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Michael Bordt SJ | München

geb. 1960, Professor für Philosophie und Vorstand des Instituts für Philosophie und Leadership der Hochschule für Philosophie, München michael.bordt@hfph.de

Johannes Lober | München

geb. 1983, Lehrbeauftragter für Führungsethos und Geschäftsführer des Instituts für Philosophie und Leadership der Hochschule für Philosophie, München johannes.lober@hfph.de

Akademie „Führung und Persönlichkeit“

Ignatianische Spiritualität für künftige Führungskräfte

In den kommenden Zeilen möchte wir ein Projekt vorstellen, dass wir ausgehend von den Geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola entwickelt haben: Die sogenannte „Akademie Führung und Persönlichkeit“ für hochbegabte junge Erwachsene zwischen Mitte 20 und Anfang 30. Die Teilnehmer(innen) der Akademien haben meist schon ein oder sogar mehrere Unternehmen gegründet, wachsen in die Übernahme des eigenen Familienunternehmens hinein oder zählen zu den „high potentials“ und möchten in den Strukturen eines Konzerns Karriere machen. Die weit überwiegende Mehrheit kommt aus dem Bereich der sogenannten MINT-Fächer, also der Mathematik, den Ingenieurswissenschaften, den Naturwissenschaften und der Technik. Wie für viele junge Erwachsene aus diesem Milieu spielt Religion in ihrem Leben kaum eine Rolle. Ungefähr die Hälfte der Teilnehmer(innen) hatte bisher biografisch mit Religion und Glaube noch keinen engeren Kontakt. Der Name „Akademie“ für unsere einwöchigen Kurse ist missverständlich, denn anders als beispielsweise in den klassischen Ferienakademien von Begabtenförderwerken werden in unserem Kurs keine Vorträge gehalten, Texte gelesen oder die Teilnehmer(innen) zur Diskussion ermuntert. Wir begleiten die jungen Erwachsenen vielmehr in einem Prozess, der sich eng an den Prozess der ignatianischen Exerzitien anlehnt und von daher seine Kraft und Dynamik gewinnt, in dem aber die Religion nicht zum Thema gemacht wird.

Spiritualität ohne einen religiösen Rahmen

Wie kann man einen einwöchigen Kurs nach dem Prozess der ignatianischen Exerzitien konzipieren und durchführen, ohne dabei die Religion zu thematisieren? Jede große Religion, so könnte man etwas holzschnittartig sagen, beruht auf vier Säulen: Die erste Säule ist die Institution, also beispielsweise die institutionelle Verfasstheit einer Kirche. Die zweite Säule: Das Dogma und die oft mit dem Dogma verbundene Ethik, also das, was derjenige, der in der Religion lebt, für richtig halten soll oder auch für richtig hält. Die dritte Säule ist der Kult oder die Liturgie, also die Art und Weise, wie Gottheiten angerufen oder zu Gott gebetet wird, und die vierte ist die Spiritualität einer Religion. Während sich die Religionen in ihren ersten drei Säulen, der Institution, dem Dogma und dem Kult, stark voneinander unterscheiden, gibt es in Bezug auf die Spiritualität viele Gemeinsamkeiten. Diese Gemeinsamkeiten betreffen zum einen Überscheidungen in der spirituellen Praxis, der Meditation; ob man in einem christlich-kontemplativen Meditationshaus, einem buddhistischen Zendo oder einem hinduistischen Ashram meditieren übt – immer wird die Achtsamkeit und die Wahrnehmung des Atmens eine große Rolle spielen. Zum anderen betreffen die Gemeinsamkeiten aber auch die spirituelle Dimension des Menschen. Jede Religion will Antworten auf die großen Fragen menschlicher Existenz geben: Woher komme ich, wohin gehe ich und was soll das eigentlich alles hier auf Erden? Die konkreten Antworten mögen in den verschiedenen Religionen zwar unterschiedlich sein, aber dass Religionen Antworten auf die letzten großen Fragen der menschlichen Existenz geben möchten, ist allen gemeinsam. Religionen, so könnte man sagen, halten die existentiellen Fragen des Menschen offen. Sie machen uns Menschen bewusst, dass wir mehr sind als computerähnliche Gehirne in einem Körper oder Wesen, die notwendig von Lustempfindungen oder Nutzenerwägungen getrieben sind.

