Читать книгу Gestatten, meine Name ist Paul - Vera Schreiner - Страница 8

Das Findelkind

Оглавление

Leider habe ich keinerlei Erinnerungen mehr an meine Geburt oder gar an meine Eltern. Mein Leben begann erst an einem Tag, an dem man von mir behauptete „Das muss ein ganz junger Kater sein.“ Diese Feststellung machte meine Menschenfrau Anne, die es wissen musste, denn sie war Tierärztin. Ihren Mann Micha lernte ich weniger verträglich kennen, wenn auch alles im selben Moment geschah. Am Abend beim Heimkommen in ihr Häuschen hatten sie mein klägliches Wimmern zum ersten Mal vernommen, aber noch daran geglaubt, dass ich mich in der Hecke oder anderswo im Garten herumtreiben würde. Welcher Mensch kam auch schon auf die Idee, einen Kater in einem Kanal tief unter der Erde zu suchen? Stolz macht mich allerdings die Erkenntnis, dass ich wohl schon in jungen Jahren über ein beachtliches Stimmvolumen verfügt habe. Aber vielleicht war es auch nur die reine Verzweiflung.


Anne und Micha hatten zwei Praxen in ihrem Haus. Anne im ausgebauten Kellergeschoß ihre Tierarztpraxis und Micha in der erste Etage seine Praxis für Kinder- und Jugendmedizin. So jedenfalls soll es an seinem goldenen Schild am Eingang stehen. Aber ich kann ja nicht lesen, so muss ich glauben, was mir meine Menschen erzählen. Als die ersten Patienten am Morgen die beiden auf mein klägliches Miauen in ihrem Gar-

ten aufmerksam machten, war es Anne, die Micha aus seinen Räumen holte, um gemeinsam

nach mir zu suchen. Sie standen im Vorgarten, auf dem Micha so stolz war. Gerade zwei Wochen vorher hatte er ihn zu einem Außenbezirk seines Eisenbahner-Hobbies ausgebaut. Zwei Lokomotiven, die echten Dampf erzeugten, fuhren durch eine wunderschöne Landschaft, mit Bergen und einem Schloss. Für die Kinder, die zu Anne und Micha kamen, gab es viel zu staunen und ihre Augen glänzten. Anne hatte selbst Spaß daran gehabt, mit welcher Freude ihr Micha wochenlang an der Anlage gebastelt hatte. Drinnen lebte er sein Hobby auf dem Dachboden aus und Anne musste erst um Erlaubnis bitten, bevor sie in sein Heiligtum eintreten durfte. Hier draußen hatten alle etwas davon. Mit ihren Worten: „Das kommt aus der Erde, Micha“, traf sie genau ins Schwarze. „Was heißt aus der Erde?“, schwächte Micha ihre Feststellung ab. „Na von unten eben. Vielleicht liegt da ein Kanal“, versuchte sie es mit einer weiteren Erklärung. „Natürlich liegt da ein Kanal? Alle Hausanschlüsse gehen durch den Vorgarten!“ Micha war schon klar, was sie da meinte. Aber er wollte es nicht wahrhaben. „Wir müssen graben, Micha.“ „Und meine Anlage?“ männlicher Protest keimte auf. „Die kannst du doch wieder aufbauen. Denk doch bloß mal an die arme Katz’ da unten.“ Michas Gedanken kreisten in seinem Kopf. Aber bevor er noch weitere Einwände ausstreuen konnte, war Anne schon unterwegs zur Scheune, um zwei Schaufeln zu holen. „Was willst du denn damit “? wunderte sich Micha. „Na graben“, kam es zurück. „Da rufen wir doch wohl besser einen Fachmann“, gab Micha zu bedenken. „Ich muss sowieso erst mal das Ganze in der Mittagspause abbauen.“ „Nichts da in der Mittagspause. Das Tier ist schon seit gestern Abend da drin, da wird es höchste Zeit, dass wir gleich anfangen. Kümmere du dich um deine Bahn, ich ruf’ bei der Feuerwehr an.“ Anne sprachs und verschwand im Haus. „Und unsere Patienten“? rief er ihr nach, doch das hörte sie schon nicht mehr. Außerdem hatte er wohl gar nicht mitbekommen, dass Tiere samt ihrer Besitzer und Kinder mit den dazugehörigen Angehörigen längst mit im Vorgarten standen, und versuchten mein klägliches Miauen auszumachen. „Es kommt von links“, gab es eine Meinung. „Ach was, viel weiter rechts“, kam der nächste Einwurf. „Die Feuerwehr wird’s schon richten, die haben Erfahrung mit so was“, war die bisher beste Erklärung, die von der aufgeweckten Caro kam, die gerade bei Micha ihr Praktikum machte. Da sich alles ein bisschen hinzog, obwohl viele Hände Micha beim Abbau der Anlage halfen, kam Rita, die gute Seele des Hauses, mit einem großen Tablett, auf dem Säfte und Gläser standen, in den Vorgarten. „So, liebe Helfer. Tatkräftige Unterstützung muss belohnt werden.“ Schon bald hielt sie nur noch das leere Tablett in Händen und schaute zu, wie immer weniger von Michas Eisenbahnerwelt übrig blieb. Mitunter versuchte er die fleißigen Hände um sich herum zu stoppen, aus Angst um seine Bahn, doch die Helfer waren unbeirrbar und dachten alle nur an mein Schicksal.

