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KAPITEL ZWEI

Dr. Marlowe saß an ihrem Schreibtisch, als wir alle in ihr Behandlungszimmer marschierten. Sie beendete rasch, was auch immer sie gerade tat, und gesellte sich zu uns.

»Guten Morgen«, begrüßte sie uns mit ihrem glücklichen Willkommenslächeln. »Ich wusste nicht, dass schon jemand gekommen war. Seid ihr alle gleichzeitig eingetroffen?«

»Wo ist Emma heute Morgen?«, fragte Star, statt ihre Frage zu beantworten. »Normalerweise löst sie doch Alarm aus, wenn wir erscheinen.«

Dr. Marlowe lachte. Ich bewunderte ihre Fähigkeit, nie die Beherrschung zu verlieren, nie verärgert oder wütend zu werden über etwas, das irgendeine von uns sagte, besonders Star, die nie müde wurde, sie auf die Probe zu stellen. Natürlich begriff ich, warum Star ständig so wütend war, nachdem ich ihre Geschichte gehört hatte. Und dann fragte ich mich, ob ich nicht auch so reagieren sollte.

»Meine Schwester hat einen Zahnarzttermin. Ist es euch allen, dort wo ihr sitzt, bequem?«, fragte sie und warf mir rasch einen Blick zu. Jetzt, da ich tatsächlich hier war, wirkte sie fast so nervös, wie ich mich fühlte.

»Warum sollte es das nicht sein?«, fragte Star.

Dr. Marlowes Lächeln blitzte kurz auf wie eine Taschenlampe mit erschöpften Batterien und verschwand dann.

Heute Morgen trug sie Türkisohrringe und hatte ihr schmutzig blondes Haar ein bisschen stärker gewellt. An den Ohren war es akkurat geschnitten. Wie üblich trug sie ein Kostüm mit einer weißen Seidenbluse, deren Perlenknöpfe bis hoch am Hals geschlossen waren.

Als meine Mutter sie zum ersten Mal traf, war sie sichtlich erleichtert, dass unsere Therapeutin nicht besonders hübsch war. Aus Gründen, die ich nicht ganz verstand, hegte Mutter stets ein Misstrauen gegenüber attraktiven Frauen oder war von ihnen eingeschüchtert. Es gab keinen Filmstar und kein Model, an dem sie nicht etwas auszusetzen hatte. Entweder waren sie besessen davon, zu dünn zu sein, oder eitel und hatten eigenartige Ansichten. Mutter war stolz auf die Tatsache, dass sie kaum öfter als ein- oder zweimal am Tag in den Spiegel schaute. Sie fand, die Welt wäre besser ohne Spiegel, und wenn sie mich dabei erwischte, wie ich mich betrachtete, fragte sie: »Was schaust du dich so viel an? Wenn etwas nicht stimmt, sage ich es dir schon.«

Ich glaube, dass ich nicht so oft in den Spiegel schaute wie andere Mädchen meines Alters. Aber ich war selbstkritisch und verglich mich mit anderen Mädchen und Frauen, die ich traf. Dr. Marlowes Nase war ein bisschen zu lang und ihre Lippen zu schmal, aber sie hatte eine Figur, die ich mir auch wünschte. Ich wäre sogar gerne so groß. Wegen meiner Figur und Körpergröße fühlte ich mich immer klein und stämmig. Dr. Marlowe war mindestens einen Meter fünfundachtzig, ich dagegen kaum eins zweiundsechzig. Bei meiner Figur hatte ich das Gefühl, komisch und entstellt zu wirken trotz der netten Sachen, die Daddy mir immer sagte. Er war der Einzige, der versuchte, mir ein gutes Gefühl zu geben.

Hatte Mutter Recht? Waren das wirklich alles Lügen? Und wenn das so war, gab es nicht einige Lügen, die wir brauchten?

