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Lenchen Braun von Emmy von Rhoden

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Es war bitter kalt draußen. Schnee und Wind führten einen lustigen Tanz zusammen auf, und wirbelnd drehten sich die feinen, weißen Flocken in tollem Kreise. Trotzdem war es sehr belebt in den Hauptstraßen der Großstadt. Das liebe Christfest war ja vor der Tür, und die Leute, die sonst sicherlich daheim im warmen Zimmer geblieben wären, drängten in geschäftiger Eile aneinander vorüber.

Das war ein Wogen in den Straßen! Mädchen, mit schweren Körben beladen, folgten ihren Damen, die hier und dort noch an einem Schaufenster stehenblieben, oft auch in den hellerleuchteten Laden eintraten, um dies oder jenes Spielzeug für die kleinen Lieblinge daheim mitzunehmen. Packträger, mit mächtigen Weihnachtsbäumen beladen, brachen sich mühsam Bahn durch das Menschengewühl. An den Straßenecken standen Frauen mit großen Körben, worin sie Puppen, – fertig angekleidete Puppen, – für fünfzig Pfennig feilhielten und den Vorübergehenden laut anpriesen; dazwischen hörte man dünne Kinderstimmen „Schäfchen! Schäfchen!“ ausrufen. Vor dem glänzend erleuchteten Schaufenster eines Spielzeugladens, in welchem die herrlichsten Sachen verlockend ausgebreitet lagen, standen zwei ärmlich gekleidete Kinder. Das ältere, ein Mädchen von zehn Jahren, trug ein dünnes Kattunkleid und darüber eine wollene Jacke, die zwar nicht zerrissen, aber doch recht dünn und fadenscheinig war. Der kleine Knabe, den sie an der Hand hielt, mochte wenig über vier Jahre zählen, auch er war nett und reinlich, aber viel zu leicht für den kalten Wintertag gekleidet. Seine Händchen sahen rot und blau aus von der Kälte, die Füße staken nur in leichten Lederstiefeln, und unermüdlich trippelte er von einem auf den andern. Aber die Kleinen merkten nichts von Kälte und Schnee; ganz verloren in den Anblick all dieser herrlichen Sachen, die hier vor ihren Augen ausgebaut waren, standen sie da.

„Du, Lene,“ sagte der Kleine, „weißt du, wenn ich einmal reich bin, dann kaufe ich mir den Nußknacker da, – siehst du, den da mit der roten Mütze und den schwarzen Augen, – und dann knacke ich viele, viele Nüsse! Für dich, für mich und für die Mutter auch. Und die Soldaten, Lene, die kaufe ich auch. Dann spielen wir damit, nicht, Lene?“

Lenchen hörte nur mit halbem Ohre, ihre ganze Aufmerksamkeit war auf eine wundervolle Puppe gerichtet. So schön hatte sie noch niemals eine gesehen. Als ob sie lebte und eben sprechen wollte, so hielt sie das Köpfchen mit den blonden Haarzöpfen etwas zur Seite gewandt. Die Lippen waren halb geöffnet und zeigten wirkliche, wahrhaftige Zähnchen. Und nun dieser Anzug! Ein rosaseidenes Kleid mit langer Schleppe, dazu ein weißes Mäntelchen, ein weißer, entzückender Strohhut ganz kokett zurückgesetzt – und in der Hand einen allerliebsten aufgespannten Sonnenschirm von weißer Seide mit Spitzen besetzt.

„Karl,“ rief Lenchen ganz entzückt, „sieh diese Puppe!“

„Die kaufe ich dir auch, wenn ich reich bin, und noch viel, viel mehr,“ sagte der Kleine.

„Du reich!“ Und Lenchen lachte herzlich, als sie diese Worte ausrief: „Du reich! Ja, wo willst du es denn herkriegen? Wir sind einmal arm, und die schönen Spielsachen dort sind nur für die reichen und vornehmen Kinder.“

„Ich will aber reich werden!“ rief der Kleine. „Tausend Mark will ich haben und dann kaufe ich den ganzen Laden voll Spielsachen!“

„Tausend Mark!“ wiederholte Lenchen, und bei dem Gedanken an diese, für sie unerhört große Summe lachte sie wieder fröhlich aus. „Ach, Karlchen, so viel Geld werden wir niemals haben, – dann wären wir ja reich! – Nun aber komm, wir haben die schönen Sachen genug besehen, jetzt wollen wir nach Hause gehen. Die Mutter wartet.“

Karl riß sich schwer von dem verlockenden Anblick los, aber Lenchen nahm ihn an der Hand und führte ihn fort. Nun die herrlichen Sachen seinen Augen entschwanden, fing der Kleine an zu frieren.

„Es ist so kalt,“ jammerte er. „Au, au, meine Hände!“

„Sei nur ruhig, Karl, wir sind bald zu Hause,“ tröstete das Mädchen, „und dann bekommst du Kaffee, schönen, heißen Kaffee.“

„Und Butterbrot, nicht, Lene?“ Diese verlockende Aussicht ließ ihn auch wirklich für wenige Augenblicke die bittere Kälte vergessen. Aber der Wind trieb ihm den feinen Schnee in die Augen, und er fing von neuem an bitterlich zu weinen.

„Meine Füße sind so kalt,“ klagte er, „und der alte, böse Wind weht mir die Augen zu.“

„Warte, du garstiger Wind, du sollst meinem Karlchen den Schnee nicht mehr in die Augen blasen,“ scherzte Lenchen und band schnell ihre Schürze ab. „So, nun hast du einen Schleier vor,“ fuhr sie lustig fort, indem sie dem Knaben ihre Schürze an seiner Mütze befestigte, „nun bist du eine vornehme Dame, nicht, Karlchen?“

„Ich kann nicht sehen, du hast mir die Augen zugebunden. Ich weiß nicht, wo ich bin,“ rief Karl ungeduldig.

„Komm, gib mir deine Hand. So, nun führe ich dich,“ beruhigte sie ihn. „Jetzt bist du der alte, blinde Mann, dem wir vorhin begegneten, und ich bin deine Frau.“

„Der alte Leierkastenmann?“ fragte der Kleine und mußte über Lenchens Einfall lachen.

Mit rührender Vorsicht führte das Mädchen sein Brüderchen Straße auf, Straße ab. Obgleich es selbst tüchtig fror, wurde es nicht müde, ihm allerhand lustige Dinge vorzuplaudern.

„Nun zähle einmal: eins, zwei, drei,“ sagte es plötzlich, „und wir sind zu Hause.“

Der Kleine riß die Schürze herab und blickte sich um. Richtig, da standen sie gerade vor dem großen, schönen Hause, in dessen Hintergebäude sie wohnten. Sie bogen um die Ecke in eine schmale Gasse und traten, nachdem sie an einer langen Mauer vorübergegangen waren, hinter welcher der schöne Garten der Herrschaften im Vorderhause lag, in eine kleine Seitenpforte ein. Durch einen schmalen Gang und einen dunklen Hof gingen sie nun, und endlich hatten sie die Haustür eines baufälligen Hauses erreicht. Stockdunkel war es darin, aber Lenchen wußte Bescheid. Bald hatte sie die wackelige Treppe gefunden und jetzt ging es treppauf, vier Stock hoch, bis unter das Dach. Karl bekam wieder Lebensmut und rief: „Mutter, mach auf, wir kommen!“

Da öffnete sich zur Seite eine Bodentüre und eine blasse, ärmliche Frau erschien mit der Lampe in der Hand. „Ihr bleibt ja lang aus, Kinder,“ sagte sie, „konntet ihr euch von den schönen Sachen auf dem Christmarkt nicht trennen?“

Der Kleine vergaß alle ausgestandene Kälte und fing an, lebhaft zu erzählen, was er alles gesehen. Dabei wollte er gleich an der Mutter vorbei in die Stube huschen.

„Erst den Schnee abschütteln und die Schuhe abstreichen, sonst machst du die Stube schmutzig,“ ermahnte die Mutter und hielt ihn zurück. „Du weißt doch, daß ich sie erst heute gescheuert habe.“

Gehorsam schüttelte der Knabe den Schnee herunter und Lenchen zog ihm die nassen Stiefel von den erstarrten Füßen, dann steckte sie diese in ein Paar alte, warme Filzschuhe.

Es war ein kleiner Raum, in welchen sie jetzt eintraten, Küche, Wohn- und Schlafzimmer zugleich. Not und Dürftigkeit hatten ihre Wohnung darin aufgeschlagen, und wo die einmal hausen, da ist auch die Sorge nicht fern.

Ihr kleinen Mädchen und Knaben, die ihr Armut kaum dem Namen nach kennt, die ihr in Freude und Wohlstand großgezogen werdet, wie würdet ihr staunen, wenn ihr gleich einmal aus eurer behaglichen Häuslichkeit in das Dachstübchen der Frau Braun versetzt würdet! Ein alter, wurmstichiger Tisch am Fenster, drei hölzerne Stühle, ein Bett, eine bunt bemalte Lade, noch aus Frau Brauns Mädchenzeit, – das war die ganze Einrichtung. Draußen, dicht an der Stubentür, stand noch ein Schränkchen, – ihr seliger Mann hatte dasselbe einst aus einer alten Kiste gezimmert, – Tassen und Töpfchen standen darin. Karl liebte diesen Schrank besonders, weil die Mutter auch Brot und Butter darin aufbewahrte, – manchmal sogar ein paar Äpfel, wenn das Obst recht billig war.

Die Mutter hatte den Tisch dicht an den warmen Ofen gerückt, am Fenster war es zu kalt, der Wind zog hindurch, ja heute blies er sogar kleine Schneeflocken durch die Spalten und Ritzen des kleinen morschen Fensters. – Lenchen trug die Stühle heran, und als die Kinder sich gesetzt hatten, schenkte ihnen die Mutter Kaffee ein und reichte jedem ein Stück Brot dazu.

„Da eßt, Kinder,“ sagte sie. „Butter kann ich heute nicht geben, wir müssen sparen. In acht Tagen muß die Miete bezahlt werden, das wißt ihr doch.“

„Aber Sirup kannst du doch aufschmieren, der kostet nicht viel,“ sagte der kleine Karl und sah seine Mutter ganz altklug dabei an.

„Nein, Karlchen, heute gibt es gar nichts weiter als trockenes Brot. Vielleicht kann ich euch auch das bald nicht mehr reichen,“ setzte sie mit einem schweren Seufzer hinzu.

Der Kleine nahm unterdessen sein Brot und aß und trank mit einem Vergnügen, als ob er Kuchen und Schokolade verzehrte; es war eine Lust, dem Knaben, der trotz der kärglichen Kost so gesund und blühend aussah, zuzuschauen.

Als er aufgegessen hatte, holte er sich einen kleinen hölzernen Schemel aus der Ecke, setzte ihn dicht zu Füßen seiner Mutter, lehnte sein Köpfchen an ihren Schoß, erzählte noch einige Augenblicke von den vielen schönen Sachen, die er gesehen und die er alle kaufen wolle, wenn er groß sei. Bei diesem glücklichen Gedanken fielen ihm die Augen zu – und er schlief ein. Die Frau trug ihn ins Bett; er wachte nicht auf davon, selbst nicht, als sie ihm noch einen herzhaften Kuß auf die Lippen drückte.

