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Michael Rosenberger | Linz

geb. 1962, Priester, Dr. theol., Professor für Moraltheologie an der KU Linz

m.rosenberger@ku-linz.at

Indifferenz statt Apatheia

Zwei Modelle der Kontemplation

Noch immer ist in Kreisen, die das kontemplative Gebet pflegen, die Überzeugung weit verbreitet, das ignatianische Beten sei bestenfalls eine Vorstufe zum eigentlichen kontemplativen Beten, und das, was Karl Rahner 1937 durch Übernahme eines ihm vorgeschlagenen Vortragstitels „die ignatianische Mystik der Weltfreudigkeit“ nennt1, in Wirklichkeit keine echte Mystik. Stellvertretend und viel zitiert steht für diese Linie Frank Houdek SJ (1935–2009). Er kritisiert v.a. folgende Aspekte: Die ignatianische Gebetsweise sei

diskursiv „und daher in sich begrenzt“.2

aktiv und daher „bei einem stärker für das passive oder nicht-diskursive Beten begabten Menschen unpassend“.3 Denn „Intention und Dynamik“ ihrer Übungen seien „gewöhnlich direkt auf eine Passivität im Gebet ausgerichtet und ein schrittweises Ausschalten aller Gedanken, Bilder und Symbole aus dem Bewusstsein der betenden Person“.4

christozentrisch und daher „zahlreichen Männern und Frauen in unserer heutigen Kultur fremd. Hier ist die anhaltende Kraft der pneumatischen oder charismatischen Bewegung bedeutsam.“5

Houdek hält die „Geistlichen Übungen“ eher für für Anfänger hilfreich.6 „Das Ignatianische Gebet besitzt, obwohl es begrenzt ist, das innere Potential, die tieferen personalen Gaben des kontemplativen Gebets zu entfalten. Das heißt: die Übungen des Exerzitienbuchs sind auf die Wirklichkeit des kontemplativen Gebets hingeordnet.“7

Houdek argumentiert fast ausschließlich pastoralpragmatisch: Was kommt bei den Menschen an? Aber eine Gebetsform rein pragmatisch zu beurteilen ist nicht angemessen. Entscheidend ist vielmehr ihre systematisch-theologische Reflexion durch Dogmatik („lex orandi est lex credendi“) und Moraltheologie („lex orandi est lex vivendi“). Hier möchte ich die moraltheologische einschließlich der anthropologischen Frage stellen: Welches der beiden Modelle von Kontemplation entspricht mehr einer zeitgemäßen Anthropologie? Und: Welches dient dem Menschen besser zu einem gelingenden Leben?

Umzu einer Antwort zu gelangen, vergleiche ich die jeweils ältesten Quellentexte der beiden Modelle geistlichen Lebens – des monastischen, stark neuplatonisch und stoisch geprägten, und des ignatianischen, stark aristotelisch und biblisch geprägten. Mit den beiden Schlüsselbegriffen Apatheia versus Indifferenz stelle ich sie einander fokussiert gegenüber.

Apatheia bei Evagrius und Cassian

Dasmonastische Modell einer ungegenständlichen Kontemplation ist imchristlichen Bereich maßgeblich von Evagrius Ponticus (345–399) und Johannes Cassian (360–435) geprägt worden. Beide sind die wichtigsten Zeugen der frühen Mönchsspiritualität im Geiste Antonius‘ des Großen. Evagrius und Cassian sehen einen dreistufigen Weg des Christen bzw. der Christin (und eben nicht nur des Mönchs8) zu Gott (Evagrius Ponticus, Praktikos = Pr 1):

– Die Praktike (πρακτική) bezeichnet die Askese, durch die der Mönch die körperlichen und geistigen Begierden beherrschen lernt und zur Leidenschaftslosigkeit, der Apatheia (ἀπάθεια) gelangt. Diese ist das Tor zur Kontemplation.

– Die Physike (φυσικὴ) ist die Kontemplation der geschaffenen Wirklichkeiten. Durch sie erlangt der Mönch eine indirekte, mittelbare Gotteserkenntnis: Gott wird in den irdischen Wirklichkeiten wahrgenommen.

– Die höchste Stufe ist jedoch die Theologike (θεολογικὴ) als ungegenständliche Kontemplation. Sie führt zur direkten, unmittelbaren Gotteserkenntnis und ist der „beste Teil“, den es zu erwählen gilt (Johannes Cassian, Collationes Patrum = CP 1,8 in Auslegung von Lk 10,38–42).