Die ersten drei Säulen spielen in unseren Kursen keine Rolle. Der Schwerpunkt liegt allein auf der vierten Säule, auf der Spiritualität. Eine Akademie ist, auf eine Kurzformel gebracht, ein Exerzitienkurs, der den spirituellen Aspekt der Exerzitien beibehält, aber auf die drei anderen Säulen verzichtet. Ohne unseren Kontext im Institut für Philosophie und Leadership der Hochschule für Philosophie in München zu kennen, ist solch ein Projekt vielleicht schwer nachvollziehbar. Wir müssen deswegen ein wenig ausholen.

Fortbildungskurse für Spitzenführungskräfte der Wirtschaft

Das Institut für Philosophie und Leadership wurde 2011 gegründet, um eine institutionelle Basis in der Hochschule für Philosophie zu schaffen, mit der wir auf die zunehmenden Anfragen seitens großer deutscher Industriekonzerne und Familienunternehmen antworten können. Es sind Anfragen, die darauf zielen, Unterstützung und Hilfe in ihrer Arbeit in den Unternehmen zu bekommen. Ein erster großer Kunde waren die Mitglieder des Vorstands und die weltweit etwa 60 Bereichsleiter der BMW Group, für die wir einen mehrjährigen Fortbildungskurs konzipiert und durchgeführt haben, der um Themen der Persönlichkeit, des Charakters und Leadership kreiste. Entscheidend ist für uns dabei die Überzeugung, dass Führungskräfte in Spitzenpositionen in der Lage sein müssen, sich selbst Antworten auf spirituelle Fragen zu erarbeiten, selbst dann, wenn die Antworten, die konkrete Religionen darauf geben, nicht ihre eigenen Antworten sind. Eine Teilnehmerin unserer Kurse hat einmal auf die Frage, welches die wichtigste Eigenschaft einer Führungskraft ist, geantwortet, sie müsse mit sich selbst im Reinen sein. Eine bessere Antwort kann man, so finden wir, kaum geben und genau dazu leisten unsere Kurse einen Beitrag.

Auch wenn der Gedanke, man könne die Spiritualität von einer konkreten Religion sinnvoll unterscheiden und losgelöst von ihr betrachten, zunächst vielleicht fremd erscheinen mag: Mit einem solchen Programm stehen wir in München nicht allein. Es gibt zunehmend Bereiche, in denen die Spiritualität des Menschen zum Thema gemacht wird, ohne dabei auch die Religion in den Blick zu nehmen. Im Bereich „spiritual care“ beispielsweise werden Ärzte, Krankenschwestern und -pfleger darin ausgebildet, mit totkranken Menschen über tiefe und letzte existentielle Fragen ins Gespräch zu kommen, ohne sich dabei in einem religiösen Bezugsrahmen zu bewegen, der in vielen Fällen sowohl ihnen selbst wie auch den Sterbenden fremd ist. Auch bestimmte Praktiken und Übungen, die ursprünglich ihren Ort in Religionen haben, werden in therapeutischen Praktiken genutzt, um Menschen zu heilen. Wegweisend ist seit den 60er-Jahren beispielsweise der Arzt und Psychotherapeut Jon Kabat-Zinn, der bestimmte buddhistische Meditationspraktiken zu therapeutischen Zwecken, u.a. auch als Therapie für Burnout-Patienten nutzt. Am bekanntesten ist sicherlich der Einzug der Mindfulness-Meditation in Wirtschaftsunternehmen. Auch wenn wir den Umgang mit der Meditation in wirtschaftlichen Kontexten sehr kritisch sehen, so hat uns doch die Ähnlichkeit der Mindfulness-Meditation mit den Arten der Meditation, die man in einem christlich-kontemplativ geprägten Exerzitienhaus finden kann, überrascht.

