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Johannes Beutler SJ | Frankfurt

geb. 1933, Dr. theol., Prof. em. für Theologie des

Neuen Testamentes und Fundamentaltheologie

an der Philosophisch-Theologischen Hochschule

Frankfurt St. Georgen

johannes.beutler@jesuiten.org

Jesus und die Familie nach dem Johannesevangelium

Die Familie bildet ein wichtiges Thema in christlichen Gruppen und Gemeinden. Jedes christliche Nachdenken zu diesem Thema wird mit einem Blick auf das Gotteswort, die Bibel, beginnen. Was sagt uns die Schrift zur Familie, was sagen die Evangelien und was sagt Jesus selbst nach diesen Evangelien? Die ersten drei Evangelien nach Matthäus, Markus und Lukas scheinen auf den ersten Blick mehr Stoff zu diesem Thema zu bieten. Hier sehen wir Jesus in der Begegnung mit Männern, Frauen und Kindern, die er segnet. Jesus lehrt hier über die Ehe und die Berufung zu einem Geweihten Leben. Schon nach den ersten Evangelien begleitet die Mutter Jesu ihren Sohn bis unter das Kreuz und nach der Apostelgeschichte gehört Maria mit anderen Frauen und den Brüdern Jesu zur Gruppe der ersten Jünger(innen) Jesu, die nach seiner Auferstehung auf die Herabkunft des Heiligen Geistes warten (Apg 1,14).

Zunächst scheint die Familie im Johannesevangelium eine untergeordnete Rolle zu spielen. Dieses Evangelium ist stark auf die Beziehung zwischen Jesus als Sohn und Gott als seinen Vater ausgerichtet. Der Gott Israels ist für Johannes der Vater Jesu und der Gläubigen. Dies schließt nicht aus, dass sich im Johannesevangelium viele Elemente des Familienlebens finden, sei es im natürlichen, sei es im geistlichen Sinne. Jesus erscheint hier als Sohn einer menschlichen Familie, und er begegnet zahlreichen Menschen, die ein Familienleben führen. Nur so wird der Blick frei für eine geistliche Dimension des Familienlebens. Folgen wir diesen Beobachtungen Schritt für Schritt.

Die Familie Jesu

Im Johannesevangelium finden wir einige Hinweise auf die Familie Jesu, die Beachtung verdienen. Im ersten Kapitel des Evangeliums berichtet uns der Evangelist von der Berufung der ersten Jünger Jesu. Unter ihnen befindet sich als letzter Natanaël. Philippus, der zuvor von Jesus berufen worden war, sagt zu ihm: „Wir haben den gefunden, über den Mose im Gesetz und auch die Propheten geschrieben haben: Jesus, den Sohn Josefs, aus Nazaret“ (Joh 1,45). Natanaël ist überrascht und antwortet: „Kann aus Nazaret etwas Gutes kommen?“ Philippus erwidert: „Komm und sieh!“ (Joh 1,46) In der Folge gelangt Natanaël zu einem tieferen Glaubensbekenntnis als die vorangegangenen, nachdem ihm Jesus gesagt hatte, dass er ihn unter dem Feigenbaum gesehen habe: „Rabbi, du bist der Sohn Gottes, du bist der König von Israel!“ (Joh 1,49) Die Nennung Josefs als Vater Jesu entpricht dem menschlichen Vater Jesu in den synoptischen Evangelien. Im Gegensatz zu einem Teil von ihnen erwähnt der vierte Evangelist nicht die jungfräuliche Geburt Jesu, ebenso wie Paulus und Markus.1 Die erste Kirche konnte mit solchen unterschiedlichen Sichtweisen leben. So hatte Jesus nach Johannes und den anderen Evangelisten auch Geschwister. Die Brüder Jesu2 werden zum ersten Mal beim Bericht von der Hochzeit von Kana in Joh 2,1–12 erwähnt. Mit der Mutter Jesu, von der im weiteren Verlauf die Rede sein soll, nehmen sie an dieser Hochzeit teil und begleiten dann nach dem Wunder Jesus und die ersten Jünger nach Kafarnaum (Joh 2,12). Es lässt sich denken, dass die Brautleute dieser Hochzeit zur Familie Jesu gehörten. Auch davon soll noch die Rede sein.