Apatheia als Ziel der Askese

Schon früh in der christlichen Spiritualität wird die Apatheia als Ziel des asketischen Übens angesehen. Apatheia ist ein „völliges Beherrschen der affektiven Seite des Menschen, so dass die störenden Gemütsregungen einem Zustand tiefen Friedens gewichen sind“.9 Wer die Apatheia erreicht hat, ist unerschütterlich gleichmütig (Evagrius Ponticus, De oratione = Or 2). Ihn erfüllen „unerschütterliche Ruhe des Geistes und immerwährende Reinheit“ des Herzens (CP 9,2). Das asketische Leben ist daher „die geistliche Methode, den leidenschaftlichen Teil der Seele (τὸ παθετικὸν μέρος τῆς ψυχῆς) zu reinigen“ (Pr 78). Ein „erfolgreicher“ Asket, also ein Praktikos, ist, „wer allein den leidenschaftlichen Teil der Seele leidenschaftslos besitzt (τὸ παθητικὸν μέρος τῆς ψυχῆς μόνον ἀπαθὲς κεκτημένος)“ (Evagrius Ponticus, Gnostikos = Gn 2). Für Evagrius ist die Apatheia der gesunde Zustand der Seele (Pr 56; Or 15310). Beim Gebet ist man von Ablenkungen frei und ohne Zerstreuung (Pr 63; 65). Im Schlaf hat man keine unruhigen Träume und bleibt in aufregenden Situationen oder in der Erinnerung an solche ruhig und gelassen (Pr 64; 67). Überhaupt haben die Sinneswahrnehmungen keinen Einfluss auf den Verstand und können keine Leidenschaften wecken (Pr 66).

Die stoisch geprägte Apatheia sehen Evagrius und Cassian biblisch in Jesu Rede vom reinen Herzen ausgedrückt: „Selig, die ein reines Herz haben; denn sie werden Gott schauen.“ (Mt 5,8) Der leidenschaftslose Mensch ist für sie folglich derjenige, der wahrhaft lieben kann. Daher sollen wir „unser Herz gegen alle Leidenschaften rüsten, es unverletzt bewahren und zur Vollkommenheit der Liebe emporsteigen.“ (CP 1,7) Die Liebe, die die Bibel ganzheitlich versteht, wird so auf eine intellektuelle Aktivität reduziert: Die Apatheia „führt den Menschen, der die Weisheit liebt und der durch eine tiefe Liebe (ἔρωτι) wahrhaftig vergeistigt ist (πνευματικὸν νοῦν), zu den höchsten Höhen der Wirklichkeit“ (Or 53).

Diese Umdeutung der stoischen Apatheia ist höchst ambivalent. Apatheia und Agape sind bei Evagrius und Cassian zwei Seiten einer Medaille und dürfen nicht getrennt werden.11 Denn die Apatheia ist „ein Zustand, der es erlaubt, alle Menschen wenigstens in dem Maß zu lieben, dass man friedlich mit den Menschen lebt und keinen Groll gegen sie hegt.“12 Andererseits wird die Liebe, die biblisch den Menschen „mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft“ (Dtn 6,5) beansprucht, also intellektuell (Herz), emotional (Seele) und praktisch (Kraft), zu einem rein intellektuellen Tun umgedeutet und damit ihrer Ganzheitlichkeit beraubt.

Askese als Weg zur Apatheia

Wie aber sieht der Weg des Menschen zur Apatheia und von dieser weiter zur Kontemplation aus? In der ersten Phase geht es für Betende darum, durch Askese von sämtlichen Leidenschaften frei zu werden. So wie Mose seine Schuhe auszieht, um Gott zu begegnen (Gen 3), sollen sie ihre Gedanken von jeder Verunreinigung durch Gefühle freimachen (Or 4). Gefühle werden aber oft durch Gedankenhervorgerufen. Daher sollen Betende auch den Intellekt „taub und still werden lassen“, um frei von ablenkenden Gedanken beten zu können (Or 11). Sie sollen „sich von allem befreien, das auf irgendeine Weise mit den Leidenschaften zu tun hat“ (Or 53), und sei es „auch nur dem Anschein nach“ (Or 54). Denn: „Wenn jemand gefesselt ist, kann er nicht weglaufen. Genau so wenig kann ein Geist, der Sklave der Leidenschaften geworden ist (πάθεσι δουλεύων), den Ort des spirituellen Gebets sehen. Er wird zum Spielball solcher leidenschaftserfüllter Gedanken (ἐμπαθοῦς νοήματος) und wird so seine Beständigkeit und Ruhe einbüßen.“ (Or 71)