»Also, wir wollen jetzt anfangen«, verkündete Dr. Marlowe und klatschte in die Hände. Sie nickte, setzte sich hin und forderte uns mit einer Handbewegung auf, es ihr gleichzutun. Einen Augenblick lang herrschte tiefes Schweigen. Erst blieb mir fast das Herz stehen, dann fing es an, heftig zu klopfen. Ich spürte die Blicke der anderen auf mir. Ich fing sogar wieder an zu zittern. Meine Oberschenkel schlugen gegeneinander. Ich schlang die Arme um mich wie jemand, der Angst hat auseinander zu fallen.

»Wie geht es euch allen heute?«, erkundigte sich Dr. Marlowe.

»Eins A«, erklärte Star.

»Gut«, versicherte Misty mit einem freundlichen Lächeln. »Ich hätte gerne etwas länger geschlafen«, meinte Jade. »Das

sollen eigentlich unsere Sommerferien sein.«

Dr. Marlowe lachte und schaute mit sanftem, warmem, mitfühlendem Blick in meine Richtung.

Dennoch erstreckte sich ein Band des Schmerzes über meine Stirn von einer Schläfe zur anderen und spannte sich immer straffer, bis ich das Gefühl hatte, es schneidet mir durch das Gehirn.

»Ich glaube, ich bin heute Morgen mit Fieber aufgewacht«, sagte ich. »Ich hatte Schüttelfrost. Ein bisschen fröstele ich immer noch«, fügte ich hinzu und umarmte mich selbst. Dann wiegte ich mich ein wenig auf meinem Platz.

»Immer mit der Ruhe, Cathy«, raunte Dr. Marlowe mir leise zu. »Hol tief Luft, wie du es früher auch schon gemacht hast.« Ich tat es, während die anderen mich anstarrten.

»Es tut mit Leid«, flüsterte ich.

»Bevor ich anfing, euch meine Geschichte zu erzählen, hatte ich das Gefühl, mich übergeben zu müssen«, sagte Misty, um mich zu unterstützen.

»Ich habe mich heute Morgen übergeben«, gestand ich.

Star runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.

»Wir sind es doch nur, Cat, nicht das ganze Land. Du bist nicht im Fernsehen bei einer Talkshow oder so etwas.«

»Gib ihr doch eine Chance«, befahl Jade.

Star hielt den Kopf ein wenig schief und schaute Jade aus diesem Blickwinkel an.

»Sprichst du gerade ein paar Worte der Weisheit, Prinzessin Jade?«

»Ich sage doch nur, dass es für keine von uns einfach war.«

»Das behaupte ich ja auch gar nicht«, widersprach Star. »Aber was auch immer ihre Geschichte ist, sie kann doch nicht schlimmer sein als unsere, oder?«

Jade zuckte die Achseln.

»Ich habe mich immer noch nicht davon erholt, meine eigene Geschichte erzählt zu haben«, sagte sie, als stünden wir alle in einem Wettbewerb, einander in unserem Elend zu übertreffen. Die beiden anderen nickten zustimmend.

»Niemand wird dich auslachen oder so etwas«, versprach Misty mit ihrem freundlichen Blick.

In Ordnung, dachte ich. In Ordnung. Sie wollen es hören. Ich werde es ihnen erzählen. Ich werde ihnen alles erzählen. Dann wird es ihnen Leid tun. Uns allen wird es Leid tun.

»Meine Situation ist ganz anders als deine, deine und deine«, sagte ich jeder von ihnen.

»Wie denn das?«, entgegnete Star.

»Erstens bin ich adoptiert«, erwiderte ich und fügte rasch hinzu: »Aber ich erfuhr es erst dieses Jahr.«

»Deine Eltern haben es die ganze Zeit geheim gehalten?«, hakte Misty sofort nach.

Diese Mädchen genierten sich nicht, Fragen zu stellen. Es würde nicht leicht werden, irgendetwas vor ihnen zu verbergen.

»Ja.«

»Gab es keine Babybilder von dir?«, fragte Jade.

»Nein. Erst als ich zwei Jahre alt war.«

»Hast du dich nie darüber gewundert? Jeder hat Bilder von seinen Kindern, als sie Kleinkinder waren.«

»Nein. Das heißt, ich habe mich gewundert, aber ich habe keine Fragen gestellt.«

»Warum nicht«, wollte Star wissen.