Wir begegnen den Brüdern Jesu erneut im Zusammenhang mit dem Fest der Tempelweihe in Joh 7. Hier fordern seine Brüder Jesus auf: „Geh von hier fort, und zieh nach Judäa, damit auch deine Jünger die Taten sehen, die du vollbringst. Denn niemand wirkt im Verborgenen, wenn er öffentlich bekannt sein möchte“ (Joh 7,3 f.). Für den Evangelisten geht diese Aufforderung auf den Mangel an Glauben bei den Brüdern Jesu zurück. Jesus geht auf die Bitte seiner Brüder zunächst nicht ein, da, wie er sagt, seine Zeit noch nicht erfüllt sei (Joh 7,8). Trotz dieser Aussage geht Jesus später zum Fest hinauf, freilich im Verborgenen (V. 10).

Welche Rolle spielen die Brüder Jesu? Auf der einen Seite begleiten sie ihn und wünschen, dass er Anerkennung findet. Der Schauplatz dieser Selbstdarstellung Jesu wäre das Laubhüttenfest, zu dem viele Pilger aus ganz Israel und aus dem Ausland zusammenströmen. Es gibt keine geeignetere Gelegenheit für die Selbstoffenbarung Jesu. Auf der anderen Seite bleiben die Brüder Jesu auf der Ebene des Nikodemus, für den Jesus ein Rabbi ist, „ein Lehrer, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, wenn nicht Gott mit ihm ist“ (Joh 3,2). Jesus ist eine große, außerordentliche Persönlichkeit in Wort und Tat, und so gilt für Nikodemus wie für die Brüder Jesu: „Gott ist mit ihm“. Für den Evangelisten reicht dies nicht aus: Jesus ist nicht von Gott, sondern er ist Gott und handelt in Einheit mit dem Vater.3 Dies wird erst offenbar, wenn die „Stunde“ Jesu im Augenblick seiner Verherrlichung durch sein Leiden, seinen Tod und seine Auferstehung gekommen ist. Dies war bereits die Botschaft der Erzählung von der Hochzeit von Kana, als Jesus die Bitte seiner Mutter zurückwies, dem jungen Paar mit einem Wunder zu helfen. Auch damals war dies Wunder nur möglich in Verbindung mit der „Stunde“ Jesu.

Jesus und das Familienleben

Die sprachliche Welt der Familie durchzieht das ganze Johannesevangelium, sei es im menschlichen, natürlichen Sinne, sei es im übertragenen, geistlichen. Schon im Prolog (Joh 1,1–18) ist davon die Rede, „Kinder Gottes zu werden“, nicht dem Fleische nach oder aufgrund des Begehrens des Fleisches oder des Blutes, sondern durch den Glauben (Joh 1,12 f.). Im Bericht vom Gespräch Jesu mit Nikodemus ist das Thema der Geburt zentral. Jesus sagt zu Nikodemus: „Wenn jemand nicht von oben geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen“ (Joh 3,3). Nikodemus erweist sich als unfähig, dieses Wort Jesu zu verstehen und versteht es in natürlichem Sinne: „Wie kann ein Mensch, der schon alt ist, geboren werden? Kann er etwa in den Schoß seiner Mutter zurückkehren und noch einmal geboren werden?“ (V. 4) Darauf erwidert Jesus: „Amen, amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; was aber aus dem Geist geboren ist, das ist Geist. Wundere dich nicht, dass ich dir sagte: Ihr müsst von neuem geboren werden. Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist“ (Joh 3,5–8). Wir sehen, wie Jesus sich die sprachliche Welt der Geburt zu eigen macht, sie aber in einem übertragenen Sinn benutzt: von oben geboren werden heißt neu geboren werden, nicht aus dem Mutterschoß, sondern durch das Wirken des Heiligen Geistes.

