Читать книгу treulos - Vera Bachauer - Страница 4

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2.

Ich war noch nicht achtzehn, als ich mutterseelenallein durch die thüringische Großstadt lief und nach dem Nebengebäude der Pädagogischen Hochschule suchte. Die alte Straßenbahn quietschte an mir vorbei und Kindheitserinnerungen wurden wach. Wie sehr hatte ich mir solch ein Fahrzeug in die Heimatstadt Bautzen gewünscht. Wenigstens in Dresden, bei meiner Tante erfüllte sich mein Traum. Besuchte ich sie in den Ferien, gab es nichts Schöneres, als in der Straßenbahn zu sitzen. Einmal schickte mich Tante Helga zum Fleischer in die Nebenstraße, um zweihundert Gramm Leberwurst zu kaufen. Ich kam und kam nicht wieder. Langsam wurde Tantchen nervös und sehr laut, als ich endlich eintraf: Wo warst du so lange? Mit acht Jahren log ich noch schlecht und sagte gleich die Wahrheit. Im Nachbarort gab es doch auch eine Fleischerei und die konnte man so herrlich mit der Bahn erreichen. Tante Helga schickte mich nie wieder zum Fleischer.

Zu den Kindheitserinnerungen hatte ich keine Zeit mehr, als ich das ehrwürdige graue Gebäude endlich fand und die vielen Stufen zum Eignungstest überwand. Die vielen Mitbewerber schwangen selbstbewusst ihre Bleistifte, um der ersten Aufgabe gerecht zu werden: Bitte zeichnen Sie eine sitzende, eine stehende und eine x-beliebige Figur auf Ihr Blatt und warten Sie, bis Sie aufgerufen werden! Im Kunstunterricht war ich immer die Beste, malte unter dem Bett die ersten Selbstporträts, für meine Schulfreundinnen in den Pausen die schönsten Prinzessinnen, mit meinem Bruder in verregneten Urlauben ganze Groschenhefte voll. Das schönste Geschenk meiner Eltern: die Staffelei und die Ölfarben. Mein erstes Gemälde – ein Segelschiff auf tobenden Meereswellen, bei untergehender Sonne. Und nun, im entscheidendsten Augenblick meines Lebens, zitterte der Stift in meiner Hand derart, dass der Radiergummi zum Hauptverbündeten wurde. Als man mich rief, hatte ich Pech und Glück zugleich: Ich war die Erste und man verzieh mir das leere Blatt. Die zweite Aufgabe, nämlich die Vorlage sämtlicher Eigenkreationen, weckte meine stille Empörung: Was hat dieser ältliche, arrogante Professor an meinen Bildern auszusetzen? Weiß er nicht, dass Ölfarben zu teuer sind, um sich erst mal an kleineren Studien („ Pinsel im Pinselbecher“) zu versuchen? Was stört ihn an meinem Segelschiffchen? Mein Schiff großer Illusionen schwamm ganz davon, als mein Erkennungswert von zwanzig Reproduktionen mehrerer Künstler und Epochen auf höchstens fünf zurückfiel.

Somit ist es ein Wunder für mich geblieben, dass dieser Professor, seinen Pfeifenrauch in die Luft kringelnd, überhaupt noch sagte: Sie werden von uns hören! Wenig später war ich immatrikuliert und die Glasglocke meines Elternhauses los. Was hat den alten Herrn dazu bewogen mich zuzulassen? Mein daheim auswendig gepaukter, dramatisch inszenierter Vortrag, dass ich Kinder liebe und bilden möchte? Oder seine alterserfahrene Menschenkenntnis: Dieses Mädel taugt dazu!?

Oder war es einfach nur eine Glückssträhne von vielen – so wie es auch immer mein geliebter Großvater zu erleben und zu interpretieren wusste. Meinen „West-Opa“ kannte ich nur aus Briefen. Für ihn war alles im Leben mit Glück im Unglück, also fast versehentlich geschehen – und so fühlte ich mich jetzt auch. Jetzt, später und immer wieder. Selbstvertrauen war oft ein Fremdwort in meinem Kopf, die Wünsche und Träume umso größer. Und wenn ich einen davon erfüllte, lag es wohl mehr am Glück. Ich durfte in Erfurt studieren: Kunst und Deutsch, Methodik und die Didaktik von Marxismus-Leninismus. Acht Semester. Meine Kommilitonen waren besser als ich. Sie konnten besser zeichnen, lernen, morphologische Zusammenhänge begreifen und marxistisch-leninistisch schwafeln. Ich war die ewig durchschnittliche Studentin und schrieb in der Hauptprüfung von meinen Oberschenkeln, unter dem Minirock ab. Immerhin: Manche meiner klugen Studienkollegen wurden es gar nicht, viele sprangen nach ein paar Jahren ab, aber ich bin es geblieben: Lehrer! Und das sogar noch gern. Wussten Sie das damals schon, Herr Professor?

