Читать книгу treulos - Vera Bachauer - Страница 3

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1.

Ich bin eine geborene Achtundfünfzigerin. Meinen Schülern erkläre ich: ein spätes Nachkriegskind. Die Schafwollstrumpfhose kratzte so schrecklich, dass ich froh war, endlich die heiß geliebten Kniestrümpfe anziehen zu dürfen, sobald der Sommer in unsere Lausitz einzog. Ob zum Spielen die geringelten und ewig gestopften Strümpfe oder zu den Sonntagsspaziergängen die weißen; egal dass sie rutschten und sich über den Rand der Sandalen stülpten, ich war ein glückliches Kind. Und irgendwann gab es auch diese kratzigen Strumpfhosen nicht mehr. Mutter schickte mich zur Molkerei. Die dicke Frau hinter der Theke schöpfte die zulässige Familienration mit einer großen Kelle in meinen Milchkrug, setzte einen Strich auf eine Liste, ehe sie das Stück Butter überreichte und der Quark wurde abgewogen in ein Stück Pergamentpapier gewickelt. Ich verabschiedete mich brav, der Duft von würzigem Käse blieb in der Nase hängen – bis heute. Daheim wurde die Milch abgekocht und wenn sie abkühlte, ekelte ich mich zu Tode. Milch ist gesund, basta! Oma Meta rollte böse mit den Augen, wenn wir Kinder die allmorgendliche Pudding- oder Haferflockenmilchsuppe mit Verachtung aßen, weil dicke, gelbliche Hautfetzen auf der Oberfläche schwammen. Wir mussten aufessen! In dieser Zeit wurde nichts weggeworfen. Der Kriegshunger saß noch fest in den Köpfen. Besonders bei meinem Vater. Ein traumatisches Milchbrötchen-Erlebnis aus seiner Kinderzeit lässt ihn nicht los. Die Kinderschar von damals, die den kleinen Pit und das Brötchen in seiner Hand umringte, blieb ein Albtraum für ihn und wurde einer für uns. Wollten wir nicht essen, zogen Gewitterwolken über den Küchentisch, die Eltern blieben hart, selbst wenn der Erbsenbrei im Mund immer mehr wurde und Erstickungstod drohte. Noch heute ruft Vater entsetzt aus der Küche: Soll ich dir was zu essen machen, du siehst so abgemagert aus! Dabei habe ich gerade vier Kilo zugenommen, weil ich nicht mehr rauche. Man kann ja nicht verübeln, dass meine Eltern alles daran setzten, ihre drei Kinder satt und zufrieden groß zu kriegen.

Meine Kinder wurden nicht zum Aufessen gezwungen, wuchsen in dem herrlichen Zeitalter teilentrahmter, wärmebehandelter Milch auf und warfen Schulbrote weg, wenn kein Nutella drauf war. Heimlich. Denn das kann ich auch nicht leiden!

Ich bin ein Nachkriegskind, das Verschwendung nicht kannte. Meine Mutter führte akribisch ein Haushaltsbuch und als Vater Alleinverdiener wurde, weil der Storch noch ein Schwesterchen in den Stubenwagen legte, musste die DDR-Mark noch einmal mehr umgedreht werden, bevor Mutti sie ausgab. Sie rechnete genau und manchmal schickte sie mich noch einmal in den Gemüseladen, weil die Verkäuferin versucht hatte mich um einige Groschen zu prellen. Mit Kindern kann man es ja machen! Warum ist meine liebe Mama eigentlich nicht selbst hingegangen, um das fehlende Geld einzutreiben? Stattdessen jagte sie mich mit einer schriftlichen Beschwerde zurück und schimpfte über die Hochstaplerin im Laden und den Tollpatsch von Tochter. Aber meine Mathematikkenntnisse wurden auch dadurch nicht besser, dass ich zum Einkaufen geschickt wurde. Manchmal blieb ein Groschen übrig und den durfte ich Glückliche in eine Zucker- oder Lakritzstange eintauschen. Und so beließ ich es gern dabei, meiner Mami die kleineren Käufe abzunehmen. Meine beiden Geschwister waren klüger. Sie bekamen die Zuckerstange auch so. Mathias, Muttis Liebling, brauchte nur ein bisschen schmusen und Kristin, die Jüngste und damals noch Vaters Sonnenschein, heulte ganz kurz mit ihrer Sirenenstimme auf, um sofort ans Ziel zu gelangen. Ich war schon immer so: gutmütig, hilfsbereit, uneigennützig, solidarisch, naiv und dumm. Während ich mit dem Staublappen durch die Stube fegte, um Mutti eine Freude zu machen, trollten sich meine Geschwister zu ihren Freunden auf den Spielplatz. Meine Hof-Freunde waren Terroristen. Ich musste ins eklige Spinnennetz greifen, damit ich am Kinderfest teilnehmen darf. Lachend liefen sie davon, ich heulend an Mutters Rockzipfel. Das Fest hatte nie stattgefunden und ich könnte mich heute noch selbst verprügeln, dass ich immer wieder auf diese kindlichen Bestien reingefallen war. Erst meine späteren Schulfreundinnen gaben mir den Glauben an wahre Freundschaft zurück.

