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Felix Körner SJ | Rom

geb. 1963, Dr. theol., Dr. phil., Professor für Dogmatik und Theologie der Religionen an der Päpstlichen Universität Gregoriana

koerner@unigre.it

Spiritualität als Weltverantwortung

Muslime und Christen in Deutschland 1

In die Verantwortung gerufen

Gott ruft uns in die Verantwortung. Mit diesem Satz erkläre ich gern, was der Koran den Menschen sagt. Gott ruft uns in die Verantwortung. Was bedeutet das? Der Koran führt uns eine Gottesbegegnung am Ende der Geschichte vor Augen, und zwar drastisch: Er zeigt eine Gerichtsszene. Gott wird uns Fragen stellen. Damit zieht er uns zur Rechenschaft. Sogar einige der Rechenschaftsfragen hören wir im Koran; etwa die, was wir im Laufe unseres Lebens mit unseren Sinnen angefangen haben, mit Sehen und Hören – und wie wir unseren fu’ād gebraucht haben, also „Herz und Verstand“ (al-Isrā’ 17:36); und Gott wird uns dem Koran zufolge fragen, ob wir treu zu unseren Verpflichtungen gestanden haben, besonders gegenüber den Bedürftigsten (al-Isrā’ 17:34). Gott fragt nicht, weil er es nicht wüsste, sondern weil wir selbst wissen können und einsehensollen, was gut ist. Denn: Gott ruft uns in die Verantwortung. Das heißt also erst einmal, es geht um die Beantwortung von Fragen; und natürlich nicht nur um Antworten am Ende der Zeit. Über das Geschichtsende spricht der Koran, damit wir uns die Frage schon heute stellen: Wie gehst du mit deinen Lebensmöglichkeiten um?2

Gott ruft uns in die Verantwortung – das ist aber keine Drohung, die uns in unserer Entfaltung blockieren will. Das ist nicht der Sinn der koranischen Gerichtsworte; und das wäre auch genau die Falle aus dem Talente-Gleichnis Jesu. Darin erzählt er von drei Dienern; der dritte von ihnen hat sein „Talent“, das ihm anvertraute Geld, vergraben, statt es zu investieren und etwas zu riskieren. Als dieser Diener zur Verantwortung gezogen wird, begründet er sein Handeln so – oder besser, sein Nicht-Handeln: „Weil ich Angst hatte, habe ich dein Geld in der Erde versteckt“ (Matthäus 25,25). Jesus zeigt, dass eine solche Angst eine missverstandene Ehrfurcht wäre. Nein, Gott ruft uns nicht in eine Gerichtsangst, die uns verschließt. Er ruft uns vielmehr in die Verantwortung, damit wir jetzt in „Sorge für das gemeinsame Haus“ leben. So hat es Papst Franziskus ausgedrückt. In seiner Umwelt-Enzyklika ruft auch er uns in die Verantwortung–vor den jungen Menschen; denn sie werden die Folgen unserer Unverantwortlichkeit zu tragen haben. Er ruft uns in die Verantwortung vor allem gegenüber den Armen; denn die in der größten Not haben auch am meisten an unserer Gedankenlosigkeit zu leiden. Papst Franziskus lädt uns deshalb „zu einem neuen Dialog ein über die Art und Weise, wie wir die Zukunft unseres Planeten gestalten“ (Laudato si’, Nr. 14). Gestalten! Das heißt: nicht erstarren aus Angst vor der Rechenschaft; sondern lernbereit, gesprächsbereit, risikobereit und korrekturbereit für diese Welt sorgen – das ist die Verantwortung, in die Gott uns ruft.

Unsere Verantwortung Gott gegenüber macht uns also welt-verantwortlich, verantwortlich vor unseren Mitmenschen. So sehen wir uns auch als Christ(inn)en und Muslime in eine Verantwortung voreinander gerufen. Nicht, dass wir immer in der Verteidigung wären, sondern: Weil Gott uns in die Verantwortung stellt, packen wir miteinander die Herausforderungen an, denen wir als Gesellschaft in Deutschland und als Land in Europa gemeinsam gegenüberstehen, aber auch die Herausforderungen aufgrund der Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppen. Verantwortlich heißt hier immer: Uns ist diese Welt anvertraut. Sie haben wir als die, die wir sind, mit unseren verschiedenen Lebens- und Denkweisen, zusammen zu schützen und zu entwickeln.

