Читать книгу Der kleine Drache Feuerspeitikus - Vera Kleiner - Страница 8
Оглавление3Mai:Spitzeisen – Besuche
Andere leiden darunter, arbeitslos zu sein. Wer nicht arbeitet, ist nichts. Sie sagen’s zwar nicht so direkt, weder jene, die Arbeit haben, noch die, welche ohne sind. Vielleicht denken sie’s nicht einmal. Trotzdem: man benimmt sich, als würde es einem gesagt – als würde man’s selber denken.
Andere? Man? Diese und jene?
Fast kam’s mir gelegen, dass ich nun jeden zweiten Tag zum Spital hinaufgehen musste, um dort den Vater zu treffen. Es wäre nicht nötig gewesen. Er hätte den Weg von der Bushaltestelle hinüber ins Untergeschoss auch allein gefunden.
Eine Sommerjacke, hellbeige, mit zwei Brusttaschen, zwei Seitentaschen, dazu Innentaschen links und rechts, Reissverschluss. Turnschuhe, hellbeige ebenfalls, mit dicken Sohlen, vorn und hinten roten Gummikappen.
«Muss heute nachmittag hin», sagte er. «Um drei muss ich dort sein. Da, schau, alles steht drauf.» Er streckte mir das Kuvert entgegen.
Er sei früh mit dem ersten Postauto gekommen. Er habe im Bahnhofbuffet einen schwarzen Tee getrunken, zwei Gipfel gegessen. Er habe gedacht, bei dieser Gelegenheit könne er gerade neue Schuhe kaufen bei Bretscher neben dem Bahnhof. Dort habe er schon die letzten Schuhe gekauft, dort kaufe er seine Schuhe und Kleider immer. Aber sie hätten nicht mehr die gleichen Schuhe gehabt wie letztes Jahr; mit denen, die er letztes Jahr gekauft, sei er zufrieden gewesen, habe sie die ganze Zeit über getragen. Nun werde diese Sorte leider nicht mehr geführt.
«So hab’ ich halt die da genommen.» Er rückte mit dem Stuhl vom Tisch weg und hielt den einen Fuss mit dem Turnschuh daran in die Höhe. «Und eine neue Jacke hab’ ich auch gekauft.» Lächelnd lehnte er sich zurück. «Hab’ alles grad angezogen. Den alten Kittel und die alten Schuhe hab’ ich hier in die Plastiktasche gepackt.»
«Sommerlich siehst du aus», sagte ich.
«Gelt. Man muss mit der Mode gehen.»
Ich holte in der Küche eine Flasche Bier und Gläser.
«Dawider hab’ ich nichts», sagte er.
Ich las den Brief.
Doktor Lätt schrieb, er habe Herrn Haller im Februar eine Geschwulst herausgeschnitten. Nun seien neue Knoten gewachsen. Er denke, man müsse bestrahlen. Vom ersten Tumor sei keine Analyse gemacht worden.
Der Vater hatte inzwischen eingeschenkt, und wir tranken einander zu.
«Nun werden wir ja bald wissen, was genau mit deinem Rücken gewesen ist.»
«Weisst du», sagte er, «Lätt kann solche Sachen eben nicht selber röntgen. Deshalb schickt er mich ins Spital. Normal durchleuchten kann Lätt schon; aber für das da am Rücken, dazu braucht’s einen moderneren Apparat.»
«Meinst du, man werde nur röntgen?»
«Lätt hat’s gesagt.»
«Wir werden ja sehen.»
«Zuerst hat er davon gesprochen, er wolle mich zu Doktor Briner schicken. Angemeldet hat er mich allerdings nie. Jetzt schickt er mich direkt ins Spital.»
Ich fragte ihn, worauf er Hunger habe. Es war mittlerweile halb zwölf geworden, bald würde Sophie von der Arbeit zum Essen kommen.