Trotzdem war ich war ein glückliches Kind. Als Mutti den weißen Krankenschwesterkittel gegen die bunte Hausschürze eintauschte und sieben Jahre auf das Geldverdienen verzichtete, nahm sie sich besonders viel Zeit für uns. Sie konnte so herrlich Geschichten erzählen aus ihrer eigenen geliebten Kindheit, zeigte uns stolz ihre Schönschreibhefte aus Klasse 1 und las aus ihren wohlbehüteten Kinderbüchern vor. Dabei leuchteten die Augen geheimnisvoll und Mutter entschwand in alte Zeiten. Die Augen verdunkelten sich, wenn sie ein trauriges Kapitel aufschlug: Mit fünf Jahren hatte sie ihren Vater zum letzten Mal gesehen - und noch Jahre lang hastete Klein-Thea nach der Schule nach Hause: Heute wird er auf dem Küchenstuhl sitzen und schon ungeduldig auf mich warten! Die Hoffnung starb, als die Gefangenentransporte aus Russland eingestellt wurden. Meine Oma rannte nicht mehr täglich zum Bahnhof und teilte das Schicksal aller Kriegswitwen, für ihre beiden Töchter allein zu sorgen. Sie hatte nicht wieder geheiratet, zog aus dem Hinterhof in das dreistöckige Vorderhaus und teilte später ihre große Wohnung mit meinen Eltern und mir, weil die DDR „lebenslänglich“ an akutem Wohnungsmangel litt. Oma Meta teilte ihr Reich auch noch mit meinen Geschwistern und war schlimm traurig, als wir eine Plattenbau-Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung ergattert hatten. Da war ich schon achtzehn. Das halbe Zimmer bekamen wir drei Kinder und ich wäre glücklich darüber gewesen, hätten wir Oma nicht alleine lassen müssen. Wir vermissten sie. Wir vermissten das alte Haus, den langen dunklen Flur, in dem ich mit meinen Geschwistern spielte und mit Oma die weißen Bett-Tücher spannte, Ecke auf Ecke zusammengelegt, bevor sie im Leiterwagen zur „Rolle“ gezogen wurden. Während die großen Wäschestücke unter einem zentnerschweren, knarrenden Holzkasten in die Mangel genommen wurden, verfolgte ich dieses Schauspiel begleitet von Respekt und kindlich gruseligen Phantasien. In der Küche stand ein uralter Herd, auf dem Mutter im Winter Brotscheiben brutzelte und uns Kinder unter dem Tisch hervorlockte, wenn es so verführerisch duftete. Mathias warf dann das Brotkorb-Lenkrad erst mal bei Seite und vergaß sieben Stullen lang, dass er gerade mit seinen Schwestern in den Urlaub fahren wollte. Dieser uralte Herd setzte einmal ein Handtuch, das zum Trocknen darüber hing, in Brand und später Omas Haare, während sie Feuer machte. Gott sei Dank war ich in beiden Fällen zur Stelle und reaktionsschnell, was man sonst nicht von mir behauptete. Die Küche war alles in einem: Tagesraum, Spielzimmer, Wasch- und Trockenzimmer, auch mal ein Zirkus. Mutter zog extra ihr blaues Brokatkleid und ihre Stöckelschuhe an, holte die Nachbarn, die den Flur mit uns teilten und kündigte die Attraktionen an. Mathias zauberte unter Opas Schornsteinfegerhut ein Plüschkaninchen hervor und ließ es über die gespannte Wäscheleine balancieren, auf meinen Schultern turnte die zweijährige Kristin. Donnernder Applaus!