Verantwortungsträger vor Lebensentscheidungen

Nun spüren wir allerdings, dass viele unserer Zeitgenoss(inn)en ihr Leben nicht nur anders von Gott her verstehen, sondern gar nicht von Gott her verstehen. Sie verstehen sich vielmehr als nicht gläubig. Sie halten eine Weltdeutung aus dem Glauben mitunter für überholt. Wie gehen wir damit um? Ein junger Islam-Theologe aus Ankara hat mir vor Jahren erzählt, wie es ihm erging, als er – in München – seinen ersten leibhaftigen Atheisten traf. Er gestand mir, dass er sich gefragt hatte: Wie kann man so blind sein, nicht zu glauben? Das klingt vielleicht hochmütig, war aber vor allem ein Zeichen dafür, was diese Begegnung in ihm ausgelöst hatte: Er empfand sich herausgerissen aus der Selbstverständlichkeit des Glaubens. Das kann uns verunsichern. Die Begegnung mit Nicht-Gläubigen kann uns jedoch auch dankbar machen für das Geschenk, dass wir glauben können; so kann uns das Bewusstsein, dass es nun einmal auch Nicht-Gläubige gibt, bescheidener machen. Und wenn Gott uns in die Verantwortung ruft, heißt das: Wir müssen lernen, unseren Glauben und seine Handlungsfolgen zu erklären; anderen zu erklären – Menschen, die wirklich anders sind als wir, anders denken, anders leben, anders glauben, oder eben gar nicht glauben. Das ist die Welt, in der wir heute gläubig und glaubwürdig zu sein versuchen: die Welt der religiösen, weltanschaulichen Vielfalt.

Nun gibt es aber noch eine weitere Art von Verantwortung – neben der aufrüttelnden Frage Gottes und der lernbereiten Gestaltung der Welt miteinander. Gott ruft uns in die Verantwortung – das zeigt sich auch darin, dass viele von Ihnen Aufgaben haben, die folgenschwere Entscheidungen verlangen. Sie haben Einfluss auf das Leben vieler. Sie sind an Schaltstellen tätig. Sie „haben Verantwortung“ in diesem Sinn. Deshalb sage ich nicht nur „Gott ruft uns zur Verantwortung“, sondern „Gott ruft uns in die Verantwortung“: Er hat uns an Orte gestellt, an denen es auf unsere Klugheit ankommt, an denen wir Entscheidendes ermöglichen können: Wo wir Gutes bewirken können, aber auch das, was sich dann als verkehrt herausstellt; wo wir erheblichen Schaden anrichten können. Das gehört zur Verantwortung.

Wo wir unsere Verantwortung spüren, fragen wir uns deshalb auch, ob wir richtig entscheiden. Als Gläubige in Verantwortung lautet die Frage: Wählen wir wirklich das, was Gott will? Sind wir, auch wo wir gar keine große Entscheidung anstehen sehen, seinem Willen treu? Und: Wie können wir das herausfinden? Hier helfen uns natürlich unsere jeweiligen heiligen Texte. Von der Ur-Kunde unseres Glaubens wollen wir uns mehr und mehr prägen lassen. Sie schenkt uns Orientierung. Jedoch gibt sie selten die unmittelbare Antwort für heute. Jede(r) von uns steht vor Weichenstellungen und fragt:Was ist der bessere Weg für mich und meine Gemeinschaft und für unsere Gesellschaft? Wieviel Anpassung ist notwendig, und wieviel Abgrenzung? Wer ist die richtige Person für diese oder jene Aufgabe? Welche Menschen übersehen wir gerade, welche Entwicklungen, welche Gefahren und welche Chancen? Dabei scheint es mitunter, dass andere sich ihrer Sache sicherer sind als wir selbst. Voller Überzeugung behaupten sie: „So muss es gemacht werden, das ist Gottes Wille!“ Und dann stellt sich nicht selten heraus, dass sie falsch liegen. Nicht wer am lautesten daherkommt, nicht wer den Gotteswillen oder das Schriftwort klar verstanden zu haben behauptet, hat deshalb schon recht.