Frau Braun, so hieß die Mutter der Kinder, war eine arme Witwe, die sich und ihre Kinder mühsam mit Nähen und Waschen ernährte. Einst hatte sie bessere Tage gesehen, als ihr Mann noch lebte. Er war ein fleißiger, tüchtiger Zimmermann gewesen. Sie hatten ihr gutes Auskommen gehabt, und die Not war ihnen fern geblieben. Seit zwei Jahren war er tot. Plötzlich war er gestorben. Gesund und munter war er des Morgens an die Arbeit gegangen und mittags, als die Frau ihm das Essen bringen wollte, kam sie gerade dazu, wie er eben vom Gerüst des neuen Gebäudes, bei dem er beschäftigt war, drei Stock hoch heruntergestürzt war. Er blickte die jammernde Frau noch einmal an und schloß darauf die Augen für immer. Nun stand sie allein, und die ganze Sorge für ihre zwei kleinen Kinder lag auf ihren Schultern. Es fanden sich damals mitleidige Leute, die, als sie von dem Unglück hörten, ihr anboten, für ihre Kinder sorgen zu wollen. Ein reicher, kinderloser Fleischer wollte sogar den kleinen, hübschen krausköpfigen Knaben annehmen, aber, – und dazu konnte sich die Mutter nicht entschließen, – sie sollte sich gänzlich von ihm lossagen und nie wieder um den Knaben kümmern. – „Ich behalte meine Kinder,“ sagte sie fest, „der liebe Gott wird mit helfen, daß ich sie gut und tüchtig groß bringe.“

An Fleiß fehlte es ihr nicht. Von früh bis spät nähte oder wusch sie und brachte sich und die Kinder kümmerlich durch. Da wurde sie krank. Drei Wochen mußte sie fest im Bette liegen und konnte nichts verdienen. Das war eine traurige Zeit. Die ärgste Not trat an sie heran. Sparen hatte sie nicht können und so mußte denn, wenn die Kinder nicht Hunger leiden sollten, jedes Stück, das irgendwie in dem kleinen Hausstande entbehrt werden konnte, verkauft werden.

Ein Nähtisch, ein Geschenk ihrer früheren Herrschaft, machte den Anfang. Sie trennte sich schwer von ihm, aber es mußte sein; dann folgten einige Stück Betten, – und endlich blieb nichts zurück, als die wenigen Habseligkeiten, die noch im Stübchen standen. – Langsam erholte sich die arme Frau endlich, aber mit dem Verdienen wollte es noch immer nicht recht vorwärts, die alten Kräfte konnten bei der spärlichen Kost nicht wiederkehren.

Es war ihr recht traurig zumute heute abend, sie dachte an das nahe Weihnachtsfest. Sonst hatte sie den Kindern noch eine Kleinigkeit bescheren können, diesmal war sie nicht imstande, nur ein paar Äpfel oder Nüsse zu kaufen. Was half es ihr, daß sie bis tief in die Nacht hinein nähte. Der Rock, an dem sie arbeitete, brachte ihr doch nur wenige Groschen ein. Sie seufzte tief auf und unwillkürlich tropften Tränen auf ihre Arbeit.

Lenchen, die am Tische stand und die Tassen wusch, blickte die Mutter an und nahm sie herzlich in den Arm.

„Du darfst nicht weinen, Mutterchen,“ sagte sie. „Du weißt doch, daß der Herr Doktor zu dir sagte, du würdest dir die Augen verderben mit allem Weinen.“ „Der Herr Doktor hat gut reden, Kind, er weiß nicht, was Not und Elend heißt! – Wir haben keine Kohlen mehr und kein Geld, andere zu kaufen. Jeden Pfennig muß ich für die Miete zurücklegen, sie ist noch lange nicht zusammen.“

„Ah, das ist gar nicht schlimm,“ tröstete Lenchen, „bis Neujahr kannst du noch viel Geld verdienen. Von der Köchin drüben bekommst du Geld für die weißen Schürzen, und wenn wir diesen Rock bei der Frau Bäckermeister abliefern, gibt's wieder einen Haufen Geld.“

Die Mutter mußte unwillkürlich lächeln bei Lenchens kindlichem Tröste. „Du lieber Gott,“ sagte sie, „das bringt nicht viel, reicht nicht zur Miete aus, und wenn wir uns auch noch so knapp behelfen. Für euch, ihr armen Kinder, gibt es in diesem Jahre kein Weihnachtsfest.“

„Darüber mach dir keine Sorgen, Mutterchen! Siehst du, als du im Herbst so todkrank dalagst, da habe ich immer zum lieben Gott gebetet, er möge dich nur wieder gesund machen, ich wollte auch nichts, nichts weiter von ihm wünschen. Nun bist du wieder gesund, und ich bin so vergnügt und fröhlich darüber, daß ich gar keine Weihnachtsfreude weiter haben will.“

Es sah auch wirklich so fröhlich aus, das kleine Lenchen, die großen blauen Augen blickten die Mutter so glücklich an, daß diese für eine kurze Zeit ihr Elend vergaß.

„Du bist ein gutes Kind,“ sagte sie gerührt, und streichelte ihr dabei die frischen Wangen und das blonde Haar, „der Himmel wird uns ja einmal wieder bessere Zeiten schicken.“

„Ei, freilich wird er das! Laß mich nur erst größer sein, dann helfe ich dir verdienen, dann sollst du auch alle Tage Fleisch essen und –“

„Frau Braun, Frau Braun!“ tief in diesem Augenblicke draußen eine helle Stimme. „Leuchten Sie doch man ein bißchen, man bricht sich wahrhaftig sonst Hals und Bein auf Ihrer Treppe!“

„Das ist die Köchin von Geheimrats,“ rief Lenchen. Die Mutter griff eilig zur Lampe und leuchtete zur Tür hinaus.

„Gott sei Dank, daß ich nicht alle Tage solche Hühnerstiegen raufklettern muß,“ sagte die Köchin, indem sie ganz erschöpft auf einen Stuhl niedersank. „Warum ziehen Sie auch so hoch ins Himmelreich, Frau Braun? Man steigt sich ja die Schwindsucht an den Hals.“

„Ich kann nicht viel Miete zahlen, und hier oben ist es billig, Karoline,“ erwiderte Frau Braun bescheiden.

„Na, es war nicht böse gemeint, Sie wissen ja schon, ich bin ein bißchen rasch mit meinem Mundwerk. Also warum ich komme, will ich Ihnen sagen, bald hätte ich's wahrhaftig vergessen. Unser Herr Geheimrat will selbst auf den Weihnachtsmarkt gehen und den Christbaum einkaufen, und es soll jemand mit ihm gehen, der den Baum nach Hause trägt. Da dachte ich denn, Lenchen verdiene sich wohl gern ein paar Groschen. Kannst du's wohl machen?“ wandte sie sich fragend an das Kind.

Lenchen strahlte vor Freude, eilig nahm sie ein Tuch um die Schulter, und wenn die Mutter ihr nicht noch eine alte rote Kapuze auf den Kopf gesetzt hätte, sie wäre ohne irgend etwas Warmes davongelaufen. Sie fröre ja gar nicht, sagte sie.

„Na, nun komm man, Mädchen,“ sagte Karoline und freute sich über das flinke, kleine Ding, „der Herr Geheimrat wartet schon.“

Frau Braun leuchtete wieder mit der Lampe hinaus, und Lenchen rief ihr im Fortgehen vergnügt hinauf: „Siehst du, Mütterchen, nun verdienen wir wieder Geld!“

Der Herr Rat stand auch richtig schon bereit. In seinen warmen Pelz gehüllt, konnte kein Lüftchen seinen dürren Körper berühren. Den Pelzkragen hatte er in die Höhe geschlagen, so daß Lenchen kaum seine Nasenspitze erkennen konnte, die aber flößte ihr schon einen so hohen Respekt ein, daß sie ihr ›Guten Abend‹ ganz schüchtern und kaum hörbar hervorbrachte.

Der Herr Rat achtete auch gar nicht auf ihren Gruß, sondern bedeutete ihr ganz kurz, daß sie ihm folgen möge.

Unverdrossen folgte das Kind dem Herrn und machte noch einmal den weiten Weg, den es erst vor einer Stunde zurückgelegt hatte. Kälte und Frost empfand es nicht, was konnten sie ihm auch tun bei der Glückseligkeit, die die Kleine im Herzen trug.

Geld verdienen! Wißt ihr wohl, meine kleinen Leserinnen, was das bedeutet? Nein, ihr habt keinen Begriff davon. Ihr habt eure Sparbüchse, und da hinein wird euch von den Eltern und Verwandten manch blankes Markstück getan. Ihr habt gar keine Mühe davon, darum fehlt euch aber auch die Freude daran. Seht einmal Lenchen an, wie glücklich sie die paar Groschen machen, die sie vielleicht erhalten wird!

Allerhand Pläne ziehen ihr durch den Kopf, was sie dafür kaufen will, um der Mutter eine Freude zu machen. Karlchen sollte nicht leer ausgehen, und nun überlegte sie, was sie am liebsten ihm kaufe. Ein Pferdchen wünschte er sich sehr, aber er möchte auch gern ein Schäfchen haben. „Vielleicht kann ich ihm beides kaufen,“ dachte sie und ließ den Blick musternd über die ausgestellten Spielsachen einer Groschenbude gleiten.

In ihren Betrachtungen wurde Lenchen unterbrochen, als der Herr Rat plötzlich bei einer alten Frau stehen blieb, die Tannenbäume feilbot. Die Kleine trat ihnen bescheiden näher und wartete, bis der Herr ihr einen mächtigen großen Baum reichte.

„Wirst du ihn auch tragen können?“ fragte er. „Am Ende ist er dir doch zu schwer.“

„O, bitte, nein, er ist mir gar nicht zu schwer!“ rief Lenchen und griff eiligst nach der Tanne. Sie hatte Angst, daß ihr der geträumte Verdienst entgehen könne. „Ich bin stark,“ fuhr sie vergnügt fort und hob den Baum ziemlich leicht empor, „ich muß auch der Mutter schon tüchtig helfen, und als sie krank war, habe ich die ganze Wirtschaft allein besorgen müssen.“

Ohne ein Wort auf das Geplauder zu erwidern, zog der Geheimrat seinen Geldbeutel aus der Tasche und gab der Kleinen dreißig Pfennig. Was ging den vornehmen Herrn die Krankheit der Mutter an, solche Redensarten beachtete er nicht weiter. Hatte er doch die Erfahrung gemacht, daß arme Leute stets Krankheit vorschützen, wenn sie betteln gehen, wahrscheinlich glaubte das Kind, mehr Geld durch seine Worte für den Weg zu erzielen.

Die Verkäuferin lud Lenchen die Tanne auf, und da sie selbst arm war, hatte sie auch ein Herz für die Armen. Das hübsche offene Gesicht des Kindes gefiel ihr, sie sah ihm gleich an, daß es die Wahrheit sprach.

„Du bist ein gutes Kind,“ sagte sie und klopfte ihm die Wangen. „Bleib nur so brav, dann wirst du vorwärts kommen. Du hast wohl einen weiten Weg?“ fragte sie noch, und als Lenchen die Straße genannt hatte, nahm sie eiligst den Kaffeetopf von den Kohlen und schenkte eine Tasse ein.

„Du lieber Gott, das ist ein weiter Weg,“ sagte sie mitleidig, „der Baum ist nicht leicht, dir werden die Hände erfrieren. Da trink erst den Kaffee, er wird dich erwärmen.“

Lenchen nahm dankend die Tasse in Empfang, und als sie ausgetrunken hatte, machte sie sich vergnügt auf den Heimweg.

Sie nahm sich vor, recht, recht schnell zur Mutter zu eilen, so schnell als sie nur mit dem schweren Baume fortkommen konnte.

Manchmal mußte sie ihn niedersetzen, um auszuruhen, dann sah sie natürlich rechts und links zu den Buden hinüber, es machte ihr gar zu großes Vergnügen, die schönen Sachen betrachten zu können.

„Stück für Stück nur zehn Pfennig, meine Herrschaften! Alles, alles, was Sie sehen, nur zehn Pfennig! Kaufen Sie, kaufen Sie, ehe es zu spät ist!“ tönte es an ihr Ohr, als sie eben vor einer Bude vorübergehen wollte.

Sie setzte den Baum nieder, um sich zu erholen, eigentlich aber um einen Augenblick zuzusehen, wie der Mann Stück für Stück in die Höhe hielt, um es den Herumstehenden zu zeigen. Zögernd trat Lenchen näher, sie hätte so gerne etwas für Karl gekauft, sie wagte nur nicht, darum zu handeln. So gern hätte sie das kleine hölzerne Pferdchen gehabt, aber sie hatte keinen Mut, den Verkäufer darum anzugehen. Wie sie, noch alles betrachtend und zweifelnd, dastand, trat eine dicke Frau mit einem Körbchen am Arme dicht vor die Bude hin und drängte Lenchen mit ihrer großen Tanne zur Seite.