Kürzlich ist darauf hingewiesen worden, dass familiäre Beziehungen eine Rolle bei der Bildung des Jüngerkreises Jesu spielen können.4 Dies lässt sich bereits beim Bericht von der Berufung der ersten Jünger Jesu beobachten. Der Text sagt: „Andreas, der Bruder des Simon Petrus, war einer der beiden, die das Wort des Johannes gehört hatten und Jesus gefolgt waren. Dieser traf zuerst seinen Bruder Simon und sagte zu ihm: Wir haben den Messias, das heißt übersetzt: Christus, gefunden. Er führte ihn zu Jesus. Jesus blickte ihn an und sagte: Du bist Simon, der Sohn des Johannes, du sollst Kephas, das bedeutet: Petrus, Fels, heißen“ (Joh 1,40–42). Hinter diesem Text können wir die Szene von der Berufung der ersten Jünger Jesu am See Gennesaret in Mk 1,16–20 sehen. Die Szenerie ist verschieden, doch die Personen sind die gleichen. In Joh 21,2 werden noch die Zebedäussöhne genannt, die Brüder Jakobus und Johannes.

Die Rolle von Brüdern und Schwestern im Johannesevangelium zeigt sich auch im Bericht von der Freundschaft Jesu mit Lazarus und seinen beiden Schwestern in Joh 11,1–44, schon in den Eingangsversen 1–5. Dieser Text ist schön, denn er zeigt uns Jesus nicht nur auf den künftigen Dienst von Brüdern in seiner Gemeinde ausgerichtet, sondern als Freund der Familie des Lazarus: des Lazarus selbst und seiner beiden Schwestern. Er „liebte“ sie sogar. Während des ganzen Berichtes zeigt Jesus den beiden Schwestern seine liebevolle Zuwendung im Augenblick des Verlustes ihres Bruders. Es sind nicht nur Männer, sondern auch Frauen, denen Jesus seine Freundschaft und Liebe erweist. Ganze Familien können diese Erfahrung machen.

Bei verschiedenen Gelegenheiten sehen wir Jesus voller Verständnis für schwierige Situationen im Ehe- und Familienleben. So ist es bei seiner Begegnung mit der Frau aus Samaria in Joh 4. Ein erster Gesprächswechsel mit dieser Frau betrifft die Gabe des Lebens und des Geistes durch Jesus unter dem Bild des Wassers. Die Frau versteht Jesus nur bis zu einem gewissen Punkt. Sie hat verstanden, dass ihr Jesus lebendiges Wasser versprochen hat, das nicht mehr aus dem Brunnen kommt. Doch hat sie das in physischem Sinne verstanden, und so bleibt der Dialog blockiert. In diesem Augenblick wechselt Jesus das Thema und führt die Frau mit ihrem eigenen konkreten Leben in das Gespräch ein. Er lädt die Frau ein: „Geh, ruf deinen Mann und komm wieder her!“ (Joh 4,16) Darauf antwortet die Frau: „Ich habe keinen Mann“ (V. 17). Jesus antwortet ihr: „Du hast richtig gesagt: Ich habe keinen Mann. Denn fünf Männer hast du gehabt und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann. Damit hast du die Wahrheit gesagt“ (VV. 17 f.).

