Читать книгу Aviva und die Stimme aus der Wüste - Vesna Tomas - Страница 10
ОглавлениеAls Aviva bei der Hütte ankam, war Lendor schon dort. Die Tür stand offen und Aviva hörte Kala mit dem Wächter diskutieren.
„Die Zeit ist gekommen, der Rat wird sie alle einlösen“, hörte Aviva den Wächter sagen.
„Ja, ich weiß, und ich werde mein Versprechen halten“, antwortete die Großmutter.
Aviva huschte schnell seitlich auf die Veranda, da sie annahm, dass Lendor jeden Moment durch die Tür nach draußen treten konnte. Tatsächlich verließ er kurz darauf das Haus und ging mit stolzen Schritten zum Rathaus, wo der Ratsälteste wohnte.
Aviva ahnte nichts Gutes. Wer wird eingelöst?, fragte sie sich. Was für ein Versprechen hatte die Großmutter gegeben? Leise betrat sie das Häuschen und sah Kala auf ihrem Bett sitzen. Als sie Aviva erblickte, stand sie auf. „Du musst zum Rathaus! Die Dorfverantwortlichen werden sich nachher alle dort treffen und beraten, was mit dir zu tun ist. Diesmal bist du zu weit gegangen.“
Während sie sprach, blickten ihre Augen gehetzt hin und her. Aviva wusste, dass es nichts bringen würde, sich zu verteidigen. Mit einem Kloß im Hals ging sie in ihr Zimmer und tat so, als würde sie aufräumen. Sie zog den Pfeil unter der Truhe hervor und band ihn an der Innenseite ihres Rockes an ihren Gürtel, sodass ihn niemand sehen konnte. Dann schaute sie kurz in den Spiegel an der Wand und nickte sich selbst zu. Die Enge im Hals löste sich. Wie letzte Nacht, dachte sie. Für einen Sekundenbruchteil fühlte sie sich sogar glücklich, als sie an die schwarze Raubkatze dachte. Dieses Erlebnis konnte ihr niemand nehmen, darauf war sie stolz. Mutig verließ sie das Zimmer.
Großmutter Kala wartete schon. Ohne miteinander zu reden, gingen sie zum Haus des Dorfältesten. Aviva war erleichtert, dass die anderen Dorfbewohner beschäftigt waren und ihnen keine Aufmerksamkeit schenkten. Als sie vor dem Haus ankamen, zögerte Kala und schaute Aviva für einen kurzen Augenblick mitleidig an. Aber dann sah sie wieder weg und klopfte an die schwere Tür. Augenblicklich wurde sie geöffnet und Aviva stockte der Atem, als sie Rapo vor sich sah. Als Jägermeister war er für die Sicherheit des Dorfes verantwortlich. Er nickte Kala zu und trat zur Seite, damit sie eintreten konnten.
Ein großer, ovaler Tisch stand in der Mitte des Raumes. Die Dorfältesten saßen daran auf Stühlen, die aus Baumstümpfen gezimmert waren. Narog, der Ratsälteste, saß etwas erhöht. Er hatte hier das Sagen und war ungefähr im gleichen Alter wie Kala. Er besaß dicke Augenbrauen und trug einen dichten, dunklen Bart. Nur um die Augen konnte man seine tiefen Falten erkennen. Wie die meisten Männer hier war er kräftig gebaut. Abwartend saß er da, mit einem Ausdruck in den dunklen Augen, der keine Widerrede duldete.
Rechts und links von ihm saßen je zwei weitere Ratsmitglieder. Sie wiesen die gleichen Merkmale auf wie alle Männer des Stammes: eine kräftige Nase, dichtes, dunkles Haar, bullige und stämmige Körper. Rapo setzte sich nun ebenfalls an den Tisch. Ein Stuhl war noch frei. Narog bedeutete Kala mit einer Handbewegung, sich zu setzen.