Hier wird deutlich, dass die monastische Tradition gut stoisch, aber wenig biblisch in der Apatheia den Inbegriff der Freiheit sieht. Nicht der ist frei, der sich mit seiner ganzen Existenz in Liebe an andere bindet (Dtn 6,5), sondern der,der alle Leidenschaften losgelassen hat. Freiheit ist vor allem Autarkie. „Was der Empfindung((αἴσθησις) nicht unterworfen ist, ist auch frei von Leidenschaft.“ (Pr4) Die Apatheia ist die „Trennung der Seele vom Leib“ (Pr 52) im Sinne ihrer Befreiung von den Leidenschaften.

Evagrius und Cassian beschreiben den Weg der Askese als sehr sensiblen Vorgang. Er braucht eine gesunde Mitte zwischen Laxheit und Rigorismus. Kämpferisch wird das Vokabular der beiden allerdings bei der Entfaltung der Acht-Laster-Lehre, als deren geistige Väter sie gelten. Zentraler Gedanke dieser klassischen monastischen Lehre ist die These, dass alle Sünden auf acht tiefsitzende Fehlhaltungen zurückgeführt werden können: Gaumenlust, Unkeuschheit, Habsucht, Traurigkeit, Zorn, Akedia, Ruhmsucht, Stolz (Pr 6–14). Diese gilt es zu bekämpfen, will man das Übel an der Wurzel packen und „ausreißen“ (CP 9,3), nicht gleichzeitig, sondern nacheinander.

Die Spannung zwischen dem sanften „Loslassen“ der Leidenschaften im Kontext der stoischen Apatheia-Lehre und dem harten Bekämpfen und Ausreißender Laster in der monastischen Acht-Laster-Lehre wird von Evagrius und Cassiannicht aufgelöst. Theologisch gewendet könnte man darin zumindest für den rund zwanzig Jahre später lebenden Cassian eine gewisse Unentschiedenheit zwischen Pelagianismus und Augustinismus sehen – eine Kontroverse, die Evagrius nicht mehr erlebt hat. In jedem Fall aber wird im Nebeneinander von Apatheia-Lehre und Acht-Laster-Lehre die Spannung von göttlicher Gnade (Loslassen) und menschlicher Leistung (Kampf) sichtbar. Dass das Loslassen der Leidenschaften tatsächlich im Sinne eines Sich-Fallen-Lassens in die Hand Gottes verstanden wird, kann folgendes Zitat verdeutlichen: „Wenn du wirklich betest, entsteht in dir ein tiefes Gefühl des Vertrauens. Engel werden dich begleiten und dir den Sinn der ganzen Schöpfung erschließen.“ (Evagrius, Über das Gebet, 80) Apatheia und Gotteserkenntnis werden hier als Geschenk sichtbar, als Gabe dessen, dem der Mensch vertraut und der seine Engel als Überbringer der Gaben schickt.

Gotteserkenntnis in der Kontemplation als Ziel des geistlichen Lebens

Die Apatheia, deren andere Seite die rein intellektuelle Liebe ist, ist das Tor zur Kontemplation. Solange noch Leidenschaften im Menschen sind, er also nicht reinen Herzens ist, kann er – ganz nach Mt 5,8 – Gott in der Kontemplation nicht schauen (CP 1,15). Umgekehrt: „Sind Liebe und Enthaltsamkeit Gäste der Seele, dann ruhen die Leidenschaften“ (Pr 38) und der Weg zur Kontemplation steht offen. Aber auch diese ist kein Selbstzweck: „Das Ziel des asketischen Lebens ist die Liebe und das der Kontemplation ist die Erkenntnis Gottes (θεολογία).“ (Pr 84)

Eine erste Stufe der Kontemplation (Physike), schaut auf die geschöpflichen Wirklichkeiten und entdeckt in ihnen vermittelt den Schöpfer. Die zweite Stufe hingegen (Theologike), zielt darauf, Gott unmittelbar zu schauen. Daher soll der kontemplative Mensch selbst die reinsten und frömmsten Gedanken loslassen, seien es gegenständliche oder ungegenständliche (Or 55–57):„Selig ist jenerGeist, der, während er betet, frei ist von allem Gegenständlichen, ja sich sogar aller Gedanken entledigt hat.“ (Or 119)