»Ich habe es einfach nicht getan. Es kam mir nie in den Sinn, dass ich adoptiert sein könnte. Ich gleiche meiner Mutter ein wenig. Wir haben die gleiche Nase und den gleichen Mund.«

»Dennoch hättest du wegen der Bilder fragen können. Welche Eltern haben denn keine Bilder«, beharrte Jade.

»Ich stelle meiner Mutter nicht gerne Fragen«, gab ich zu.

»Sie mag das nicht. Sie wuchs in dem Glauben auf, Kinder solle man sehen, aber nicht hören, und so soll ich auch sein.«

»Du bist doch kein Kind mehr«, protestierte Jade.

»Wohl kaum«, bestätigte Star lachend. »Ein Blick auf sie genügt.«

»Ich rede nicht über ihren Busen«, fauchte Jade. »Manche Mädchen reifen körperlich schneller, aber das macht sie noch nicht zu Erwachsenen.«

»Ich war sehr frühreif«, gab ich zu. Vielleicht wollte ich, dass sie aufhörten zu streiten, vielleicht wollte ich auch einfach meine Geschichte loswerden.

»Wie früh?«, fragte Misty und beugte sich zu mir vor. »Ich warte immer noch.« Star und Jade lachten. Dr. Marlowe verzog den Mund nicht, aber ihre Augen blitzten amüsiert auf.

»Ich war noch im vierten Schuljahr, als … als ich anfing, mich zu entwickeln.«

»Im vierten Schuljahr?« Star pfiff. »Du hast im vierten Schuljahr bereits einen BH getragen?«

»Nein. Meine Mutter hat mir erst, als ich in der sechsten Klasse war, einen BH gekauft.«

»Was hast du denn vorher getragen?«, fragte Star.

»Sie gab mir einen Sport-BH, der ein oder zwei Nummern kleiner war, damit ich etwas platt gedrückt wurde. Er war aus elastischem Material und fühlte sich an wie eine Zwangsjacke. Er war wirklich eher für das Training geeignet, aber ich musste ihn den ganzen Tag tragen. Wenn ich ihn abends auszog, war meine Brust immer feuerrot. Ich beklagte mich darüber, aber sie sagte, ich müsse das tun, weil ein BH bei einem Mädchen meines Alters nur mein absonderliches Aussehen betonen würde.«

»Hat sie das so genannt?«, fragte Jade mit finsterem Gesicht.

»Absonderlich?«

Ich nickte.

»Dann wäre ich gerne auch ein bisschen absonderlicher«, meinte Misty. »Es wird noch damit enden, dass ich mir mit zwanzig Implantate einsetzen lasse.«

»Du solltest nicht so viel Wert darauf legen, nur weil Männer das tun«, rügte Jade sie mit funkelndem Blick.

Misty zuckte leicht mit den Achseln und wandte sich wieder mir zu.

»Was sagte denn dein Vater dazu?«, fragte sie.

»Er sagte nichts dazu, zumindest nicht in meiner Gegenwart«, fügte ich hinzu. »Meine Mutter hatte immer eher die Verantwortung, wenn es um Dinge ging, die mich betrafen, Dinge, die mein Vater ›Mädchenkram‹ nannte. Mein Vater war immer sehr beschäftigt. Er ist Börsenhändler und war immer früh aus dem Haus, außer an den Wochenenden natürlich.«

»Wie sieht er aus?«, fragte Jade. »Ich meine, sieht er wirklich so aus, als könnte er dein Vater sein? Gibt es irgendwelche Ähnlichkeiten?«

»Ich denke nicht. Er ist groß, einen Meter neunzig, und er war schon immer sehr schlank, ganz gleich, wie viel er aß oder trank. Er hat sehr lange Hände. Sie sind zweimal so groß wie meine, vielleicht sogar dreimal so lang, und seine Finger …« »Was ist damit?«, fragte Misty.

Ich lachte.

»Er spielte immer dieses Spiel mit mir, ›Kommt ein Mäuschen‹.«

»Hm?«, fragte Misty.