«Ah, du bist jetzt der, welcher kocht», sagte er. Eine Rösti habe er schon lange nicht mehr gegessen. Und Thonsalat. Im Breitmoos gebe es selten Rösti, und Thonsalat gebe es nur alle Schaltjahre einmal.
Ich ging in die Küche und begann Kartoffeln zu schälen. Er blieb in der Stube, bei Bier und Zigaretten.
Sophie bemerkte sofort, dass er neue Kleider trug. «Schick siehst du aus.» Sie gab ihm links und rechts einen Backenkuss. «Und glattrasiert bist du auch. Was hast du denn vor?»
Es war kurz nach zwölf; sie war nicht zufrieden mit meinem Menü. «Hättest was Besseres anbieten können, wenn dein Vater mal hier ist.» Er protestierte; sie glaubte ihm nicht.
Sie ging weg und war eine Viertelstunde später mit allerlei Törtchen aus der Bäckerei Müller wieder da. «Damit wir wenigstens etwas Rechtes zum Kaffee haben », sagte sie.
Der Vater ass wenig. Aber er beteuerte, es schmecke ihm. Er sei immer ein kleiner Esser gewesen.
Wir hörten die Nachrichten; dann stellte ich das Radio ab. Der Vater zog den frisch gekauften Törtchen die trockenen Biskuits vor, welche wir als Vorrat zu Hause gehabt. «Nehmt’s mir nicht übel», sagte er, «die Törtchen sehen appetitlich aus, sie sind mir nur ein bisschen zu süss.»
Inzwischen hatte auch Sophie den Brief des Arztes gelesen. «Um drei musst du dort sein?» fragte sie.
Er nickte. Als ich vorschlug, ihn zu begleiten, wehrte er ab. Selbstverständlich gehe er allein hin. Er kenne das Spital noch vom Unfall her: sei lange genug dort herumgelegen und herumgehumpelt.
Sophie erwähnte den Neubau; das neue Spital sei viel grösser als das alte. Schliesslich willigte er ein. Sophie sagte: «Also, macht’s gut.» Sie eilte ins Büro zurück.
Nach dem Abwaschen holte ich die Kirschflasche aus dem Schrank.
«So, jetzt genehmigen wir uns noch einen.»
«Kann nicht schaden», sagte er. «Soll gut für die Verdauung sein.»
Als ich die Personalien angab im Spital am Schalter, wusste ich sein Geburtsdatum nicht, weder Tag noch Jahr. Ich musste ihn, der sich in der Eingangshalle auf einem Sessel verschnaufte, fragen gehen. Nein, der Kirsch im Kaffee war nicht schuld daran. Ich hätte das Datum ohne Kirsch ebensowenig gewusst.
Den Schildern nach. In den Lift und runter ins Untergeschoss. Wieder den Schildern nach. Ich trug die Plastiktasche mit dem alten Kittel, den alten Schuhen darin.
Die Krankenschwester an einem zweiten Schalter bestätigte es: wir waren am richtigen Ort, wir waren angemeldet.
Eine Viertelstunde zu früh. Wir waren die ersten, wir setzten uns.
Kein Wartezimmer; nur eine Nische im Gang an der Hinterseite der Röntgenabteilung. Hin und Her von Männern und Frauen in weissen langärmligen Schürzen.
«Das ist ein Betrieb hier!» sagte der Vater.
Weiter hinten wurden Röntgenbilder vor eine Mattscheibe gehängt. Wenn Türen geöffnet wurden, sah man blitzendes Gestänge, Apparaturen.
Leute kamen: eine alte Frau, eine junge Frau, ein Mann, ein Mädchen. Arm im Gips, Bein im Gips; Nachkontrollen, Expertisen. Bald waren keine Stühle mehr frei. Ein Pfleger stellte zusätzlich einige Hocker hin.