Die Feuerwehr rückte ohne tönendes Signal und Blaulicht an. Bevor sie in den Garten kamen, be-

waffneten sich zwei von ihnen mit Leitern, die wohl vermuteten, mich von einem Baum herunterzuholen. Nicht nötig“, rief Micha ihnen zu. „Die Katze ist hier unten“, und er zeigte auf die Erde. „Ach herrje“, entfuhr es einem der Feuerwehrleute. „Da brauchen wir einen Minibagger.“ „Einen Minibagger?“, ungläubig wiederholte Micha seine Worte. „Sie wollen doch wohl nicht den ganzen Vorgarten aufbuddeln. Ich habe drinnen Zeichnungen, da können wir nachschauen wo der Kanal liegt.“ Als hätte es Anne geahnt, kam sie gerade mit einer großen

Zeichenrolle unter dem Arm wieder aus dem Haus. „Trotzdem“, entschied einer der Feuerwehrleute nach dem Studium der Pläne. „Minibagger geht viel schneller. Mein Kollege telefoniert schon.“ Micha hatte es bereits das Herz gebrochen, seine Anlage so schnell und unprofessionell abbauen zu müssen. Jetzt gab es Menschen, die auch noch seinen liebevoll angelegten Vorgarten zerstören wollten. Alles wegen mir der Katz. Der Minibagger war so schnell da, dass Micha nicht lange seinen wehmütigen Gedanken nachhängen konnte. Rita hatte ihn inzwischen mit einem großen Glas Orangensaft versorgt, und Anne sich bei ihm eingehakt. Sie wurde nicht müde, ihm seinen Arm zu streicheln und Mut zuzusprechen, dass doch nun bald alles gut werde. Doch Micha war nicht dieser Überzeugung.

Zwei Stunden später wurde ich ans Tageslicht gehoben. Applaus brandete auf und tatsächlich,

ich hörte das Klicken mehrerer Fotoapparate. Inzwischen war das halbe Dorf vor unserem kleinen Häuschen eingetroffen. Die Dame von der Presse, die zuständig für unsere Regionalzeitung war, wollte sofort ein Interview mit meinen Menschen machen. „Jetzt nicht“, entschied Anne. „Ich muss mich erst mal drinnen um das Tier kümmern.“ „In einer Stunde geht alles wieder seinen gewohnten Gang“, ließ Rita die tierischen und menschlichen Patienten wissen. Dann folgte sie gemeinsam mit Caro meinen Menschen. Durch das Blitzlichtgewitter und die Tageshelligkeit hatten sich meine Augen zu Sehschlitzen verkleinert. Ich machte wohl nicht den kräftigsten Eindruck bei der Erstuntersuchung meiner Menschenfrau. Auf die Feststellung, dass ich ein ganz junger Kater sein muss, folgte die Diagnose: „Den kriegen wir schon wieder hin.“ Micha, Rita und Caro standen hinter uns und horchten auf Annes Worte. „Nicht wahr, Paul, du bist doch eine Kämpfernatur, allein deine Stimme…“ „Willst du ihn nicht lieber Ching oder Chang nennen bei den Schlitzaugen“? warf Micha ein und war noch immer ein bisschen unglücklich bei dem Gedanken an seinen Vorgarten. „Aber nein, er gewöhnt sich schon wieder ans Tageslicht. Dann wird er uns seine wunderschönen Augen von ganz alleine zeigen.“ Liebevoll knuddelte sie mich zärtlich mit beiden Händen und entließ mich vom Untersuchungstisch. Vorher gab es aber noch eine Aufbauspritze, wie Anne dieses schrecklich pieksende Ding nannte. Ich schrie laut auf und meine Menschen verglichen mein Katzenleid mit dem Geburtsschrei eines Kindes. Was musste ich auch ausgerechnet in einen Kanal stolpern, der zu einer Tierarztpraxis führt?


Katerschicksal


Gestatten, meine Name ist Paul

Подняться наверх