Die Schwachstellen des monastischen Kontemplationsverständnisses

Die Vorstellung einer ungegenständlichen Gotteserkenntnis prägt die kontemplative Praxis in neuplatonisch-stoischer Tradition bis auf den heutigen Tag.F. Jalics13, W. Jäger14, F. Houdek und viele andere lehr(t)en es so. Dennoch weist dieses Interpretationsmodell eine Reihe gravierender Schwachstellen auf:

1) Offen bleibt die Verbindung von Gotteserkenntnis und der Erkenntnis geschaffener Wirklichkeiten: Gegen Ende seiner Abhandlung über das Gebet schreibt Evagrius: „Selig ist der Mönch, der in allen Menschen Gott sieht.“ (Or 123) Wie kann das möglich sein, wenn der Mönch Gott bereits unmittelbar erkannt hat? Gott mittelbar in allen Menschen zu sehen ist die Erkenntnisweise der Physike. Wer aber bereits auf die höchste Stufe der Theologike hinaufgestiegen ist, für den ist die vermittelte Gotteserkenntnis im Geschaffenen ein Rückschritt15.

2) Offen bleibt auch die Verbindung von Gottes- und Nächstenliebe: So schreibt Evagrius: „Ein Mönch ist ein Mensch, der sich von allem getrennt hat und sich doch mit allem verbunden fühlt.“ (Or 124) Wiederum stellt sich die Frage, wie das im vorliegenden Denkmodell anders denn als Rückfall in die Physike gedacht werden kann16.

3) Hinter beiden steht die Frage nach dem Verhältnis vonirdischer und göttlicher Wirklichkeit: Ist die irdische Wirklichkeit auf dem Weg zur Gotteserkenntnis ein Hindernis, das man loslassen muss, um zur unmittelbaren Gotteserkenntnis zu gelangen?17 Oder ist die geschöpfliche Wirklichkeit der in alle Ewigkeit einzige Weg des Menschen zur Gotteserfahrung, der uns Gott in „vermittelter Unmittelbarkeit“ (Bernard Lonergan) begegnen lässt? „[D]ie Kreatur (…) in ihrer Entsprungenheit und Selbständigkeit in Gott zu finden (…), das Kleine im Großen, das Umgrenzte im Grenzenlosen, das Geschöpf (es selbst!) im Schöpfer: das ist erst die (…) höchste Phase unseres Gottesverhältnisses.“18

4) Hinter diesen inneren Widersprüchen im Denken der beiden Mönchsväter steht eine Anthropologie: Ist Liebe nicht mehr als ein rein geistiger Vollzug, nämlich eine personale, ganzheitliche Hingabe? Und ist die Erkenntnis Gottes nicht mehr als ein ungegenständliches Wahrnehmen, nämlich ein Vertrautsein mit dem Geheimnis? Spielen Leib und Gefühle tatsächlich keinerlei Rolle für Gottesliebe und Gotteserkenntnis, haben sie keine bleibend positive Bedeutung im Rahmen der Kontemplation? Die Anthropologie von Evagrius und Cassian ist keineswegs leibfeindlich. Aber sie misst dem Leib, den Sinnen, den Gefühlen auch keinerlei positive oder konstruktive Bedeutung im geistlichen Leben zu.

Indifferenz. Das ignatianische Bild geistlichen Lebens

Das Gegenmodell einer „Mystik der Weltfreudigkeit“,die nicht auf Apatheia, sondern auf Indifferenz zielt, hat Ignatius von Loyola (1491–1556) entworfen. In den„Geistlichen Übungen“ legt er seine Spiritualität systematisch-detailliert dar.