Aviva schaute zu Boden. Für einen kurzen Moment wurde es ganz still im Raum. Plötzlich wusste sie, dass sie keine Chance bekommen würde, sich zu erklären. Das Urteil war schon gefällt worden. Ihre Knie zitterten, doch Aviva befahl sich, keine Schwäche zu zeigen. Mit all ihrer Kraft schrie sie innerlich zu der Stimme, die in ihr wohnte: Hilf mir!
Die Tür des Nebenzimmers ging auf und Lendor, der Wächter, betrat den Raum. Er stellte sich neben Aviva. Narog ergriff mit ernster Stimme das Wort: „Aviva, es wurde uns zugetragen, dass du dich nachts aus dem Dorf schleichst. Du gefährdest unsere Sicherheit und mir scheint, dass du keinerlei Respekt vor unseren Regeln hast. Als Waise bist du hier sowieso nur geduldet und hast noch weniger als andere das Recht, dir etwas herauszunehmen. Weil du noch nicht heiratsreif bist, werden wir dich vorerst bei uns behalten. Es gibt genug junge Jäger, die darauf warten, dich gefügig zu machen.“ Dabei streifte sein Blick kurz Rapo, heftete sich aber gleich wieder auf Aviva.
Da erst hob sie ihre Augen und schaute Narog offen an. „Du hast das Sagen hier, Narog. Ich achte dich als gerechten und weisen Dorfführer. Tu mit mir, was dir gefällt, aber bitte lass mich dir erzählen, was du nicht weißt.“
Narog horchte auf und seine Augen weiteten sich. Er fühlte sich geschmeichelt und war zugleich belustigt. „Dann erzähle du mir, was ich nicht weiß, Aviva.“
Als sich die Augen der Ratsmitglieder auf sie richteten, warf sie einen schnellen Blick in die Runde und fragte sich, ob ihr jemand glauben würde. Bevor sie jedoch zu sprechen ansetzen konnte, meldete sich Lendor zu Wort. Er fuchtelte mit ausgestreckter Hand in ihre Richtung und rief: „Dieses Mädchen gefährdet unsere Sicherheit! Gestern Nacht habe ich sie dabei ertappt, wie sie sich aus dem Dorf schleichen wollte. Ich konnte sie gerade noch schnappen. Wer weiß, was sie vorhatte!“ Lendors Gesicht lief vor lauter Aufregung rot an.
„Vielleicht trifft sie sich heimlich mit jemandem von einem anderen Stamm?“, mischte sich Rapo ein. „Wie wir alle wissen, ist es nicht das erste Mal, dass Aviva sich nachts heimlich außerhalb der Palisaden herumtreibt!“, fügte Lendor noch hastig hinzu.
Aviva holte tief Luft und berichtete nun wahrheitsgetreu von den Ereignissen der letzten Nacht, angefangen beim Geheul des Wildtieres und dem lauten Blöken, das sie aus ihrem Schlaf gerissen hatte. „Ich wollte nicht ausreißen, sondern das Schaf retten. Es blieb mir keine Zeit, die Großmutter zu wecken. Ich habe gedacht, die Wache und die Jäger hätten das Geheul des Tieres ebenfalls gehört. Aber als ich bei Rapos Hütte vorbeikam, sah ich, dass er schlief und nicht ansprechbar war. Bei dem Tor war die Wache ebenfalls in Schlaf versunken. Ich möchte dem ehrenwerten Rat meine Bedenken vorbringen, dass die Sicherheit nicht gewährleistet ist, wenn unsere Wächter schlafen und der Jäger betrunken ist. Es ist außerdem dringend nötig, dass der Stall repariert wird.“
Während ihrer Aussage wuchs die Spannung im Raum. Lendors Stimme donnerte: „Sie lügt, sie hat uns alle mit ihrem Rausschleichen in Gefahr gebracht! Frauen und Kinder haben nachts nichts draußen zu suchen, so viel ist klar. Dieser Regelbruch muss aufs Härteste bestraft werden!“
Ein zustimmendes Grummeln ging durch die Reihen. „Was erlaubt sie sich eigentlich?“, sagte einer der Ratsältesten vorwurfsvoll zu seinem Nachbarn.