Die Exeget(inn)en diskutieren über den Sinn dieser Worte Jesu.5 Vielleicht beziehen sie sich auf die heidnischen Gottheiten, die die Samaritaner nach ihrer Heimkehr aus dem Exil aus Assyrien verehrt hätten. Auf jeden Fall nimmt Jesus die Familiensituation seiner Gesprächspartnerin, der Frau aus Samarien, ernst, und nimmt sie zum Ausgangspunkt für eine Botschaft über den rechten Kult und Kultort. Es fällt auf, dass Jesus in keiner Weise die Frau verurteilt. Er nimmt die Situation, wie sie ist, und nutzt sie für seine Botschaft über den rechten Kult. Jesus ist kein Moralist. Das gleiche lässt sich bei einem anderen Text des Johannesevangeliums beobachten, der Geschichte von Jesus und der des Ehebruchs angeklagten Frau in Joh 7,53–8,11.6 Der ursprüngliche Ort dieses Textes ist unbekannt. Der Text erscheint an der heutigen Stelle erst seit dem 5. Jh., ist jedoch deutlich älter. Vermutlich wurde er an verschiedenen Stellen des Neuen Testaments eingefügt, noch ohne festen Platz, da sein Inhalt problematisch erschien: ein Jesus, der einer beim Ehebruch ertappten Frau Verzeihung gewährt und sie nicht verurteilt, erschien der ersten Kirche gefährlich und deshalb tat man sich schwer damit, den Text dem Neuen Testament fest einzufügen. Stil und Sprache des Textes passen nicht recht zum Johannesevangelium. Man denkt eher an Lukas mit seiner ähnlichen Szene von Jesus und der Sünderin in Lk 7,36–50. Doch auch im Zusammenhang von Joh 7–10 liest sich unser Text durchaus sinnvoll. Jesus spricht hier wiederholt vom Gericht. Dies ist auch das Thema des Abschnitts von Jesus und der des Ehebruchs angeklagten Frau.

In diesem Text bringen einige Pharisäer und Schriftgelehrte eine angeblich beim Ehebruch ertappte Frau zu Jesus. Nach dem Gesetz des Mose musste eine solche Frau gesteinigt werden – doch was sagt Jesus dazu, der doch für seine Barmherzigkeit gegenüber den Sündern bekannt ist? Ganz offensichtlich handelt es sich hier um eine Falle. Wenn Jesus die Frau seinerseits verurteilt, handelt er gegen seine Prinzipien, wenn er es nicht tut, riskiert er einen Konflikt mit dem Gesetz des Mose. Die Antwort Jesu besteht in einer Zeichenhandlung. Jesus bückt sich und schreibt mit dem Finger auf die Erde – Worte, die uns unbekannt bleiben. So ist es offenbar nicht der von Jesus geschriebene Text, sondern das Schreiben selbst, worin die Antwort Jesu liegt. Der heilige Augustinus hat den Sachverhalt gut erklärt: dem in Stein gemeißelten Gesetz stellt Jesus etwas in Sand Geschriebenes gegenüber, das bald verwischt sein wird und man nicht als Waffe gegen die angeklagte Frau gebrauchen kann. Dieser Handlung entspricht das Wort Jesu an die Frau, ob sie niemand verurteilt habe. Wenn es niemand war, dann wird auch er sie nicht verurteilen, und so sendet er sie nach Hause, nur mit der Mahnung, fortan nicht mehr zu sündigen – was nicht bedeutet, dass Jesus von ihrer Schuld überzeugt war. Es waren nur die Umstehenden, die einer nach dem anderen nach Hause zurückkehrten, angefangen von den Ältesten, da sie nicht ohne Schuld waren.

Was folgt aus dieser Szene für unser Thema von Jesus und der Familie? Jesus ergreift für eine wegen eines Vergehens angeklagte Frau Partei, indem er nicht zulässt, dass man das Gesetz des Mose gegen sie wie eine tödliche Waffe einsetzte. Seine Handlung des Schreibens in den Sand bedeutet auf jeden Fall, dass für ihn das Gesetz Wort Gottes ist, das zum Leben und nicht zum Tod führen soll. Auch ein Vergehen gegen die eheliche Treue ist für ihn kein Grund, den/die Schuldige(n) zu töten. Er verurteilt die Sünde, aber nicht den/die Sünder(in).