Ein Stil des Geistes

Was hilft zum verantwortlich Entscheiden? „Überlieferte Weisheit für den interreligiösen Dialog“, dazu will ich heute sprechen; und das heißt: Wir sind uns in manchen Glaubensfragen nicht einig und wollen doch miteinander reden; um einander besser zu verstehen und um uns in Weltfragen auch zu verständigen. Wir müssen gut entscheiden, ohne uns in allem einigen zu können. Was uns auf dem Weg zur Entscheidung hilft, ist oft die „überlieferte Weisheit“. Jede Gemeinschaft hat ihre eigene überlieferte Weisheit, lebt aus ihr, versteht sich aus ihr, entscheidet mit ihr. Für diese überlieferten Weisheiten haben die verschiedenen Religionen verschiedene Bezeichnungen. Christ(inn)en sprechen hierbei oft von der „geistlichen Tradition“. Warum „geistlich“?

Die große Selbstsicherheit entlarvt sich, wie gesagt, leicht als nur scheinbare Treue zu Gott. Die wahre Treue ist für gewöhnlich weniger laut. Sie spricht auch nicht unsere erste schnelle Stimmung an – wie ein Volksverhetzer es versucht. Die wahre Treue zu Gott hat ihren eigenen „Stil“: Sie braucht Zeit, Stille und Bescheidenheit. Wahre Treue beruft sich auch nicht auf die angebliche Sicherheit im Buchstaben, in der Wort-Wörtlichkeit einer Schrift. Sie kann viel schöpferischer sein; und sie ist rücksichtsvoll, denn sie muss die Welt nicht in zwei krass entgegengesetzte Bereiche einteilen: wir gegen die anderen, Offenbarung gegen Vernunft, göttlich gegen weltlich; denn wahre Treue kann versöhnen. Dieser „Stil“ ist typisch für die Atmosphäre des heiligen Geistes. Schon die ersten Christen bezeichneten die wahre Treue zu Gott deshalb als „geistlich“.3

Daher besinnen sich die verschiedenen Traditionen des Christentums vor allem, wenn eine Zeit uns verwirren will, auf das geistliche Verständnis, auf das geistliche Gespräch, auf das geistliche Leben. Das heißt gerade nicht, sich eigensinnig zurückziehen. Geistlich heißt vielmehr hörend leben und kreativ, offen für das, was Gott in dieser Welt wirken will, und bereit, sich darauf einzulassen, wie Gott in dieser Welt wirken will: nämlich durch den Geist.

Heute bezeichnen viele dieses geistliche Leben als „Spiritualität“. Entsprechend sagen auch arabischsprachige Christ(inn)en rūhānīya. Muslime haben für eine ganz ähnliche Sache ein etwas anderes Wort. Sie sagen statt „geistlich“ eher ma‘nawī bzw. manevi. Das ist auch für uns Christ(inn)en eine weiterführende Bezeichnung. Denn wenn man ma‘nawī sagt, bezieht man das „Geistliche“ auf das, was uns „angeht“, auf den „tieferen Sinn“, den Sinn von Texten, den Sinn des Lebens.

Was im Religionsbetrieb fehlt

Von dieser Weisheit der geistlichen Überlieferungen wollen wir heute Abend sprechen. Dabei ist das Geistliche nichts Außerordentliches. Es muss nicht einer bestimmten Menschenklasse vorbehalten sein – den „Geistlichen“ – und sich in begeisternden Schriften ausdrücken, in faszinierender Mystik oder unglaublichen Wundern. Traditionell wurde ein geistliches Leben in den Familien eingeübt. Wir können die Spiritualität in der Normalität suchen, die Mystik des Alltags betrachten, die geistlichen Wege gewöhnlicher Gläubiger; wenn sie uns nur helfen, unser Leben aus dem immer neuen Hören auf Gott zu gestalten. Die überlieferte Weisheit des geduldigen Hörens auf den Herrn kommt in den hochbürokratischen Institutionen unseres Glaubens zu kurz. Das ist mein Eindruck. Die Herzensbildung aus dem Glauben droht vergessen zu gehen. Wir bauen unsere Religionen wie Behörden auf. Wir haben Kanzeln fürs Predigen und Netzwerke fürs soziale Engagement, wir haben Einrichtungen für theologische Forschung und Lehre, wir bilden seelsorgliches Personal aus. Wir haben vielerorts religiösen Schulunterricht; wir errichten eindrucksvolle Gotteshäuser und veranstalten feierliche Gottesdienste: Das sind Zeichen, dass wir Verantwortung übernehmen. Aber sind diese Aktivitäten getragen vom immer neuen Hören auf Gott? Wo sind unsere Räume der Stille? Haben wir die Orte der religiösen Erfahrung, unsere geistlichen Zentren, Klöster, Exerzitienhäuser nicht vernachlässigt, die Schulen des hörenden Betens mitunter belächelt? Haben wir die Traditionen der geistlichen Begleitung, die alten oder neuentdeckten Wege der Suche nach dem Gotteswillen in den Hintergrund gerückt, die überlieferte Weisheit unseres Glaubenslebens? Wenn sie uns verloren geht, wird all unser religiöses Organisieren Bluff, ödes Gedöns.