„Was stehst du da und gaffst?“ fuhr sie das Kind an, „mach Platz, du kaufst doch nichts!“ Und nun fing sie an, ein Stück nach dem andern auszusuchen. Schachteln mit Kochgeschirr von Blech, eine kleine Schäferei mit Häuschen, kleinen grünen Bäumen, Schäfer, Schafen und Hunden – jedes Stück für zehn Pfennig, Kaffeetassen für Puppen, – ach, und noch viele andere Herrlichkeiten wählte die Frau aus.

Wie staunte Lenchen alles an, wie wünschte sie nur die Hälfte davon zu besitzen.

Die Frau war nun zu Ende mit ihrem Einkauf, und der Kaufmann rechnete mit ihr zusammen.

„Vierzehn Stück,“ sagte et, „macht eine Mark vierzig Pfennig.“

Lenchen hatte mitgezählt und war so eifrig dabei, daß sie nicht bemerkte, wie die Frau mit ängstlicher Hast ihren Korb durchsuchte. Als dieselbe plötzlich aufschrie: „Mein Geldbeutel ist fort! Gestohlen ist er mir!“ da fuhr sie erschreckt zusammen.

„Hier hat er gelegen,“ fuhr die Bestohlene in höchster Aufregung fort, „hier! der Korbdeckel war fest geschlossen – jetzt liegt er lose darauf. Ein Spitzbube hat ihn abgeschnitten! O, mein Geld – es waren über fünfzehn Mark – alles ist fort!“

Die Frau war ganz verzweifelt, und als sie mit lauter Stimme ausrief: „Wer hat's gestohlen?“ blickte sie aus die Menschen ringsum, als ob sie den Dieb mit ihren Augen herausfinden könnte.

Aber sie bekam keine Antwort, denn niemand wußte es zu sagen.

Aller Augen waren auf die hellerleuchtete Bude gerichtet. Niemand würde geglaubt haben, daß der Knabe, der dicht hinter Lenchen gestanden hatte, der Spitzbube sei.

Er war so nett und anständig gekleidet, wie guter Leute Kind. Mit seinen wasserblauen Augen blickte er so treuherzig umher, und bei dem Rufe der Frau: „Wer hat's gestohlen?“ – hatte er auch nicht einmal mit der Wimper gezuckt, der freche Bube.

Als er zufällig in die Nähe der dicken Frau zu stehen kam, merkte er bald, daß dieselbe etwas Wertvolles m ihrem Korbe aufbewahre. Sie fühlte so oft nach dem Deckel desselben, um sich zu überzeugen, daß er auch fest verschlossen sei. Einmal hatte sie ihn sogar ein wenig geöffnet und mit der Hand hineingefühlt. Als sie sich überzeugt, daß alles in Ordnung war, hatte sie den Deckel wieder fest daraufgedrückt.

Dem Jungen war nichts entgangen. Dicht drängte er sich an die Frau, und als sie gerade recht vertieft im Aussuchen der Spielsachen war, nahm er sein Taschenmesser zur Hand, schnitt schnell und gewandt den Deckel hinten am Korbe ab, griff hinein – und der Geldbeutel war in seiner Hand. Ohne sich zu rühren, behielt er ihn wenige Minuten in der Hand, dann blickte er sich vorsichtig um, ob auch niemand etwas gemerkt habe. Er konnte ruhig darüber sein, kein Mensch sah nach ihm. Da öffnete er behutsam den Geldbeutel, nahm das Geld heraus und steckte es in seine Tasche. Den leeren Geldbeutel wollte er wegwerfen; der schlaue Junge wußte recht wohl, daß ihn derselbe leicht verraten könne.

Wie er nun eben im Begriff war, den Geldbeutel unbeachtet zur Erde fallen zu lassen, erblickte er Lenchens offen stehende Kleidertasche. Ohne Besinnen ließ er ihn dort hineingleiten und lachte schadenfroh, als die Kleine gar nichts davon merkte und so arglos dastand.

„Die wird Augen machen, wenn sie das Ding in ihrer Tasche findet,“ dachte er, „und wenn es dann leer ist, wie wird sie sich ärgern! Das ist ein köstlicher Spaß!“

Nach seinem bösen Streich verließ er seinen Platz, denn er fühlte sich nicht ganz sicher in der Nähe der Frau.

Die Menschen drängten sich in dichtem Knäuel an die laut jammernde Frau, und Lenchen wurde es himmelangst. Sie konnte weder vor- noch rückwärts, ihre kleine Gestalt wurde beinahe erdrückt. Die große Tanne hatte sie dicht vor sich stehen und bei dem heftigen Drängen drückten sich die stachlichten Nadeln derselben tief in ihr Gesicht und taten ihr weh.

„Bitte, lassen Sie mich durch, bitte, bitte!“ rief sie angstvoll den Nächststehenden zu. „Ich muß nach Hause, ich muß den Baum forttragen!“

Niemand achtete auf des Kindes Flehen, sein dünnes Stimmchen verklang ungehört. Sie fing zu weinen an, und als sie noch einmal so recht kläglich rief: „Lassen Sie mich durch,“ stand plötzlich ein Schutzmann vor ihr.

„Was ist hier los?“ wandte er sich an die Frau. Diese erzählte unter Klagen und Jammern ihr Unglück, aber so hastig und verworren berichtete sie das Vorgefallene, daß der Schutzmann nicht klug daraus wurde.

„Was ist Ihnen gestohlen worden?“ fragte er kurz.

„Mein Geldbeutel, Herr Schutzmann. Sehen Sie, hier – hier hat er gelegen,“ – dabei hob sie den Korb in die Höhe und zeigte ihm die Stelle. „Der Korb war fest geschlossen, Herr Schutzmann, und nun –“

„Wieviel Geld war darin?“ unterbrach sie der Schutzmann.

„Fünfzehn Mark zwanzig Pfennig. Sehen Sie, ich hatte den Korb fest verschlossen – so – so,“ dabei bemühte sie sich eifrig, ihm genau und umständlich jede überflüssige Kleinigkeit zu erzählen. Er hörte gar nicht darauf hin, sein Auge musterte die nächststehenden Leute. Da drang plötzlich Lenchens weinende Stimme an sein Ohr und machte ihn auf dieselbe aufmerksam.

„Warum heulst du, Mädchen?“ fuhr er die Kleine barsch an.

Sie antwortete nicht gleich, Lenchen war zu erschrocken, der Schutzmann sah sie so böse an.

„Warum du heulst?“ fragte er noch einmal mit erhobener Stimme. „Kannst du den Mund nicht auftun?“

„Ich muß nach Hause,“ hub sie zitternd an, – „ich muß den Baum –“

Weiter kam sie nicht, denn plötzlich rief eine Stimme aus der Menge: „Sie hat das Geld gestohlen – haltet sie fest!“

Alles sah sich nach dem Sprecher um, aber der war verschwunden.

Der Dieb selbst hatte die Worte gerufen, ihr könnt es euch schon denken, liebe Leser und Leserinnen. Als nämlich der Schutzmann kam, wurde es ihm etwas unheimlich zumute, er drängte sich durch die Menschen, und ehe er davonlief, wandte er sich um und rief die abscheuliche Lüge aus. Der Schutzmann hatte Lenchen ergriffen und zog sie bis zur nächsten Gaslaterne. Sie wußte nicht wie ihr geschah, ja sie begriff nicht, was der Mann von ihr wollte.

Zitternd am ganzen Körper stand das Kind da, und als er sie auch anfuhr: „Wo hast du den Geldbeutel, – heraus damit!“ konnte sie vor Schreck nicht antworten.

„Nun, wird's bald, oder soll ich helfen?“ rief er ungeduldig und griff ohne Umstände in Lenchens Tasche.

„Was ist denn das hier?“ fragte er und hielt ihr den Geldbeutel dicht vor die Augen.

Leichenblaß stand Lenchen da und starren Auges blickte sie aus denselben hin.

„Nun, ist das dein Geldbeutel, kleine Diebin?“ schrie er sie an. „Antworte!“

Lenchen schüttelte den Kopf, mühsam brachte sie die Worte hervor: „Ich habe keinen.“

„Du hast keinen? Wie kommt denn der in deine Tasche, he? Er ist wohl hineingeflogen?“

„Ich weiß es nicht,“ jammerte das Kind, „ich habe ihn nicht genommen – nein, nein, gewiß nicht!“

„Das kennt man schon. Ihr Diebsgesindel seid alle unschuldig,“ sagte der Schutzmann. Dabei hatte er den Geldbeute! geöffnet und nun entdeckt, daß derselbe leer war.

Die bestohlene Frau, die dicht neben ihm stand, fing bei dieser Entdeckung aufs neue zu jammern an. Sie stürzte sich auf das Kind, als ob sie es zerreißen wollte.

„Willst du gleich sagen, wo du das Geld gelassen hast, du nichtsnutziger Balg?“ schrie sie in höchster Wut und schüttelte das arme Lenchen hin und her.

Der Schutzmann hielt mit Mühe die Frau zurück, sie wäre imstande gewesen, dem Kinde ein Leid anzutun.

„Vielleicht hat sie es noch in der Tasche stecken,“ sagte er und griff noch einmal hinein. „Richtig, da klimpert es ja. Na, viel ist es nicht,“ fuhr er fort, und zog Lenchens wohlverdienten Lohn hervor, „aber doch etwas. Nun werden wir das übrige schon auch noch finden. Dreißig Pfennig,“ zählte er, „wo hast du das andere gelassen? Hast es deiner Mutter gegeben? Sie stand wohl hinter dir, ja? – Sag's nur, Mädchen, dein Lügen hilft dir nichts. Oder sollen wir dich einstecken?“ fuhr er sie an. „Ins Gefängnis bringen zu Ratten und Mäusen?“

Die Drohung des Schutzmanns brachte das Kind zur Verzweiflung.

„Mutter, Mutter,“ schrie es herzzerreißend, „hilf mir doch! Ich habe nichts gestohlen, – nein, nein! Meine liebe, liebe Mutter, ich will zu dir! Lassen Sie mich zu meiner Mutter,“ bat sie flehentlich und rang die Hände, “sie weiß, daß ich nichts genommen habe! Ich habe noch nie – nie etwas genommen.“

„Hör auf mit deinem Geheul, Mädchen, jetzt ist es zu spät damit. Vorwärts, marsch auf die Wache!“ Mit diesen Worten faßte der Schutzmann das Kind fest am Arme.

„Macht Platz!“ rief er den Leuten zu, die wie eine dichte Mauer die Gruppe umstanden. Langsam traten sie auseinander und Schritt für Schritt ging es vorwärts.

„So ein kleiner Knirps stiehlt schon!“ rief eine Frau, als Lenchen an ihr vorüberschritt. „Eine tüchtige Tracht Prügel wäre das beste für solche Brut,“ setzte eine andre hinzu, „dann würde sie das Stehlen schon lassen.“

In ihrer Todesangst hörte und sah Lenchen nichts. „Mutter, sie bringen mich ins Gefängnis,“ wiederholte sie unaufhörlich, und es war, als ob ihre Gedanken sich darüber verwirrten. Mechanisch ergriff sie den Tannenbaum, denn bei all ihrem Herzeleid vergaß sie nicht, daß sie denselben abliefern mußte.

„Wo hast du den Baum her?“ fragte plötzlich der Schutzmann, als er sah, daß derselbe sich mit Lenchen in Bewegung setzte. „Ist er dir auch zugeflogen oder vielleicht in die Hand gewachsen?“

Die Umstehenden lachten noch über seinen Witz und er stimmte ein.

„Wo du den Baum her hast?“ wiederholte er, da Lenchen schwieg.

„Der Herr Geheimrat hat ihn gekauft,“ brachte sie unter Schluchzen mühsam hervor.

„Wie heißt dein Herr Geheimrat?“ fragte er spottend.

