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Kapitel 6

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Das Beratungszimmer ist sehr gemütlich. Es ist wohlig warm, ein dicker, weicher Teppich liegt in der Mitte des Raumes und darauf stehen zwei knallige Couchsessel aus orangefarbenem Leder. Es gibt auch eine rote Couch, bei deren Anblick Patrizia an Freud denken muss und daran, dass sie eine eigene Therapeutin hat. Die Beraterin heißt Birgit, ist sehr jung und erinnert Patrizia an jemanden.

„Nehmen Sie doch Platz“, sagt diese. „Machen Sie es sich gemütlich. Und der kleine Mann natürlich auch.“ Sie lächelt Julius freundlich an. Er enttäuscht sie nicht und erwidert großzügig ihr Lächeln.

„Jetzt fällt es mir ein. Wissen Sie, wem Sie ähnlich sehen?“, fragt Patrizia.

„Was meinen Sie?“

„Sandra Bullock!“

Birgit lächelt wieder. „Ja, das habe ich tatsächlich schon öfter gehört. Ich kann das aber gar nicht erkennen.“ Sie wirkt dennoch geschmeichelt und scheint gegen den Vergleich nichts zu haben.

Patrizia setzt sich und Julius steuert auf den kleinen Tisch zu, der die perfekte Höhe für ihn hat. Freudig zieht er sich hoch und grapscht nach der Taschentuchbox. Patrizia will sie automatisch wegstellen.

„Nein, lassen Sie doch“, sagt Betreuerin Birgit und macht eine abwehrende Geste mit der Hand.

„Er wird sie ausräumen“, erklärt Patrizia.

„Macht auch nichts.“ Sie lächelt großmütig, verständnisvoll.

„Na gut. Dann ist er wenigstens beschäftigt.“

„Gut, also fangen wir an. Zu Beginn werde ich Ihnen einige Standardfragen stellen. Natürlich werden keine Daten von uns weitergegeben. Alles wird streng vertraulich behandelt.“

Birgit Bullock will den Namen von Mimmo, sein Alter, seinen Beruf wissen und fragt, wo er wohnt oder wo er sich jetzt aufhält. Patrizia sagt ihr, was sie hören will, hat aber kein gutes Gefühl dabei. Am liebsten würde sie nur über sich sprechen. Sie hätte gern sofort eine Lösung für alles. Am liebsten würde sie mit einem Augenblinzeln aus diesem Alptraum aufwachen, und alles sollte gut sein.

„Wissen Sie, ich bin eigentlich eine sehr selbständige Frau, die ihren Weg geht. Ich lasse mir nicht gerne was sagen, ich bin autonom. Ich bestimme gerne selbst, was gut für mich ist. Ich treffe meine Entscheidungen gerne – wie soll ich sagen? – ohne fremde Hilfe. Jeder Freundin hätte ich geraten, zu gehen. Jede andere Frau hätte ich gefragt, ob sie noch normal ist, wenn sie mit so jemandem zusammen bleibt. Nach alldem, was passiert ist. Jede hätte ich für blöd gehalten. Jetzt weiß ich, dass ich oft vorschnell geurteilt habe. Und voreilig verurteilt. Wenn man eine Situation nicht selbst erlebt hat, kann man sich noch so bemühen, sich hinein zu fühlen, aber es ist eigentlich unmöglich. Es ist wie eine Schwangerschaft. Wenn man sie nicht selbst erlebt hat, kann man sich nicht vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn man sein Baby zum ersten Mal spürt.“ Patrizia macht eine Pause. Sie schaut nach Julius und fährt fort: „Ich fühle mich wie in Trance. Wissen Sie, vorhin, im Supermarkt, wäre ich fast ohnmächtig geworden. Ich habe das Gefühl, komplett neben mir zu stehen. Das ist nicht mein Leben. Das kann doch nicht mein Leben sein ...“ Patrizia blinzelt hektisch mit den Lidern, um ihre Tränen zu unterdrücken. Wenn sie jetzt zu weinen anfangen würde, würde sie nicht mehr aufhören können. Vor Julius will sie nicht zusammenbrechen. Sie schluckt den Kloß in ihrem Hals und konzentriert sich auf die Schneeflocken draußen.

