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Pfadfinder und Dolmetscher

Zur Funktion der Figuren im Johannesevangelium

Es ist eine markante Auffälligkeit des Johannesevangeliums: Mehrere Dutzend Personen treten in der Erzählung vom Leben und Wirken Jesu auf und säumen den Weg der Leser(innen) durch das Evangelium.1 Auf Schritt und Tritt begegnet man namhaften und namenlosen, sympathischen und abstoßenden, faszinierenden und auch erschrecklichen Figuren: Johannes dem Täufer, Thomas, Philippus, Andreas, Petrus, dem geliebten Jünger, Judas, Maria von Magdala, der Frau am Jakobsbrunnen, der Mutter Jesu, Nikodemus, dem Blindgeborenen, Lazarus und dessen Schwestern, den Juden und den Soldaten … Die Aufzählung ließe sich noch lange fortführen. In keinem anderen Evangelium des Neuen Testaments finden sich so viele detailreiche Portraits einzelner Personen wie im Johannesevangelium. Das Vierte Evangelium lässt sich viel Zeit und investiert viel erzählerische Akribie und Energie, um die Geschichte und den Charakter dieser Figuren anschaulich darzustellen.

Die Figuren sind mit Bedacht gewählt. Sie gehören zum narrativen Netzwerk des Johannesevangeliums. Ihr Auftreten ist alles andere als Zufall. Die These sei vielmehr gewagt: Gerade das so hochtheologische und christologisch tiefsinnige Johannesevangelium setzt auf die Kraft und Aussage dieser Figuren. Sie dienen dem besseren Verständnis der Leser(innen). Sie erleichtern die Übersetzung und Aktualisierung des Evangeliums. Die Figuren sind Kondensate johanneischer Theologie.

Eine Betrachtung aller einzelnen Gestalten würde jeden Rahmen sprengen.2 Eine Auswahl ist nötig. Exemplarisch sollen im Folgenden einige wenige Figuren näher in Augenschein genommen werden: vom Anfang, aus der Mitte und vom Schluss des Evangeliums. Im Hintergrund steht die Frage nach ihrer grundlegenden Bedeutung und Funktion: Welche Aufgabe übernehmen und welche Botschaft vermitteln die vielen verschiedenen Figuren innerhalb der narrativen Strategie des Johannesevangeliums?

Die ersten Jünger: Den Weg ins Evangelium finden (Joh 1,35–39)

Das Johannesevangelium beginnt mit einer Abstammungsurkunde Jesu ganz eigener Art. In tieftheologischen Begriffen und Bildern fasst der Prolog (Joh 1,1–18) zusammen, wer Jesus ist. Vom Uranfang allen Seins aus bewegt sich der Hymnus bis in die konkrete Gegenwart der Lebensgeschichte Jesu hinein. Schritt für Schritt führt der Prolog die Leser(innen) des Evangeliums auf den irdischen Boden jenes Plans, den Gott seit Urzeiten verfolgt hat: Der ewige Logos, der einzige Sohn des Vaters, wird Fleisch (Joh 1,14). Johannes der Täufer fungiert als Zeuge für dieses Geschehen: für das Licht (Joh 1,7), das auf Erden und mitten in der Finsternis erschienen ist. Johannes stellt das Verbindungsglied dar: zwischen dem hymnischen Eröffnungsportal des Evangeliums und der Welt der Erzählung. Mit Joh 1,19 wird das schon in Joh 1,7 f. erwähnte Zeugnis des Täufers in Frage- und Antwortform wiedergegeben (Joh 1,19 ff.). Der Täufer weist auf den hin, der nach ihm kommt (Joh 1,30). Seine Rolle ist dann erfüllt, wenn er selbst keine Rolle mehr spielt: wenn die Augen von ihm weg und auf Jesus gerichtet werden.

Am Beginn der kurzen Erzählsequenz (Joh 1,35–39) steht Johannes inmitten von zwei namenlosen Jüngern. Auf sein Wort hin – „Seht, das Lamm Gottes“ (Joh 1,36) – folgen die beiden Jünger Jesus nach. Schon die Tatsache, dass die Jünger nicht namentlich identifiziert werden, ist, zumal am Anfang des Evangeliums, wichtig. Namen schaffen Distanz. Namen machen deutlich, dass es sich um konkrete Personen handelt. Die Namenlosigkeit aber legt die Figuren nicht auf eine bestimmte Zeit oder Biografie fest. Die Namenlosigkeit ist eine Einladung an die Leser(innen), in der Figur kein Einzelschicksal, sondern einen Typus zu erkennen. Die Anonymität macht die beiden Jünger zu „Jedermanns“, die meinen Namen tragen könnten.