Der Vater zog sich die Jacke aus. So sei wenigstens die dann schon ausgezogen. Ich nahm sie ihm ab. Die Mütze behielt er auf dem Kopf. Der Stock stand in Griffnähe neben dem Zeitschriftentischchen. Niemand las; die Leute sassen da und schwiegen.
«Kabine zwei», sagte der Pfleger. Doch, doch, ich könne bei der Konsultation dabeisein, selbstverständlich.
Ich half dem Vater aus dem Hemd, hängte Leibchen, Hemd, Jacke und Mütze an den Haken.
Der Pfleger warf vom Gang her einen Blick herein.
«’s geht nicht mehr lange. – ’s ist halt eng hier. Lassen Sie ruhig die Tür einen Spaltbreit offen.»
Der Vater auf dem Klappsitz. Ich stand gegen die Wand gelehnt. Der Kittel im Plastiksack, die ausgezogenen Kleider füllten die Kabine mit Rauchergeruch. Ich hatte den Vater seit Jahren nicht mehr mit nacktem Oberkörper gesehen, eine braune, glatte Haut.
Er zeigte mir die Narbe. «Lätt hat gar nicht gewusst, was es gewesen ist. Er weiss es auch heute noch nicht. Vielleicht schickt er mich deshalb hierher. Hat’s einfach, hopphopp, herausgeschnitten.»
Die Narbe sah aus, wie Narben aussehen.
Er blickte sich in der Kabine um, klopfte mit der flachen Hand gegen den Kunststoffbelag. «Vier Mann hätten hier ohne weiteres Platz», sagte er. Nur müsste man sie aufeinanderbeigen.» Er griente. «Oder zuerst Corned beef aus ihnen machen.»
Ich hatte gefürchtet, er sei ungewaschen zur Konsultation gekommen. Fast hätte ich ihn vor dem Mittagessen gefragt, ob er nicht noch duschen wolle. Kein Schweissgeruch. Nur die Kleider stanken nach abgestandenem Zigarettenrauch. Aber die Kleider würden in der Kabine bleiben.
Es war warm. Ich stiess die Tür zum Gang hin etwas auf. Zum zweitenmal kam der Pfleger, ein junger Mann mit einem Schnäuzchen im breiten Gesicht. «Geht’s?» fragte er. «Prima», sagte der Vater.
Eine Weile danach rumpelte es in der Kabine daneben gegen die Wand. «Da ist jemand vom Sitz gefallen», sagte der Vater. «Ohnmächtig geworden im Schwitzkasten», fügte er hinzu, eine Grimasse ziehend.
Und wieder eine Weile danach: «Geduld muss man haben.» Und: «Leider geht sie mir langsam aus.» Er drehte sich zum Kleiderhaken hin, fingerte aus der Innentasche der neuen Jacke den Busfahrplan. «Da, schau mal nach, wann ein Postauto ins Breitmoos hinausfährt. Grosse Auswahl habe ich sicher nicht.»
Er nickte zu den Abfahrtszeiten, die ich ihm vorlas.
«Jucken tut’s einfach noch», sagte er. «Aber wenn’s juckt, so heilt’s auch, sagt man, oder?»
Und nach einer Pause:
«Hab’ immer gesundes Blut gehabt. Aber eine Sauerei ist’s halt doch gewesen.»
Er hob den linken Ellenbogen und kratzte sich mit der rechten Hand in der Achselhöhle, dann im Brusthaar.
Beidseits eine Tür, niedrige Decke, Neonlicht. Geräusche vom Gang her; Geräusche jetzt auch vom Sprechzimmer her.
«So, hü, los, komm endlich!» Gereizt blickte er auf die Klinke neben seinem Kopf. «Mach vorwärts, ich will nicht anwachsen hier.»
Doktor Boren nahm den Brief aus dem Kuvert, überflog ihn.
«Dann wollen wir uns das mal ansehen», sagte er mit Altmännerjovialität. «Am besten, Sie bleiben hier stehen, so, gegen das Fenster gekehrt, damit wir schön Licht haben darauf.»