Ja, das wußte Lenchen nicht zu sagen, sie wußte nur, daß Geheimrats in dem ersten Stock in dem schönen, großen Eckhause wohnten und daß Karoline ihre Köchin war. Ihren Namen hatte sie niemals gehört.

„Bist du taub, Mädchen?“ fragte der Schutzmann ungeduldig.

„Wie heißt dein Geheimrat?“

„Ich weiß es nicht,“ stotterte sie.

„Aha, da haben wir die Bescherung! Ihr Diebsvolk habt alle so einen unbekannten ›Herr Niemand‹ zu eurem Helfershelfer! Mach keine Umstände, Mädchen, du hast ihn so gut gestohlen, wie den Geldbeutel.“

Es wäre eine Kleinigkeit für Lenchen gewesen, dem Manne zu sagen: „Hier, hier ist der Baum gekauft!“ denn gar nicht weit von ihr stand die Frau, die es bezeugen konnte, – aber in ihrer Verwirrung achtete sie nicht daraus, und die Verkäuferin sah wohl ein Gewirr von Menschen, aber von dem Kinde konnte sie nichts erkennen. Erst als der Zug vorüber war, hörte sie von ihrer Nachbarin, daß ein Mädchen zur Wache gebracht wurde mit einer großen Tanne in der Hand. Sie habe Geld gestohlen und den Baum auch. –

Während das arme Lenchen nach der Polizeiwache gebracht wurde, saß Frau Braun zu Hause und nähte Stich für Stich, ohne aufzusehen. Die Zeit verging ihr so schnell bei der fleißigen Arbeit, daß sie gar nicht gemerkt hatte, wie das Kind über die Zeit fortblieb. Sie dachte auch gar nicht daran, daß ihrem Lenchen, das seit ihrer Krankheit so pünktlich und gewissenhaft alle kleinen Ausgänge und Aufträge besorgte, etwas zugestoßen sein könnte.

Aus ihrer Ruhe wurde sie plötzlich durch Karoline aufgeschreckt, die sie unten an der Treppe laut beim Namen rief.

„Ich gehe keinen Schritt weiter, wenn Sie nicht leuchten! Es ist schlimm genug, daß ich Ihre Himmelsleiter zum zweitenmal raufklettern muß. Wo bleibt denn die Lene? Sie kann doch nicht mehr unterwegs sein? Unser Fräulein und ihr Bräutigam warten auf den Baum, sie wollen ihn ja heute noch schmücken.“

„Ist es denn schon so spät, Karoline?“ fragte ängstlich Frau Braun.

„Na, nun hört doch alles auf! Haben Sie denn keine Uhr schlagen hören? Der Kirchturm steht Ihnen doch nahe genug. Eben hat es drüben acht gebrummt.“

„Acht Uhr!“ rief Frau Braun erschrocken, „und um halb sechs ist sie fortgegangen! Wenn dem Kind nur kein Unglück zugestoßen ist! Du lieber Gott, nur das nicht! Ich habe ja schon so viel Elend erlebt!“

„Ach was,“ fiel Karoline ins Wort, „Unglück hin, Unglück her, was soll ihr denn zugestoßen sein? Bei den Buden wird sie stehen, man weiß doch, wie es die Kinder machen.“

Aber Frau Braun beruhigte sich nicht bei diesen Worten, sie wußte, daß ihr Lenchen viel zu gewissenhaft war, um so lange nutzlos herumzubummeln. Sie zitterte vor Aufregung, denn mit einem Male hatte sie eine unerklärliche Angst erfaßt.

Ohne ein Wort zu erwidern, griff sie nach ihrem Mantel und band ein Tuch um den Kopf. Noch einmal sah sie aus den schlafenden Knaben und bat die Köchin dringend, sie möchte doch, wenn sie nicht so schnell zurückkehren sollte, nach demselben sehen.

„Ja, das will ich schon tun,“ sagte die und beklagte sich gar nicht, daß sie dann wieder die Treppen steigen müsse, – „aber sagen Sie um Gottes willen, wo wollen Sie denn ins Blaue hin?“

„Mein Kind suchen,“ sagte entschlossen die Frau.

„Sie wissen nicht einmal, wo der Herr Geheimrat den Baum gekauft hat,“ fuhr Karoline fort.

„Ja, es ist wahr, ach ich bin ganz verwirrt! Die Angst nimmt mir alle Gedanken!“

„Kommen Sie mit herüber,“ sagte Karoline mitleidig, „ich werde den Herrn Geheimrat gleich fragen. Machen Sie sich nur nicht so schreckliche Gedanken, Frau Braun, man muß nicht gleich das Schlimmste fürchten.“

Sie traten jetzt in die Küche ein, und eine fröhliche Mädchenstimme rief: „Karoline, wo ist der Baum?“

Die Tochter vom Hause, ein schönes junges Mädchen von achtzehn Jahren, stand vor ihnen und blickte erwartungsvoll nach der Tür.

„Ach, Fräulein Käthchen, die Kleine ist noch nicht zurück vom Markte.“

„Noch nicht zurück? Das ist ja unmöglich, Papa ist schon seit einer Stunde wieder da, und er hatte noch viele Besorgungen zu machen. Das Kind wird sich doch nicht verlaufen haben?“ fügte Käthchen besorgt hinzu.

Karoline schüttelte den Kopf. „Verlaufen hat sie sich nicht, die kennt den Weg besser als ich! Aber,“ setzte sie zögernd hinzu, „Frau Braun meint, es könne ihr ein Unglück zugestoßen sein.“

„O nein,“ tröstete Käthchen, „so schlimm ist es nicht, gute Frau!“

„Ja, Fräulein, das sagen Sie wohl,“ widerlegte Karoline mit gewichtiger Miene. „Gibt es nicht gar zu viel böse Menschen in der Welt? Man hört alle Augenblicke von verlorengegangenen Kindern, bald haben sie Zigeuner mitgenommen, bald sind sie ins Wasser gefallen. Wie war es denn erst neulich mit der kleinen Voigt? Fort war sie, – verschwunden! Alles Suchen half nichts. Nach acht Tagen fanden sie den armen Wurm ertrunken in der Schleuse. Kein Mensch hat erfahren, ob das Kind hineingefallen ist, oder ob ein schändlicher Bösewicht es hineingestoßen hat.“

„Aber Karoline,“ fiel Fräulein Käthchen der Redseligen ins Wort, „wie können Sie solche Sachen erzählen, sehen Sie doch die arme Frau an!“

Die Köchin bereute bitter ihre Ungeschicklichkeit, als sie die am ganzen Körper zitternde Frau ansah.

„Hier, trinken Sie, liebe Frau, das wird Sie stärken,“ sagte Käthchen, die schnell ein Glas Wein eingeschenkt hatte, „und lassen Sie sich durch Karoline nicht ängstigen. Sie sollen sehen, Ihre Kleine ist gesund und frisch. Jetzt will ich gleich Papa fragen, wo er sie verlassen hat.“ Flink lief sie hinein und nach wenigen Minuten kehrte sie mit dem Bescheide zurück. Frau Braun verließ darauf hastig die Küche und das Haus.

Der Schnee trieb ihr eisig ins Gesicht, sie achtete nicht darauf, ja sie fühlte nicht einmal etwas davon. Aufmerksam spähte sie nach rechts und links, – jedes Kind, das ihr entgegenkam, sah sie prüfend an, – es konnte ja Lenchen sein. – Ach, sie war es nicht! Fremde Kinder gingen und kamen an ihr vorüber, von dem ihrigen sah und hörte sie nichts.

Endlich hatte sie den Weihnachtsmarkt erreicht. Eine ganze Reihe von Tannenbäumen stand da aufgepflanzt, wie ein kleiner Wald waren sie anzusehen. Wie aber sollte Frau Braun unter den vielen Verkäuferinnen, die da dicht nebeneinander standen, die richtige herausfinden? Und konnte die ihr am Ende wohl Auskunft über ihr Kind geben? – Käthchen hatte nur ungefähr den Stand derselben angeben können, und die Verkäuferin als eine alte, freundliche Frau beschrieben. Du lieber Gott, bei der mangelhaften Beleuchtung sah eine wie die andre aus.

Auf das Geratewohl trat sie zu einer Frau heran und fragte nach Lenchen. Die wußte von nichts. Die nächste, die sie ansprach, auch nicht. Sie wandte sich an die dritte, die gab ihr denselben Bescheid, aber, als sie eben weitergehen wollte, rief dieselbe sie noch einmal zurück.

„Wie sah denn das Mädchen aus?“ fragte sie und sah mit ihrem schielenden Auge so recht lauernd Frau Braun an.

Dieselbe beschrieb Lenchen ganz genau.

„Ein schwarzes Kleid, kariertes Tuch und rote Kapuze auf?“ wiederholte die Verkäuferin. „Na, die haben sie nach der Polizei gebracht, die hat gestohlen.“ –

„Gestohlen?“ schrie Frau Braun. „Nein, das war nicht mein Kind, nimmermehr!“

„Einen Geldbeutel hat sie genommen, sie haben ihn bei ihr gefunden,“ fuhr das Weib unerbittlich fort, als ob es ihr recht viel Vergnügen machte, die arme Mutter noch mehr zu quälen. „Sie hatte ein kariertes Tuch um und eine rote Kapuze auf. In der Hand trug sie einen großen Tannenbaum, den hatte sie auch gestohlen.“

Es war, als ob das Herz der unglücklichen Frau Braun in Stücke zerrissen würde bei den Worten der hartherzigen Alten, die keine Spur von Mitleid in ihren strengen Zügen zeigte.

„Haben Sie Kinder?“ rief sie außer sich.

„Nein,“ sagte die Angeredete. „Gott sei Dank, ich habe keine, und das ist auch recht gut! Man erlebt doch nur Schimpf und Schande an ihnen.“

Die blasse Frau zitterte und war dem Umsinken nahe. „Sie haben kein Herz in der Brust,“ stieß sie hervor, „und wissen nicht, wie weh es tut, sein eigen Fleisch und Blut, das man wie sich selbst kennt, unschuldig angeklagt zu hören!“

„Unschuldig? Ha, ha, ha,“ lachte die Verkäuferin boshaft. „Wie ist denn der Geldbeutel in ihre Tasche gekommen?“

„Wie können Sie denn so gottlos sprechen, Frau Seifert!“ mischte sich jetzt eine andre Frau ein, die schon ein Weilchen zugehört hatte. „Sie wissen doch nicht, ob das Kind wirklich etwas genommen hat.“

„Beruhigen Sie sich, liebe Frau,“ wandte sie sich an Lenchens Mutter, „gehen Sie gleich nach der Wache, sie ist drüben in der Breitenstraße, und hören Sie selbst, wie die Sachen stehen. Vielleicht ist es doch nicht Ihre Kleine, die sie festhalten, und Sie ängstigen sich ganz unnütz ab.“

Die freundliche Frau hieß Frau Stein und war niemand anders als die Verkäuferin, bei der Lenchen eine Tasse Kaffee getrunken hatte.

„War die große Tanne nicht auch gestohlen?“ fragte Frau Seifert hämisch. „Mitschleppen mußte sie das Mädchen und das war recht. Gerade hier, dicht vor meinem Platze, fragte der Schutzmann, wo sie den Baum herhabe, – ja, da blieb sie die Antwort schuldig. Erst wollte sie anfangen zu lügen und stotterte etwas von einem ›Geheimrat‹, aber da kam sie schön an. Die Polizei läßt sich kein X für ein U machen, – klatsch! hatte sie eins ins Gesicht, da hielt sie schön den Mund.“

Die alte, böse Frau lachte mit dem ganzen Gesichte bei diesen Worten, und als Frau Braun unter Jammern ausrief: „Mein armes Lenchen!“ – stemmte sie so recht frech die Arme in die Seite und schrie:

„Habt ihr's gehört? Nanu, wer hat denn recht? ›Mein armes Lenchen!‹ hat sie gerufen. Sie wird wohl wissen, wo ihr Balg das Geld gelassen hat!“

Mit einemmal fiel Frau Stein ein, daß gegen Abend ein Herr mit einem Kinde einen großen Baum bei ihr gekauft habe, – sie erinnerte sich des Kindes noch ganz genau, sollte es Lenchen gewesen sein? Sie wollte noch eben ihre Bemerkung der geängstigten Mutter mitteilen, aber als sie sich nach derselben umwandte, war diese fort. Sie ging an ihren Platz, der gar nicht weit davon war, zurück, aber der Gedanke, daß Lenchen und die Diebin eine und dieselbe sein könnten, wollte ihr nicht in den Sinn. Sie schüttelte unwillkürlich den Kopf, als sie an des Kindes treue Augen dachte.