Indifferenz als Ziel der Askese

Der Schlüssel zur ignatianischen Spiritualität ist der Begriff „indifferent“. „Außer in EB 170, wo von ‚indifferenten Dingen‘ gesprochen wird, handelt es sich immer darum, den Willen des Menschen zu bestimmen: sich indifferent machen, sich indifferent finden, indifferent sein.“19 Der berühmte Text, in dem Ignatius sein Verständnis der Indifferenz darlegt, steht als „Prinzip und Fundament“ am Beginn des Exerzitienbuchs: Es ist „notwendig, uns allen geschaffenen Dingen gegenüber gleichmütig (indiferentes) zu machen, überall dort, wo dies der Freiheit unseres Wahlvermögens eingeräumt und nicht verboten ist (…), einzig das ersehnend und erwählend, was uns jeweils mehr zu dem Ziele hin fördert, zu dem wir geschaffen sind.“ (EB 23) Den Begriff „indifferent“ übernimmt Ignatius vermutlich während seines Pariser Theologiestudiums von Thomas von Aquin, s.th. I q. 83 a. 2, wo dieser ebenfalls den Willen charakterisiert und nicht wie in der stoischen Philosophie und bei Cassian die Adiaphora, die ethisch neutralen Güter. Auch das Beispiel von Gesundheit und Krankheit findet Ignatius bei Thomas, s.th. I–II q. 13 a. 3, und vom „Prinzip und Fundament“ ist in s.th. I q. 82 a. 1 die Rede20. „Durch Ignatius scheint dieses Wort [‚indifferent‘] aus der philosophischen in die spirituelle Sprache eingeführt worden zu sein (…). Offenbar hat Ignatius bei Thomas genau den Begriff gefunden, den er für die Umschreibung des wählenden freien Willens suchte.“21

In minutiöser Analyse verschiedener überlieferter Textvarianten des „Prinzips und Fundaments“ zeigt Leo Zodrow überzeugend, dass in einer von ihnen eine große Gefahr lauert: Die ignatianische Indifferenz kann dort als stoische Apatheia missverstanden werden. Und da diese fehlerhafte Textvariante, in der das „mehr“ im letzten Halbsatz fehlt, die am meisten verbreitete war, setzte sich das Missverständnis bis ins 20. Jh. als Standardverständnis durch. „Das Vokabular der ignatianischen Indifferenz, wie es von den spirituellen Autoren verwendet wird, gleitet unmerklich hin zu einer Apatheia-Indifferenz“22, zu einem inneren und passiven Zustand der Zustimmung zur Führung Gottes.

Indifferenz bedeutet keine Leidenschaftslosigkeit, sondern eine Balance der Leidenschaften bzw. Begehren „von unserer Seite“ her. Im „Prinzip und Fundament“ steht nicht, dass der Mensch nichts, sondern dass er „X nicht mehr als Nicht-X“ begehren solle. Ignatius verwendet gerne das Bild von einer Waage, die sich im Gleichgewicht befindet (EB 15; 179). Nur die ungeordneten Leidenschaften (afecciones desordenadas) werden losgelassen, insgesamt aber das Leben einschließlich der Leidenschaften geordnet (EB 1). Ignatius verfügt sogar, dass der Übende, wenn er X anfänglich mehr begehrt als Nicht-X, nicht danach streben soll, das Begehren von X zu mindern oder zu eliminieren, sondern das Begehren von Nicht-X zu steigern (EB 16). So stehen später starke Leidenschaften zur Verfügung, um aus ganzem Herzen und mit aller Kraft das zu realisieren, was als Gottes Willen erkannt wurde.

Zugleich verlangt Ignatius vom Übenden eine starke Leidenschaft für das Magis, ein Verlangen, das „Mehr“ zu realisieren: „einzig das ersehnend und erwählend, was uns jeweils mehr zu dem Ziele hin fördert, zu dem wir geschaffen sind.“ (EB 23) Von allen ethisch verantwortbaren Handlungsoptionen soll der Exerzitant also nicht irgendeine wählen, die ihn zum Ziel hin fördert, sondern jene, die ihn mehr, man könnte auch sagen: am meisten zum Ziel hin fördert. Im Zustand der Apatheia hingegen wäre keine Wahl möglich, denn diese braucht ein Verlangen als Maßstab für das Richtige: Das Verlangen nach dem Magis, nach dem, was den Menschen mehr zu Gott hinbringt. Und dieses Verlangen kann nur wirkmächtig werden, wenn alle anderen Leidenschaften in der Balance sind. Dann gibt das Magis den Ausschlag nach der einen oder der anderen Seite. Anschließend aber werden die Leidenschaften wieder gebraucht, um in die Tat umzusetzen, was der Exerzitant als richtig erkannt hat.