Der Vater hielt sich, leicht vornübergebeugt, an der Stuhllehne fest. Der Doktor, ein langer, hagerer Mann, bückte sich zum Rücken hinunter. Die Hand fuhr über die Haut, tastete ab. «Ja, gut, hm, drehn Sie sich ein wenig, ja, gut so, hm.»
Er zeigte mir, was er sah. Blassrote kleine Knoten, locker um die weinrote Narbe herum angeordnet. Und ein drei Finger breiter Strang, der sich von der Seite schräg runter zur Hüfte zog.
«Eingeschickt hat man also nichts?» Er griff nochmals zum Brief und warf einen Blick hinein.
«Und wie hat die Sache genau ausgesehen – ich meine: vor der Operation?» Ich schilderte ihm das Geschwür. Dessen Farbe wollte er wissen. Ich erinnerte mich noch daran.
«Bestrahlen müssen wir auf jeden Fall», sagte er; diktierte dem Pfleger ein paar Fremdwörter und Zahlen.
«Am besten, wir beginnen schon heute. Im ganzen ist mit zehn bis fünfzehn Bestrahlungen zu rechnen. Für den Anfang dreimal pro Woche. Und nächsten Mittwoch kommen Sie wieder zu mir: Wir entnehmen eine Gewebeprobe. Das wird nicht weh tun. Nur ein Stich. Um genau festzustellen, was es gewesen ist. Je nachdem ändern wir dann das Programm noch ab.»
Er hielt verschiedene Sperrholzschablonen an den Rücken, probierte Kombinationen aus. Fuhr mit einem schwarzen Stift um die Schablonen herum, markierte Eckpunkte. «Zuerst hier – dann hier.» Erneut wurden dem Pfleger Fremdwörter, Zahlen diktiert.
«Also, wir sehen uns am nächsten Mittwoch wieder. Um drei. Die Zeiten fürs Bestrahlen machen Sie mit der Schwester ab.»
Während der ganzen Konsultation hatte er nur zu mir gesprochen.
Jetzt waren wir entlassen.
Er streckte dem Vater die Hand hin.
«Auf Wiedersehen», sagte der Vater. «Und danke noch.»
«Nichts zu danken.»
Der Pfleger führte uns zur Kabine zurück. Kaum hatte ich die Tür hinter mir zugezogen, sagte der Vater: «Der spinnt ja – dreimal in der Woche hierherkommen!»
Er hatte Mühe, mit dem Arm in den Hemdsärmel zu fahren. Ärgergefuchtel.
Die Kabine schien jetzt noch enger als vorher zu sein. «Da verlier’ ich jedesmal einen vollen halben Tag. Was denkt sich der eigentlich!»
Er schimpfte vor sich hin.
Das Bestrahlen – auf der anderen Seite der Röntgenabteilung – war rasch erledigt. Wir vereinbarten mit der Schwester, dass er jeweils morgens um acht Uhr kommen würde.
«’s ist zwar ein Mist», sagte er, als wir langsam die Treppe zur Eingangshalle hinaufstiegen. «Ich hätte Gescheiteres zu tun, als hier Vormittage lang Zeit zu verplempern. Am Freitag meinetwegen komme ich noch. Aber für nächste Woche garantiere ich nichts.»
Siebenuhrnachrichten, Morgenjournal. Während Sophie sich im Badezimmer die Lider anstrich, präparierte ich Salami- und Käsesandwiches. Da war der Vater bereits im Postauto unterwegs. Weil sie im Breitmoos erst um Viertel nach sieben das Frühstück servieren, fuhr er um zehn vor sieben mit leerem Magen weg.
Sass zwanzig nach acht – das Bestrahlen war schon vorüber – an einem der runden Tische in der Eingangshalle.