Noch sind die Weisheitswege unserer Traditionen glücklicherweise nicht verschüttet. Es gibt sie; es gibt unter ihnen zwar Scharlatanerie und spirituelle Show. Aber es gibt auch weiterführende Pfade. Innerhalb unserer Religionen haben verschiedene Gemeinschaften sogar noch einmal unterschiedliche Glaubensstile und Frömmigkeitsformen, folgen unterschiedlichen intuitiven oder methodischen Lebenswegen. Es gibt eben verschiedene Spiritualitäten. Sie können manches voneinander lernen. Sie können so sprechen, dass auch andere deren Weisheit verstehen. Das versuche ich hier zu zeigen. Vom Weg der Unterscheidung ist derzeit viel die Rede. Papst Franziskus unterstreicht immer wieder, wie wichtig sie ihm ist, etwa die „Kunst der pastoralen Unterscheidung“ (Das Geschenk der Berufung zum Priestertum, 43; 120). Aber was soll das denn bitte sein: Unterscheiden?

Gemeint ist natürlich nicht das soziale Unterschiede-Machen; nicht das Diskriminieren,aber auch nicht ein Sich-voneinander-Absetzen imidentitätssuchenden Gegenprofil. Mit „Unterscheiden“ ist auch nicht nur das philosophische Unterscheiden angesprochen: das Differenzieren. Dabei ginge es um Wortbedeutungen, um Begriffsabgrenzungen, und dann um die Einsicht, dass jede Situation wieder anders ist. Ein solches Unterscheiden ist hilfreich; aber hier geht es um mehr. Es geht um das geistliche Unterscheiden. Das ist eine Kunst. Will sagen: Es gibt zwar Regeln; aber mit einfachem Regelbefolgen kommt man nicht wirklich weiter. Es braucht auch ein Gespür, wie die Regeln anzuwenden sind. Das geht nur in Weisheit: intuitiv und kreativ.

Mit Jesus unterscheiden

Geistliches Unterscheiden beginnt bei der Einsicht, dass es verschiedene Wege gibt und wir nun den richtigen finden müssen, ohne dass eindeutige Sicherheit garantiert ist, weder durch göttlichen Fingerzeig noch durch perfektes Informiert sein: „Zwar stützt sich die geistliche Unterscheidung auf menschliche, philosophische, psychologische, soziologische und moralische Weisheit. Sie geht jedoch darüber hinaus. Nicht einmal die noch so weisen Kirchenregeln genügen für sie. Denn Unterscheidung ist ein Gottesgeschenk. Durchaus: sie braucht Vernunft und Klugheit; übersteigt diese aber. Sie möchte nämlich das Geheimnis des einzigartigen und unwiederholbaren Plans erfassen, den Gott für jeden einzelnen Menschen hat und der sich verwirklicht inmitten unterschiedlichster Lebensumstände und auch inmitten verschiedenster Einschränkungen.“4

Warum heißt dieses Hören auf den Gotteswillen „Unterscheiden“? Das Wort entstammt der ältesten christlich-spirituellen Weisheit. Zuerst einmal geht es um ein Unterscheiden zwischen dem, was von Gottes gutem Geist kommt und was vom Pseudogeist kommt. Solches Unterscheiden ist immer notwendig, wenn jemand sagt, er oder sie spreche im Namen Gottes. Es könnte ja genauso gut eine Falschprophetie sein. Daher unterstreicht Paulus, dass es eine wichtige Geistesgabe gibt, die „Unterscheidung der Geister“.5 Der Sache nach kennt das Problem auch der Koran. Denn nicht alles, was sich wie die Offenbarungsstimme anhört, ist deswegen schon von Gott. Es könnte auch „böse Einflüsterung“ sein: waswās, wie die letzte Koransure weiß (an-Nās 114:4.5.).