Der Rahmen der Akademien ist dem Rahmen von klassischen Exerzitien angelehnt, auch wenn es Unterschiede gibt. Zeiten der Meditation und Stille, inhaltliche Impulse und die Möglichkeit zu Einzelgesprächen gibt es bei uns ebenso wie in klassischen Exerzitien. Ein Unterschied ist sicher, dass in den sechs Tagen der Akademie nicht durchgängig geschwiegen wird. Am frühen Nachmittag gibt es einen oft intensiven Austausch über den Prozess der Akademie, der bis zu 90 Minuten dauern kann; außerdem werden an drei Abenden Führungskräfte für ein Gespräch mit den Teilnehmer(inne)n eingeladen. Bei diesen Gesprächen geht es freilich nicht um ihre eigene Firma oder Tipps und Tricks für den Karriereweg, sondern um die Frage, wie die Führungskräfte es selbst schaffen, mit sich selbst als Menschen in solch anspruchsvollen Tätigkeiten umzugehen und woraus sie leben.

Die Meditation

Jeder Tag beginnt um 7 Uhr mit einer Stunde Yoga und einer Stunde Meditation. In der Woche folgen wir in den Meditationsübungen weitgehend dem Aufbau und der Methode, die Franz Jalics SJ in seinen Kontemplativen Exerzitien beschrieben hat, allerdings ohne ein Mantra (bzw. den Namen Jesu) einzuführen. Auch wählen wir ein ganz anderes „wording“, um die Meditation Techniker(inne)n und Ingenieur(inn)en nahezubringen1. Am ersten Tag liegt der Schwerpunkt auf ersten Erfahrungen mit der Wahrnehmung des eigenen Körpers, dem sogenannten body scan. Hier werden die Meditierenden angeleitet, ihre Aufmerksamkeit auf einzelne Körperteile zu richten und so den ganzen Körper wahrzunehmen. Die 25-minütige Übung ist für die einzelnen oft sehr anstrengend und intensiv. Sie müssen erfahren, kaum in der Lage zu sein, die Aufmerksamkeit tatsächlich an den Körperstellen zu halten. Müdigkeit, viele Gedanken und Fragen, Bilder, körperliches Unwohlsein schieben sich in den Vordergrund und ziehen die Aufmerksamkeit von den jeweiligen Körperteilen ab. „Zum Herrn bzw. zur Frau der eigenen Aufmerksamkeit werden“ und diese Aufmerksamkeit systematisch zu üben, ist deswegen der erste Schritt in die Meditation. Es ist den Teilnehmer(inne)n, auch aus einem religionsfernen Kontext, unmittelbar plausibel, dass in einem Alltag, in dem alles an unserer Aufmerksamkeit zerrt, die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit dort zu halten, wo man sie selbst halten will, ausgesprochen vorteilhaft wäre. Am zweiten Tag steht die Wahrnehmung des Atmens im Vordergrund. Am dritten Tag ist der Anker, der hilft, seinen Geist in die Sammlung zu bringen und die Aufmerksamkeit zu halten, die Hände bzw. die Mitte der Handinnenflächen. Es war für uns, als wir 2013 mit den Akademien begonnen haben, überraschend zu sehen, wie fruchtbar und hilfreich diese von Franz Jalics eingeführte Meditationstechnik ist. Viele Teilnehmer(innen) bleiben die restlichen Tage dabei der Wahrnehmung der Hände oder lassen den Atem in die Hände fließen. Vom vierten bis siebten Tag ist es den Teilnehmer(inne)n selbst überlassen, mit welchem „Anker“ (Atmen oder Hände) sie meditieren möchten. Dabei führen wir über „Herr/Frau der eigenen Aufmerksamkeit werden“ zwei weitere inhaltliche Punkte ein: „Selbstwahrnehmung. Die Informationsbasis über sich selbst erweitern“ und „Innere Freiheit“. Wir machen die Teilnehmer(innen) darauf aufmerksam, dass das, was uns in der Meditation immer wieder von dem Fokus der Aufmerksamkeit und der Sammlung wegzieht, oft viel mehr über uns aussagt als alle gedanklichen Konstrukte und mühsam festgehaltenen Selbstbilder. Deswegen können die „Störungen“ in der Meditation eine große Hilfe auf dem Weg zu einer realistischen Selbsteinschätzung sein, die für Entscheidungsfindungen ein solides Fundament abgeben kann. Es geht freilich nicht darum, sich mit den „Störungen“ während der Meditation zu beschäftigen, sondern sich am Ende der Meditationseinheit einen Augenblick Zeit zu nehmen: Wie ist es mir in der Meditation ergangen? Wie bin ich mit mir selbst umgegangen? Denn auch die Art und Weise, wie man in der Meditation mit sich selbst umgeht, ob man sich beispielsweise in die Wahrnehmung zurückprügelt und sich selbst bewertet oder ob man schnell aufgibt und vor sich hin döst, sagt oft sehr viel darüber aus, wie wir auch sonst im Alltag mit uns umgehen. Die innere Freiheit entsteht dadurch, dass die Teilnehmer(innen) die Möglichkeit erleben, sich nicht mit ihren Gefühlen, aber auch nicht mit ihren Gedanken identifizieren zu müssen. Solange man die Gefühle und Gedanken wahrnehmen kann, hat man einen prinzipiellen Abstand zu ihnen. Die innere Freiheit besteht darin, eine Haltung zu sich selbst einzunehmen und sich fragen zu können, womit ich mich eigentlich identifizieren und was davon ich in Entscheidungen und Handlungen umsetzen möchte.

