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1.

Im Senkenwald

Obioma lehnte sich gegen die kahle, von Wasser und Wind riffelig geschliffene Felswand ihres neuen Verstecks und seufzte.

»Ich mache mir Sorgen um Chione.«

Der TARA-Psi hatte sie erneut in einen Senkenwald gebracht, dieses Mal einen, der im Randbereich mit schroffen Sandsteinklippen durchsetzt war. Regen und Wind hatten das Gestein zerfurcht und tiefe Riefen hinterlassen, in denen Pflanzen Fuß gefasst und sich lange Rankenteppiche gebildet hatten.

Einer dieser Teppiche hing von der Kante des Überhangs, unter dem sie saßen, und schützte sie gemeinsam mit dem dichten Gestrüpp am Boden vor den Blicken abenteuerlustiger Waldwanderer. Zwar waren Passanten eher unwahrscheinlich, da in dieser Gegend die beiden Sonnen längst untergegangen waren und die Senkenwälder auch nicht der Ästhetik der Cairaner entsprachen, aber solange man nach ihnen suchte, durften sie nichts ausschließen.

Lionel bemerkte den schnellen Blick, den Dancer und Schlafner nach seinen Worten wechselten. Die beiden ehemaligen Kopfgeldjäger saßen am Eingang auf dem Boden, um mit den Geräten ihrer Anzüge die Pflanzen und die im Nachtdunkel liegende Umgebung im Auge zu behalten, während der TARA-Psi versuchte, eine Funkverbindung zur Welt außerhalb des Sternenradsystems herzustellen.

Die Geschwister waren im Gegensatz zu Obioma kampf- und einsatzerprobt. Sie mussten ihn und Chione eigentlich schon seit dem Zusammentreffen auf der FONAGUR als Klötze am Bein empfinden, selbst wenn sie nie etwas in der Art gesagt oder angedeutet hatten. Andererseits hatte Chione Einblicke in die Struktur des Sternenrads gewinnen können, die den anderen womöglich verborgen geblieben wären.

Nur brachte das alles nichts, wenn sie dieses Wissen nicht weitergeben konnten. Stattdessen hatten sie Chione verloren.

Dancer nickte ihrem Bruder kaum merklich zu und verließ ihren Platz, um sich dichter zu Obioma zu setzen.

»Chione wird schon nichts passieren«, sagte sie mit gedämpfter Stimme. »Ihr war völlig klar, worauf sie sich eingelassen hat, als sie das Treffen vereinbarte. Sie hätte den Cairanern auch einfach nur mitteilen können, wo der Junge ist, um dann als Letzte mit dem TARA-Psi herzuteleportieren. Aber sie wollte die persönliche Begegnung mit der Frau, die hinter uns her war, obwohl sie wusste, dass Dupa Emuladsu sie bei aller Dankbarkeit für die Rückkehr ihres Sohnes nicht laufen lassen würde.«

»Ich weiß.« Obiomas Blick wanderte von Dancers Gesicht abwärts zu dem SERUN-SR TT, den die Terranerin trug. Chione hatte nicht riskieren wollen, dass dieses Stück teurer Spezialtechnologie in die Hände der Cairaner fiel, und ihn Dancer überlassen. Dank der Anpassungsfähigkeit des Anzugs konnte die Ex-Kopfgeldjägerin ihn tragen, obwohl sie zehn Zentimeter kleiner war als Chione.

»Chione hat außer ihrem Eindringen in das Sternenrad nichts verbrochen, und sie wird den Cairanern schnell klarmachen können, dass sie nicht weiß, wo wir sind und was wir vorhaben.«

»Falls die Cairaner ihr glauben«, unkte Obioma. »Womöglich tun sie das erst, nachdem sie härtere Mittel angewendet haben. Außerdem erfüllt bereits unser Eindringen den Tatbestand der Spionage, und die wird in Kriegszeiten nicht selten mit dem Tod oder Schlimmerem bestraft.«