»Kennst du das nicht? Jemand wandert mit den Fingerspitzen über deinen Arm und sagt: ›Kommt ein Mäuschen, baut ein Häuschen, kommt ein Mückelchen, braut ein Brückelchen – killekillekille.‹ Dabei wirst du gekitzelt«, rezitierte ich und machte es dabei vor. Dabei muss ich wohl ziemlich dämlich gelächelt haben. Alle sahen nämlich aus, als bekämen sie jeden Moment einen hysterischen Anfall.

»Er machte das mit seinen Fingern genauso, wie ich es euch gezeigt habe, und krabbelte mit seinen Fingern über meine Brust.

Ich wuchs in der Vorstellung auf, seine Finger seien wie Spinnenbeine, besonders wenn er seine Hand auf den Tisch legte«, sagte ich, als ich mich an das Bild erinnerte. »Sie sehen wie zwei große Spinnen aus.«

Die drei Mädchen richteten ihre Blicke auf mich und warteten ab, bis die Bilder in meiner Erinnerung durch andere ersetzt worden waren. Meine Finger ruhten auf meiner Brust und waren nach unten gerichtet, ohne dass ich überhaupt gemerkt hatte, was ich tat. Nachdem ich die Augen geschlossen und wieder aufgeschlagen hatte, spürte ich, wie ich in die Gegenwart zurückkehrte.

»An einem seiner Finger, dem rechten Zeigefinger, hatte er ein Muttermal, einen großen, roten Fleck an der Spitze. Es sah aus, als hätte er eine heiße Herdplatte berührt. Menschen, die ihn zum ersten Mal sehen, fragen ihn immer, ob er sich verletzt hat. Darauf schüttelt er den Kopf, hält den Finger hoch wie eine Trophäe und erklärt, es sei nur ein Muttermal.

Seine Handflächen sind weich und die Handlinien tief. In seiner linken Handfläche ist eine Linie so tief eingekerbt, dass sie aussieht wie hineingeschnitten. Seine Nägel hält er tipptopp in Ordnung. Einmal in der Woche lässt er sie in der Nähe seines Büros maniküren. Er kümmert sich besser um seine Fingernägel als meine Mutter. Ich habe noch nie erlebt, dass sie ihre Nägel lackiert. Eine Maniküre hat sie auch noch nie machen lassen. Einmal, als ich bei einer Freundin war und mit lackierten Fingernägeln nach Hause kam, musste ich sie in Terpentin tauchen und die Finger so lange hineinhalten, bis die Haut brannte.«

»Hat sie denn noch nie etwas von Nagellackentferner gehört?«, fragte Jade trocken. »Meine Mutter könnte ihr günstig einen lebenslangen Vorrat besorgen.«

»Sie hat davon gehört, besitzt aber keinen. Wer keinen Nagellack hat, braucht auch keinen Nagellackentferner«, erklärte ich und überlegte einen Augenblick. »Die Nägel meines Vaters glänzen – wie Elfenbein.«

»Wie kommt es, dass du so viel über die Hände deines Vaters

sprichst?«, erkundigte Misty sich mit einem breiten Lächeln.

Ich starrte sie einen Augenblick an und schaute dann Dr. Marlowe an, die mich mit zusammengekniffenen Augen eindringlich ansah. Wie kamen wir nur so schnell zur Sache, fragte ich mich. Ihre Fragen wurden wie Kugeln auf mich abgefeuert. Vielleicht war das gut so. Vielleicht war das die beste Methode, dachte ich.

Ich versuchte zu schlucken, konnte aber nicht. Dann holte ich tief Luft und hatte das Gefühl, mein Vater quetschte meine Rippen zusammen und hinderte mich dran, meine Lungenflügel zu entfalten, damit alle Geheimnisse in meinem Herzen eingekerkert blieben. Erneut holte ich tief Luft, um zu verhindern, dass diese nur zu vertraute lähmende Taubheit mich ergriff.

»Trink einen Schluck Wasser«, befahl Dr. Marlowe, sprang auf und hielt mir das Glas hin.