Für Patienten ist das Spitalrestaurant vormittags geschlossen. Wir tranken Tee aus dem Automaten, stark gesüssten, mit Zitronengeschmack. Der Vater klappte das Sandwich auseinander, nahm sich zuerst die Salamischeiben heraus. Er habe Salami immer gern gehabt. Das bloss noch mit Butter bestrichene Brot ass er zum zweiten Becher Tee. Seit ich wusste, dass er gern von diesem Tee trank, nahm ich immer genug Kleingeld mit, Fünfziger, Zehnrappenstücke.
Wir schauten der Putzequipe zu, einer Frau und einem Mann, die miteinander italienisch sprachen. Der Mann schob die Bohnermaschine über den Steinboden; die Frau leerte die Aschenbecher, fuhr mit einem Lappen über Tische und Stühle hin. Einige Tische waren noch beiseite gestellt, damit Platz war für die Putzarbeit.
Der Vater erklärte mir, warum Natursteinböden für solche Eingangshallen die besten Böden seien.
Wenn er die Salamischeiben, die Brotschnitten gegessen hatte, wischte er die Bröslein vom Tisch. Das Käsesandwich nehme er später, vielleicht erst im Bus, oder er spare es auf bis zum Nachmittag.
Am ersten Bestrahlungsmorgen hatte ich ihm noch nichts zu essen mitgebracht. Und er hatte mich, als ich erfuhr, dass er mit leerem Magen hergefahren war, davon abhalten wollen, in den nächsten Laden zu gehen, um ihm etwas zu kaufen. Ich war dann aber doch zum Konsum am Schützenplatz hinuntergerannt, und er hatte mit Appetit in das Schinkenbrot gebissen. Jetzt brachte ich die Salami- und Käsebrote von zu Hause mit. Die Salamibrote auf seinen Wunsch hin mit Butter, die Käsebrote mit Senf bestrichen.
Hätte er im Heim etwas gesagt, so hätte er wahrscheinlich jeweils früher frühstücken können. Aber er sagte nichts. «Sie wissen ja, dass ich vor sieben wegfahren muss. Wenn sie nicht selber auf den Gedanken kommen, mir etwas hinzustellen, hat’s ohnehin keinen Zweck.»
Ein Auto wäre jetzt praktisch gewesen. Seit anderthalb Jahren hatten wir keines mehr. Ob wir denn eines brauchten, hatte Sophie gefragt, als der übliche Eintausch-Neukauf in der Renaultgarage fällig geworden war. Ins Büro ging Sophie seit je zu Fuss, mein eigener Arbeitsweg – damals hatte ich noch einen – war .auch nicht lang, Ausflüge unternahmen wir selten, und in den Ferien konnte man ebensogut mit dem Zug verreisen.
Es wäre praktisch gewesen. Den Vater abholen im Breitmoos draussen, ihn zurückbringen ins Breitmoos. Nicht diese Busfahrten und das stundenlange Herumhocken in der Eingangshalle.
Wie er am Tisch sass und den Leuten zusah, die hereinkamen, hinausgingen, die Halle durchquerten, am Schalter standen. Er zeigte keine Ungeduld, jetzt, da er sie wieder hinter sich hatte, die Viertelstunde im Untergeschoss: zur Umkleidekabine geführt werden, Hemd und Leibchen ausziehen, sich bäuchlings unter die Maschine legen, sich ruhig halten; Leibchen und Hemd anziehen, ein paar Worte mit der Schwester wechseln und zurück in den Gang hinaus. Um halb neun spätestens war das jeweils vorbei. Und der Bus in Richtung Breitmoos fuhr erst um elf.
Wie er dort am Tisch in der Eingangshalle sass. In regelmässigen Abständen klaubte er eine neue Zigarette aus dem Päckchen. Mit einer energischen Bewegung löschte er das Zündholz, warf’s in den Aschenbecher.