Wie wird man ein Jünger? Die Erzählung macht deutlich: nicht durch Zufall, nicht einfach so, auch nicht durch langes Grübeln oder Überlegen. Jüngerschaft braucht Pat(inn)en und Wegweiser. Johannes setzt die beiden in Gang, indem er sie auf den Weg schickt: „Seht, das Lamm Gottes!“ (Joh 1,36)

Das „Lamm Gottes“

Mit dieser Titulatur beginnt im Johannesevangelium eine weit verzweigte theologische Sinnlinie. Hier wird Jesus (wie schon in Joh 1,29) als „Lamm Gottes“ bezeichnet. Was das heißt, ist hier an dieser Stelle noch gänzlich unklar. Im Lauf des Evangeliums wird der Begriff immer weiter entfaltet. Bei der Kreuzigung Jesu schließt sich der Kreis. Die Anspielungen auf das Paschafest sind dann nicht mehr zu überhören: Wie dem Paschalamm (Ex 12,46) werden Jesu Beine nicht zerschlagen (Joh 19,33). Anders als in den synoptischen Evangelien wird Jesus ein Schwamm mit Essig gereicht, der auf einem Ysopzweig steckt (Joh 19,29). Mit einem Ysopzweig bestrichen die Israeliten in der Nacht des Auszugs aus Ägypten ihre Türen mit dem Blut des Paschalammes (Ex 12,22). Eigens erwähnt das Johannesevangelium, dass aus der geöffneten Seite Jesu Blut und Wasser fließen (Joh 19,34). Immer ist „die Paschasymbolik (…) Mittel der Deutung des Todes Jesu“3. Was der Täufer am Beginn des Evangeliums sagt, wird im Laufe des Evangeliums vollends deutlich: „Jesus ist das wahre Passalamm, das sterbend die Sünde der Welt auf sich nimmt (vgl. Joh 1,29).“4

Für die beiden Jünger mag der Hinweis des Täufers noch recht kryptisch klingen. Die Bezeichnung als „Lamm Gottes“ sagt noch nicht alles und vor allem noch nichts Genaues. Es ist ein Lockruf, der Spannung weckt und zum entdeckenden Aufbruch motiviert. Dementsprechend folgen die beiden Jünger, fast detektivisch, Jesus mit gehörigem Sicherheitsabstand nach. Jesus muss sich ja umwenden, um sie anzublicken und zu fragen.

Direkt, in der 2. Person Plural, spricht Jesus die Jünger an: „Was sucht ihr?“ (Joh 1,38) „Suchen“ ist im Johannesevangelium ein großes Thema. Immer wieder suchen Menschen nach Jesus (Joh 6,24; 7,11; 12,21). Vor dem offenen Grab wird Maria von Magdala am Ende des Evangeliums von Jesus gefragt: „Wen suchst du?“ (Joh 20,15) Die Frage legt sich wie ein Band um das Johannesevangelium. Das Suchen charakterisiert die Jünger und zeichnet sie aus. Wer meint, alles zu haben, wer nichts sucht, wer sich nach nichts mehr sehnt und wem nichts fehlt, der macht sich nicht auf den Weg, der folgt niemandem nach.

„Bleiben“

Die beiden Jünger antworten mit einer Frage. Wörtlich übersetzt lautet sie: „Meister, wo bleibst du?“ (Joh 1,38) Das Wort „bleiben“ ist ein johanneisches Grundverb. An vierzig Stellen wird es im Johannesevangelium verwendet. Jesus charakterisiert die Rolle eines Jüngers bzw. einer Jüngerin mit diesem Wort: „Bleibt in mir und ich bleibe in euch.“ (Joh 15,4) Jüngerschaft kreist stets darum, denn immer geht es darum, bei Jesus zu bleiben (Joh 15,5–7.9). Insofern fragen die Jünger nach dem ureigenen Ort der Jüngerschaft: „Meister, wo bleibst du?“ Dort ist auch der Ort eines Jüngers. Dort, wo du bist, wollen wir sein.