Die Mädchen wirkten eher erschreckt als überrascht über meine plötzliche Reaktion. Sie warfen einander Blicke zu und schauten dann zur Tür, als zögen sie in Erwägung davonzulaufen. Alle sahen so aus, als täte es ihnen Leid, mich so rasch in die Vergangenheit gezogen zu haben. Ich lachte in mich hinein.

Ihr wollt wissen, warum ich so viel an die Hände meines Vaters denke? In Ordnung. Ihr habt mich herausgefordert, dass ich euch alles erzähle. Jetzt müsst ihr da sitzen und mir zuhören, selbst wenn ihr dann auch Alpträume davon bekommt.

»Obwohl er sehr hart arbeitete und viel Zeit außer Haus verbrachte, entweder in seiner Firma oder bei Großkunden, war mein Vater derjenige, der mit mir spielte. Meine ganzen Spielsachen hatte mein Vater mir gekauft. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass meine Mutter mir jemals ein Spielzeug kaufte, nicht einmal eine Puppe.«

Ich schüttelte den Kopf und schaute zu Boden.

»Was ist?«, fragte Misty.

»Ich erinnere mich, dass er mir einmal eine Barbiepuppe mitbrachte. Als meine Mutter entdeckte, dass sie Brüste hatte, war sie so wütend darüber, dass sie sie in der Küche mit der Nudelrolle in Stücke schlug.

›Das ist ekelhaft!‹, schrie sie. ›Wie können sie nur Spielzeuge wie diese für Kinder herstellen, und wie kannst du ihr so etwas kaufen?‹, fuhr sie meinen Vater an.

Mein Vater zuckte nur die Achseln und sagte, die Puppe sei das beliebteste Mädchenspielzeug im ganzen Geschäft. Außerdem stünden die Aktien der Firma sehr gut.

Natürlich wusste ich, dass er Recht hatte. Barbiepuppen waren sehr beliebt; schon immer hatte ich mir eine gewünscht und die ganzen Kleider dazu. Ich musste mich aber mit einer Stoffpuppe begnügen, die mein Vater am nächsten Tag mit nach Hause brachte. Meine Mutter inspizierte sie eingehend und erteilte ihr das Siegel ihrer Zustimmung, als sie sich überzeugt hatte, dass nicht der geringste Hinweis auf Geschlechtsorgane an ihr zu erkennen war. Trotz ihres langen Haars wirkte sie nicht einmal weiblich. Zum guten Schluss nannte ich sie Knochen.«

»Warum hat dein Vater ihr nicht einfach gesagt, sie könnte ihn mal?«, fragte Star.

»Mein Vater ist ein sehr ruhiger Mann. Er wird nicht oft laut«, erklärte ich.

»Aber er versuchte doch nur, dich ein normales Mädchen sein zu lassen. Deine Mutter ist doch ein wenig extrem, findest du nicht?«, hakte Jade nach.

»Warum ist deine Mutter so herrschsüchtig?«, fragte Misty.

Plötzlich fing mein Herz an zu klopfen, und das Blut stieg mir ins Gesicht. Während ich sprach, hielt ich den Blick gesenkt. Es war beinahe, als könnte ich mein Leben sehen, meine Vergangenheit – all die Ereignisse waren auf den Boden projiziert, die Bilder flossen in einem kontinuierlichen Strom dahin.

»Mein Vater ist kein Feigling, auch wenn ich mich nicht an viele Male erinnern kann, bei denen er und meine Mutter sich anschrien«, sagte ich schließlich.

»Ich kann mich praktisch nur daran erinnern«, meinte Jade.

»Es ist ihr Tag«, erinnerte Star sie. »Wir haben deine Geschichte bereits einmal gehört, und einmal reicht völlig.«

»Findest du wirklich?«, fauchte Jade sie an.

»Ja, das finde ich«, bestätigte Star. Jade warf ihr einen giftigen Blick zu.

»Mädchen«, ermahnte Dr. Marlowe sie kopfschüttelnd leise. Beide wandten sich mir zu.