Die Themen der Tage

Nach dem Frühstück erhalten die Teilnehmer(innen) einen inhaltlichen Impuls, der höchstens 10 Minuten dauert und in dem die Themen des Exerzitienprozesses angesprochen werden. Wer mit den ignatianischen Exerzitien vertraut ist, wird wissen, dass sie einem bestimmten Aufbau folgen, und dass dieser Aufbau auf eine bestimmte innere Dynamik des Exerzitanten bzw. der Exerzitantin zielt. Die erste Phase (oder der erste Tag) ist die Phase des Fundaments. In dieser Phase betrachtet der/die Exerzitant(in) Texte, oft aus den Psalmen genommen, die seine/ihre Dankbarkeit gegenüber Gott und die Liebe, von der er/sie sich getragen weiß oder getragen hofft, zum Ausdruck bringen. Die Betrachtung der Liebe Gottes führt zur zweiten Phase der Exerzitien, in der die Schuld und Sündhaftigkeit des Menschen im Mittelpunkt stehen. In der dritten Phase geht es um die Berufung. Hier stehen Betrachtungen des Lebens Jesu im Vordergrund, die in dem/der Beter(in) das Verlangen wecken sollen, Jesus immer umfassender nachzufolgen und ihm gleich zu werden. Die vierte Phase ist der Passionsgeschichte und dem Tod Jesu gewidmet, in der fünften meditiert der Beter Texte zur Auferstehung Jesu und die „Betrachtungen um Liebe zu erlangen“ aus den Geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola.