Die Stube meiner Eltern wurde gehütet, die von Oma erst recht. In diesen Raum durften wir nur zu besonderen Anlässen und wir Kinder fieberten danach: Sonntags duftete es hier nach frischem Weißbrot und Honig, die Samstagabende verbrachte die ganze Familie mit Salzstangen vor der neuen, besten Anschaffung: Omas Fernseher! Wenn die Filme für die Erwachsenen losgingen, lag ich im Ehebett meiner Oma und meine Geschwister teilten das Schlafzimmer mit den Eltern. Eine dünne Wand trennte uns, an der wir durch Klopfzeichen miteinander kommunizierten. Nicht selten wurde ich von Neid gepackt, wenn ich die beiden kichern hörte, ergötzte mich aber umso mehr an Schadenfreude, wenn sie erwischt wurden. So manches Mal standen Oma oder Mutter urplötzlich im Zimmer, während ich noch beschäftigt war meine neuen Filzstifte aus dem Westen auszuprobieren oder mit akrobatischen Übungen auf der Bettleiste zu tanzen. Als ich begann meine Kunststückchen todesmutig am Fensterkreuz, hoch oben im zweiten Stock zu trainieren, verpetzte mich die alte Sorbin über uns. Ich musste mich wieder in das Innere des Schlafraumes zurückziehen und spielte mit dem grünen Kachelofen. Mal diente er als Schultafel, mal als Ballett-Tänzer, der mich beim Spitzentanz stützte, bis wieder Schritte von draußen nahten und mich schließlich zum Einschlafen zwangen. Manchmal weckte mich Omas Schnarchanfall, aber niemals der Harndrang in meiner Blase. Früh war das Bett nass und ich ärgerte mich über meinen festen Schlaf. Oma ärgerte sich auch, aber um Krach mit meinen Eltern weitestgehend zu vermeiden, wusch und trocknete sie oft die Laken heimlich und legte eine Gummimatte auf die Matratze. Heute weiß ich, warum ich Bettnässerin war: Damals gab es noch die Plumpsklos, übel riechend und Angst einjagend für alle Kinder, die nachts erst ins kalte, dunkle Treppenhaus laufen mussten, um ihre Notdurft verrichten zu können. Oma stellte deshalb einen Eimer ins Schlafgemach und pinkelte auch selbst darein, aber mir half dieser Einfall nicht. Sehr lange nicht.

Obwohl Oma so furchterregend mit den Augen rollen konnte und mit ihrem Satz: Wer nicht hört, kommt in den Keller zum schwarzen Mann! Panik bei meiner Schwester vor dunkelhäutigen Männern auslöste, liebte sie all ihre Enkel aufopfernd. Und wir liebten sie, sodass der Umzug in die „Platte“ nur wenig Freude verbreitete. Einziger Vorteil: Meine Eltern hatten endlich ein eigenes, kinderloses Schlafgemach und wir alle ein richtiges Badezimmer, mit Wanne und Spülklosett. Welch Ereignis, nicht mehr auf kalte Hausflure rennen zu müssen und samstags ins Krankenhaus auf Muttis Arbeitsstelle, um den Waschtag in der Patientenbadewanne zu verbringen. Welch Errungenschaft für den sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat! Oma Meta blieb allein, aber irgendwann zog auch sie in einen Einraum-Arbeiterpalast.

Mein Schulweg verdreifachte sich, denn in unserer Stadt gab es nur die eine EOS, doch ich stand ja kurz vor dem Abitur und dann wurde sowieso alles anders.