»Das soll nicht heißen, meine Mutter kritisierte meinen Vater nie«, fuhr ich fort. »Ich glaube, es verging kein Tag, an dem sie sich nicht darüber beklagte, dass er nach der Arbeit trank, welche Freunde er hatte, dass er etwas vergessen hatte, um das sie ihn gebeten hatte. Es war jedoch so, dass er nur selten … selten ihre Ansichten in Frage stellte. Ich glaubte immer, dass mein Vater früh in ihrer Ehe beschlossen hatte, das Beste für ihn wäre es zuzuhören, zu nicken, zuzustimmen, es zu akzeptieren und weiterzumachen.

Komisch«, sagte ich, immer noch mit gesenktem Blick, »aber früher glaubte ich, deswegen wäre er klüger. Ich empfand großen Respekt für meinen Vater. Er hatte großen geschäftlichen Erfolg, hatte alles so gut organisiert, war zufrieden, beherrscht. Über alles hatte er eine fundierte Meinung. Immer wenn man ihn zur Rede stellte, konnte er seine Gründe und Vorstellungen erklären. Er konnte Menschen sehr gut überzeugen. Vermutlich lag das daran, dass er Börsenmakler war und Hoffnungen verkaufen musste.

Das Abendessen bei uns zu Hause war immer lehrreich. Mein Vater kommentierte irgendetwas, das in Politik oder Wirtschaft geschehen war, und meistens hörten meine Mutter und ich nur zu. Ich meine, ich hörte zu. Wenn ich sie anschaute, wirkte sie zerstreut, gedankenverloren. Am Ende sagte sie jedoch immer etwas wie: ›Was erwartest du denn, Howard? Wenn du die Stalltore offen lässt, laufen die Kühe davon.‹«

»Hm?«, fragte Misty verblüfft. »Was haben Kühe denn damit zu tun?«

Ich schaute sie an und lächelte.

»Meine Mutter steckt voll von solchen altmodischen Sprüchen. Sie hat einen für jeden Anlass, jedes Ereignis.«

»Meine Granny kennt auch viele tolle Redensarten«, sagte Star.

»Das haben wir bereits gehört«, trällerte Jade und schenkte ihr dieses übelkeiterregende süße Lächeln. »Heute ist Cats Tag, weißt du noch?«, erinnerte sie sie und genoss ihre Rache.

Star grinste, schüttelte dann den Kopf und lachte.

Ich war eifersüchtig auf sie. Sie fielen ständig übereinander her, aber ich konnte sehen, dass sie einander auch respektierten und auf eine komische Weise sogar mochten sowie einander gegenseitig gerne herausforderten und neckten. Ich wollte, dass sie auch mich mochten. Wer würde mich sonst mögen, wenn nicht diese Mädchen, fragte ich mich besorgt. Ich konnte meine Freundinnen an den Fingern einer Hand abzählen, und in letzter Zeit hatte ich gar keine mehr. Ich fühlte mich wie eine Aussätzige, weil ich sah, wie mich einige der anderen Kinder in der Schule anschauten.

Das ist mein eigener Fehler, dachte ich. Mein Gesicht könnte genauso gut aus Glas sein und all meine Gedanken und Erinnerungen auf einem Bildschirm in meinem Kopf gezeigt werden, wo jeder sie sehen und ablesen konnte.

»Ich fühle mich schmutzig«, murmelte ich.

»Wie bitte?«, fragte Misty. »Warum denn?«

Ich schaute hoch, weil mir nicht klar war, dass ich gesprochen hatte. Es war mir einfach hochgekommen wie ein Rülpser. Mein Herz fing wieder an heftig zu klopfen. Ich warf Dr. Marlowe rasch einen ängstlichen Blick zu. Sie schaute mich so beruhigend wie möglich an.

»Sagtest du, du fühlst dich schmutzig?«, fragte Misty.

»Lass Cathy in ihrem eigenen Tempo erzählen, Misty«, warnte Dr. Marlowe sie.

»Sie hat es doch gesagt.«

»Ich weiß. Es braucht aber seine Zeit«, beharrte Dr. Marlowe.