„Das Kind lügt und stiehlt nicht,“ sagte sie vor sich hin, „so offen und ehrlich kann nur ein unschuldiges Menschenkind aussehen.“ Am liebsten wäre sie gleich selbst aus die Wache gegangen, um sich zu überzeugen, aber sie war allein und konnte ihren Stand nicht verlassen, und zum Feierabend war es noch zu früh. –

Frau Braun lief indes wie verzweifelt nach der Polizeiwache. Die letzten Worte der bösen Alten klangen ihr noch immer im Ohre.

„Mein armes, armes Kind!“ rief sie unaufhörlich, „du bist keine Diebin, nein, nein, du hast nicht gestohlen!“

Einige Leute blieben stehen und sahen der aufgeregten Frau, die laut mit sich selbst sprach, erstaunt nach, sie mochten sie für eine Irrsinnige halten. Sie merkte nichts davon, immer nur mußte sie an ihr Lenchen denken, und es war ihr, als müsse sie den Verstand darüber verlieren.

Als sie ihr Ziel erreicht hatte, mußte sie erst einen Augenblick stehenbleiben und tief Atem schöpfen, dann öffnete sie die Tür und trat ein.

Im selben Augenblick flog Lenchen auf sie zu und hing sich an ihren Hals.

„Meine Mutter,“ schrie das Kind herzzerreißend, „meine liebe, liebe Mutter, ich habe nichts gestohlen! Du nimmst mich mit, nicht wahr? Bitte, bitte, komm schnell fort! Sie wollen mich ins Gefängnis stecken und“ – vor Schluchzen konnte es nicht weiter sprechen.

Frau Braun strich liebevoll des Kindes Wange. „Sei nur ruhig, mein Lenchen,“ sagte sie, „weine nicht so, – es wird ja schon alles gut werden.“

Dabei rannen ihr selbst die heißen Tränen aus den Augen und tropften auf des Kindes Scheitel.

Der Wachtmeister, der am Tische sah und schrieb, hatte diese kleine Szene still mit angesehen, und es war ihm dabei ganz eigentümlich um das Herz geworden. Er hatte schon so viel verlogenes Gesindel vor sich gehabt in seinem Leben, er wußte genau, wie die großen und kleinen Spitzbuben es machen. Wie sie mit der unschuldigsten Miene alles weglügen, wie sie jammervoll weinen und wehklagen können, und wie am Ende alles nur abscheuliche Verstellung ist, – aber was er eben sah und hörte, das klang anders, und schien ihm die Sprache der Wahrheit zu sein.

Er stand auf und trat zu Frau Braun. „Reden Sie ihr einmal ins Gewissen,“ sagte er ziemlich barsch. Denn er durfte doch seiner Würde nichts vergeben, „ich bekomme kein Wort aus dem Mädchen heraus.“

Nun erzählte er der Mutter ausführlich, was ihm der Schutzmann berichtet, und was ihr, meine kleinen Leser und Leserinnen, schon wißt.

„Sie antwortet auf keine Frage,“ fügte er am Schlusse hinzu, „ja nicht einmal wie sie heißt habe ich von ihr erfahren können. Wenn sie – offen gestände, wäre es besser, ich würde sie laufen lassen. Der Geldbeutel hat sich ja doch einmal in ihrer Tasche gefunden. Nicht wahr, du hast ihn genommen? Nun sag auch, wo du das Geld hingetan!“ wandte er sich an Lenchen.

Lenchen antwortete ihm nicht, nur fester klammerte sie sich an die Mutter an, und als ob sie von ihr Schutz erwarte, blickte sie angstvoll fragend zu ihr auf.

Die Frau hatte, ohne zu unterbrechen, die Anklage gegen ihr Kind angehört. Fest war sie von seiner Unschuld überzeugt und doch – als der Mann sagte, „der Geldbeutel fand sich in ihrer Tasche“, – stieg einen Augenblick ein fürchterlicher Verdacht in ihrem Herzen auf.

Wenn Lenchen ihn doch genommen hätte! Wenn sie vielleicht, um der Mutter in ihrer Not zu helfen, sich zu diesem unglücklichen Diebstahle hätte verleiten lassen!

„Lenchen,“ sagte sie so ruhig, als sie es vermochte, und nahm das Kind bei beiden Schultern, „sieh mir einmal fest ins Auge – nun sprich die Wahrheit, ich weiß, du kannst nicht lügen. Hast du – hast du den Geldbeutel genommen?“ Es wurde ihr schwer, die letzten Worte hervorzubringen.

Die Worte der Mutter brachten die Kleine in furchtbare Aufregung. Ihr Körper schüttelte sich krampfhaft, und von neuem umklammerte sie dieselbe. Sie hatte geglaubt, die Mutter würde sie schützen – und den Männern sagen: „Mein Kind stiehlt nicht!“ Statt dessen fragte sie, wie jene es getan. Konnte sie denn zweifeln?

„Mutter!“ schrie sie außer sich, – „du kannst mich fragen? Denkst du denn auch, daß ich gestohlen habe? O, nun komme ich ins Gefängnis, – nun schleppen sie mich fort!“

Mehr als alle Beteuerungen es getan haben würden, überzeugte Lenchens verzweifelter Ausruf die Mutter von ihrer Unschuld. Sie nahm das furchtbar geängstigte Kind in den Arm und liebkoste es, und mit vor Tränen erstickter Stimme sprach sie ihm tröstend zu.

„Nein, nein, du hast es nicht getan – ich glaube dir. Ich weiß, mein Lenchen würde eher verhungern, als daß sie einen Pfennig nähme.“ –

„Da soll einer klug daraus werden,“ unterbrach der Wachtmeister diese rührende Szene. „So etwas ist mir ja in meinem Leben noch nicht vorgekommen! Ist denn das Mädchen so verstockt, daß es die Wahrheit durchaus nicht sagen will?“

„Es sagt die Wahrheit,“ erwiderte Frau Braun und versuchte die Tränen zu trocknen, die immer von neuem hervorbrachen; „es hat noch niemals gelogen. Ich bin eine arme Frau, Herr Wachtmeister, aber ich halte meine Kinder streng zu allem Guten an. Gott weiß, wie der Geldbeutel in ihre Tasche kam, genommen hat sie ihn nicht.“

Der Wachtmeister war im Herzen selbst davon überzeugt, aber er durfte es nicht eingestehen. War nicht der Schein gegen Lenchen?

„Sie hatte auch Geld in ihrer Tasche, – dreißig Pfennig waren es wohl, – wissen Sie darüber Auskunft zu geben?“

„Das war ihr Botenlohn für den Baum, der hier steht!“ rief sie schnell und ein Schimmer von Freude flog über ihr blasses Gesicht. „Herr Geheimrat Falk kann es bezeugen, er hat ihn gekauft und sie sollte ihn nach Haus tragen.“

Der Wachtmeister machte erstaunte Augen, – hatte das Kind, als es nach dem Gelde gefragt wurde, nicht auch von einem ›Geheimrat‹ gestammelt? Die Aussagen der Mutter stimmten ja damit überein, und doch, konnten sich die beiden nicht darüber verabredet haben?

„So hat sie die Tanne nicht genommen?“ fragte er, und es blitzte freudig aus in seinen grauen Augen.

„Nimmermehr!“ rief Frau Braun.

Frau Braun mußte ihre Aussagen wiederholen, und er schrieb alles genau auf. Auch Wohnung und Namen wollte er von ihr wissen. Sie nannte ihm beides, und während er Frage auf Frage an sie richtete, kehren wir noch einmal zu Frau Stein zurück.

Die gute Alte hatte eben drei Tannen auf einmal verkauft und vergnügt über ihr gutes Geschäft setzte sie sich wieder auf ihren Platz. Vorher aber nahm sie erst den Kessel vom Kohlenbecken und trank recht behaglich ein Täßchen ›Heißen‹, wie sie zu sagen pflegte.

Als sie nun so still dasaß, kehrten ihre Gedanken wieder zu der unglücklichen Frau zurück, und sie hätte etwas dafür gegeben, wenn sie gleich gewußt hätte, was aus derselben geworden.

Ihr gegenüber stand eine Pfefferkuchenbude. Herrliche Sachen wurden dort feilgeboten, – Süßigkeiten aller Art waren kunstvoll aufgebaut und ausgebreitet und lockten groß und klein zum Kaufen an.

Zwei Jungen hatten schon seit einer kleinen Weile dicht vor Frau Stein sich aufgepflanzt und warfen sehnsüchtige Blicke zu der mit Gasflammen hell erleuchteten Bude hinüber.

„Du,“ hörte Frau Stein den älteren sagen, – es war ein schlechtgekleideter Bube von fünfzehn Jahren vielleicht, – „du, August, nun mache endlich und besinne dich nicht ewig. Kaufe der da drüben etwas ab – sieh, die hat schöne Sachen! Donnerwetter, sind das große Pfefferkuchen! Mir läuft das Wasser im Munde zusammen, wenn ich sie nur ansehe.“

Gierig blickte er hinüber und zog den andern vorwärts, als er diese Worte sagte, dabei schnalzte er förmlich mit der Zunge. „Aber Süßigkeiten und Schokolade mußt du auch kaufen, die esse ich so gern! Nun aber mach,“ fuhr er ungeduldig fort, als der andere noch immer zögerte, und versetzte demselben einen kleinen Stoß in die Seite – „ich will nicht mehr warten!“

Wer meint ihr wohl, daß dieser andere Knabe war? Blond und blauäugig sah er aus, auch war er nett und sauber gekleidet. Nun wißt ihr schon, daß August niemand anders war, als der böse, böse Junge, der dem armen Lenchen so viel Herzeleid bereitete. Der schlecht gekleidete, schmutzige Knabe war ein guter Freund von ihm, der ihn zu manchem bösen Streich verführte. August hatte ihn geholt und ihm mit Freuden seinen Diebstahl mitgeteilt. Jetzt waren sie dabei, das gestohlene Geld zu vernaschen.

Sie waren beide an die Bude getreten und kauften ein. Von allem verlangten sie, und der zweite Knabe, Ludwig, konnte nicht genug bekommen.

„Nun noch Schokolade,“ sagte er und nahm einige Tafeln, die er zu dem schon großen Pakete legte – „und schließlich noch diese Zuckerzigarren“ – dabei steckte er gleich eine in den Mund und tat, als ob er rauche.

Die Honigkuchenfrau packte alles zusammen und August griff in die Tasche, um zu bezahlen. Frau Stein konnte deutlich erkennen, daß er ein Goldstück hinreichte. Hatte es schon ihre Verwunderung erregt, daß die beiden Jungen so viel Näschereien einkauften, so war sie noch weit mehr erstaunt, als sie das Goldstück erblickte.

„Wie kommt der Junge zu dem vielen Gelde?“ dachte sie. Vielleicht wunderte sich auch die Honigkuchenfrau darüber, aber sie sagte nichts. Sie steckte das Goldstück ruhig ein und gab das übrige Geld daraus heraus. Die Jungen nahmen ihr großes Paket und verließen eilig die Bude.

„Nun teile, jeder die Hälfte!“ hörte Frau Stein den Großen sagen, als sie kaum zwei Schritte gegangen waren.

„Die Hälfte,“ tief August, „du bist wohl toll, Ludwig! Da, hier,“ sagte er und reichte ihm einige Stück, „das bekommst du, mehr gebe ich dir nicht.“

„Was, mit diesen paar lumpigen Bissen willst du mich abfinden? So kommst du mir nicht fort! Die Hälfte her, oder ich haue dich durch!“

August nahm einen Anlauf und wollte davonspringen. Kaum hatte er einige Schritte getan, so packte ihn Ludwig fest am Arm.