Mathias quälte sich inzwischen bei dem verhassten Uhrmacher als unfreiwilliger Lehrling. Meine kleine Schwester musste die Schule wechseln, wehrte sich jedoch energisch gegen diese lebensverändernde Maßnahme. Von Oma wegziehen zu müssen, war schon Strafe genug, die neuen Lehrer und Mitschüler noch eine dazu. Dass Kristin so sehr darunter gelitten hatte, bekam ich gar nicht mehr mit. Ich war in einem Alter angekommen, in dem man auf eine Siebenjährige nicht mehr achtet, sondern auf die Entdeckung geschlechtlicher Entwicklung und Unterschiede, die es da plötzlich gibt. Mit Vierzehn tauschte ich Puppe und Kachelofen gegen Tagebücher aus und schrieb des Nachts meinen Seelen- und Liebeskummer hinein. Meine beste Freundin wusste von Erik, meiner stillen Liebe aus der Klasse und nahm sie mir weg. Ich hasste Martina und ihre Schönheit, fühlte mich unansehnlich und fett – und war es wohl auch. Sehen wir uns in heutiger Zeit aller fünf Jahre zum Klassentreffen, bewundert mich das Weibsbild, wie toll ich mich doch gemacht habe – und meine erste stille Liebe schielt heimlich zu mir rüber: Schade, dass das damals mit uns nichts geworden ist! Martina lebt schon lange allein und Erik in einer wohl unglücklichen Ehe. Das habt ihr nun davon, denn ich bin glücklich! Zurzeit mal wieder – und auf vielen Umwegen – aber davon später.

Ich war wirklich ein unbeschwertes Kind, in der Blüte meiner Jugend häufig das Gegenteil. Mein mich liebender, überbesorgter Vater hielt die Kette kurz und Mutter wachte scharf wie ein Luchs, dass ihre Erstgeborene nicht wieder Unfug anstellte. Sie meint, meine Kindheit war lang und unkompliziert, meine Jugend umso schlimmer.

Schon damals reagierte ich kopflos, blind und unberechenbar, sobald das Herz von Liebe sprach. Meine Auserwählten sahen das ganz anders und mit Liebe hatte das wenig zu tun. Ich landete allzu schnell dort, wovor meine Eltern mich unbedingt behüten wollten. Einmal sogar in Polen, weil ein junger Gastarbeiter mit seinem galanten Handkuss meinen Verstand gänzlich raubte und den meiner Eltern gleich mit, weil sie eine Woche lang nicht wussten, wo ihre Tochter steckt. Ich war meiner Liebe heimlich nachgereist, an die ukrainische Grenze, gab zuhause aber vor, mit meiner Schulklasse im Zeltlager zu sein. Mein Plan flog auf, als Vati und Mutti das Lager aufsuchten, um mich zu überraschen. Eine böse Überraschung für alle Beteiligten!

Die Schuldfrage ist bis heute nicht geklärt. Die gestrenge Zeitvorgabe, wann ich Diskotheken zu verlassen habe, und die Verbote einen Freund nach Hause zu bringen, endeten immer wieder in heimlichen Unternehmungen, erst recht als mein Freund ein Pole war. Ich fühlte mich ungerecht behandelt und wie in einem Glashaus zum Ersticken. Also log ich das Blaue vom Himmel und wusste schon damals, dass meine Kinder mal nicht so schlimm lügen müssen. Erfahrungen macht man nur durch sie selbst und nicht durch Wegsperren und Verbote. Auch wenn meine Eltern es gut meinten und die Ängste berechtigt sind. Denn als ich Mutter wurde, lernte ich diese Angst selbst kennen.

Meine Geschwister hatten sich ihr Stück Freiheit einfach genommen, ohne zu fragen und lange zu bitten. Die Nerven meiner Eltern lagen wohl durch mich schon so blank, dass sie für die jugendlichen „Untaten“ meines Bruders keine mehr hatten und für die meiner Schwester erst recht nicht mehr. Meine heimlichen Unternehmungen mit dem anderen Geschlecht endeten nicht selten in elenden Saufgelagen und im Keller unseres Hauses. Die Jungs verzogen sich und ließen mich in schlechtem Ruf zurück. Naiv, auf der Suche nach der großen Liebe, tappte ich von einer schlechten Erfahrung zur nächsten, aber kein Junge meinte es ehrlich. Einer Hexenjagd ähnlich konnte ich mich auf keiner Disko mehr blicken lassen, ich fühlte mich gebrandmarkt und diese dämliche Jugendclique fand ihren Spaß daran, mich in ein neues Spinnennetz greifen zu lassen, aus dem ich nur mit Flucht herausfand. Ich entfloh einer glücklichen Kindheit, raubeinigen Jugend und landete viel zu schnell in dem Zeitalter, das man erwachsen nennt. Aber nur so nennt.

Ich verließ meine Lausitz, meine Heimat für immer.

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