Aviva fuhr jedoch unbeirrt fort: „Ich bekenne mich dazu, die Regel missachtet zu haben und trotz des Verbots nachts aus dem Haus gegangen zu sein. Doch was hättet ihr denn an meiner Stelle getan? So habe ich das Lamm allein zurückgeholt.“
Da erhob Rapo seine laute Stimme. „Seit wann kümmern sich Frauen und Kinder um die Verteidigung unseres Dorfes?“, rief er spöttisch in die Runde und schob kämpferisch sein Kinn vor. Rapo war zweifellos der stärkste Mann im Dorf, massig wie ein Bulle. Er gebärdete sich manchmal wie ein Dorfvorsteher, obwohl er nie gewählt oder vom Ältestenrat dazu ausgerufen worden war.
Aviva betrachtete kurz sein dichtes, tiefschwarzes, gelocktes Haar, das seine groben Gesichtszüge auf den ersten Blick weicher erschienen ließ – aber eben nur auf den ersten Blick. Seine tiefschwarzen Augen hatten etwas Böses und Unheimliches. Sein Blick war hart und gebieterisch. Eine Narbe, die er sich bei der Jagd nach einem Wildschwein zugezogen hatte, zog sich quer über sein Gesicht. Ja, er war der erfolgreichste Jäger der Dorfgemeinschaft, jeder empfand Respekt vor ihm. Es war zu erwarten gewesen, dass er sich gegen sie wenden würde. Er kannte die Wahrheit zwar mit Sicherheit, doch es war klar, dass er sich auf die Lügenseite des Wächters stellen würde, zumal Aviva ihn belastete. Seine Ehre als Jäger war verletzt worden.
„Auch meine Großmutter ist eine Frau und berät trotzdem den Rat!“, erwiderte Aviva hastig. Ein paar der Ältesten murmelten zustimmend. „Frauen sind sehr viel stärker, als Männer annehmen!“, sagte sie deshalb mit fester Stimme. Als sie sah, dass Kala nickte, fügte sie mutig hinzu: „Nicht nur die rohe Kraft ist wichtig! Ich weiß, dass es Mächte gibt, die der Kraft eines Mannes überlegen sind.“ Sie schaute ihre Großmutter an, die noch immer stolz und aufrecht in der Runde saß, sich bisher aber noch nicht geäußert hatte. Jeder in diesem Kreis wusste, dass Kala mit magischen Kräften ausgerüstet war, weshalb sie häufig von einem Ratsmitglied aufgesucht wurde.
Doch zu Avivas Überraschung schüttelte ihre Großmutter auf einmal den Kopf und antwortete: „Es kann schon sein, dass Frauen unterschätzt werden, und auch ich glaube, dass es andere Mächte gibt außer der rohen Gewalt. Doch selbst ich bin der Meinung, dass du noch mehr Zucht nötig hast.“ Kalas Augen wanderten zu Rapo hinüber.
Alle Blicke ruhten jetzt auf ihm. Rapo verschränkte überlegen lächelnd die Arme hinter dem Kopf, sodass jeder seine gewaltigen Muskeln sehen konnte. Mit einem schadenfrohen und hämischen Lachen musterte er sie von oben bis unten. Augenblicklich wusste sie, dass sie zu viel gesagt hatte.
Aviva kannte ihr wahres Alter nicht und sah mit Sicherheit nicht mehr wie das Kind von damals aus. Sehr wohl bemerkte sie seit einiger Zeit die Blicke der Männer auf sich, wenn sie sich draußen aufhielt. Aber sie trauten sich nicht, ihr nahe zu kommen oder wie bei anderen Frauen anzügliche Bemerkungen zu machen.