Die Szene von der Hochzeit zu Kana (Joh 2,1–12) ist heiterer. Eine erste Beobachtung zum Text kann sein, dass Jesus sein öffentliches Wirken mit seiner Teilnahme an einer Hochzeit beginnt, dem fröhlichsten Fest, das Menschen feiern können. Nach den Synoptikern eröffnet Jesus sein öffentliches Wirken nach der Bußpredigt des Täufers mit den Worten: „Die Zeit ist erfüllt; das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,15) Es folgt die Berufung der ersten Jünger. Diese findet sich auch in Joh 1, doch die erste Handlung Jesu ist seine Teilnahme an der Hochzeit von Kana, die in den anderen Evangelien nicht erwähnt wird. Damit bringt der vierte Evangelist zum Ausdruck, dass Jesus an erster Stelle nicht gekommen ist, um zur Buße aufzurufen, sondern um eschatologische Freude zu schenken. Diese Beobachtung wird dadurch gestützt, dass Jesus die Freude der Brautleute und ihrer Gäste durch das Geschenk einer gewaltigen Menge köstlichsten Weins rettet, als dieser ausgeht. Die Hochzeit und das Hochzeitsmahl sind biblische Bilder seit den ältesten Zeiten (vgl. Hos 2,1–3,5; Jes 54,4–8; 62,4–5; Ez 16; Mt 8,11; 22,1–14; Lk 22,16–18; Offb 19,9).

Heute sehen die Exegeten auch den Einfluss des Mythos vom griechischen Gott Dionysos an unserer Stelle.7 Dieser Gott schenkt Wein den Reisenden oder den Menschen, die zu seinem Tempel kommen, vor allem am 6. Januar, dem Fest des Gottes. Unser Fest der Epiphanie könnte daran noch eine Erinnerung bewahren. Für den Evangelisten ist Jesus der neue Dionysos, der bei dem Weinwunder auf der Hochzeit von Kana dem Gottesvolk die von den Propheten angekündigte Freude schenkt.

In Joh 3,2–36 beschreibt der Evangelist das Wirken Jesu in Judäa, dem Südteil des Heiligen Landes, bevor er über Samaria nach Galiläa aufbricht. In Judäa befindet sich eine Reihe von Jüngern des Täufers Johannes, die eine Diskussion über die vom Täufer und die von Jesus gespendete Taufe anfangen. Bei dieser Diskussion ergreift der Täufer selbst das Wort und erklärt seine Beziehung zu Jesus mit einem Bild, in dem er sich als Freund des Bräutigams bezeichnet, der sich über den Bräutigam (Jesus) freut (Joh 3,28 f.). Für unseren Zusammenhang ist von Belang, dass die Beziehung zwischen Jesus und dem Gottesvolk mit dem Bild von Braut und Bräutigam beschrieben wird. Dieses im Alten Testament vorbereitete Bild findet seine Vollendung in der Sendung Jesu Christi.

Welche Rolle spielen junge Erwachsene im Johannesevangelium? Aufschlussreich ist hier die Geschichte von der Heilung des Blindgeborenen in Joh 9. Da Jesus den Blinden an einem Sabbat geheilt hatte, schließt sich an den Bericht der wunderbaren Heilung eine Folge von Szenen, bei denen sich die Gegenspieler Jesu, Pharisäer oder auch einfach „Juden“ genannt, immer wieder den Vorgang schildern lassen, und wer es sei, der den Blinden geheilt hätte. So werden auch die Eltern des Geheilten gefragt. Diese weichen jedoch aus, da sie fürchten, aus der Synagogengemeinde ausgeschlossen zu werden, wenn sie einen Glauben an Jesus bekundet hätten. So antworten sie: „Fragt doch ihn selbst. Er ist alt genug und kann selbst für sich sprechen!“ (Joh 9,21) Das tut der geheilte junge Mann dann auch und erklärt freimütig, schon zum zweiten Mal, dass Jesu ihn geheilt habe (den er noch nicht mit Namen kennt). Er riskiert damit den von den Eltern befürchteten Konflikt mit den jüdischen Autoritäten und wird in der Tat aus der Synagoge ausgeschlossen. Bei einer erneuten Begegnung mit Jesus bekundet er ihm ausdrücklich seinen Glauben. So wird er zu einem Vorbild für furchtloses Bekenntnis zu Jesus, selbst um den Preis des Verlustes seines sozialen Netzes.