Paulus nennt das Erkennen von angeblicher und echter prophetischer Verkündigung, wie gesagt, „Unterscheiden“; Johannes fordert, ebenfalls im Neuen Testament, die Christ(inn)en ganz ähnlich dazu auf, die Geister zu „prüfen“.6 Prüfen sollen Christ(inn)en entsprechend überhaupt, was der Wille Gottes ist7; d.h.: Sie müssen herausfinden, was sie im Sinne Gottes tun sollen, wie sie leben und handeln sollen, was das wahrhaft Gute in diesem Augenblick ist. In vielen modernen Sprachen heißt auch dieses hörende Herausfinden des Gotteswillens „Unterscheiden“.8

Und wie geht es nun, das Unterscheiden? Ich glaube, wir können es am besten an Jesus selbst beobachten. In der Nacht vor Karfreitag ist Jesus klar, dass er verhaftet wird, wenn er jetzt nicht flieht. Das Markusevangelium schildert diesen Augenblick so: „Da ergriff ihn Furcht und Angst“ (Mk 14,33). Eine Stimmung hat Jesus gepackt. Sie scheint ihn zu fesseln. Er betet nämlich jetzt: „Nimm diesen Kelch von mir!“ (Markus 14,3) Mit anderen Worten: bitte keinen Verrat durch einen Freund, keine Gefangennahme, keine Verurteilung, keinen Foltertod. Furcht und Angst haben ihn ergriffen, aber sie haben ihn doch nicht völlig im Griff. Denn Jesus kann auch jetzt noch Gott wie gewohnt ansprechen – als ganz nah: „Abba, Vater“. Und er kann auch jetzt noch von den schöpferischen Überraschungen Gottes sprechen: „Abba, Vater, alles ist dir möglich“ (Mk 14,36). Furcht und Angst scheinen ihm zwar das Herz verschlossen zu haben. Sein Beten wirkt so, also wollte er Gott und dessen Möglichkeiten nur noch zum Selbstschutz nutzen, aber er lässt sich von seiner Beklommenheit nicht festlegen. Er nimmt die Angst nicht als Zustand hin, sondern greift sie als Bewegung auf.

In diesem Augenblick geschieht etwas Neues. Jesus bleibt nicht bei seinem Gebet „Nimm diesen Kelch von mir!“. Beten ist nämlich nicht: Ich gebe schnell meine Bestellung auf, und dann habe ich ein Recht auf Lieferung. Beten ist keine Bestellung, sondern eine Begegnung; und deshalb eine Bewegung. So kann Beten uns verwandeln. Das war auch bei Jesu Gebet am Ölberg so. Im Beten verwandelt sich sein Gebet. Insgesamt lauten Jesu Gebetsworte – mit der geschehenden Verwandlung – so: „Abba, Vater, alles ist dir möglich. Nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht, was ich will, sondern was du willst“ (ebd.).

In seiner schlimmsten Stunde hat Jesus – trotz allem – gespürt: seine Angst will zum Zustand werden, seine Furcht will ihn fesseln. Sie ist ihm aber zur Bewegung geworden, die ihn zum Beten brachte, und so spürte er wieder, wie ihn der Wille und Sinn Gottes aus seinem Eigensinn herausholte. Jesus konnte sich wieder auf Gott verlassen, wie man es im Deutschen treffend sagt; alle Selbstsorge verlassen, auf ihn hin. Jesus war nicht mehr festgelegt von der Angst. Er konnte wieder hinausgreifen in die Freiheit. Das aber bedeutete für ihn gerade nicht die Flucht. Es war keineswegs die Entscheidung für den bequemeren Weg; und es war auch kein heldenhafter Willensakt. Jesus konnte nur noch beten; aber so war die Angst schon zur Bewegung geworden, und er konnte sich wieder anziehen lassen von Gottes Geschichte: Gott siegt durch die Hingabe, die Schwäche, die scheinbare Ausweglosigkeit hindurch. So konnte Jesus spüren, dass Gottes Geschichte, Gottes Plan, Gottes Wille freier und sicherer und besser ist als alles, was ein angstbesetztes Herz sieht, und als alles, was Menschen einander antun können.