Aviva wusste, dass sie ein Schutz umgab, den sie nicht erklären konnte. Sie wusste es einfach. Aber bei Rapo fühlte sie sich trotzdem ungeschützt. Sie war ihm all die Jahre aus dem Weg gegangen, indem sie es vermied, sich allein in seiner Nähe aufzuhalten und so tat, als ob nichts wäre. Vermutlich glaubte er, dass sie vergessen hatte, was er früher mit ihr angestellt hatte. Er würde es leugnen, so wie Großmutter Kala. Jedenfalls ließ er sich deswegen nichts anmerken. Sein Interesse galt sowieso der Jagd und dem Ziel, seine Macht im Dorf zu festigen.
Nun blickten alle auf Rapo, doch der Jäger lächelte nur. Gemächlich stand er auf und ging auf Aviva zu. Sie rührte sich nicht von der Stelle. Einem großen schwarzen Raubtier hatte sie gegenübergestanden, sie würde auch vor Rapo nicht zurückschrecken. In seiner ganzen beeindruckenden Kraft stand er nun vor Aviva. Prüfend blickte er sie mit seinen schwarzen, funkelnden Augen an. Dann strich er ihr übers Gesicht, als wolle er sie streicheln. Er nahm ihr Kinn in seine Hand und drückte so fest zu, dass jeder andere vor Schmerz aufgeschrien hätte. Aber Aviva blieb ruhig. Sie spürte weniger den körperlichen Schmerz als vielmehr Rapos böse Absicht. Es ging etwas so Böses von ihm aus, dass sie innerlich erschauderte. Ihr wurde klar: Rapo wollte sie gänzlich vernichten und wartete nur auf eine passende Gelegenheit. Jetzt konnte sie ihm nicht mehr entkommen.
Aviva sah die Flammen von Gier und Hass in seinen Augen lodern. Sie sah sein böses, dunkles Herz. Übelkeit überkam sie und Benommenheit wollte sie überschwemmen. Nein! Nicht jetzt!, dachte sie. Aviva wehrte sich gegen die aufkommende Ohnmacht. Plötzlich hörte sie die weiche Stimme, die nur sie wahrnehmen konnte: „Aviva! Schau ihm in die Augen.“
Die Panik ließ sofort nach. Ihre Augen wurden hell und glänzend und einen Moment lang konnte sie bis auf den Grund seiner Seele blicken. Dort nahm sie etwas Besonderes wahr. Sie sah eine verschlossene Eisentür mit einem Metallschloss in seinem Herzen. Davor standen zwei Wächter mit gezogenen Schwertern. Ihre Rüstungen glänzten und aus ihren Mündern züngelten Schlangenzungen. Aviva erkannte unvermittelt, dass Rapo seine Seele hinter dieser Tür eingesperrt hielt. Während sie ihm weiterhin in die Augen blickte, spürte sie seine Verzweiflung und innere Gefangenschaft. Hinter der verschlossenen Tür sah sie einen kleinen schreienden Jungen. Ohne es zu wollen, empfand Aviva Mitleid und sogar so etwas wie Liebe für dieses arme kleine Wesen.
Rapo zuckte für einen Sekundenbruchteil zusammen. Von außen war es kaum wahrnehmbar, aber Aviva spürte es an seiner Hand, die ihr Kinn immer noch festhielt. Keines der übrigen Ratsmitglieder hatte bemerkt, was vor sich gegangen war.
Auf einmal fühlte Rapo sich unbehaglich. Bekam er, der furchtlose, gefährliche Rapo etwa Angst? Die Glut in seinen Augen wurde nur noch stärker. Er ließ ihr Kinn los, holte dafür mit seiner Hand aus und schlug Aviva mit dem Handrücken so heftig ins Gesicht, dass sie zu Boden geschleudert wurde. Blut floss aus ihrer Nase. Avivas Wange glühte, aber sie ließ es sich nicht anmerken. Ihr Kampf hatte nur wenige Augenblicke in Anspruch genommen. Trotzdem kam es Aviva vor, als wären Stunden vergangen.