Dass das Heimweh zupackte, sobald ich immer Sonntagabend den Zug nach Thüringen bestieg, wollte ich anfangs nicht wahrhaben. Die neue, andere Welt, in der ich tun und lassen konnte, was ich wollte, war aufregend groß, unüberschaubar und der Gewöhnung bedürftig. Zu viel für ein Kind, das stetig überbehütet wurde und so sehnte ich mich plötzlich und noch sehr lange nach der Glasglocke zurück. Fast jedes Wochenende fuhr ich nach Hause, bis die Strapazen durch die falschen Freunde eine Grenze erreicht hatten, die weitere Aufenthalte und das Bedürfnis nach Heimat beendeten. Ich orientierte mich nach neuen Lebenszielen und Freundschaften, kehrte meiner Lausitz den Rücken. Mutter verzeiht es mir heute noch nicht richtig, dass ich sie im Stich ließ: Das hätte ich meiner Mutti niemals angetan! Sagt sie noch oft. Dass meine Kinder inzwischen weit weg leben - in Berlin- weckt häufig Sehnsucht, aber keinen Vorwurf. Sie leben ihr neues Leben, ich meines, Mutter aber ihr ewig altes. Vielleicht liegt es daran.

Trotzdem schlägt heute noch mein Puls schneller, sobald auf der Autobahn die Turmspitzen meiner Heimatstadt zu erkennen sind, und deren sind viele zu zählen, wenn man sich die Mühe macht. Auch wenn der Tourismus so langsam hinter Dresden fündig wird, meine Stadt ist für so viele Deutsche noch eine Fremdvokabel, die allerhöchstens mit der berüchtigten Strafanstalt “Gelbes Elend“ in Verbindung gebracht wird. Und natürlich mit der Inhaftierung politischer Gegner der DDR.

Das Gefängnis lag ganz am Rande, aber nur so lange bis sozialistischer Plattenbau die Stadt erweiterte. Kein anderer als der, welcher Oma Meta von uns trennte und meinen Schulweg verlängerte. Ich lief also öfter an den Gefangenen vorbei, die unter stark bewachter Aufsicht Straßenarbeiten verrichten mussten. „Schwerverbrecher“ durften nicht raus, an die Straße, aber egal, welcher Verbrecher da auch arbeitete, ich ertappte mich ständig bei den mitleidigen Gedanken: Sollte es einer schaffen abzuhauen, ich würde ihn in unserem Keller verstecken.

Erst viel später erfuhren wir, was sich wirklich hinter diesen Gemäuern abgespielt hatte und wer dort einsaß. Meine Schwester lernte in den Neunzigern einen Hamburger kennen, der bis 1958 als „Volksverhetzer“ einsaß und zum Tode verurteilt worden war. Für ihn wurde das Urteil aufgehoben, für so viele nicht mehr. Da gab es doch schon längst diesen gerechten Arbeiter-und Bauernstaat, der aus der Geschichte lernen wollte, es aber nicht tat. Gerne schwenkte ich das Fähnchen, weil ich zu klein war und alles glaubte. Viele Erwachsene glaubten auch alles, besonders in dieser Kleinstadt. Der Feind hatte keine Chance, in die Wohnstuben zu flimmern, Westsender konnten nicht oder nur schlecht in das „Tal der Ahnungslosen“ vordringen. Eine so schöne Stadt musste in ahnungslosem Grau vor sich hingammeln, bis sie nach dem Mauerfall eine Renaissance erlebte, die mich immer wieder glücklich macht, sobald ich die Autobahn auf der Abfahrt West verlasse.

In meiner Studentenzeit kannte ich keine Autobahnfahrten, fuhr stattdessen mit dem D-Zug.

Der Nachtzug nach Thüringen fuhr sogar bis nach Paris! Voll überfüllt! Manchmal schlief ich stehend in dem engen Gang ein und wünschte mir, man möge mich übersehen, einfach so – und ich wache auf - einfach so – auf dem Pariser Hauptbahnhof.

Auf wachte ich gegen halb Drei, verließ meinen Traumzug auf einsamen Bahnsteig, setzte mich in die Mitropa, um eine Brühe mit Ei zu schlürfen, weil noch keine Straßenbahn fuhr, oder schleppte mich mit Reisetasche durch die halbe Stadt.

Die Hochschule lag am anderen Ende, ganz im Norden – und nur einmal hatte ein Straßenkehrautofahrer mit mir Mitleid und nahm mich mit.

Da ich als Studentin kaum Geld hatte, versuchte ich zu sparen. Ich studierte Kunst und fast alle armen Kunststudenten versuchten sich in der Kunst das Datum verfallener Fahrkarten zu ändern. Damalige Fahrkarten bestanden aus Pappe und das Datum aus Stempeldruck. Ein leichtes Spiel! Trotzdem zog ich mit meiner geänderten Karte durchs Wohnheim und fragte meine Mitfälscher verunsichert: Sieht man was?