Auseinandersetzung mit dem eigenen Schatten

Den Weg zur Indifferenz charakterisiert Ignatius als ein Ordnen der Leidenschaften – nicht so sehr durch die Vernunft, sondern durch Gefühle wie „Zerknirschung (contrición), Schmerz, Tränen über ihre Sünden“ (EB 4) sowie „Beschämung und Verwirrung“ (EB 48). In der ersten Woche des Exerzitienprozesses geht es darum, sich der Sünden im Gedächtnis zu erinnern, sie mit dem Verstand zu durchdenken und die Affekte vom Willen her zu den genannten Gefühlen hin zu bewegen (EB 50). Das ist ein komplett anderer Weg als der stoische, der allein den Verstand in der Rolle des Steuermannes sieht. Für Ignatius sind die Gefühle die entscheidende Kraft. Mit ihrer Hilfe sollen die Übenden anschauen, wer sie sind – „eine Wunde und ein Geschwür“ – und wer Gott ist –Weisheit, Gerechtigkeit, Güte (EB 58–59) –, und dann über die Barmherzigkeit Gottes und der Mitgeschöpfe „mit stets steigendem Affekt“ staunen (EB 60–61). Die „Seelenbewegungen“, wie Ignatius die Affekte oft nennt, werden also kontinuierlich intensiviert und mittels sinnenhafter Vorstellungen in eine Ausrichtung auf Gott und die Mitgeschöpfe gebracht.

Die Gefühle haben aber nicht nur anspornenden, handlungsantreibenden Charakter, sondern sind zugleich ein Maßstab der Orientierung, der die Barmherzigkeit Gottes ebenso hervortreten lässt wie die eigene Wandlungsbedürftigkeit. Welche große Bedeutung Ignatius den Gefühlen zumisst, wird in EB 63 deutlich: „Erstens, dass ich eine innere Durchdrungenheit von meiner Sünde und einen Abscheu davor in mir spüre. Zweitens, dass ich die Unordnung meiner Handlungen fühle, damit ich dieselbe verabscheuend mich bessere und mich ordne. Drittens bitten um Erkenntnis der Welt, damit ich mit Abscheu die weltlichen und eitlen Dinge von mir entferne.“ Das erinnert an Ignatius‘ eigene Erfahrung in Manresa: Erst als ihn Abscheu vor seiner gesamten Lebensführung erfüllt, kann er einen neuen Weg beginnen (PB 25). Spüren, fühlen, empfinden – das sind die Mittel, mit deren Hilfe Ordnung in die Leidenschaften kommt. Die ignatianische Unterscheidung der Geister ist eine Kritik der Gefühle durch Gefühle23.

Personale Ganzhingabe als Ziel des geistlichen Lebens

Der Schlüssel des ignatianischen Weges ist die Indifferenz. Deren innerste Bestimmung ist die Bereitschaft zur vorbehaltlosen Hingabe. Das berühmte „Suscipe“, das Gebet der Selbstübereignung an Christus (EB 234), ist Herzstück und Ziel des Exerzitienprozesses wie auch allen spirituellen Suchens. Gotteserfahrung, so die dahinterliegende Annahme, ist nur möglich in der liebenden, restlos vertrauenden Übereignung des ganzen Menschen „mit Haut und Haaren“ an das Du Gottes: Mit Freiheit und Willen als den emotionalen Kräften, mit Gedächtnis und Verstand als den rationalen Kräften. Zugleich will die „Betrachtung zur Erlangung der Liebe“ (EB 230) „Gott mit allen Fähigkeiten und in allen Dingen finden (…). Ignatius (…) lässt diese nicht ‚zur Ruhe kommen‘, sondern stellt sie aktiv in den Dienst Gottes“24.

Mystische Wahrnehmung des Lebens

Generell geht es in den Exerzitien darum, das Leben Jesu ebenso wie das eigene Leben von innen her zu verspüren und verkosten („sentir y gustar de las cosas internamente“, EB 2). Das meint einerseits ein ganzheitliches Geschehen, in das rationale und emotionale Kräfte des Menschen gleichermaßen eingebunden sind. Es bedeutet andererseits ein Durchdringen der äußeren, kategorialen Ereignisse und ein Wahrnehmen ihrer Innenseite: Wie „schmeckt“ Jesu Umgang mit den Menschen? Welchen „Geschmack“ haben die eigenen Aktivitäten und Erfahrungen? Wo lässt sich in beiden das Geheimnis Gottes erahnen?