Birgit blickt sie mitleidig an, mit ihren großen, braunen, sanften Rehaugen. Sie kann nicht nachempfinden, was Patrizia gerade durchmacht. Sie hat so etwas noch nie erlebt. Sie hat kein Kind. Sie lebt sicher in einer gemütlichen Wohnung mit einem lieben Freund. Und wahrscheinlich haben sie einen großen, treuherzigen Hund, liebe Eltern, Geschwister, Tanten, Cousins und Onkel. Liebe Freunde, guten Wein, schöne Geschenke und tolle Urlaube.

„Patrizia. Patrizia! Hören Sie mir zu?“

„Entschuldigung, ich bin jetzt mit meinen Gedanken vollkommen abgeschweift“, entschuldigt sich Patrizia.

„Ja, das habe ich gemerkt.“ Birgit schmunzelt. Sie nimmt es nicht übel. Solche Situationen wird sie kennen. Julius hat inzwischen die Taschentuchbox ausgeräumt und kaut an einem Zipfel. Patrizia lässt ihn. Das schadet nicht und er gibt noch ein wenig Ruhe.

„Wo waren wir?“

„Sie sind noch ziemlich verwirrt, was total normal ist in dieser Situation“, sagt Birgit. Die Situation, die Situation, denkt Patrizia und zwingt sich, dem Gespräch zu folgen.

„Sie wissen, dass Sie hier so lange bleiben können, wie Sie möchten?“

„Nein, ja. Wirklich?“

„Ja. Das können Sie.“

„Wer bezahlt das denn?“

„Das wird vom Staat finanziert. Dafür gibt es spezielle Geldquellen. Aber halten wir uns nicht damit auf. Kümmern wir uns darum, wie Sie weitermachen können. Welche Schritte Sie setzen können, damit Sie zu ihrem Leben zurück finden.“

„Ja. Ich weiß im Moment nicht, was ich tun soll, noch wo ich anfangen soll. Ich finde es schon so traurig, dass ich mit meinem Sohn hierher flüchten musste und keine Familie habe, die uns aufgenommen hat.“

Tränen kullern über Patrizias Wange. Sie kann sie nicht mehr zurückhalten. Julius blickt seine Mama verwundert an.

„Dadada“, sagt er und versucht, sich an ihr hoch zu ziehen. Patrizia lächelt ihn an, hebt den Kleinen hoch und drückt ihn an sich. „Wir haben nur uns“, schluchzt sie.

Birgit reicht ihr ein Taschentuch, das sie vom Boden aufhebt, weil Julius die Box leer geräumt hat.

„Ich kann Ihnen leider kein anderes anbieten“, lächelt sie entschuldigend und Patrizia lächelt zurück. Etwas gefasster widmet sie sich wieder ihrer Beraterin.

„Ich habe auch so ein schlechtes Gewissen, weil ich Julius aus seiner vertrauten Umgebung reiße. Ich möchte so gerne ein ruhiges, gemütliches Zuhause für ihn und mich aufbauen.“

„Patrizia, Sie können eine einstweilige Verfügung gegen Ihren Partner erwirken“, sagt Birgit.

„Ich weiß. Es gab auch schon einmal ein Betretungsverbot, das allerdings nach drei Tagen wieder aufgehoben wurde.“

„Das ist interessant. Normalerweise werden die nicht so leicht aufgehoben.“

„Ja, das hat mir die Dame vom Gewaltschutzzentrum auch gesagt. Aber ich habe bei der Polizei auch wirklich insistiert. Das war allerdings, bevor es zur großen Eskalation kam.“

„Dennoch, Sie können das erwirken. Wir würden Ihnen eine Rechtsberatung zur Verfügung stellen. Jemand von uns würde Sie auch überall hin begleiten. Sie bräuchten keine Angst zu haben.“

„Wie lange würde das denn dauern?“

„Sie meinen, wie lange sich Ihr Freund nicht nähern beziehungsweise in die Wohnung kommen dürfte?“

„Ja.“

„Ein halbes Jahr, das auf ein ganzes ausgedehnt werden könnte.“

„Und dann? Was passiert danach?“, will Patrizia wissen.