Nicht von ungefähr steht die sich anschließende Einladung Jesu im Futur: „Kommt, und ihr werdet sehen!“ (Joh 1,39) Dieses „Sehen“ erschöpft sich nicht im Hinschauen. Dieses Sehen geht tiefer und meint „erkennen“ und „begreifen“. Die Jünger werden zutiefst verstehen, was die Sendung und der Ort Jesu sind. Am Beginn des Evangeliums fordert das Futur auch „die Hörer und Leser des 4. Evangeliums“ auf, „in die Textwelt einzutreten, nach Sinn zu suchen und ihn zu finden“5. Wer das Evangelium lesend durchwandert, wird „sehen“. Das Evangelium ist das Medium, das den Leser(inne)n Begegnung ermöglicht und Erkenntnis vermittelt.

Es mag enttäuschen, dass die Erzählung endet, ohne weitere Details zu nennen. Wer wissen möchte, wo Jesus – im johanneischen Sinn – „bleibt“, muss weiterlesen. Fast lapidar heißt es nur, dass die Jünger „jenen Tag bei ihm blieben“ und es „um die zehnte Stunde war“ (Joh 1,39). Wie immer im Johannesevangelium ist man gut beraten, hinter den Worten und Begriffen theologischen Tiefgang zu vermuten. So mag dieser eine Tag für das Ganze der Jüngerschaft und die Summe des Lebens und Wirkens Jesu stehen. Diese Anfangserzählung lässt sich als komprimiertes Bild für den gesamten Nachfolgeweg der Jünger(innen) begreifen. Sie verfolgten also den Weg Jesu vom Anfang bis zum Ende.

Die „Stunde“

Der Begriff „Stunde“ ist im Johannesevangelium ebenso bedeutungsvoll. Die Stunde, von der Jesus wiederholt spricht (Joh 2,4; 4,23; 12,23; 17,1), meint keine chronologische Zeiteinheit. Die Stunde steht für die Summe des Wirkens Jesu, für die Erhöhung und Verherrlichung. Sie umfasst die Passion, die Kreuzigung, aber eben auch die Auferstehung Jesu und die Geistsendung (Joh 19,30). Die Jüngerschaft beginnt in der zehnten Stunde. Der Tradition nach stirbt Jesus um die neunte Stunde. Die zehnte Stunde ist jene Stunde, in der alles geschehen ist: Jesus ist zum Vater erhöht. Von dieser guten Aussicht zehrt die Jüngerschaft. Ein(e) Jünger(in) lebt von der „zehnten Stunde“. Sie setzt den Nachfolgeweg in ein helles, österliches Licht.

Die ersten beiden namenlosen Jünger ebnen allen Leser(inne)n den Weg ins Evangelium. Angesprochen sind sehnsüchtige Leser(innen), die mehr erfahren und genauer erkennen wollen. Wer diesen beiden Jüngern folgt und sich mit – oder besser: in ihnen – auf den Weg durch das Evangelium macht, „wird sehen“ und Näheres über Jesus erfahren. Das Buch des Evangeliums ist die Ausbildungsstätte der Jünger(innen). Es wurde geschrieben, „damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben Leben habt in seinem Namen“ (Joh 20,31).

Der geliebte Jünger: Garant und Vorbild

Über diese geheimnisvolle Gestalt wurde schon viel spekuliert: Nur im Johannesevangelium tritt der geliebte Jünger auf. In der Alten Kirche wurde er mit dem Apostel Johannes gleichgesetzt. Aber im Evangelium bleibt er anonym. Er wird nicht über einen Namen identifiziert, sondern als idealtypischer Jünger präsentiert. Was ihn auszeichnet, ist kein Titel und kein Name, sondern eine Zusage: Er ist geliebt. So kann sich jede(r) im geliebten Jünger wiedererkennen: „Seine Namenlosigkeit läßt für jeden künftigen Jünger Raum, um in die Funktion einzutreten, die Jesus (…) dem ‚Jünger, den er liebte‘, vom Kreuz herab gibt.“6 Mit dem geliebten Jünger zeichnet das Johannesevangelium ein Beispiel aufrichtiger Nachfolge in die Jesusgeschichte ein. Wie dieser Jünger ist, so soll jeder Jünger und jede Jüngerin sein! Er ruht an der Seite Jesu (Joh 13,23), wie Jesus im Schoß des Vaters ruht (Joh 1,18). Er gibt Zeugnis von Jesus (Joh 21,24), wie Jesus vom Vater Zeugnis gibt (Joh 15,15). Er harrt aus und bleibt noch unterm Kreuz bei Jesus (Joh 19,26). Er glaubt und vertraut auch ohne Beweis (Joh 20,8) und erkennt den Auferstandenen im Alltag (Joh 21,7).