»Du weißt das. Ihr alle wisst es«, fügte sie hinzu.

Misty entspannte sich und lehnte sich zurück.

Nach ein paar tiefen Atemzügen fuhr ich fort.

»Ich hatte wohl immer das Gefühl, dass die Leute mich ständig anstarrten«, sagte ich.

»Kein Wunder, wenn deine Mutter schon sagt, du sähest seltsam aus«, murmelte Jade gerade laut genug, dass ich es hören konnte.

»Ja«, bestätigte ich. »Das stimmt wohl. Meine Mutter wollte nie, dass ich Sachen trug, die auch andere Kinder meines Alters anhatten. Ich musste immer Halbschuhe tragen, nie Turnschuhe, meine Kleider waren immer langweilig und nicht sehr modisch. Oft beklagte sie sich darüber, was andere junge Leute zur Schule anzogen, besonders junge Mädchen. Jedes Mal, wenn sie mich zur Schule brachte, schüttelte sie den Kopf und murmelte etwas vor sich hin über die Kleidung, die die anderen Kinder trugen. Sie schrieb sogar an die Schulleitung, aber die meisten Briefe blieben unbeantwortet.

Eines Nachmittags, als sie mich abholte, entdeckte sie einen winzigen Fleck Lippenstift auf meinen Lippen. Damals war ich in der fünften Klasse. Viele Mädchen trugen Lippenstift in der Schule, obwohl sie erst zehn Jahre alt waren. Ein Mädchen namens Dolores Potter überredete mich dazu, ihn auszuprobieren, als wir auf der Mädchentoilette waren. Es war mir peinlich zuzugeben, dass ich das noch nie getan hatte, aber sie merkte es gleich und lachte, weil ich ihn zu dick auftrug. Ich korrigierte es mit einem Taschentuch, und wir gingen in den Unterricht zurück.

Ich war deshalb so unsicher. Es war, als trüge ich ein Neonschild. Ich erinnere mich daran, dass ich jedes Mal, wenn ich den Blick hob und mich im Raum umsah, das Gefühl hatte, die Jungen schauten mich mehr an. Als die Glocke zum Unterrichtsschluss klingelte, stürzte ich auf die Toilette und wischte mir den Mund mit einem feuchten Papiertuch ab. Ich dachte, ich hätte alles weggewischt, aber in einer Ecke war noch dieses eine Fleckchen übrig geblieben.

Meine Mutter betrachtet mich immer wie durch ein Mikroskop. Niemand anderen schaut sie so an. Sie heftet ihren Blick auf mich und sieht sich jede Kleinigkeit an. Wenn eine Haarsträhne nicht an ihrem Platz liegt oder mein Kragen verknautscht ist, entdeckt und korrigiert sie es. Sie hat diese fixe Idee, dass ich vollkommen sein soll, vollkommen auf ihre Weise. Auf jeden Fall erspähte sie den Lippenstift und explodierte. Das Blut stieg ihr wie Lava ins Gesicht. Ihre Augen traten hervor, ihre Augenbrauen fuhren in die Höhe, und ohne ein Wort nahm sie ihre rechte Hand vom Steuer und schlug mir ins Gesicht. Es brannte wie ein Peitschenhieb. Außerdem war sie blitzschnell. Ich hatte keine Chance, mich zu schützen. Mein Kopf wurde herumgeschleudert. Ich glaube, es ängstigte mich mehr, als dass es tatsächlich wehtat, aber Furcht kann dir ins Herz schneiden und einen noch tieferen Schmerz verursachen.

Ich hob die Arme, um mich zu wehren. Meine Mutter konnte manchmal die Beherrschung verlieren und dann ein Dutzend Mal auf mich einschlagen. Woher sie angesichts ihrer geringen Größe dazu die Kraft nimmt, ist mir schleierhaft, aber sie kann richtig explodieren.«

»Du meinst, sie schlägt dich immer noch?«, fragte Jade.