Die Mutter Jesu

Die Mutter Jesu nimmt im vierten Evangelium einen besonderen Platz ein. Wir kennen ihren Namen nur durch die synoptischen Evangelien, doch besitzt sie im vierten Evangelium eine Bedeutung, die über die in den synoptischen Evangelien hinausgeht. Wir finden Maria in zwei Texten des Johannesevangeliums, die eine Klammer bilden: am Anfang beim Bericht von der Hochzeit von Kana in Joh 2,1–12 und am Ende in der Szene von den Frauen und dem Lieblingsjünger unter dem Kreuz in Joh 19,25–27. Schon diese Tatsache unterstreicht die Bedeutung der Mutter Jesu für den Evangelisten. Maria umschließt die ganze Offenbarung Jesu nach Johannes vom Anfang bis zum Ende.

Im Bericht von der Hochzeit von Kana nennt der Evangelist die Mutter Jesu vor diesem selbst und seinen Jüngern (später auch den Brüdern). Wir haben gesehen, dass der Grund für diese Tatsache vielleicht darin liegt, dass die Brautleute zur Familie Jesu und seiner Mutter gehörten. Vielleicht spürt Maria gerade aus diesem Grunde eine besondere Verantwortung für das junge Paar, als der Wein auszugehen beginnt. In dieser Situation denkt sie, dass Jesus eine Möglichkeit haben wird, den jungen Leuten zu helfen. Wir wissen nicht, ob sie gleich an ein Wunder dachte, doch lässt sich das nicht ausschließen. Auf jeden Fall versteht Jesus ihren Hinweis in diesem Sinne und weist sie in einem ersten Augenblick zurück: „Was willst du von mir, Frau? Meine Stunde ist noch nicht gekommen“ (Joh 2,4). Die Anrede „Frau“ überrascht an dieser Stelle. Auf den ersten Blick drückt sie Distanz aus. Im größeren Zusammenhang der Erzählung könnte sie jedoch einen tieferen Sinn haben. Offenbar tritt Maria in diesem Bericht an die Stelle der Braut, Gefährtin des Bräutigams (wir erinnern uns an das Wort des Täufers in Joh 3,29). Dieselbe Bezeichnung der Mutter Jesu wird in Joh 19,26–27 wiederkehren.

Dieser zweite Text, der im Johannesevangelium von Maria spricht, ist eine Szene unter dem Kreuz Jesu in seiner Todesstunde. Im Unterschied zu der Darstellung der Synoptiker stehen die Frauen nach Johannes direkt unter dem Kreuz und beobachten aus der Nähe das Geschick Jesu. Sie werden schon vor dem Tod Jesu erwähnt und nicht erst nachher wie bei den Synoptikern. Entsprechend der Zahl der vier Soldaten, die unter sich die Kleider Jesu aufteilen (Joh 19,23), werden vier Jesus nahestehende Frauen erwähnt: die Mutter Jesu, die Schwester seiner Mutter, eine weitere Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala (Joh 19,25). Zuvor: Grausamkeit, jetzt: Freundschaft und Liebe.

Vor Jesu letzten Worten: „Mich dürstet“ und „Es ist vollbracht“ richtet er seine Worte an die Mutter und an den Lieblingsjünger, der erst hier in die Szene eingeführt wird: „Frau, siehe, dein Sohn!“ – „Siehe, deine Mutter!“ Diese Worte Jesu haben eine unterschiedliche Deutung erfahren. Vor allem katholischerseits betont man die marianische Bedeutung des Textes. Maria erscheint als Mutter nicht nur des Lieblingsjüngers, sondern der ganzen Kirche, die dieser vertritt. Dieser Sinn ist sicher auch gegeben, doch verdient er eine Ergänzung: Maria wird auch dem Lieblingsjünger anvertraut. In der Tat schließt der Text mit der Mitteilung: „Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich“ (V. 27). Der Grund für diesen Vorgang liegt in der sozialen Stellung der Witwe, die ihren Sohn, Grundlage ihrer sozialen und wirtschaftlichen Sicherheit, verloren hat. So nimmt der geliebte Jünger Maria auf und nicht umgekehrt.