»Sind wir denn im Krieg? Mach dich nicht verrückt«, riet ihm Dancer. »Das bringt weder uns noch ihr etwas. Selbstverständlich werden wir versuchen, sie rauszuholen. Und bis dahin solltest du dich jeweils auf den gerade anstehenden Schritt konzentrieren und nicht über reine Eventualitäten nachdenken.«

Obioma hob die Schultern. »Im Moment steht aber nichts für mich an. Der TARA-Psi beherrscht seine internen Funkaggregate bestens, da braucht er mich nicht. Und als Wache tauge ich wenig. Ich habe den Funkspruch formuliert und codiert, den wir an die SYKE, die TARTS oder die THORA durchbringen wollen. Jetzt kann ich nur noch warten. Da bleiben solche Gedanken nicht aus, auch wenn mir klar ist, dass sie nur hinderlich sind.«

»Hast du in der Nachricht auch Chiones Gefangennahme erwähnt?«

»Natürlich. Immerhin könnte sie den Cairanern sagen, dass Atlan an Bord der THORA ist. Ich vermute zwar, dass die das aus der Überwachung des Funkverkehrs ohnehin schon wissen, aber die Bestätigung könnte da draußen durchaus etwas am Taktieren der Cairaner ändern. Allerdings bezweifle ich, dass der TARA-Psi Erfolg damit hat, eine Funkverbindung aufzubauen. Der Weiße Schirm blockt alles ab.«

Der Weiße Schirm. Der Gedanke an das energetische Gebilde, von dem das gesamte Sternenradsystem eingehüllt und geschützt wurde, verursachte bei Obioma ein unangenehmes Gefühl des Eingesperrtseins. Sie hatten sich an Bord eines abgeschleppten Naatraumers erfolgreich eingeschlichen, aber bislang sah der Hyperphysiker keine Möglichkeit, das Kunststück auch in umgekehrter Richtung zu vollbringen.

Andererseits hatten sie zwar einige interessante Informationen gesammelt, aber es war nichts Brisantes dabei, woraus sich ein Ansatzpunkt ergab, mit dem man die Macht der Cairaner aushebeln konnte. Somit gab es eigentlich keinen Anlass, sich über die Rückkehr Gedanken zu machen.

»Vielleicht findet Chione etwas heraus«, sagte er. »Immerhin sitzt sie nun vermutlich bei den Cairanern, während wir uns wieder einmal im Wald verstecken.«

»Nur, weil ich darauf hoffe, habe ich bei Chiones Plan mitgemacht. Allerdings werden wir anderen nicht auf der faulen Haut liegen bleiben. Im Moment ist allerdings Schlaf angesagt. Morgen geht es für uns dann wieder los. Wir sammeln Informationen und bereiten Chiones Befreiung vor.«

Obioma nickte. »Ich hätte nur gerne vorher noch ein wenig frische Luft und Bewegung. Denkst du, das ist drin?«

Dancer sah zurück zu ihrem Bruder, der mit den Achseln zuckte. Gänzlich ohne Maske wirkte er bis auf seine Glatze ähnlich durchschnittlich wie seine Schwester, an deren Gesicht bis auf die etwas größere Nase nichts Auffälliges war. Das war die Stärke der beiden – in Maske konnten sie etwas hermachen, wie zum Beispiel als das arkonidische Gladiatorenpärchen Pethora und Guulem da Gavvhad, das in einschlägigen Kreisen einen gewissen Ruhm genoss.

Doch wenn sie die Maske ablegten, konnten sie mit der Menge verschmelzen, und niemand würde sie mit ihren vorgespiegelten Personas in Verbindung bringen. Obioma konnte sich vorstellen, dass das hilfreich war. Selbst Dancers extrem hellblaue Augen, die immer ein wenig abwesend wirkten, verstärkten eher den Eindruck, dass man sie nicht wahrnehmen musste.