Die Impulse der Akademie bestehen nun darin, den existentiell-spirituellen Kern jeder der fünf Phasen des Exerzitienprozesses zu bewahren, aber von dem konkreten religiösen Kontext abzusehen. Am ersten Tag (erste Phase) fragen wir deswegen nach dem Fundament des eigenen Lebens: Was trägt mich eigentlich im Leben oder, anders und besser gefragt: Von was werde ich getragen? Was kommt mir durch andere Menschen, aber auch vielleicht durch Naturerfahrungen oder Erfahrungen von Schönheit, von Religion oder von Weltanschauungen, die ich habe, entgegen – ohne dass ich etwas leisten und „machen“ muss? Was trägt mich im Leben, ohne dass ich etwas festhalten und die Wirklichkeit manipulieren muss? Der zweite Tag (zweite Phase) hat Verletzungen zum Thema. Was wäre im eigenen Leben besser nicht passiert? Welche Ereignisse aus der Vergangenheit prägen mich in meinem Erleben und Verhalten heute noch? Woran arbeite ich mich noch ab? Und: Gibt es Zusammenhänge zwischen meinen Verletzungen und meinem Fundament? Am dritten Tag (dritte Phase) geht es um die Berufung, wobei wir den „Ruf“ in der Berufung als ein immer tieferes Einlassen auf sich selbst und die eigene Stimme verstehen. Die eigene Stimme immer sensibler wahrnehmen, um selbstbestimmt leben zu können – dieses Ziel liegt dem dritten Tag zugrunde. Die Übung, zu der wir auffordern, besteht darin, sich die inneren Bilder des eigenen geglückten, guten und gelingenden Lebens mit allen Sinnen vorzustellen: Wie möchte ich in 20 oder 30 Jahren leben? Lebe ich allein, in einer Partnerschaft, mit einer Familie? Lebe ich in der Stadt oder auf dem Land? Welchen Beruf übe ich aus und welchen Stellenwert hat er im Leben? Kurz: Wie wird mein Leben ausschauen, wenn es gut ist? Dieses Bild gilt es dann im zweiten Schritt zu hinterfragen: Wie hängt das innere Bild mit dem Fundament und den Verletzungen zusammen? Die zentrale Frage dabei – und eigentlich für die ganze Woche – ist: Wie sehr ruht das innere Bild meines gelungenen Lebens auf dem Fundament? Sind meine Verletzungen in das Bild integriert oder lebt das innere Bild davon, dass die Verletzungen nie mehr vorkommen dürfen? Ist meine innere Grundbewegung, dass ich getrieben bin, in meinem Leben großartige Dinge zu realisieren – das ist oft eine Bewegung weg von den Verletzungen –, oder fühle ich mich positiv von einer bestimmten Art zu leben angezogen? Am vierten Tag stehen Konflikte und Widerstände im Mittelpunkt. Mit welchen Konflikten und Widerständen muss ich rechnen, wenn ich meiner eigenen Berufung folgen will? Mit wem müsste ich vielleicht in einen Konflikt gehen, um ein besseres Gespür für meine eigene Stimme, für meine Berufung im Leben zu finden? In welchen Punkten müsste ich mir selbst gegenüber Widerstand leisten, um klarer und abgegrenzter das leben zu können, was ich leben möchte?

Vorbereitung auf den Alltag

Am fünften und sechsten Tag geht es darum, ohne große Vorsätze einen neuen Blick auf den Alltag zu wagen, indem man eine Haltung, die man in den Akademien sich selbst gegenüber erarbeitet hat, auf den Alltag überträgt. Als hilfreich hat sich dabei am fünften Tag ein Rollenspiel erwiesen. Die Teilnehmer(innen) der Akademie werden willkürlich durch Abzählen in zwei Gruppen eingeteilt, voneinander räumlich getrennt und erhalten die Aufgabe, Punkte dadurch zu sammeln, dass sie sich für eine Farbe, rot oder blau, entscheiden. Wenn beide Gruppen sich unabhängig voneinander für rot entscheiden, bekommen beide drei Punkte. Wenn eine Mannschaft blau und die andere rot wählt, bekommt die erste Mannschaft sechs Pluspunkte, die zweite drei Minuspunkte usw. Die Aufgabenstellung ist bewusst unklar: Jede Mannschaft soll so spielen, dass ein möglichst gutes Ergebnis erreicht wird. Worin das „gute Ergebnis“ besteht, wird freilich nicht gesagt. Die Pointe des Rollenspiels ist, dass innerhalb der Gruppe und am Ende zwischen beiden Gruppen häufig emotionale Situationen entstehen, in denen sich die Teilnehmer(innen) vom Schwung und der Spannung des Spiels mitreißen lassen. Deswegen besteht der zweite und eigentlich wichtige Teil des Tages darin, die Teilnehmer(innen) zu bitten, nach dem Spiel noch einmal einen genauen Blick auf sich selbst zu werfen: Wie hängt das Verhalten in dem Spiel mit ihren Erfahrungen in der Meditation und den vier großen Themen der vorhergehenden Tage zusammen? Worauf werden sie achten und ihren Blick richten müssen, wenn sie nach der Akademie in den Alltag zurückkehren?

