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Ralph Kunz | Zürich

geb. 1964, Dr. theol., Professor für Praktische Theologie an der Universität Zürich, Beiratsmitglied von GEIST & LEBEN

ralph.kunz@theol.uzh.ch

Die Jahreslosung – der letzte Schrei?

Jahreslosungen begleiten die Gemeinde Jesu in das neue Jahr hinein und stiften Orientierung für eine Weggemeinschaft, die nach vorne blickt. Die Jahreslosung für 2020, „Ich glaube, hilf meinem Unglauben!“, spricht allerdings ein Thema an, das eher gegenläufig als eingängig ist. Tatsächlich ist der Ruf in Mk 9,24 wortwörtlich der letzte Schrei eines Menschen, der seine ganze verbliebene Hoffnung auf einen fremden Menschen setzt, dem er zum ersten Mal begegnet. Der Ausruf markiert den Wendepunkt in der berührenden Geschichte eines Vaters, der für seinen kranken Sohn glaubt. Was bedeutet es, wenn sein Schrei unsere Losung wird? Der Schrei ist sowohl Bitte als auch Bekenntnis. Indem sich der Bittende als ein Glaubender bekennt, der seinen Unglauben wahrnimmt, bekennt er zugleich seinen Unglauben. Aber als einer, der Jesus bittet, „hilf meinem Unglauben“, nimmt er auch seinen Glauben wahr! Glaubt er oder glaubt er nicht? Das ist ziemlich vertrackt. Umgangssprachlich bezeichnet „Glauben“ eine starke Meinung und ein schwaches Wissen. Wenn „Meinen“ ein problematisches oder vorläufiges Urteilen bedeutet, ist „Glauben“ das Fürwahrhalten eines Sachverhalts, das subjektiv für zureichend, aber objektiv für unzureichend gehalten wird. Unglauben wäre dann das, was ich für unwahrscheinlich halte.

Der sogenannte doxastische Glaube kann sich auf Kants Versuch beziehen, Meinen, Glauben und Wissen als unterschiedlich starke Arten der Wahrnehmung in eine Reihe zu bringen. Es liegt auf der Hand, dass es bei einer so gedachten Steigerung der Gewissheit immer geboten ist, Glauben in ein Wissen zu überführen, um vernünftiger leben und handeln zu können. Mit dem Glauben an Jesus Christus und dem Vertrauen in Gottes Güte hat dies aber herzlich wenig zu tun. Hilft die Losung, das andere Glaubensverständnis zu vertiefen? Mit der Brille dieser Unterscheidung gelesen, wird jedenfalls der Kontrast im Kontext der Geschichte noch schärfer. Jesus kommt mit drei Jüngern vom Berg der Verwandlung herab. Was sie jetzt erfahren, ist – in Umkehrung zum Pauluswort (2 Kor 5,6 f.) – ein Abstieg „vom Schauen zum Unglauben“, ein symbolischer Gang in die Niederungen der vom Bösen bedrängten Menschenwelt, die durch mangelnden Glauben geprägt ist. Was Jesus unten antrifft, entlockt ihm einen messianischen Seufzer: „O du ungläubiges Geschlecht, wie lange soll ich bei euch sein?“ (Mk 9,19) Damit ist das Thema des Unglaubens gesetzt. Doch jetzt richtet sich die „Kamera“ des Erzählers auf den, der sich als Vater eines kranken Knaben zu erkennen gibt. Jesus wendet sich ihm zu. Es bleibt nicht unbemerkt von der Macht, die durch den Auftritt Jesu provoziert wird. Der kurze Wortwechsel zwischen dem Vater und Jesus führt zu einer Attacke des Dämons. Jesus beobachtet den Angriff und fragt den Vater wie ein Arzt, der eine Anamnese vornimmt: „Seit wann geschieht ihm das?“ Man hört eine lange Leidensgeschichte und spürt die Frustration des Vaters. Die letzte Episode in dieser Kaskade der Enttäuschungen war das Versagen der Jünger. Jetzt steht der Vater vor dem Meister und packt die Gelegenheit beim Schopf. „Doch wenn du etwas vermagst, so hilf uns, indem du dich über uns erbarmst!“ In die Bitte mischt sich ein Vorbehalt. Der Zweifel spricht mit. „Hilf, wenn Du vermagst.“ Aber es spricht auch der Glaube. „Hilf, indem du dich erbarmst.“ Jesus antwortet mit einer Belehrung. Er nimmt die Formulierung des Vaters auf und kommentiert: „Was das ‚wenn du vermagst‘ betrifft, gilt, dass dem Glaubenden alles möglich ist.“ Das ist natürlich nicht nur für die Ohren des Gegenübers bestimmt. Auch die Jünger, die Herumstehenden und die Schriftgelehrten sollen es hören. Und der Vater hört die Ermutigung. Dem Glaubenden ist alles möglich! Er zögert keine Sekunde und schreit: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben.“ Die Losung ist geboren!

Im Zusammenhang erzählt, wird deutlich, dass von zwei verschiedenen Typen des Glaubens gesprochen wird. Einerseits dem Glauben an Jesus Christus, der sich als Bekenntnis ausspricht, und andererseits dem Vermögen bzw. dem Unvermögen, im Moment zu vertrauen. In der Figur des Vaters kommt beides zusammen. Er getraut sich nicht, sich ganz auf den Zuspruch Jesu zu verlassen und traut ihm doch zu, dass er sich seiner erbarmt. Der erste Glaube ist die Entscheidung, sich Jesus anzuvertrauen, der zweite Glaube die Erfahrung, die sich einstellt – oder nicht! Während der erste Glaube in der Begegnung mit Jesus geschenkt wird, verweist der zweite Glaube auf etwas, das vom Unglauben über den Kleinglauben bis zum Glauben, der Berge versetzt (Mk 11,24), wachsen oder aber in der Anfechtung – zum Leidwesen des Messias (Mk 9,19) – auch einmal schrumpfen kann.

Die Jahreslosung ist eine theologisch dichte Formel für die Spannung, in der wir ein Leben lang unseren Glauben erleben. Dazu passt, dass Jesus den väterlichen Schrei nicht kritisiert. Bei der Belehrung im Nachgang macht Jesus dann deutlich, dass die zwei Glaubensweisen zu unterscheiden, aber nicht zu trennen sind, indem er auf den Zusammenhang von Gebet und Glauben verweist. Es wäre schön, wenn wir in unserer Kirche mehr von diesem Glauben spürten. Unwahrscheinlich? Wir hoffen, hilf unserer Resignation!

Geist & Leben 1/2020

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