Das Verkosten geschieht durch die Anwendung aller fünf Sinne (EB 65–72; 121–126) als Teil jeder Kontemplation bzw. Meditation25. Nach einem Vorbereitungsgebet geht es um den „Aufbau des Schauplatzes“ (EB 47; 49), d.h. die Vorstellung des Ortes und der Umstände, die ein bestimmtes Geschehen ausmachen, vor dem inneren Auge. Nachdem man erbeten hat, was man in der konkreten Betrachtung begehrt, folgt die eigentliche Meditation mit allen vorhandenen geistigen und emotionalen Kräften: Mit Gedächtnis, Verstand und Willen (EB 45–54). Die in EB 2 angezielte Innerlichkeit wird also durch eine bestimmte Gestaltung der äußerlichen Wahrnehmung vermittelt. Ungegenständliche Gotteserfahrung ereignet sich nach Ignatius nicht nach, sondern in gegenständlicher Welterfahrung. „Solche indiferencia wird zu einem Gott-in-allen-Dingen-suchen.“26 Das ist eine pointiert neue Sicht christlicher Kontemplation.

Ignatius nennt drei Weisen zu beten (EB 238–260): Die „erwägende und überlegende“ (EB 241) Betrachtung eines Schrifttextes – eine stark verstandesgesteuerte Methode (EB 238–248); das Betrachten des Sinnes eines einzigen Wortes, das bedacht, verkostet und in seinem Trostpotenzial empfunden wird – eine ganzheitliche Methode, die rationale und emotionale Kräfte umfasst und letztlich auf den Trost zielt (EB 249–257); und das Verinnerlichen eines Wortes, indem man es im Rhythmus des Atems betet – eine Variante des Jesus-Gebets, die vor allem die emotionalen Kräfte zum Zug kommen lässt (EB 258–260). Dabei geht es nicht um eine „prozessuale Steigerung der Methodik, wie Jalics (…) erschließt“27, so dass das Jesusgebet die höchste und eigentliche Form des Betens wäre. Vielmehr bleiben alle drei Weisen dauerhaft wichtig, um alle Kräfte des Menschen in einer Einheit zu halten und auf Gott auszurichten. Die Kontemplation des Ignatius ist damit nicht weniger, sondern mehr geeignet, in die Passivität des Geschehenlassens hineinzufinden, als die Kontemplationsmethode der monastischen Tradition. Denn es sind die passiones, die Passivität ermöglichen, nicht der stets aktive und steuernde Verstand und auch nicht die Leere, die entsteht, wenn Verstand und Gefühle gleichermaßen losgelassen werden. Gleichzeitig bleiben die verstandesbetonten Formen des Betens wichtig, um ein Abgleiten in völlige Subjektivität zu verhindern.

Die Konsistenz des ignatianischen Kontemplationsverständnisses

Frank Houdek und manche anderen Vertreter des monastisch (und fernöstlich) inspirierten Kontemplationsverständnisses messen die ignatianische Kontemplation an ihrer eigenen Methode. Unter dieser Perspektive muss Ignatius verlieren. Mir scheint ein anderer Weg überzeugender: Sowohl die klassische monastische als auch die ignatianische Methode der Kontemplation müssen sich messen lassen an einer ganzheitlichen personalen Anthropologie. Dann aber schneidet Ignatius mit seiner Orientierung an der aristotelischen Anthropologie des Thomas von Aquin wesentlich besser ab als das stoisch-neuplatonisch geprägte frühe Mönchtum. Aus seiner Methode kann ein ganzheitliches Verständnis der Gotteserfahrung erwachsen – einer Erfahrung der Liebe und Ganzhingabe an das geheimnisvolle Du, das uns in der Welt und durch sie hindurch begegnet und in das sich der spirituelle Mensch fallen lässt.


Lesetipp der Redaktion

aus dem Online-Archiv: echter.de/zeitschriften/geist-und-leben

Richard Gramlich, Indifferenz. Eine Haltung der islamischen Frömmigkeit, in: GuL 62 (1989), 241–245.

1. K. Rahner, Die ignatianische Mystik der Weltfreudigkeit, in: Zeitschrift für Azsese und Mystik (später Geist und Leben) 12 (1937), 121–137 (nochmals abgedruckt in: Ders., Schriften zur Theologie. Bd. 3 [1956], 329–348).

2. F. Houdek, Die Grenzen des ignatianischen Gebets, in: GuL 84 (2011), 294–305, hier: 298.

3. Ebd., 297.

4. Ebd., 302.

5. Ebd., 299.

6. Ebd., 298.

7. Ebd., 303.

8. Vgl. G. Bunge, Evagrios Pontikos: Der Praktikos (Der Mönch). Hundert Kapitel über das geistliche Leben. Beuron 32011, 68.