„Nun ja, es wäre ein erster Schritt“, weicht Birgit aus.

„Wissen Sie, wenn Mimmo mir wirklich etwas antun will, findet er eine Möglichkeit. Das ist also keine Lösung für mich. Was ich brauche, was ich mir wünsche, ist Ruhe. Ich will ein friedliches Leben für mich und meinen Sohn. Ich will nicht, dass mein Sohn in dieser gespannten Atmosphäre gepaart mit Angst aufwächst. Ich will nicht, dass seine Schulfreunde ihn bemitleiden oder hänseln. Ich will, dass Julius glücklich ist. Und ich selbst muss ein ruhiges Gewissen haben. Das bedeutet, dass ich eine Entscheidung treffen muss, die für alle Beteiligten, also auch für Mimmo, das Beste ist.“

„Sie sind sehr gut reflektiert“, bemerkt Birgit anerkennend. „Sie sollen nur wissen, welche Möglichkeiten es gibt, und dass Sie hier alle Unterstützung bekommen werden, die Sie brauchen und annehmen können.“

„Danke.“

„Und was die anderen Mitbewohnerinnen betrifft“, beginnt sie zögernd. „Ich weiß nicht, wie ich es am besten ausdrücke. Sollten Sie mit einigen Ausdrücken, Methoden, Umgangsformen – was auch immer – Probleme haben, kommen Sie bitte zu uns.“

„Ich weiß, was Sie meinen. Ich kann meine Ohren gut verschließen beziehungsweise ziehe mich schlimmstenfalls zurück. Ich möchte auch gleich sagen, dass ich Julius bei keiner der anderen Frauen in Obhut geben werde.“

„Das kann ich verstehen. Dafür werden wir auch eine Lösung finden. Zu mir in die Beratungsstunde können Sie ihn jederzeit gerne mitnehmen. Es ist ja wirklich unglaublich, wie brav er ist.“ Julius ist inzwischen auf Patrizias Schoß eingeschlafen und schnarcht leise vor sich hin. Draußen fallen noch immer dicke Schneeflocken vom Himmel, hier drin ist es so wohlig warm und Patrizia hätte sich am liebsten auch zum Schlafen in den gemütlichen Couchsessel gekuschelt.

„Soll ich Ihnen irgendwie helfen?“, fragt die liebe Birgit-Bullock-Frau.

„Wenn Sie mir nur die Tür aufhalten, ich trage ihn hoch. Vielleicht kann ich mich noch ein bisschen mit Julius zusammen hinlegen. Ich bin sehr müde.“

„Das verstehe ich. Ruhen Sie sich aus. Alles Liebe inzwischen. Bis morgen.“

Patrizia nickt nur, denn wieder schnürt sich ihre Kehle zu und sie will nicht mehr weinen.

Den Nachmittag verbringen Patrizia und Julius in ihrem Zimmer. Der Kleine spielt auf seiner blauen Spieldecke und Patrizia setzt sich vor ihren Laptop. Voller Freude fällt ihr ein, dass ihr Bruder einmal viele verschiedene Musiktitel darauf kopiert hat – zum Schreiben fehlt ihr die innere Ruhe –, und jetzt lässt sie Abba über den Media Player laufen. Sofort fühlt sie sich etwas besser, schnappt Julius und ausgelassen wirbeln die beiden in ihrem Zimmer im Frauenhaus zum Happysound, während draußen die Schneeflocken tanzen. „You can dance, you can jive, having the time of your life, oh ...

Dancing Queen

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