Der geliebte Jünger ist weit mehr als nur eine literarische Fiktion oder Kunstfigur.7 Es dürfte diesen Jünger wirklich gegeben haben.8 Auf seiner Sicht der Dinge ruht letztlich das Zeugnis des Johannesevangeliums: „Er ist die große Autorität, die hinter dem Evangelium steht (21,24: Er hat es geschrieben) und dessen Verkündigung seine Schüler und Freunde als bleibendes Gut (…) aufgenommen und festgehalten haben. Aus diesem ‚johanneischen Kreis‘ stammen das Evangelium und die Briefe des Johannes.“9 Auf das Zeugnis dieses geliebten Jüngers – auf seine Wahrnehmung und Deutung der Geschichte Jesu – beruft sich das Johannesevangelium: „Wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist.“ (Joh 21,24)

Den Begriff „Lieblingsjünger“ sollte man dabei möglichst vermeiden. Die Bezeichnung trägt unterschwellig eine Hierarchie und Konkurrenz in die Jüngerschaft ein, die der griechische Text nicht hergibt. Dort ist schlicht und ergreifend von dem Jünger die Rede, den Jesus liebte – nicht bevorzugt und schon gar nicht im Gegensatz zu allen anderen Jünger(inne)n. Es wäre sogar verfehlt, im geliebten Jünger nur eine exzeptionelle Erscheinung zu sehen. Das Evangelium ist vielmehr darum bemüht, die zeitlose Relevanz und Bedeutung des geliebten Jüngers zu verdeutlichen. Er verkörpert das Selbstverständnis und die Aufgabe aller Jünger(innen): Sie sollen sich von Jesus geliebt wissen und – wie der geliebte Jünger – die Sendung Jesu aufnehmen und weitertragen. Für die johanneische Gemeinde wurde er zum Dolmetscher, der das Evangelium in eine eigene Sprache und Begrifflichkeit übersetzt. Sein Zeugnis will Zeug(inn)en ausbilden, die ihrerseits das Evangelium weitertragen und verkünden.

Maria von Magdala: Aufbruch ins Leben (Joh 20,11–18)

Die Szene ist eindrücklich und anrührend: Allein steht Maria von Magdala vor dem Grab Jesu. Sie weint. Sie ist verzweifelt. Sie sieht nur das gähnend leere Loch des Grabes. Sogar der Ort der Trauer wurde ihr genommen. Sie sucht nach dem Leichnam Jesu und findet ihn schließlich: doch anders als sie meint, erst nach einem intensiven Trauerweg und Erkenntnisprozess. Das Johannesevangelium berichtet hier nicht von einem kruden Faktum. Die Erzählung ist vielmehr ein Kleinod johanneischer Theologie: Die urchristliche Erinnerung an den Grabbesuch der Frauen am Ostermorgen (Mk 16,1–8) wird in typisch johanneischer Manier entfaltet.

Wie so oft im Evangelium ist der Fokus auf eine einzelne Person gerichtet. An Maria wird ersichtlich, wie Ostern wird und was Ostern bedeutet. Viele Worte Jesu im Johannesevangelium erfüllen sich nun: ein weiterer Beleg für die tiefgründige theologische Darstellung. Jesus hatte prophezeit: „Ihr werdet weinen und klagen, aber die Welt wird sich freuen; ihr werdet traurig sein, aber eure Trauer wird sich in Freude verwandeln.“ (Joh 16,20) Der Satz liest sich wie eine Zusammenfassung der Szene: Maria trauert, doch ihre Trauer wandelt sich in Freude und Zuversicht.10 Maria gibt dem so zentralen johanneischen Grundwort „bleiben“ ein Gesicht. Sie bleibt auch noch nach dem Tod Jesu. Sie bleibt, auch wenn alle anderen Jünger längst geflohen sind. Schon deshalb verdient sie den Ehrentitel apostola apostolorum, Apostelin der Apostel. Ostern wird für Maria schließlich, als sie sich angesprochen weiß, als sie die Stimme Jesu hört: „Maria!“ (Joh 20,16) „Meine Schafe“, so sagte Jesus, „hören auf meine Stimme; ich kenne sie und sie folgen mir.“ (Joh 10,27)