»Manchmal. Normalerweise ist es nur ein Klaps. Sie schlägt mich nicht mehr fest und immer nur einmal.«

»Juchhu«, jubelte Jade. »Da hast du ja richtig Glück.«

»Wenn sie dich nächstes Mal schlagen will, haust du ihr einfach die Faust ins Gesicht«, riet Star.

»Das könnte ich nicht. Meine Mutter glaubt, wer die Rute spart, verzieht das Kind.«

»Du bist doch kein Kind mehr!«, brüllte Jade mich an. Sie sah Dr. Marlowe an. »Das Mädchen ist doch siebzehn, oder?« Ihre Augen funkelten vor Zorn wie die Feuerwerkskörper am Nationalfeiertag. »Das ist das Problem bei Eltern heutzutage. Sie wissen nicht, wann sie aufhören müssen, uns wie Kinder zu behandeln.«

»Amen«, sagte Star.

»Es ist nicht leicht für meine Mutter«, verteidigte ich sie. »Die ganze Last meiner Erziehung ruht jetzt auf ihren Schultern. Sie hat keinerlei Unterstützung durch die Familie. Es sind wirklich nur wir zwei«, erklärte ich. »Ich versuche, so zu sein, wie sie mich haben möchte. Ich versuche, sie nicht noch unglücklicher zu machen.«

Ich schaute Dr. Marlowe an, weil wir darüber gesprochen hatten. Sie nickte leicht.

»Ich will damit sagen, meine Mutter ist auch ein Opfer. Sie will nicht grausam sein oder so etwas. Sie ist einfach …«

»Was?«, fragte Misty.

»Verängstigt«, sagte ich.

Dr. Marlowe schaute befriedigt drein, ihre Lippen entspannten sich zu einem sanften Lächeln.

»Ich brauchte lange, um das zu verstehen, um mir darüber klar zu werden«, erklärte ich, »aber es stimmt. Wir sind zwei Mäuschen, die alleine in einer Welt voller räuberischer Katzen und Fallen leben.«

»Ist das wieder eine ihrer Redewendungen?«, fragte Jade.

»Nein. Die ist von mir«, sagte ich. Sie schüttelte den Kopf und wandte den Blick ab.

»Hat dein Vater dich je geschlagen?«, erkundigte Misty sich.

»Nein«, antwortete ich. »Er hat mich nie anders als zärtlich oder liebevoll berührt«, fügte ich hinzu.

Ich warf Dr. Marlowe einen Blick zu. Sollte ich es jetzt sagen? Sollte ich beginnen, über den tiefen Schmerz zu sprechen? Sollte ich erklären, wie diese Finger sich durch mich hindurchgebrannt und mich an Stellen berührt hatten, die ich selbst kaum anzufassen wagte?

Sollte ich die Schreie beschreiben, die ich bei Nacht hörte, Schreie, die mich aufweckten und mich verwirrten, bis mir klar wurde, dass sie aus meinem Inneren kamen? Ist die Zeit gekommen, dem kleinen Mädchen in mir für immer ade zu sagen?

In meinen Träumen stand Dr. Marlowe mit einer Stoppuhr in der Hand an der Seite. Ich machte mich darauf gefasst zu flüchten. Sekunden verrannen. Sie schaute fast wie jetzt zu mir hoch. Ihr Daumen ruhte auf dem Knopf der Uhr.

»Mach dich fertig, Cathy. Auf die Plätze.«

»Und wenn meine Beine sich nicht bewegen?«

»Das werden sie; sie müssen. Es ist Zeit. Fünf, vier, drei …« Sie drückte den Knopf und rief: »Los! Na los, Cathy. Raus hier. Beeil dich. Lauf, Cathy. Lauf!«

Ich ließ die kleine Hand, die ich festhielt, los und stürmte vorwärts. Tränen strömten mir über das Gesicht. Ich schaute mich nur einmal um und sah eine Stoffpuppe, die hinter mir herstarrte. Es war Knochen, aber sie hatte Daddys Gesicht.

Ich rannte immer schneller, strengte mich immer mehr an, bis ich hier in Dr. Marlowes Praxis war, umgeben von meinen Leidensgenossinnen.

Cat

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