dass er jede Nacht mit Rodney aufstand, ganz gleich, wie früh am nächsten Morgen er zur Arbeit musste. Als sie sah, dass ich helfen konnte, wirklich helfen, Rodney sicher festhalten, ihm seine Flasche geben und ihn in den Schlaf wiegen konnte, auch wenn es nur für kurze Zeit war, schickte sie mich immer häufiger nicht zur Schule, sondern behielt mich zu Hause. Sie machte das so oft, dass ein Beauftragter der Schule vorbeikam und kontrollierte, ob ich die Schule schwänzte. Als er sah, dass ich nicht krank war, drohte er, dass die Schule Momma vor Gericht bringen würde und ich ihr vielleicht weggenommen würde.

Ich hörte sie murmeln: ›Nehmt sie doch beide.‹

Vielleicht sagte sie das, weil sie frustriert und müde war, aber es tat weh, das zu hören. Ich spürte, wie es sich in mein Gehirn einbrannte. Außerdem befürchtete ich, dass dies wirklich passieren würde. Ich schlief schlecht, und jedes Mal, wenn jemand an unsere Tür kam, raste mein Herz vor Angst, sie könnten Rodney und mich abholen und in ein Kinderheim bringen.

Granny kam so oft wie möglich vorbei, aber sie und Momma stritten sich immer darüber, wie Momma den Haushalt führte und sich um Rodney kümmerte. Außerdem wusste sie, dass Momma wieder anfing zu trinken.

Mittlerweile versteckte Momma Alkohol überall im Haus. Sie trank Wodka, weil das nicht so stark roch, und bewahrte ihn in Shampooflaschen und sogar in einer Wärmflasche im Schrank auf. Monatelang entdeckte Daddy das nicht, aber bald wurde sie nachlässig. Er fand ein Glas Orangen- oder Cranberrysaft, probierte daran und wusste, dass sie Wodka getrunken hatte. Wenn er sich beschwerte, schrie sie, wie hart ihr Leben sei mit zwei Kindern, die sie versorgen musste, von denen eines ein 24-Stunden-Job war. Natürlich kam sie ständig auf Geldprobleme zu sprechen, und dann beschuldigte er sie, das wenige, was wir hatten, für ihre Trinkgewohnheiten zu verschwenden. Sie behauptete, das sei das Einzige, durch das sie bei Verstand bliebe. Worauf er erwiderte, wenn sie bei Verstand sei, wüsste er nicht, was verrückt bedeutete.

Manchmal kam ich aus der Schule und fand Rodney in Windeln vor, die nicht gewechselt worden waren. Dem Ausschlag an seinen Beinchen und dem kleinen Hinterteil nach zu urteilen musste er den ganzen Tag so herumgelegen haben. Natürlich schrie und weinte er deshalb umso mehr, was Momma noch stärker zur Flasche trieb. Es kam so weit, dass sie schlief, auch wenn er wimmerte und schrie. Vermutlich war sie mehr bewusstlos, als dass sie schlief. Überall fand ich sie so vor, manchmal sogar auf dem Boden ihres Schlafzimmers.« »Man hätte sie einsperren sollen«, meinte Jade.

Ich starrte sie eine ganze Weile an und schaute dann aus dem Fenster auf den Nieselregen, der eingesetzt hatte. Vielleicht hatte Jade Recht, aber es tat weh, wenn jemand anders das sagte.

Es gab viele schlimme Dinge, die uns im Leben widerfahren konnten und es vielleicht auch würden, aber die eigene Mutter zu hassen musste ganz oben auf der Liste stehen.

»Sie hat Recht«, sagte ich zu Dr. Marlowe, »aber ich möchte es nicht.«

»Ich weiß«, erwiderte sie sanft. »Deshalb seid ihr alle hier – um eine Alternative zum Hassen zu finden.«

»Warum müssen wir das?«, fragte Misty mit diesem ein wenig sarkastisch verzogenen Mund.

»Ich glaube, ihr wisst mittlerweile alle, dass ihr eure Eltern nicht hassen könnt, ohne euch selbst zu hassen.«

Niemand brauchte laut zuzustimmen. Wir mussten einander nur in die Augen schauen und sahen, dass Dr. Marlowe Recht hatte.

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