Kurzum: Was hier erzählt wird, ist mehr als ein historischer Bericht. Hier wird Theologie ins Bild gesetzt und eine Ostererfahrung portraitiert. Wie wird Ostern? Durch eine persönliche Begegnung und Erfahrung. Was lässt die Gewissheit wachsen, dass Jesus lebt? Maria macht deutlich: Die Liebe ist das entscheidende österliche Erkenntnismedium. Es ist die Gewissheit von Liebenden, die im Tod niemals das Ende sehen können, die Gräber nicht als Gruften verstehen, sondern als Gärten begreifen. Insofern hat Maria – mit typisch johanneischer Ironie beschrieben – durchaus Recht, wenn sie meint, Jesus sei der Gärtner. In der Tat: Vor ihr steht der große Gärtner inmitten eines neuen Schöpfungsgartens.11 Nicht von ungefähr betont das Johannesevangelium, dass Jesus in einem Garten und in einem neuen Grab beigesetzt wurde (Joh 19,41). Unwillkürlich denkt man an den Schöpfungsgarten im Buch Genesis (Gen 2,4–25). Ostern streckt sich nach einer „erhoffte(n) Vergangenheit“12 aus. Ostern sehnt sich nach einer neuen Schöpfung, in welcher der Tod nicht mehr zum Himmel stinkt, sondern neues Leben blüht. Der große Gärtner Gott führt seine Schöpfung ans Ziel. Maria reicht Trauernden die Hände. Die Erzählung beschreibt einen intensiven Trauerweg. Zweimal wird sie – von den Engeln (Joh 20,13) und von Jesus (Joh 20,15) – gefragt: „Warum weinst du?“ Sie soll ihre Trauer in Worte fassen und sich den Verlust eingestehen. Wichtig sind die Bewegungen von Maria, die – rein räumlich oder figürlich betrachtet – keinen rechten Sinn ergeben. Sie stellen nicht äußere Vorgänge dar, sondern bilden innere Wendungen und Erkenntnisschritte ab.

Manches sieht man nur mit Augen, die geweint haben. Erst als Maria am Ort des Abschieds getrauert hat, kann sie sich umwenden: „Als sie das gesagt hatte, wandte sie sich um und sah Jesus dastehen, wusste aber nicht, dass es Jesus war.“ (Joh 20,14) Noch unbekannterweise weint sie sich bei ihm aus (Joh 20,15). Die persönliche Anrede bewirkt eine abermalige Wendung: „Da wandte sie sich um und sagte auf Hebräisch zu ihm: Rabbuni!, das heißt: Meister.“ (Joh 20,16) Ostern leuchtet dem ein, der sich von Jesus persönlich angesprochen weiß und seine Stimme im Dunkel der Trauer hört. Ostern schenkt eine neue Perspektive. Vorher starrte Maria auf das Grab. Nun blickt sie nach vorn und erhält eine neue Aufgabe: „Geh aber zu meinen Brüdern und sag ihnen: Ich gehe hinauf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott.“ (Joh 20,17)

Im Leben mag der beschriebene Trauerweg von Maria Wochen, Monate oder gar Jahre dauern. Die innere Dynamik und das Ziel aber sind identisch. Ostern schafft das Weinen nicht ab. Aber Ostern schürt die Hoffnung in den Herzen von Trauernden, dass der Tod allenfalls das vorletzte Wort hat. Die Hoffnung auf das entscheidende letzte Wort verdichtet sich in der Zusage Jesu: „Wenn ich gegangen bin und einen Platz für euch vorbereitet habe, komme ich wieder und werde euch zu mir holen, damit auch ihr dort seid, wo ich bin.“ (Joh 14,3)

Die Jünger(innen): Eine Einladung zum Kennenlernen

Das Johannesevangelium ist durchzogen von einem facettenreichen Figuren- und Wegenetz. Auf Schritt und Tritt stellt es seinen Leser(inne)n Pat(inn)en an die Seite: Figuren, deren Biografie die Theologie erdet und die von den Herausforderungen, aber auch von der Schönheit und Zuversicht der Nachfolge erzählen. Die vielen verschiedenen Personen geben dem Evangelium ein konkretes Gesicht. Greifen Sie zu! Die Figuren sind Platzhalter und Gesprächsangebote, Wegweiser und Verständnishilfen. Sie übersetzen das Evangelium ins Leben wie Dolmetscher(innen) und bahnen Wege zu Jesus wie Pfadfinder(innen).