Und atmete auf, wenn der Stress mit der Fahrkartenkontrolle in den Zügen vorbei war. Einmal weckte mich ein Kontrolleur kurz vor Dresden, sah lange auf meine Fahrkarte und dann ganz tief in meine Augen: Was studieren Sie? Ich wagte mich nie wieder zu fälschen.

Ein normaler Student an unserer Hochschule bekam 190 DDR-Mark Stipendium (mancher Streber noch ein bisschen mehr), davon wurden gleich zehn Mark Wohnheimmiete abgezogen. Ich teilte mit sieben Kommilitoninnen ein Schlafzimmer mit acht Betten und zwei kleine Tagesräume.

Wir alle hatten kaum Geld, außer Rike. Die protzte damit herum, kaufte im „Fress-Ex-Laden“ exquisite, teure Markenprodukte ein, weil sie schon ein Jahr gearbeitet hatte, und hob sich von der Allgemeinheit ab. Wir jobbten in der Post, im Krankenhaus oder in der Brauerei, um ein bisschen besser auszukommen. Am Ende des Monats aß ich Senfschnitten, aber Zuhause bettelte ich nie um Geld. Oma Irma und mein Stief-Opa Gustav schusterten mir schließlich auch noch monatlich 20 Mark dazu, sodass ich bei meinen Eltern nicht nachfragen musste. Lieber wäre ich verhungert.

Nach der in der Heimat gescheiterten wahren Liebe, suchte ich nun in Thüringen.

Gerry, der Soldat aus Apolda konnte gut tanzen, liebte mich aufrichtig, aber ich nicht ihn.

Felix aus Sömmerda liebte ich, damit ich zur Hochzeit meiner Studienfreundin nicht so einsam war. Seine Mutter liebte ich so sehr, dass ich bei Felix blieb, bis sich eine andere, heimliche Liebe dazugesellte, aber das Unheil mit einem Brief vom Gesundheitsamt in Bewegung setzte. Ich wollte mich am liebsten umbringen! Harald, den Jenaer Medizinstudenten, lernte ich im Zug kennen. Ich freute mich auf seinen Besuch im Wohnheim Eins, deckte den Tisch für Zwei und wartete umsonst.

Wütend schnappte ich mein verschmähtes Abendbrot und rannte ins Wohnheim Zwei in die Arme von Marvin. Er saß mit Freunden auf ausrangierten Matratzen, klimperte wie alle anderen auf der Gitarre, lächelte mir zu und meine Stullen schmeckten nachhaltig. Wir landeten im Dachzimmer von Wohnheim Eins, und da meine Studienfreundin verheiratet war und kaum noch anwesend, sahen Marvin und ich von nun an öfter durch das schräge Dachfenster in die Sterne. Bis wir heirateten. Nach acht Monaten etwas unfreiwillig und übereilt. Ich war einundzwanzig, im achten Semester, sehr verliebt in meinen großen Teddybären, der mich mit seinen großen Pranken vor der bösen Welt beschützte, aber man wollte die junge Liebe trennen. Nach dem Studium wurden die Absolventen an die Schulen verpflichtet, also in der Republik verstreut und verteilt, wo man uns brauchte. Ich wurde dem Bezirk Cottbus zugewiesen. Also weit weg von Marvin, der damals auch noch in Thüringen studierte. Wenn die Hochzeit allein nicht hilft, dann vielleicht noch eine Schwangerschaft. Es klappte kurz vor Studienende. Alles perfekt, wären nicht die Behörden so stur geblieben. Wir liebten uns doch und kämpften wie „Paul und Paula“ für ein gemeinsames Dasein zu Dritt! Marvin wollte die DDR verklagen wegen Verfassungswidrigkeiten, ich stand kurz vor der Exmatrikulation und der Hilferuf an das Büro Margot Honeckers (Volksbildungsministerium der DDR) half auch nicht. Mit eisiger Ignoranz, kurz und schlagkräftig wurde unsere Zukunft „abgesegnet“: „In der DDR leben viele Ehen zwecks Arbeit getrennt... gehen Sie (gefälligst!) Ihrer Verpflichtung nach!“

Marvin schnaubte vor Wut und erste cholerische Anfälle machten sich bemerkbar. Unser Familienglück war nur noch zu retten durch seinen Studienwechsel nach Cottbus. Ich zitterte vor meinem ersten Schuldirektor, der mich am liebsten abschießen wollte, weil meine Schwangerschaft unübersehbar und nicht mehr aufzuhalten war. Nicht minder vor meinen ersten Schulklassen. Zur Strafe erhielt ich die schlimmsten. Zwei Jahre später ließen sie mich nur ungern gehen.

treulos

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