Das ist der Grund unseres Gottvertrauens. Ich kann „mich auf ihn verlassen“. So ist mein Herz wieder frei, zu spüren, was Gott mit mir vorhat; und was ich tun soll, und dass ich es tun kann, weil ich von ihm die Kraft dazu bekomme. So getröstet, getrost9 kann ich seinen Willen unterscheiden – also ihn spüren und mich gelassen auf ihn einlassen. Auch Jesus konnte ja beim Beten in Gethsemani empfinden, dass der Weg Gottes der gute Weg ist, selbst wenn es jetzt erst ein Leidensweg ist.

Eine Gesellschaft inspirieren

Das Durcheinander und Miteinander in Deutschland bringt uns einmal besser zusammen, und ein ander Mal auseinander. Der christlich-islamische Dialog ist ein Ort besonderer Verantwortung: Es geht um die Treue zu Gott und um die Gestaltung der Zukunft; und das nicht selten unter Anspannung. Ich erinnere mich, wie ein interreligiöses Podium vom Dialog in die Debatte stürzte und wie ich sauer wurde, weil ich mich von einer muslimischen Diskussionsteilnehmerin ungerecht behandelt fühlte. Viele von Ihnen werden solche Augenblicke kennen. Die Spiritualität meiner Tradition, unsere überlieferte Weisheit sagthier: Empfinden, wie mich jetzt die falsche Kraft packen will; sie ist falsch, weil sie mich festlegen will. Aus der Gefangenschaft kommen wir nur heraus, wenn wir wahrnehmen, dass wir die Stimmung nicht als Zustand hinnehmen müssen, sondern als Bewegung aufgreifen können, um uns neu der Einladung Gottes zu stellen. Er ruft uns zurück in seine gute Geschichte, von der wir ein Teil sind: So können wir uns wieder auf Gott verlassen und gelassen, rücksichtsvoll, umsichtig das Jetzt mitgestalten.

Als ich mich auf dem erwähnten Podium von der Kollegin angegriffen fühlte und merkte, wie ich innerlich einen sarkastischen Schlagabtausch plante, konnte ich mir plötzlich sagen: Ich bin freier und glücklicher und mehr ich selbst, wenn ich mich nicht provozieren lasse, sondern auch diesen Augenblick als Gottes Geschichte sehe und in seinem Stil weitergehe.

Etwas Ähnliches hatte ich zuvor bei einem ägyptischen Freund erlebt. In einer heftigen Diskussion als einziger Muslim hatte er den Faden verloren. Nach kurzem aufgeregtem Blick sagte er kaum vernehmbar: bi-smi llāhi r-rahmāni r-rahīm, also „im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers“. Er erinnerte sich daran, dass er im Namen Gottes zu diesem Dialog gekommen war. Das gab ihm die Gelassenheit zurück; und schon hatte er auch seinen Gesprächsfaden wieder. Vielleicht war das etwas Ähnliches wie unsere geistliche Unterscheidung zwischen Steckenbleiben in einer Stimmung und Bewegung zur neuen Bereitschaft für Gottes Plan.

Dieses geistliche Unterscheiden ist kein Trick für meine Gefühls-Wellness. Es ist eine Möglichkeit, wie ich verantwortlicher leben kann. Solche Schätze überlieferter Weisheit liegen in all unseren Traditionen. Wir müssen sie denen vermitteln, die uns anvertraut sind und die uns vertrauen. Wir müssen diese Schätze auch selbst heute neu entdecken und auf uns wirken lassen; und wir können sie auch einander erklären und miteinander einüben, über die Grenzen hinaus, die zwischen unseren Traditionen zu verlaufen scheinen.