Die Figuren sind mit Bedacht gewählt und alles andere als Nebensächlichkeiten. Im Johannesevangelium sind gerade die Figuren Aktualisierungsgaranten und Elemente der Leserbindung. Sie ermöglichen das Gespräch und fordern zur Auseinandersetzung auf. Die Leser(innen) begegnen in den Figuren einem Teil von sich selbst. Die Figuren sind Begegnungsorte und Ankermöglichkeiten, um selbst in der Geschichte Fuß zu fassen. Was Martin Walser über die grundlegende Funktion von Büchern sagt, gilt – mit Blick auf die Figuren – insbesondere auch für das Johannesevangelium: „Man kann, um sich zu begegnen, in den Spiegel schauen, auf alte und neuere Fotos, aber auch in ein Buch. Man begegnet sich da. Lesen ist nicht etwas wie Musikhören, sondern wie Musizieren. Das Instrument ist man selbst.“13 Es sind die Figuren, die im Leser bzw. in der Leserin etwas zum Klingen bringen und die zum Mitspielen auffordern.

1 Die Studie von S. A. Hunt / D. F. Tolmie / R. Zimmermann (Hrsg.), Character Studies in the Fourth Gospel. Narrative Approaches to Seventy Figures in John (WUNT, Bd. 314). Tübingen 2013 nennt etwa 70 verschiedene Figuren, die in Form einzelner Artikel untersucht und einer narrativen Analyse unterzogen werden. Vgl. die tabellarische Übersicht der Figuren im Johannesevangelium (mit Nennung der entsprechenden Textstellen und Interaktionspartner) ebd., 34-45.

2 Einen Einblick in die verschiedenen narrativen Ansätze und Analyseverfahren der Figuren im Johannesevangelium bieten S. A. Hunt / D. F. Tolmie / R. Zimmermann, An Introduction to Character and Characterization in John and Related New Testament Literature, in: dies. (Hrsg.), Character Studies, 1–33, hier: 23–33 [s. Anm. 1].

3 J. Gnilka, Johannesevangelium (NEB.NT, Bd. 4). Würzburg 41993, 147.

4 U. Schnelle, Das Evangelium nach Johannes (ThHK, Bd. 4). Leipzig 42009, 315.

5 Ebd., 63.

6 U. Wilckens, Das Evangelium nach Johannes (NTD, Bd. 4). Göttingen 22000, 297.

7 Vgl. dazu M. Theobald, Das Evangelium nach Johannes. Kapitel 1-12 (RNT). Regensburg 2009, 91.

8 Dazu J. Zumstein, Das Johannesevangelium (KEK, Bd. 2). Göttingen 2016, 55: „Wenn man berücksichtigt, dass bei Joh eine gewisse Rivalität zwischen Petrus und dem Lieblingsjünger besteht und dass außerdem der Tod des Lieblingsjüngers anscheinend ein Problem für die joh Kreise gewesen ist (21,22-23), dann folgt daraus, dass der Lieblingsjünger nicht als rein symbolische Gestalt ohne historischen Gehalt zu betrachten ist; es handelt sich vielmehr um eine den joh Kreisen bekannte Person und man kann in ihm den Gründer der joh Tradition und der joh Schule sehen.“

9 R. Schnackenburg, Jesus Christus im Spiegel der vier Evangelien (Akzente). Freiburg i. Br. 1998, 249.

10 Vgl. K. Wengst, Das Johannesevangelium. 2. Teilband: Kapitel 11-21 (ThK.NT, Bd. 4,2). Stuttgart 22007, 300.

11 Vgl. dazu den wirkungsgeschichtlich ausgerichteten Beitrag von M. L. Frettlöh, Christus als Gärtner. Biblisch- und systematisch-theologische, ikonographische und literarische Notizen zu einer königlichen Aufgabe, in: J. Ebach (Hrsg.), „Schau an der schönen Gärten Zier Über irdische und himmlische Paradiese. Zu Theologie und Kulturgeschichte des Gartens (Jabboq, Bd. 7). Gütersloh 2007, 161–203.

12 So der Titel der große Hoffnungs- und Verheißungstexte des Alten Testaments untersuchenden Studie von J. Ebach, Ursprung und Ziel. Erinnerte Zukunft und erhoffte Vergangenheit. Neukirchen-Vluyn 1986.

13 M. Walser, Des Lesers Selbstverständnis. Ein Bericht und eine Behauptung (Parerga 12).Eggingen 1993,12.

Geist & Leben 3/2020

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