Selbstverständlich hat diese Szene auch ihre spirituelle und metaphorische Bedeutung, als eine der sieben Szenen des Berichtes vom Kreuzestode Jesu (Joh 19,16b–42), in deren Mitte sie steht. Die Mutter Jesu ist seine treueste und nächste Begleiterin während seines Lebens. Darum nennt Jesus sie auch zweimal „Frau“. Im Augenblick des Scheidens Jesu überlässt Maria ihren Platz dem Lieblingsjünger. Er ist der Vertreter der entstehenden Kirche, der Mann, der Jesus seit dem Letzten Abendmahl und bis unter das Kreuz nahe ist und der der erste Jünger sein wird, der nach dem Lauf zum Grab die Auferstehung erkennen wird (Joh 20,3–10). Der Schluss des Evangeliums in Joh 21 sieht in ihm nicht nur den verlässlichen Zeugen Jesu, sondern auch den Verfasser des vierten Evangeliums: er wird das Fundament des Glaubens für die zukünftigen Gläubigen sein (vgl. VV. 24 f.).

Rückblick und Ausblick

Was lehrt uns das Johannesevangelium über die Familie? Es enthält dazu keine eigentliche Lehre. Doch kann man sehen, wie Jesus das Familienleben lebt und wie er es bewertet. Das vierte Evangelium beschreibt uns Jesus als ein Mitglied einer Familie mit Vater, Mutter und Brüdern (Geschwistern). Mit ihnen gibt es nicht nur eine biologische, sondern auch eine geistliche Beziehung. Gegen Ende des Evangeliums erweitert sich die Perspektive. „Brüder“ Jesu werden jetzt die Jünger Jesu, zu denen Maria von Magdala mit ihrer Osterbotschaft gesandt wird. Die menschliche Familie kann sich öffnen in Richtung auf eine Sicht, bei der es nicht mehr um die blutsmäßige Verwandtschaft, sondern um eine menschliche und geistliche geht.

Das gleiche gilt von der Beziehung Jesu zu seiner Mutter. Auf der einen Seite erscheint sie als seine natürliche Mutter, Teil seiner Familie, die auch Familiensinn zeigt bei ihrer Teilnahme an der Hochzeit von Kana und Sensibilität gegenüber dem jungen Paar, vermutlich Verwandten. Sie geht den Weg ihres Sohnes bis zum Ende mit, bis unter das Kreuz. Sie lässt ihn in diesem Augenblick letzten undäußersten Leidens nicht allein. Sie vernimmt auch sein Vermächtnis, mit dem Jesus sie dem Lieblingsjünger anbefiehlt und diesen ihr. Wie bei den Brüdern Jesu hat auch die Mutter eine Rolle, die über das Natürlich-Biologische hinausgeht. Die Mutter Jesu erweist sich von Anfang an als seine Gefährtin, fast seine Braut, wie sich aus der Anrede „Frau“ bei der Hochzeit von Kana und nachher erneut am Kreuz ergibt. So wird Maria die Mutter nicht nur Jesu, sondern auch des Lieblingsjüngers und mit ihm der Gläubigen in der Zukunft.