Ich freue mich, dass mit den Muslimen zu uns auch „der Islam“ mit seinen verschiedenen geistlichen Traditionen gekommen ist. Viele von uns haben schon eindrucksvolle Gläubige und hochspannende Autoren einer fremden Spiritualität kennenlernen dürfen; aber es gibt für uns alle noch viel zu entdecken und zu vermitteln. Es gibt in unseren theologischen, mystischen, asketischen, philosophischen, dichterischen und volksfrommen Traditionen überlieferte Weisheiten, die das Miteinander hierzulande mitprägen können, die das religiöse Denken tragen und weiterentwickeln können, die uns neue Gesichtspunkte in der Ethik aufzeigen können, die neue Ideen für die Wertevermittlung und Lebensgestaltung einbringen können. Ich kann mir ein Deutschland vorstellen, in dem verschiedene Traditionen ausstrahlende Institutionen pflegen, etwa Häuser für geistliche Übungen, Lehrstühle für geistliche Theologie, Lernorte für geistliche Begleiter(innen). Ich kann mir ein Zusammenleben vorstellen, das von geistlichen Zentren verschiedener Religionen inspiriert ist, mit gut ausgebildeten Begleiter(inne)n; ausgebildet, damit sie den empfindlichen Raum des Seelenlebens, des geistlichen Gesprächs, des persönlichen Vertrauens nicht für eigene Zwecke missbrauchen, sich nicht als manipulative Gurus aufspielen, sondern zurückhaltend das persönliche Wachstum der Menschen begleiten, die sich auf die Gottsuche gemacht haben. Ich kann mir eine Gesellschaft vorstellen, in der verschiedene Stile, jüdisch oder christlich oder muslimisch „geistlich“ zu leben, sich gegenseitig herausfordern und beschenken. Wenn wir unsere Verantwortung ernst nehmen, brauchen wir das; und Gott ruft uns in die Verantwortung.

1. Vortrag beim ersten „Dialogempfang“ der Deutschen Bischofskonferenz für Muslime unter dem Titel „Überlieferte Weisheit für den interreligiösen Dialog. Was ist geistliche Unterscheidung?“ (13. April 2018, Haus am Dom, Frankfurt am Main).

2. In einem Koranvers lautet die Frage sogar: „Warum helft ihr einander nicht?“ (as-Saffat 37:24). Allerdings kann der Vers auch anders verstanden werden, nämlich als Spott: Worauf man sich fälschlich im Diesseits statt auf Gott verlassen hatte, das hilft im Endgericht rein gar nichts.

3. Ein frühes Beispiel: Paulus betet, dass die Gemeinde den Willen Gottes ganz erkennen kann „in aller Weisheit und geistlichen Einsicht“ (Kolosser 1,9).

4. Gaudete et exsultate, Nr. 170. Deutsche Übersetzung weicht von der offiziellen ab.

5. Das Gnadengeschenk (chárisma) der Unterscheidungen (Plural: diakríseis) der Geister, 1 Korinther 12,10.

6. 1 Johannes 4,1 (dokimázein, wie etwa auch Metall im Feuer auf seine Reinheit zu prüfen ist). Ebendort heißt es auch ausdrücklich, dass es viele Pseudopropheten gibt.

7. Römer 12,2: „Und gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern lasst euch verwandeln durch die Erneuerung des Denkens, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist: das Gute, Wohlgefällige und Vollkommene!“

8. Das dokimázein aus Römer 12,2 („prüfen und erkennen, was der Wille Gottes ist“) und/oder aus Römer 2,18 („beurteilen, worauf es ankommt“) geben eine ganze Reihe von Übersetzungen mit Formen von discern- wieder: z.B. die New Revised Standard Version und die New American Bible, La Palabra, die Traduction Œcuménique de la Bible, die Bible de Genève von 1669 und die Nouvelle Édition de Genève sowie die Bibbia CEI in alter und neuer Ausgabe.

9. Auch die Unterscheidung der Geister nach Ignatius von Loyola († 1556) lässt sich aus der Erfahrung Jesu im Garten Gethsemani verstehen. Denn Ignatius nennt den Übergang von der Stimmungsbestimmtheit zum Vatervertrauen: „Trost“. Trost ist für ihn Wachstum von Glaube, Hoffnung und Liebe (Geistliche Übungen, Nr. 316). Damit fasst er den Mittelpunkt des geistlichen Lebens nicht als Zustand, sondern als Bewegung. Wenn er von „Bewegungen“ (mociones) in der Seele spricht (Geistliche Übungen, Nr. 313), steht er in aristotelischer Tradition, wo der Affekt eine Seelenbewegung ist (tes psyches kinesis), versteht und unterscheidet die Bewegung nun aber aus ihrer Orientierung auf Gottes Willen.

Geist & Leben 1/2019

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