9. Ebd. Gegen A. Grün, Apatheia – die Gesundheit der Seele. Evagrius Pontikus, in: G. Popp (Hrsg.), Damit unser Leben gelingt. Geistliche Grundhaltungen, die uns einen Weg zeigen. Regensburg 1993, 58–66, hier: 61, der Apatheia als einen „Zustand, in dem die Leidenschaften miteinander im Einklang sind“, definiert.

10. Vgl. J. E. Bamberger, Einführung in die asketische und mystische Theologie des Evagrius Ponticus, in: Evagrius Ponticus, Praktikos. Über das Gebet. Münsterschwarzach 1986, 8–23, 16.

11. Ebd., 12.

12. Ebd., 13.

13. F. Jalics, Die kontemplative Phase der ignatianischen Exerzitien und das Jesusgebet, in: GuL 71 (1998), 11–25; 118–131.

14. W. Jäger, Der Weg des Evagrius Ponticus, in: ders., Kontemplation. Ein spiritueller Weg. Freiburg 22012, 35–42.

15. Dieses Problem übergeht der ansonsten höchst präzise und kenntnisreiche Beitrag von G. Ziegler, Erblindung und Erleuchtung des inneren Auges. Johannes Cassian über Wege und Irrwege zur Schau Gottes, in: L. Eibicht / J. Kaffanke / C. Schäfer (Hrsg.), Das Schauen Gottes wiedererlangen. Die Kontemplation als Herz des Mönchtums. Beuron 2012, 122–140.

16. Zumindest für Johannes Cassian hält B. McGinn, Die Mystik im Abendland. Bd.1: Ursprünge. Freiburg i. Br. 1994,327 fest: „Cassian hat keine klare und kohärente Lösung für das Problem des Verhältnisses von kontemplativem Aufgehen in Gott und tätiger Liebe zum mönchischen Nächsten entwickelt.“ Und auf F. Jalics, Die kontemplative Phase der ignatianischen Exerzitien und das Jesusgebet, 13 [s. Anm. 13] erwidert J. Sudbrack, „Gott finden in allen Dingen“. Christliche Kontemplation und ignatianische Exerzitien, in: GuL 71 (1998), 362–375, hier: 365: „Es geht nicht um Hinter- oder Neben-, sondern um ein Ineinander (…) von Gotteserfahrung und Erfahrung der anderen ‚göttlichen Dinge‘.“

17. F. Houdek, Die Grenzen des ignatianischen Gebets, 302 [s. Anm. 2].

18. K. Rahner, Die ewige Bedeutung der Menschheit Jesu für unser Gottesverhältnis, in: ders., Schriften zur Theologie. Bd. 3 (1956), 47–60, hier: 56.

19. G. Bottereau, Indifference I. L’indifférence ignatienne, in: DSp 7 (1971), 1688–1696, hier: 1689. Ins Deutsche übersetzt in L. Zodrow [s. Anm. 21].

20. Ebd.

21. L. Zodrow, „Prinzip und Fundament“. Eine ignatianische Kurzformel für den Vollzug des geistlichen Lebens, in: GuL 58 (1985), 175–191, hier: 181–182.

22. A. Rayez, Indifférence II. L’indifférence aux 17e et 18e siècles, in: DSp 7 (1971), 1696–1708, hier: 1707. Ins Deutsche übersetzt in L. Zodrow [s. Anm. 21].

23. Vgl. dazu M. Rosenberger, Mit beherzter Vernunft. Fühlen und Denken in ihrer Bedeutung für das sittliche Urteil, in: MThZ 52 (2002), 59–72.

24. J. Sudbrack, „Gott finden in allen Dingen“, 363 [s. Anm. 16] gegen F. Jalics, Die kontemplative Phase der ignatianischen Exerzitien und das Jesusgebet, 17 f. [s. Anm. 13].

25. Ignatius verwendet die beiden Begriffe „contemplación o meditación“ gleichbedeutend, siehe EB 2; 12; 47; 49; 77, „consideración y contemplación“ in EB 4, „exercicios o contemplaciones“ in EB 12, „contemplación y illuminación“ in EB 39.

26. K. Rahner, Die ignatianische Mystik der Weltfreudigkeit, 135 [s. Anm. 1].

27. J. Sudbrack, „Gott finden in allen Dingen“, 364 [s. Anm. 16] gegen F. Jalics, Die kontemplative Phase der ignatianischen Exerzitien und das Jesusgebet [s. Anm. 13].

Geist & Leben 1/2019

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