Wir können aus dieser Öffnung der Verwandtschaft ersehen, dass auch unsere Familien sich öffnen können und sollen in Richtung auf neue Funktionen und gegenüber neuen formalen oder informellen Mitgliedern, Freunden, Nachbarn, Menschen unterwegs. Wir haben gesehen, dass Jesus von Anfang an nicht nur einzelne, sondern gern auch Brüder beruft und dass er sich als Freund von Familien mit Brüdern und Schwestern erweist wie im Hause des Lazarus. Für die Frage, wie Jugendliche und junge Erwachsene ihren Weg verantwortlich finden und gehen können, war die Geschichte vom Blindgeborenen aufschlussreich. Er ist alt genug, um über seine religiöse Überzeugung Rede und Antwort zu stehen. So ist die Geschichte von seiner Heilung durchaus ein geeigneter Text für Firmgottesdienste.

Eine letzte Beobachtung ergibt, dass Jesus Verheiratete nicht so nimmt, wie sie sein sollten, sondern wie sie sind. Dies zeigte sich bereits im Fall der Frau aus Samarien. Sie hatte fünf Männer und der, mit dem sie jetzt lebt, ist nicht ihr Mann. Jesus weiß all dies, doch er nimmt es nicht als Ausgangspunkt für eine sittliche Belehrung, sondern für ein religiöses Gespräch, in dem er ihr die Beziehung zwischen Gott und den verschiedenen Kulten erklärt. Die gleiche Ausrichtung lässt sich bei der Erzählung von Jesus und der des Ehebruchs angeklagten Frau feststellen.

Wir erleben heute eine Diskussion um den rechten Umgang mit Menschen, die nach einer Scheidung neu geheiratet haben. Einige Katholik(inn)en sind in Gefahr, wie die Pharisäer und Schriftgelehrten zu urteilen: Wir haben ein Gesetz, und nach diesem Gesetz müssen sie von den Sakramenten ausgeschlossen werden. Dieser Argumentation setzen andere, mit den Kirchenvätern, entgegen, dass die Sakramente für die Sünder(innen) und nicht für die Heiligen bestimmt sind. Vielleicht hilft uns die Evangelienerzählung von Joh 7,53–8,11 von Jesus und der des Ehebruchs angeklagten Frau, eine Lösung zu finden, die sich mit Recht christlich nennen darf.8

1 Für den Vorschlag, in Joh 1,13 die Gotteskindschaft ohne menschliche Zeugung nicht auf die Gläubigen, sondern auf Jesus zu beziehen, wie von einigen Autoren vorgeschlagen, fehlt es an neutestamentlichen Textzeugen.

2 Vgl. J. Beutler, Brüder Jesu, in: M. Görg / B. Lang (Hrsg.), Neues Bibel-Lexikon I. Zürich 1991, 337.

3 Vgl. J. Beutler, Das Johannesevangelium. Kommentar. Freiburg – Basel – Wien22016, 136 u. 244–246; O. Hofius, Das Wunder der Wiedergeburt. Jesu Gespräch mit Nikodemus in Joh 3,1–21, in: ders. / H.-C. Kammler, Johannesstudien. Untersuchungen zur Theologie des vierten Evangeliums (WUNT, 2. Reihe, 84). Tübingen 1996, 33–80, hier: 38.

4 Vgl. A. Destro / M. Pesce, Kinship, Discipleship, and Movement: An Anthropological Study of John’s Gospel, in: Biblical Interpretation 3 (1995), 266–284.

5 Vgl. J. Beutler, Johannesevangelium, 161 [s. Anm. 3].

6 Vgl. ebd., 261–266.

7 Vgl. ebd., 124–126.

8 Sehr eindringlich stellt Papst Franziskus die Szene von Jesus und der des Ehebruchs angeklagten Frau an den Anfang seines Apostolischen Schreibens „Misericordia et misera“ zum Abschluss des Außerordentlichen Jahres der Barmherzigkeit (VApS 207). Bonn 2016. Vom Thema der Barmherzigkeit ist auch der Schlussabschnitt eines weiteren Dokumentes bestimmt: Nachsynodales Schreiben „Amoris laetitia“ des Heiligen Vaters Papst Franziskus (VApS 204). Bonn 2016, 205–225.

Geist & Leben 3/2018

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