Was wir gelernt haben

Die Erfahrung, die wir über die Jahre in der Begleitung der Akademien gesammelt haben, hat uns zunächst irritiert: Der Exerzitienprozess entwickelt auch losgelöst vom religiösen Kontext eine ausgesprochen starke Dynamik, ja sogar eine Kraft, die sich in der Begleitung von Exerzitien im religiösen Kontext nicht oft erleben lässt. Wir haben den Eindruck gewonnen, wer sich in einem religiösen Rahmen auf Gott einlässt und klassische Exerzitien macht, der gerät leicht in die Gefahr, zu meinen, es ginge in den Exerzitien darum, sich intensiv mit Gott auseinanderzusetzen, aber nicht mit sich selbst. Die Krisen in den Exerzitien werden oft schnell als Krisen des Glaubens gedeutet, aber nicht als Krisen, die ihre Ursache in der eigenen Person haben. Wenn der religiöse Rahmen – man könnte beinahe vom Überbau sprechen – wegfällt, dann wird die heilsame Dynamik, die unglaublich kluge innere Logik des Prozesses, viel greifbarer, die den Exerzitien zugrundeliegt. Vielleicht ist auch hier ein Grund dafür zu finden, warum, wie manche Jesuiten auch im Hinblick auf ihre eigenen Exerzitien feststellen, die Geistlichen Übungen manchmal nicht wirklich im Leben der Menschen greifen und viele Menschen sich, obwohl sie regelmäßig Exerzitien machen, dann doch so wenig verändern.

Diese Dynamik betrifft vor allem die Zusammenhänge der Phasen, genauer: die Zusammenhänge zwischen dem Fundament, der Schuld und der Berufung. In den ersten beiden Themen vergewissert man sich seiner Biografie, seiner Vergangenheit und schaut zurück. In den letzten beiden geht es um die Frage, wie auf dem Hintergrund der eigenen Biografie die Zukunft gestaltet werden kann, was der richtige Weg für einen ist. Bei herkömmlichen Exerzitien gerät der Zusammenhang, vor allem der zwischen der Schuld und der Berufung, manchmal in den Hintergrund. Man könnte den Eindruck bekommen, mit einer Beichte am Ende der zweiten Woche sei das Thema Schuld erledigt und nun könne man frisch und unbelastet an die Frage der Berufung gehen. Damit wären die Exerzitien wohl missverstanden, aber faktisch erleben manche den Exerzitienprozess wohl so. Ignatius von Loyola hat vor einem solchen Verständnis gewarnt, wenn er immer wieder betont hat, dass wir als Sünder(innen) berufen sind. Welches aber der Zusammenhang zwischen Sünde und Berufung ist, bleibt oft unklar. Manchmal wird die Formel so verstanden, als solle sie Jesuiten vor Überheblichkeit und Arroganz warnen. Dabei geht es wohl um etwas anderes. Ist in der Berufung, so wie ich sie leben möchte, tatsächlich Platz für die Verwundungen und die Schuld, die mich als Mensch auch prägen, oder dient die Berufung dazu, den Verwundungen ein für allemal aus dem Weg zu gehen? Wie integriert sind die Verletzungen in die Berufung? Für die Frage, ob ein Leben gelingen kann oder misslingt, scheint uns diese Frage ganz zentral zu sein. Gerade hochbegabte junge Erwachsene sind in der Gefahr, durch ihre außerordentlichen intellektuellen Fähigkeiten ein nach außen hin glänzendes und attraktiv wirkendes Leben zu führen, das innerlich aber hart und leer ist.