„Warte du,“ schrie er wütend, „auskratzen willst du mir! Das sollst du büßen.“

Rechts und links flogen die Ohrfeigen, August schlug wieder, aber, o weh! Dabei entfiel ihm sein Paket, das er unter dem Arme gehalten, und all die herrlichen Süßigkeiten kollerten in den Schnee.

Aber auch die beiden Jungen lagen auf der Erde und rauften und balgten sich, wie es eben nur so ungezogene Straßenbuben tun können. Sie merkten auch gar nicht, wie sie sich auf dem Honigkuchen herumwälzten, wie Zuckerzigarren und Schokolade und noch viele andere Sachen im Schnee und Schmutz umkamen und verdarben.

„Laß mich los!“ schrie August, als Ludwig ihn in den Haaren gepackt hatte, „laß mich los!“ dabei kratzte er ihm ins Gesicht, daß dieser vor Schmerz aufschrie.

„Du Spitzbube willst mich kratzen? Du erbärmlicher Dieb, du!“ Dabei versetzte er August Stöße und Püffe nach Herzenslust. „Jetzt gehe ich zur Polizei und sage, daß du gestohlen hast! Warte, das soll dir schlecht bekommen!“

Frau Stein hatte die Jungen nicht aus den Augen verloren. Sie hatte mit angehört, wie sie zankten, und als sie sich prügelten, war sie ruhig sitzengeblieben. Sie mochte sich nicht dazwischen mischen, die bösen Jungen wären am Ende imstande gewesen, frech gegen sie zu werden.

Als Ludwig indes die letzten Worte rief, stand sie eilig auf und trat hinzu.

„Wer ist der Dieb, wer hat gestohlen?“ fragte sie und faßte August fest am Arm“

„Ich nicht, der da!“ sagte Ludwig, es wurde ihm aber plötzlich angst und bange und ohne sich zu besinnen, machte er sich schnell wie der Wind aus dem Staube.

Frau Stein hielt August noch immer fest, und wie er sich auch bemühte, von ihr loszukommen, es gelang ihm nicht, sie hielt ihn fest, wie in einer Klammer.

„Jetzt sagst du gleich, wo du das Goldstück her hast, das du eben der Honigkuchenfrau gabst,“ fragte sie. „Wirst du antworten?“

August blickte Frau Stein zornig an und gab keine Antwort. Sie schüttelte ihn heftig und wiederholte ihre Frage.

„Das geht Sie nichts an, alte Hexe!“ rief er endlich, „ich kann mein Geld herhaben, wo ich will!“

„So? Das wollen wir einmal sehen, du abscheulicher Schlingel. Jetzt kommst du mit auf die Polizei, da wollen wir einmal sehen, ob du so frech bleiben wirst. – Geben Sie acht auf meine Bäume,“ rief sie im Fortgehen ihrer Nachbarin zu, „und wenn meine Schwestertochter kommt, soll sie warten, bis ich wiederkomme.“

Als der Bösewicht merkte, daß es keine leere Drohung war und daß er wirklich fortgebracht werden sollte, legte et sich aufs Bitten.

„Liebste, beste Frau,“ rief er ängstlich, „lassen Sie mich los! Ich habe ja wahrhaftig niemand etwas genommen,“ log er frech und fing an, jämmerlich zu weinen. „Das Geld habe ich aus meiner Sparbüchse genommen, meine Patin hat es mir zum Geburtstage geschenkt. Sie können es glauben.“

Vielleicht hätte Frau Stein den Jungen laufen lassen, aber er sah so falsch und lügenhaft aus, und eine innere Stimme rief ihr zu: tue es nicht.

„Na,“ sagte sie, „das kannst du auf der Polizei alles sagen, und wenn es die Wahrheit ist, so werden sie dich schon wieder laufen lassen. Nun sträube dich aber nicht länger, komm ruhig mit. Wenn du ein reines Gewissen hast, brauchst du keine Furcht zu haben.“

Er bat sie himmelhoch, es half ihm nichts, – dann schrie und tobte er aufs fürchterlichste – vergebens, zuletzt blieb er stehen und wollte keinen Schritt weiter tun; Frau Stein mußte alle Kräfte anwenden, um ihn von der Stelle zu ziehen. Zum guten Glück kam ein Schutzmann des Wegs daher, sie rief ihn herbei, ihr zu helfen. August schlug mit Händen und Füßen um sich, als er ihn ergreifen wollte. Der machte indes keine Umstände, erst gab er ihm einige tüchtige Hiebe, dann faßte er ihn fest und führte ihn fort.

In dem Augenblick, als Frau Braun mit Lenchen das Wachlokal verlassen wollte, langte der Schutzmann mit August und Frau Stein an. Letztere erkannte sofort die unglückliche Mutter und trat rasch auf sie zu.

„Ist das Ihre Kleine?“ fragte sie, indem sie dem immer noch aufschluchzenden Kinde unter das Kinn faßte und seinen Kopf emporhielt.

„Laß dir einmal in das Gesicht sehen, Mädchen,“ fuhr sie freundlich fort, – „ja, wahrhaftig, ich irre mich nicht! Du warst heute gegen Abend mit einem langen, magern Herrn bei mir, der kaufte den Baum da,“ – sie zeigte lebhaft auf denselben hin, „und du solltest ihn nach Hause tragen, nicht wahr?“

Lenchen nickte stumm und sah die Frau schüchtern an.

„Du lieber Gott!“ rief dieselbe aus, „wie sieht das Mädchen aus!“ und mitleidig strich sie mit ihrer rauhen Hand des Kindes vom Weinen ausgeschwollenes Gesicht.

Bei ihren Worten, die der Wachtmeister aufmerksam mit angehört hatte, schwand auch der letzte Zweifel in seinem Herzen. Die Tanne hatte sie nicht genommen, – das hörte er aus der Verkäuferin Munde, – nun aber der Geldbeutel! Von diesem Verdacht konnte er das Kind vorläufig nicht reinigen.

„Sind Sie Ihrer Sache gewiß?“ fragte er Frau Stein.

„Ich kann es beschwören,“ sagte sie mit Eifer.

Nun schrieb er wieder alles auf, was sie ausführlich erzählte.

„Sie können jetzt nach Hause gehen,“ wandte er sich an Frau Braun. „Sie werden über die andere Sache Bescheid in Ihrer Wohnung bekommen.“

Sie tat, wie ihr geheißen und entfernte sich mit Lenchen an der Hand. Den Baum trug sie selbst, das Kind hätte denselben auch nicht mehr fortbringen können. Still ging es neben der Mutter her und alles, was es sah und hörte, war ihm wie ein Traum. Der Kopf brannte ihm wie Feuer und trotzdem mußte es sich unaufhörlich vor Frost schütteln.

„Ich kann nicht weiter, Mutter,“ sagte es leise, „meine Beine sind so schwer.“

„Gleich sind wir zu Hause, Kind,“ tröstete die Frau, „und dann legst du dich ins Bett. Du frierst wohl recht?“

„Ich weiß nicht, – aber es dreht sich alles so im Kreise – halte mich, Mutter – Mutter!“

Die letzten Worte hatte sie angstvoll herausgeschrien, und ehe noch Frau Braun zugreifen konnte, war sie zur Erde niedergefallen. Vergeblich bemühte sich die Frau, Lenchen aufzurichten, es war unmöglich. Starr und steif lag sie da, und mit den Augen sah sie die Mutter groß und fremd an.

Mehrere Leute traten hinzu, neugierig schauten sie auf Lenchen, aber sie halfen nicht. Da kam ein Droschkenkutscher langsam dahergefahren, er hielt an, als er den Auflauf von Menschen sah und fragte, was es gäbe. „Ein krankes Kind!“ rief man ihm zu, – da stieg der mitleidige Mann herab von seinem Bocke und trug das Kind, ohne viel Worte zu machen, in den leeren Wagen, Frau Braun mußte natürlich auch mit hineinsteigen.

„Die Tanne nehme ich auf den Bock!“ rief er der geängstigten Frau zu, „und nun, wohin geht es?“

Sie nannte ihm Straße und Hausnummer, – in wenigen Minuten waren sie angelangt.

Es war ein Glück, denn Lenchen war aus ihrer Starrheit erwacht und lag nun im heftigsten Fieber.

Die Mutter trug sie mit Mühe die Treppen hinauf, entkleidete sie und legte sie ins Bett. Aber das Kind wollte nicht darin bleiben, immer wieder sprang es empor und mit Todesangst rief es: “Ich will nicht ins Gefängnis, – ich habe nichts gestohlen, bringt mich zu meiner Mutter!“

Verzweifelnd rang die Frau die Hände, sie wußte nicht, was sie beginnen sollte. Sie versuchte, Lenchen in Ruhe zuzusprechen, das half nichts, sie kannte die Mutter nicht mehr.

„Lieber Gott, was fange ich an?“ rief sie aus, „mein Kind stirbt, und ich kann ihm nicht helfen!“

Da öffnete sich plötzlich die Tür und Karoline trat ein. Sie wollte nach Karlchen sehen, wie sie es Frau Braun versprochen hatte. Unten im dunklen Hausflur wäre sie beinahe über den Weihnachtsbaum gefallen, der Droschkenkutscher hatte denselben dorthin gestellt, die Frau in ihrer Todesangst hatte gar nicht weiter darauf geachtet.

„O Karoline,“ rief sie derselben entgegen, „Sie schickt der liebe Gott! Sehen Sie hier mein Lenchen!“

Die Köchin blickte auf das todkranke Kind. „Du mein Himmel, was ist denn da vorgefallen?“ fragte sie erschrocken. Aber so gern sie auch alles ganz genau gewußt hätte, sie wartete keine Antwort ab, sah sie doch, daß hier schnelle Hilfe not tat.

„Wir wollen nasse Umschläge machen,“ riet sie und holte Wasser und Tücher herbei.

Das Kind hatte etwas Linderung davon, aber nicht lange, dann tobte und fieberte es noch heftiger.

„Ich werde den Arzt holen,“ sagte Karoline und stieg so schnell sie konnte die Treppe hinunter, ergriff im Hause den Baum und trug denselben hinauf in ihre Wohnung. Fräulein Käthchen stand auch richtig schon wartend in der Küche. „Endlich ist der Baum da!“ rief sie. „Nun ist es bald zehn Uhr!“

„Ach, Fräulein, das ist ein Unglücksbaum,“ erwiderte Karoline und berichtete in aller Eile von dem kranken Kinde. „Es muß ihm etwas Schreckliches begegnet sein, das Kind liegt im furchtbarsten Fieber und schreit immer,›ich will nicht ins Gefängnis!‹ Sie sollen sehen, das Mädchen stirbt. – Ich will nur gleich zu unsrem Arzt laufen, die arme Frau ist ganz allein und kann das Kind nicht verlassen.“

„Schnell, schnell, Karoline – eilen Sie, was Sie können,“ sprach Käthchen, die mit der innigsten Teilnahme zugehört hatte, – „bitten Sie den Arzt in meinem Namen, er möge gleich – ja gleich kommen!“

Karoline eilte hinweg, und Käthchen trat in das Wohnzimmer zurück, wo ihr Vater und Bräutigam – die Mutter hatte sie schon früh verloren – an dem mit Silbergeschirr reichgedeckten Teetisch saßen.

Wie herrlich war es in diesem Raum, der tageshell durch eine reiche Gaskrone erleuchtet war. Schwere Vorhänge ließen auch nicht den kleinsten Luftzug hindurch – ein kostbarer Teppich bedeckte den Boden. Sofas, Lederstühle und kleine reizende Sessel, mit rotem Samt überzogen, standen geschmackvoll geordnet umher, Bilder und Vasen schmückten die Wände. Maiblumen, Hyazinthen, Veilchen und Krokus standen zwischen hohen Blattpflanzen in einem vergoldeten Blumentische und verbreiteten den lieblichsten Frühlingsduft.