Die Jahreszeit kenntlich an den Blumenkisten, an der Frische des Pappellaubs. Das Wetter wechselhaft, mal hell, mal düster. Wolken zogen Schatten über den Parkplatz hin. Taxis bogen zur Rampe ein. Tulpenbouquets wurden am Schalter abgegeben, für den Kiosk Glacen angeliefert. Zwei Schreiner ersetzten Fenster beim Windfang des Eingangs.
Die Kühle, wenn es in der Nacht geregnet hatte. Manchmal sah ich den Bus zur Haltestelle fahren, wenn ich erst unten bei der Kurve war. Erreichte ich dann das Spital, hatte der Vater bereits die Strasse überquert, stand auf dem Trottoir, auf den Stock gestützt, blickte mir entgegen.
Wir benutzten nicht mehr den Haupteingang, sondern die Personaltür, die neben der Rampe direkt ins Untergeschoss führt.
Beeilen konnte man sich nicht. Seit dem Unfall vor zwölf Jahren, als er in der «Traube» in Birchlen oben die Treppe runtergestürzt war und sich dabei rechts das Schienbein und den Knöchel gebrochen hatte, ging er nur noch mühsam.
Die Schiebetüren wichen beiseite, schoben sich hinter uns zu. Korridore im Souterrain. Es roch nach Putzmitteln und Desinfektion. «Ah, da durch. Immer den Pfeilen nach.» Und: «Jetzt find’ ich’s dann bald allein.»
Er hängte die Mütze über den Haken, ich half ihm aus der Jacke. Wir setzten uns nebeneinander auf die Plastiksessel.
«So, Herr Haller.»
«Ich komme schon.»
«Kabine drei.»
«Kabine drei?»
«Ja, Nummer drei, wie immer.»
Ich hörte noch ihre Stimmen hinter der Wand.
Beim Röntgensaal drüben wurden Patienten auf Betten durch die Tür hineingestossen. Personal klapperte auf Holzpantinen vorbei. Die «Schweizer Illustrierte», ein Märzexemplar, zeigte die neuen Trends in der Bademode.
«Adieu, Schwester, einen schönen Tag.»
Breitbeinig kam er den Gang entlang.
«Da wären wir wieder. ’s ist rasch gegangen.»
Ich half ihm in die Jacke.
«Moment, die Mütze.»
Ich reichte sie ihm; schräg zog er sie sich über die Stirn herunter; langte nach dem Stock.
«Gehen wir einen Tee trinken in der Halle oben?»
«Zeit hätten wir.»
«Aber seichen muss ich zuerst noch rasch», fügte er hinzu, als wir uns dem Lift näherten. «Sonst mach’ ich mir noch die Hosen nass. Gestern habe ich zweimal die Unterhosen wechseln müssen. Wetten, das Bestrahlen ist schuld. Muss immer gleich rennen. – Meinetwegen; besser, man kann noch, als dass man nicht mehr kann.»
Die Tür zu den Toiletten fiel hinter ihm zu. Ich wartete im Gang.
Zigarettenpäckchen öffnen, Virginies, ohne Filter, blauweiss. Am Kiosk des Spitals waren sie nicht erhältlich; er kaufte sie im «Löwen»; Frau Budmiger, die Wirtin, besorgte sie ihm. Er riss das Päckchen oben rundum auf, knüllte das Deck- und das Silberpapier zusammen. Nicht nötig, nur ein kleines Loch aufzureissen, dass knapp vier, fünf Zigaretten sichtbar wurden und bequem herausgezogen werden konnten: rundum riss er das Päckchen auf – er wusste, es würde bald leer sein, er würde es nicht tagelang herumtragen, die Zigaretten würden nicht rausfallen, kein Tabak würde in die Jackentasche herauskrümeln. Zwei Päckchen rauchte er im Tag, seit über fünfzig Jahren, bisweilen waren es auch mehr als zwei Päckchen im Tag gewesen. Es hatte sich ihm nicht auf die Lunge geschlagen, sterben würde er jetzt an was anderem. Zwar der kurze Atem war da, der Raucherhusten, doch daran würde er nicht sterben, noch lange nicht.