Als einen letzten Aspekt könnte man den subversiven Charakter des Exerzitienprozesses nennen. Durch die Kombination von Yogaübungen, Meditation, Stille, den Tagesthemen, gemeinsamem Austausch und Einzelgesprächen bekommen die Teilnehmer(innen) ja vor allem Methoden und Werkzeuge an die Hand. Mit diesen können sie sich der Frage nähern, inwiefern die inneren Bilder des Lebens, das sie führen möchten, Bilder sind, denen sie Vertrauen schenken können, weil in ihnen ihre eigene Vorstellung vom gelungenen Leben zum Tragen kommt. Oder ob es Bilder sind, die ihre Energie davon bekommen, es anderen Menschen rechtmachen zu wollen und Verletzungen aus dem Weg zu gehen. Gerade hochbegabte junge Erwachsene sehen sich mit sehr vielen Appellen und Wünschen an sie konfrontiert: Sie sollen das leben, was die Eltern nie leben konnten; sie haben eine hervorragende Ausbildung genossen und ihnen wird gesagt, nun resultierten daraus bestimmte Pflichten und eine besondere Form der Verantwortung; sie zehren von der öffentlichen Anerkennung, die mit der Gründung eines Startups und einer Firma verbunden ist – immerhin ist das, was früher der DJ war, heute ein Startupler; sie fühlen sich verpflichtet, einen Familienbetrieb zu übernehmen, ohne sich zu fragen, ob sie sich dieses Projekt selbst zu eigen machen können und darin ihr Leben bejahen können. Wir wollen mit unseren Akademien den jungen Erwachsenen einen Raum zur Verfügung stellen, in dem sie in einen grundsätzlichen Abstand allen Wünschen und Appellen gegenüber kommen und sich dann selbstbestimmt fragen können, welcher dieser Wünsche zu ihnen passt, mit welchem moralischen Appell sie sich identifizieren möchten – und mit welchen auch nicht. Anders gesagt: Welche Lebensform auf ihrem Fundament ruht, in welcher Weise sie ihrer Sehnsucht Raum geben und Verletzungen integrieren können und das, was ihnen wichtig ist und was sie lieben, im äußeren Leben immer stärker Ausdruck findet.

Die Akademien, die wir seit 2013 sechsmal im Jahr durchführen und von der Karl Schlecht Stiftung großzügig gefördert werden, sind im letzten Jahr mit sehr guten Ergebnissen vom Deutschen Stifterverband evaluiert worden. Besonders interessant war dabei für uns die Befragung der Alumni, deren Akademieteilnahme teilweise schon mehrere Jahre zurücklag. Es hat sich gezeigt, dass die Themen der Akademie, aber vor allem die Haltung und Perspektive dem eigenen Leben gegenüber, die Teilnehmer(innen) noch Jahre nach ihrem Akademiebesuch prägt. Die besondere Stärke liegt dabei in der Kombination von Meditation und Reflexion, wie sie für die Ignatianische Spiritualität charakteristisch ist. Durch die Meditation spüren die Teilnehmer(innen) immer sensibler, welche Kräfte in ihnen wirken und was sie jenseits von Alltagsfragen eigentlich beschäftigt; durch die Reflexion lernen sie, die inneren Bewegungen immer besser zu verstehen und zu deuten. So hoffen wir, dass auch abseits des christlichen Glaubens im engen Sinn das ignatianische Ideal des contemplativus in actione von zukünftigen Führungskräften in Spitzenposition gelebt werden kann; oder, anders ausgedrückt, dass zukünftige Führungskräfte eine Haltung lernen, die Frère Roger, der Gründer der Gemeinschaft von Taizé, mit dem Ausdruck „Mit versöhntem Herzen kämpfen“ eindrücklich beschrieben hat.

1 Sehr hilfreich fanden wir dabei C.-M. Tan, Search Inside Yourself. München 2015. Tan gehört zur ersten Führungsmannschaft bei Google und hat wesentlich dazu beigetragen, Meditation in Unternehmen einzuführen.

Geist & Leben 1/2020

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