Sogar ein Papagei im großen Messingkäfig fehlte nicht, und als sie eben wieder in das Zimmer trat, rief er: „Guten Abend, Käthchen! Gib Kuchen!“

Aber sie hörte nicht auf das lustige Geplauder des Vogels, ihre Gedanken waren mit dem armen, kranken Kinde beschäftigt. Mit traurigem Gesichte erzählte sie, was sie soeben gehört.

„Du hilfst den Leuten, Papachen,“ sagte sie und streichelte ihm dabei die Hand, „nicht wahr? Sie sind so arm,“ fügte sie mitleidig hinzu.

„Wir wollen erst hören, ob alles so ist, wie Karoline sagt, und ob hier wirklich eine Unterstützung angebracht ist,“ wandte der Herr Geheimrat Käthchens Bitte vornehm und kühl ab. „Es gibt zu viel Gesindel und Betrüger in der Residenz.“

Käthchen setzte sich betrübt nieder. Der Vater erschien ihr so hart, sie konnte nicht begreifen, daß er nicht wie sie dachte und empfand.

„Wie kann man lange überlegen, wenn Hilfe so nötig ist, Papa,“ sagte sie. „Ich weiß von Karoline, daß die Frau brav und ordentlich ist. Ihr Mann ist verunglückt, und sie steht mit ihren Kindern allein –“

Hugo von Geldern, so hieß Käthchens Verlobter, ergriff ihre Hand.

„Hänge das Köpfchen nicht, Liebchen,“ sagte er zärtlich, denn er war glücklich über das gute Herz seiner Braut, „ich verspreche dir, wenn die Frau so hilfsbedürftig ist, wie du sagst, zu helfen. Bist du nun zufrieden?“

Ob sie es war! Sie wußte, daß er Wort hielt und daß er reichlich gab, wenn er wirkliche Not sah. Glücklich und dankbar sah sie zu ihm auf, und als jetzt der Baum hereingebracht wurde, schmückte sie denselben unter Scherzen und Lachen und schlug vergnügt in die Hände, als er fix und fertig, behangen mit dem schönsten Konfekte, vor ihr stand. – –

Karoline hatte den Arzt geholt und leuchtete ihm mit einem kleinen Wachsstocke die steile Treppe hinauf. Sie fanden Lenchen, wie Karoline sie verlassen hatte, es war keine Änderung in ihrem Zustand eingetreten. Der Arzt trat an das Bett und fühlte ihren Puls; als er die Hand auf ihre Stirn legte, warf sie dieselbe zurück.

„Rühr mich nicht an!“ schrie sie – „du zerdrückst mir den Kopf! – Au, mein Kopf! Du hast ihn geklemmt, mach die Tür wieder auf – es ist so dunkel im Gefängnis! – Die Ratten beißen mich tot. – Mach auf – mach auf!“

Des Kindes Geschrei klang so schauerlich. Frau Braun war still und starr vor Jammer, und Karoline, die sonst so beherzt war, zitterte am ganzen Leibe.

Der Arzt verordnete Eisumschläge und verschrieb eine beruhigende Arznei.

„Hat die Kleine eine Aufregung gehabt, vielleicht eine große Angst ausgestanden?“ fragte er.

Frau Braun erzählte offen und wahr, was sie erlebt. Sie tat es ohne Scheu, glaubte sie doch fest an die Unschuld ihres Kindes. Auch Karoline stimmte ihr bei. – „Sie hat das Geld nicht genommen – ich nehme Gift darauf!“ sagte sie fest überzeugt.

Vielleicht war der Arzt nicht so ganz der Meinung. „Sonderbar – sonderbar!“ murmelte er, und der Geldbeutel fand sich in der Tasche?“ fragte er dann. „Hm, hm,“ – und damit ging er fort und versprach, am andern Morgen wieder zu kommen.

Das Rezept mußte sogleich zur Apotheke, das Eis ebenfalls herbeigeschafft werden. Karoline wollte alles besorgen, aber mit einem Male fiel Frau Braun ein, daß sie nicht so viel Geld habe, um bezahlen zu können. Ohne Besinnen nahm sie ihre warme Jacke und reichte dieselbe der Köchin.

„Da – da nehmen Sie – und leihen Sie mir etwas darauf,“ bat sie flehentlich, „ich habe weiter nichts. Ach, wenn nur mein Kind gerettet wird!“

Mit Entrüstung wies Karoline dies Anerbieten zurück.

„Das fehlte mir noch!“ sagte sie, „was denken Sie denn von mir? Ich werde schon alles richtig besorgen!“ – Hatte sie nicht viel Geld aus der Sparkasse und lagen nicht schon wieder fünfzig Mark da, die sie dorthin schaffen wollte? Freudig nahm sie von ihrem Gelde und eilte in die Apotheke. –

Nun aber müssen mir meine kleinen Zuhörer wieder zurück in die Wachtstube folgen. Ihr müßt doch wissen, was aus dem Bösewicht geworden ist, der so viel Unheil angerichtet hat.

Nachdem Frau Braun mit Lenchen fortgegangen war, nahm der Wachtmeister August in ein strenges Verhör. Zuerst mußte Frau Stein erzählen, was sie gesehen und was sie gehört hatte, und sie tat es, nichts verschwieg sie. Vom Goldstück fing sie an, und jedes Wort, das die Buben miteinander gesprochen hatten, wiederholte sie getreu. „So,“ schloß sie ihre Erzählung, „nun habe ich gesagt, was ich weiß, und wenn es sein muß, will ich einen Eid darauf ablegen.“

„Wo hattest du das Goldstück her?“ fragte der Wachtmeister.

Der Junge sah tückisch zur Seite und antwortete nicht.

„Hast du noch mehr Geld in der Tasche?“ fragte er weiter und wollte in dieselbe hineingreifen.

„Nein!“ log der Junge und hielt sie zu.

„Hand weg!“ fuhr ihn der Wachtmeister an und schlug tüchtig darauf. Mit einem Griffe zog er nun eine ganze Handvoll Geld aus der Hosentasche.

„Sieh einmal, Bursche, ist das kein Geld? Sechs Mark zwanzig Pfennig,“ zählte er auf den Tisch – „ist das kein Geld?“ Dabei zerrte er ihn so heftig an den Ohren, daß er laut aufschrie.

„Wirst du nun gestehen, wo du es gestohlen hast!“

August blieb dabei, es gehöre ihm und er habe es aus seiner Sparbüchse genommen.

„Schneider,“ wandte sich der Wachtmeister an den anwesenden Schutzmann, „holen Sie doch sofort den Vater dieses Schlingels hierher. – Hast du gelogen, wird es dir schlecht bekommen.“

Der Schutzmann entfernte sich sofort, und August machte einen furchtbaren Lärm. Er sprang vor Angst förmlich in die Höhe, ballte die Hände und biß hinein. „Ich will alles gestehen,“ schrie er, „nur holen Sie nicht meinen Vater. Er schlägt mich tot, wenn er mich hier sieht. Schenken Sie es mir nur dieses einzige Mal und lassen Sie mich frei, – ich will ja in meinem Leben nicht wieder stehlen!“

In seiner Angst gestand er alles. Ja sogar, daß er den leeren Geldbeutel einem Mädchen, das vor ihm stand, in die Tasche gesteckt hatte, verschwieg er nicht.

„Wie sah das Mädchen aus?“ fragte der Wachtmeister, den mit einem Male ein freudiger Gedanke durchzuckte. Das wußte August nicht zu sagen, nur hatte er sich gemerkt, daß es eine rote Kapuze trug und einen Weihnachtsbaum in der Hand hielt.

„Du lieber Gott, du bringst doch alles an den Tag!“ konnte Frau Stein sich nicht enthalten laut auszurufen. Dabei standen ihr die hellen Tränen in den Augen.

„Ja, es kommt alles an den Tag,“ wiederholte der Wachtmeister, „und wenn es auch noch so schlau angefangen ist. – Spare dein Bitten,“ fuhr er August, der himmelhoch bat, er möge ihn laufen lassen, ehe sein Vater komme, zornig an. „Für dich ist die härteste Strafe nicht zuviel, du bist nicht allein leichtsinnig, du bist auch boshaft. Weißt du, was du angerichtet hast, du abscheulicher Bösewicht? Ein armes, unschuldiges Kind hast du in falschen Verdacht gebracht durch deinen nichtsnutzigen Streich.“

„Ich habe mir nichts dabei gedacht,“ heulte August, „es sollte nur ein Scherz sein.“

„Nun kannst du für deinen Scherz büßen, denn vierzehn Tage Gefängnis bekommst du, darauf kannst du dich verlassen. Und wenn dein Vater dir noch dazu eine tüchtige Tracht Prügel aufzählt, so hast du sie verdient. Nun aber sei still und laß das Brüllen sein, sonst lasse ich dich schon jetzt einstecken!“

In diesem Augenblicke kehrte der Schutzmann mit dem Vater zurück. August wollte sich vor ihm verstecken, er duckte sich hinter den Wachtmeister, dann sogar hinter Frau Stein, die aber machte keine Umstände mit ihm, sie zog ihn hervor und führte ihn dem Vater zu, der packte ihn fest und sah ihn drohend an.

„Komm,“ sagte er, als er alles gehört hatte, und seine Lippen zitterten vor Zorn und Aufregung, denn er war ein ordentlicher und braver Handwerker, – „jetzt habe ich kein Mitleid mehr mit dir! Herr Wachtmeister,“ wandte er sich an diesen, „der Junge ist ein Taugenichts, es ist nicht der erste Bubenstreich, den er ausgeführt hat. Stecken Sie ihn ins Gefängnis, machen Sie mit ihm, was Sie wollen – ich lasse ihn gleich hier, ich kann den Spitzbuben nicht länger im Hause behalten.“

Aber er mußte ihn mit sich nehmen, auf der Polizei konnten sie ihn nicht behalten. Tüchtige Hiebe hat er zu Hause erhalten, auch bei Wasser und Brot hat ihn der Vater eingesteckt, was späterhin noch mit ihm geschah, das will ich euch am Schlusse dieser kleinen Erzählung berichten.

Frau Stein war so lange geblieben, bis August von seinem Vater fortgebracht wurde, dann trat sie zu dem Wachtmeister und ließ sich die Wohnung von Frau Braun sagen. „Ich will sogleich hingehen,“ sagte sie, „und der armen Frau die gute Nachricht bringen, – wie wird sie sich freuen! Und das kleine Mädchen erst, es sah so unglücklich und verweint aus!“ “Ja,“ sagte er, „tun Sie das schnell, liebe Frau – und hier – hier,“ fuhr er fort und suchte in der Tasche, „nehmen Sie das und geben es dem armen Kinde. Viel kann ich nicht verschenken, ich habe selbst fünf Kinder.“ – Er reichte hierbei Frau Stein ein Markstück.

Sie nahm es und sah den Mann erstaunt und gerührt an. Daß auch die Polizei ein mitleidiges Herz haben konnte, – das hatte sie noch nie gehört. „Sie sind ein braver Mann,“ sagte sie und drückte ihm die Hand – „Gott wird es Ihnen an Ihren Kindern lohnen!“

Und nun lief sie, so schnell sie ihre alten Füße tragen konnten, fort. Erst aber trat sie auf einige Augenblicke in ihre kleine Wohnung, die am Wege lag, zündete schnell die kleine Lampe an und packte ein Körbchen voll mit allerhand Lebensmitteln. Etwas Speck und Wurst, Eier, Äpfel und Nüsse tat sie hinein, und zuletzt holte sie noch ein halbes Pfund Schokolade aus dem Schranke und legte sie oben auf. Sie hatte diese selbst erst geschenkt erhalten und bis zu einer besondern Gelegenheit aufgehoben, – nun war die Gelegenheit da – konnte sie wohl eine bessere finden?

Mit ihrem Körbchen am Arme machte sie sich auf den Weg und kam gerade an bei Frau Braun, wie Karoline mit dem Eis und der Arznei die Treppe hinaufging. Sie folgte derselben, und als sie eben in die Tür treten wollte, fragte Frau Stein: „Wohnt hier die Witwe Braun?“

Karoline bejahte, und so trat sie mit ihr zugleich in das kleine Stübchen ein. Wie erschrak sie aber, als sie Lenchen todkrank im Bette fand. Als sie ihre frohe Botschaft Frau Braun mitteilte, brach diese in lautes Weinen aus und barg ihr Gesicht in Lenchens Kissen.