In Morgenröcken, Trainingsanzügen, Bademänteln sassen die Leute in der Halle. Pantoffeln, Sandaletten, eingegipste Beine, Metallkrücken, Infusionsständer. Die Frauen hatten sich mit der Schminke Mühe gegeben. Einige sahen unwahrscheinlich gesund aus, einige waren grau und gelb im Gesicht.
Männer in grünen Blusen und Hosen blieben für einen Schwatz stehen. Das Fräulein bei der Auskunft hatte viel zu tun. Im Raum hinter der Abschrankung verteilte ein Mann Post in die Fächer.
«Finger weg – das kann ich selber!» protestierte er, als er sich auf die Untersuchungsliege hinaufzog und der Pfleger ihm dabei helfen wollte. «Potz, bequem ist’s da oben! Weckt mich dann, falls ich eingeschlafen sein sollte, wenn Ihr fertig seid.»
Der Doktor suchte in der Plastikschachtel rum, die ihm der Pfleger hingestellt. Die richtige Pinzette fehlte. Der Pfleger holte ein anderes Besteck im Nebenzimmer.
Umständliches Hantieren mit Messerchen und Tupfern, als hätte der Doktor dergleichen seit Jahren nicht mehr gemacht.
«Geht’s, Herr Haller?»
«Warum sollte es nicht gehen?»
Über den gebeugten Rücken des Arztes hinweg lächelte der Pfleger zu mir herüber. Auch er schaute zu, hatte nichts zu tun.
Der Vater lag auf dem Bauch, den Kopf zum Fenster hin abgewinkelt. Mit der rechten Hand hielt er sich an der Liege fest. Der linke Arm hing herunter. Die Hosenbeine waren etwas hinaufgerutscht; der eine Socken an der Wade oben, der andere schief um den verdickten Knöchel gekrempelt. Am frischen Profil der Gummisohlen sah man, dass die Turnschuhe erst kürzlich gekauft worden waren.
Gewebeprobe entnehmen, nannten sie das.
Ein Pflästerchen drauf – von der Liege herunterrutschen.
«Hat’s weh getan?»
«Nicht die Spur.»
«In einer Woche kommen Sie wieder vorbei. Dann wissen wir mehr. Und sehen auch, wie das Bestrahlen inzwischen angeschlagen hat.»
Kamillosansalbe verschrieb ihm der Doktor eine Woche darauf, als die Haut am Rücken violettrot war. Die Strahlendosis war zu gross gewesen.
Die Behandlung wirke, sagte der Doktor. Er sei selber darüber erstaunt, wie gut sie wirke. Die diversen Knoten seien schon schön zurückgegangen. Man sei auf dem rechten Weg. Im jetzigen Zeitpunkt allerdings sei es angezeigt, ein wenig zu pausieren. Man müsse natürlich später nochmals. Doch die Haut solle sich zuerst ein wenig erholen können.
Der Vater fluchte. Nicht vor dem Doktor, da hielt er sich zurück. Aber sobald wir in der Kabine waren, legte er los, dass man’s im Konsultationszimmer bestimmt mithören konnte.
«Soll er’s doch hören! Wart nur, dem werd’ ich auch ins Gesicht hinein noch meine Meinung sagen. Nicht ihn brennt’s am Rücken jetzt! Pausieren ein wenig – dass ich nicht lache! Das hätte ihnen früher in den Sinn kommen können, haben den Rücken jeden zweiten Tag vor ihrer Nase gehabt! Sind alles die gleichen Deppen, tun wichtig und wissen nichts. Wenn sie’s noch zugäben – aber das tun sie nicht. Doktern weiter drauflos. Hopp, hü! ’s ist ja nicht ihr eigener Buckel, den sie unter die Maschine legen. Diesen Sonnenbrand da hätte ich billiger haben können.»