»Also gut«, sagte Dancer. »Sei aber vorsichtig. Eine Lampe mitzunehmen wäre zu gefährlich, weil jemandem das Licht auffallen könnte. Wir können es uns aber auch nicht leisten, einen Verletzten mitzuschleppen. Halt dich also von unwegsamem Gelände fern.«

»Mache ich.«

»Und bleib nicht zu lange weg. Wir wollen morgen früh vor Sonnenaufgang los.«

Obioma seufzte und murmelte: »Ja, Mama.«

*

Der Hyperphysiker schob sich durch den Rankenvorhang und hoffte, dass dieser kein Eigenleben entwickeln würde. Nach den Erfahrungen im vorherigen Senkenwald, in dem die Bäume sich langsam, aber messbar bewegt hatten, war ihm die Fauna von Ecaitan unheimlich geworden.

Vorsichtig stieg er anschließend durch ein niedriges Gestrüpp, die Blicke misstrauisch auf die Silhouetten der Zweige geheftet, und spürte endlich weichen, ein wenig federnden Waldboden unter den Stiefeln des Schutzanzugs. Er blieb stehen, schloss die Augen und ließ die kühle Luft tief in die Lungen dringen.

Die ätherischen Aromen waren einem rudynischen Nadelwald ähnlich, gleichzeitig waren aber einige Duftnoten beigemischt, die er als exotisch und erfrischend empfand. Ein wenig wie Zitrone oder Minze. Gegen die feuchte und modrige Luft nahe den Felsen war es ein reiner Genuss.

Als er die Augen wieder öffnete, hatten sie sich an die relative Dunkelheit gewöhnt. Ganz dunkel wurde es dank des Weißen Schirms nie. Das energetische Phänomen wurde aus den beiden Lichtfontänen geboren, die das zentrale Weiße Loch Emlophe ausstieß. Es blockierte zwar den Blick auf die umgebende Sternenfülle des Kugelsternhaufens M 13, schimmerte aber selbst in einem silbrig-weißen Licht, das die Planetennächte nie gänzlich dunkel werden ließ.

Am stärksten war der Effekt sicher auf dem Planeten Ghibona, der das Weiße Loch und die beiden es umtanzenden Sonnen am dichtesten umkreiste und das direkte Licht der Fontänen erhielt. Aber auch auf Ecaitan, wo das Licht sich bereits verteilt hatte, um den Schirm aus langsam rotierenden Energien zu bilden, war die Lichtfülle ausreichend, um selbst im Wald einigermaßen sicher die Umrisse der Bäume und Büsche erkennen zu können.

Lionel Obioma hatte trotzdem nicht vor, weiter als einige Schritte zu gehen. Er mochte den Wald, aber er war Hyperphysiker, kein Waldläufer. Er brauchte nur ein paar Züge der frischen Luft, um den Kopf frei zu bekommen.

Vor drei Tagen hatten er und Chione sich an Bord der FONAGUR geschlichen, um in das Sternenrad zu gelangen. Chione war die treibende Kraft dahinter gewesen, er eher der Mitläufer, auch wenn das unglaubliche Gebilde ihn ebenfalls faszinierte.

Dancer, Schlafner und der TARA-Psi hatten sie empfangen und professionell in ihren Einsatz integriert, obwohl sie kaum mehr als Eierköpfe und in kritischen Situationen eher hinderlich als hilfreich waren. Wenn es um die Action ging, waren die Geschwister tonangebend, ging es um Technik, der TARA-Psi.

Chione hatte zumindest ihr Fachwissen einbringen können, als es um die Entschlüsselung der Struktur des Sternenrads ging. Aber er ... er hatte bislang nichts Nennenswertes geleistet. Er hätte gehen und den cairanischen Jungen zurückbringen sollen, nicht Chione.


Illustration: Dirk Schulz

Obioma seufzte. Die Welt schien ihm so düster und bedrohlich wie der Wald ringsum, daran konnte das Wunder des Schirms nichts ändern, der ihn in sanften Schimmer tauchte. Chione hätte ihn deswegen wohl als ewigen Pessimisten aufgezogen. Aber sie war nicht da.

»Dancer hat recht. Ich darf mich nicht verrückt machen«, murmelte er. Aber es fiel ihm schwer, sich an diese Mahnung zu halten.

Müde und kein bisschen optimistischer kehrte er in das Versteck zurück.

Perry Rhodan 3077: Unter dem Weißen Schirm

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