„Mein armes, armes Kind,“ schluchzte sie, „hört nichts davon! – Wer weiß, ob es nicht den Tod von all dem Schreck und Jammer hat!“

Frau Stein sah mitleidig auf das fiebernde Kind und auch sie dachte still bei sich: „Das wird den Morgen nicht erleben.“

Das laute Weinen der Mutter hatte Karlchen aufgeweckt. Bis dahin hatte er fest geschlafen, daß er nicht einmal aufgewacht war, als Frau Braun ihn aus dem Bette nahm, in das sie Lenchen legte, um ihn auf ein kümmerliches Lager am Fußboden zu betten. Erstaunt blickte er sich um und tief ganz ängstlich: „Mutter, wo bin ich denn?“

Frau Stein nahm den Kleinen hoch und setzte ihn auf ihren Schoß. Verwundert sah er auf die fremde Frau und machte Miene, zu weinen; als sie indes ihren Korb öffnete und ihm einen schönen, roten Apfel in das Händchen steckte, klärte sich sein Gesicht auf, und als sie auch die andern Äpfel hervorholte und sie nebst den übrigen mitgebrachten Sachen auf den Tisch legte, da schwand auch sein letztes Mißtrauen gegen sie, er zeigte der Mutter den schönen Apfel und rief: „Mutter, du sollst nicht weinen, wir haben viele, viele Äpfel und Nüsse!“

Frau Stein war auch arm, aber sie kam sich reich vor gegen die Armut, die sich hier vorfand. Sie hatte doch ihr behagliches Stübchen, mit einem Sofa sogar, hier kam es ihr vor wie in einer Bodenkammer, so kalt und zugig, der kleine, prächtige Junge hatte gar kein Bett. Das Lager am Fußboden bestand aus nichts weiter als einem alten Rocke der Mutter, einem kleinen Kopfkissen und einem fadenscheinigen Umschlagtuche, auf dem er lag.

Als sie den Kleinen niederlegte, nahm sie sich vor, am andern Tag ein Stück aus ihrem Bette zu bringen, sie behielt immer noch ein reichliches und schönes Lager. Der Knabe klagte nicht einmal, daß er zu hart lag. Mit seinem Apfel in der Hand legte er sich still und artig nieder und in wenigen Augenblicken schlief er sanft und süß, als ob er ein Prinz sei und auf Eiderdaunen ruhte. –

Karoline und Frau Stein entfernten sich und ließen Frau Braun allein bei ihrem kranken Kinde. Die Nacht verging ihr in Todesangst, jeden Augenblick glaubte sie, daß das Kind sterben werde. Sie machte Umschläge und gab fleißig Arznei, aber es trat keine Besserung ein. Gegen Morgen verfiel Lenchen in einen unruhigen Schlummer.

Als der Morgen zu dämmern anfing, war auch Karoline wieder da und brachte einen großen Korb mitgeschleppt. Holz und Kohlen packte sie aus, eine Tüte mit Kaffee holte sie hervor, Semmeln und Brot legte sie daneben, sogar ein Töpfchen Milch hatte sie nicht vergessen. Schnell machte sie Feuer an, bald war es warm, und ein großer Topf mit Kaffee stand fertig gekocht da.

„Aber Karoline,“ redete Frau Braun, die mit Erstaunen zugesehen hatte, sie an, „was machen Sie? Holz und Kohlen und so viel andre Sachen bringen Sie mir und Sie wissen doch, daß ich nicht einmal Geld habe, die Apotheke zu bezahlen. Ich kann nicht bei Ihnen borgen, ach, ich weiß ja nicht, ob ich es je wiedergeben kann.“

„Borgen?“ – Karoline rief es ordentlich entrüstet aus. – „Unser Fräulein borgt nicht, sie schickt Ihnen, was ich hier bringe. Sie sollen sich um nichts ängstigen, unser Fräulein will für alles sorgen, was nötig ist. Unser Fräulein ist ein Engel! Und nun trinken Sie man rasch!“

Es war, wie Karoline sagte. Käthchen sorgte wie eine gute Fee für die arme Familie. Als sie von der Köchin gehört hatte, wie unrecht dem kleinen Mädchen geschehen, wie sie vor Schreck todkrank darüber geworden, da gab sie mit Freuden all ihr erspartes Taschengeld und erleichterte der armen Frau im Hinterhause, soviel sie es vermochte, das harte Los. Tag für Tag mußte Karoline notwendige Sachen hinaufschaffen, und diese hat sich nicht einmal über die hohen Treppen beklagt.–

Das Weihnachtsfest war herangekommen und oben im Dachstübchen sah es traurig aus. Frau Braun saß an Lenchens Bett und dachte nicht daran, daß heute heiliger Abend war. Blaß und vergrämt sah sie auf das Kind, das eben zum erstenmal seit drei Tagen in einen ruhigen Schlummer gefallen war. Sie selbst war seit jenem Abend in kein Bett gekommen, sie hätte auch gar nicht schlafen können, die Angst um die Kranke ließ sie nicht daran denken. – Ja, ihr kleinen, lieben Leser und Leserinnen, ihr wißt gar nicht, welche Opfer eine Mutter zu bringen imstande ist! So manche Nacht sitzt sie wachend an eurem Bette, sorgt sich um euch und hört bange auf jeden Atemzug. Ihr lebt so sorglos in den Tag hinein und laßt es euch wohl sein unter Mütterchens Flügeln.

Der kleine Karl spielte still mit einem hölzernen Pferdchen, das ihm Frau Stein heute geschenkt hatte. Die Mutter war so traurig und sein Schwesterchen lag krank, da konnte er auch nicht fröhlich sein.

Der Arzt, der jeden Tag zweimal gekommen war, trat eben wieder ein. Er sah das ruhig schlummernde Kind, beobachtete es aufmerksam einige Augenblicke, befühlte seinen Puls und wandte sich dann zu der Frau, die mit ängstlicher Erwartung ihm zugesehen hatte.

„Ihr Kind ist außer Gefahr,“ sagte er zu ihr. „Das Fieber hat nachgelassen und Sie können ohne Sorge sein. Seine ganze Natur hat die Nervenerschütterung überwunden.“

„Gott, ich danke dir!“ rief die glückliche Mutter. Jede andre Sorge, die sie am Abend vor Lenchens Krankheit so sehr gedrückt hatte, war entschwunden. Not und Entbehrung erschienen ihr jetzt gering gegen das Glück, das ihr heute zum heiligen Abend beschieden war. Ihr Kind war ihr von neuem geschenkt, damit war alles gut. –

Drüben im Vorderhause stand um dieselbe Zeit der Baum im strahlenden Glanze. Kostbare Geschenke waren unter ihm aufgebaut und Käthchen, im hellblauen Kleide, mit langen, blonden Locken, stand strahlenden Auges vor den reichen Gaben, die sie vom Vater und vom Bräutigam erhalten.

Ein hoher, weißer Kamelienstock, ein Geschenk des Herrn von Geldern, entzückte sie vor allem. Sie rückte ihn etwas näher zu sich heran, um seine Blüten besser betrachten zu können. Da fiel plötzlich ein weißer, geschlossener Briefumschlag, der hinter einer Kamelie bis dahin ihren Augen verborgen gewesen war, hervor. Sie öffnete ihn schnell und las:

„Ich verpflichte mich, der Witwe Braun nebst ihren Kindern ein kleines Häuschen auf meinem Gute zur Wohnung zu übergeben und dieselbe als Wäscherin daselbst anzustellen. Sobald ihr Kind gesund ist, kann sie dorthin übersiedeln.

Hugo von Geldern.“

Jubelnd fiel Käthchen ihrem Bräutigam um den Hals. „Du lieber, guter Schatz,“ rief sie, „ich danke dir tausendmal!“

Er hatte Wort gehalten. Nachdem er Erkundigungen über die Frau eingezogen und dieselben zu ihren Gunsten ausgefallen waren, half er so, daß sie nicht wieder in Not kommen sollte.

Am selben Abend wollte Käthchen hinaufgehen, um die gute Botschaft zu bringen, aber der Arzt, der eben hereingekommen war, um ihr die Nachricht von Lenchens Besserung zu bringen, riet ihr davon ab. Das Kind durfte heute noch nicht aufgeregt werden.

Am zweiten Weihnachtstag endlich, – Lenchen hatte sich bis dahin wunderbar erholt, – stieg sie hinauf in das Dachstübchen der Witwe. Karoline folgte ihr mit einer kleinen, mit vergoldeten Äpfeln und Nüssen behangenen Tanne, mit Spielsachen und allerhand nützlichen Dingen. Käthchen baute selbst den Weihnachtstisch auf und zündete die Wachslichter des Bäumchens an. Lenchen saß hoch in ihrem Bette und sah wie verklärt auf das reizende junge Mädchen, das ihr in seiner lieblichen Schönheit, in der himmelblauen mit Schwan besetzten Kapuze, die ihr in den Nacken zurückgefallen war, wie eine Märchenprinzessin erschien.

Als sie den Kindern beschert hatte, überreichte sie Frau Braun das Schreiben ihres Bräutigams. Lachend und weinend zugleich ergriff dieselbe, nachdem sie es gelesen, die Hand des jungen Mädchens und küßte sie innig.

„Gott segne Sie!“ war alles, was sie vor freudiger Rührung hervorbringen konnte. –

Lenchen genas bald. Bei der guten Pflege, die ihr die Mutter zuteil werden lassen konnte, erholte sie sich schnell, und bald war sie wieder das frische, fröhliche Kind von ehemals. Gegen Ende Januar zogen sie mit ihren wenigen Habseligkeiten hinaus auf das schöne Gut des Herrn von Geldern.

In dem kleinen Häuschen, das ihnen zur Wohnung angewiesen, fanden sie alles eingerichtet, wie es sich für einfache und bescheidene Leute paßt. Frau Braun aber und die Kinder fühlten sich wie im Himmel. Stube und Kammer, Küche und Boden, sogar einen kleinen Keller, – alles für sie allein zum Gebrauch, – das war mehr, als sie sich im Leben gewünscht.

Das kleine Gärtchen vor dem Hause gehörte auch noch dazu und Karlchen lief jubelnd hinaus und kam ebenso wieder hineingesaust, mit einer Handvoll Schnee! “Mutter,“ rief er stolz, „der liegt in unsrem Garten, das ist unser Schnee!“ –

Nun ist meine Geschichte aus, indessen ehe wir Abschied nehmen von den großen und kleinen Leuten, die ich euch vorgeführt, sollt ihr noch erfahren, was aus ihnen geworden ist.

August bekam eine harte Strafe für sein abscheuliches Vergehen, er mußte vier Wochen im Gefängnis sitzen. Als er wieder frei kam, hat ihn sein Vater in eine Besserungsanstalt gesteckt. Dort mußte er tüchtig arbeiten von früh bis spät und wurde zur strengsten Zucht angehalten.

Leider ist er trotzdem nicht gebessert worden, denn als er nach einigen Jahren entlassen wurde, stahl er von neuen. Vor kurzem ist er bei einem großen Einbruch ertappt und festgenommen worden. Nun sitzt er hinter Schloß und Riegel auf viele Jahre.

Lenchen ist ein tüchtiges, fleißiges Mädchen geworden, das ›die gnädige Frau‹ – Käthchen ist es längst – als Wirtschafterin auf dem Gute angestellt hat. Karl hat ein Handwerk gelernt, und der geschickte Tischler Braun ist viel beschäftigt und der Stolz und die Freude seiner Mutter. Diese bewohnt noch immer ihr nettes Häuschen und zuweilen, an Sonn- und Festtagen, kommt Frau Stein heraus. Die Familie Braun hat ihr niemals vergessen, wie sie ihnen beigestanden hat in den Tagen der Not.

Weihnachtsmärchenwald

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