Rapo stand nun über ihr, schaute den Rat an und meinte mit dem Gleichmut eines Siegers: „So viel zur rohen Gewalt!“ Mit erhobenem Haupt kehrte er wieder an seinen Platz zurück, schaute in die Runde und sprach: „Narog, wir müssen nun handeln. Du weißt, dass wir die Ländereien bezahlen müssen. Veles verlangt das vorgeschriebene Opfer. Wir können es uns nicht leisten, ihn zu erzürnen. Gib die zwei Frauen als Bezahlung wie vorgesehen. Aviva ist zu jung, deshalb soll sie zu mir kommen; ich brauche sowieso jemanden in der Hütte. Sie muss zuerst zugerichtet werden, sonst bringt sie nicht viel ein.“
Aviva lag immer noch am Boden. Mit ihren Händen versuchte sie ihre Beine mit dem Rock zu bedecken. Auf keinen Fall durfte man den Pfeil bei ihr finden. Ihr schwirrte der Kopf, sie konnte jedoch alles mit anhören. Lieber würde sie sterben, als zu Rapo zu kommen. Sie hatte auch keine Ahnung, ab wann man heiratsreif war und wie lang ihre Zeit bei Rapo dauern würde. Das entschieden die Ältesten. Einen kleinen Hoffnungsschimmer hatte sie: Kala, ihre Großmutter! Trotz ihres Alters hielt diese sich kerzengerade in der Runde. Ihre Wangen sahen aus wie gegerbtes Leder. Die langen, inzwischen mithilfe von Baumrinde schwarz gefärbten Haare trug sie geflochten. Ihre Augen waren tiefdunkel, ihr Blick konnte eine Person durchbohren. Meist war ihr Blick gehetzt, was Aviva immer irritiert hatte. Nie war es ihr gelungen, ihrer Großmutter nahezukommen, ihr Wesen zu spüren. Würde die Großmutter für sie einstehen und nur für die Ausgangssperre plädieren?
Da ergriff Lendor wieder das Wort: „Aviva muss öffentlich bestraft werden, sie soll nicht so einfach davonkommen! Was ist, wenn sie andere durch ihr Verhalten ansteckt? Unser Ruf ist in Gefahr!“
Als Aviva sah, wie Kala zustimmend nickte, erstarrte sie und ihr Herz versank in Verzweiflung. Der Ratsälteste bedeutete dem Wächter mit der Hand, zu schweigen. Dann schaute er Aviva an und sagte: „Du bist mutig. Die Götter hätten aus dir einen Mann machen sollen. So bleibst du nutzlos.“ Er blickte zu Lendor hinüber und befahl ihm: „Geh mit ihr in den Wald. Du weißt schon, den Zweig nicht zu dick, nicht zu dünn. Dann bring Aviva in die Gefangenenhütte. Geh, wir haben hier Wichtigeres zu besprechen.“ Narog deutete ungeduldig mit der Hand zur Tür.
„Ich werde sterben“, durchzuckte es Aviva. Sie fühlte sich so hilflos und allein. Lendor stapfte triumphierend auf sie zu, packte sie am Arm und zerrte sie aus dem Holzhaus. Während sie auf gröbste Art durchs Dorf und in Richtung Wald gezerrt wurde, spürte sie den Pfeil an ihrem Bein unter dem Rock. Die Dorfbewohner schauten ihnen mit besorgten, aber teilnahmslosen Blicken nach. Als ob ein Schleier über ihren Augen läge, dachte Aviva.
Lendor stellte Aviva vor einen kleineren Baum am Waldrand. „Du darfst sogar auswählen“, grinste er sie voller Genugtuung an. Aviva gehorchte, und wie so oft, wenn sie dazu gezwungen wurde, Sachen zu tun, die ihr widerstrebten, spürte sie ihren Körper nicht mehr. Sie wählte einen dickeren Zweig aus, brach ihn ab und fing an, die grünen Blätter zu entfernen. Mit ihren Nägeln löste sie die Rinde ab und streckte dann die Rute Lendor hin. Aviva schaute ihn dabei direkt an. Er wich ihrem Blick aus, nahm die Rute und bog sie ein paar Mal hin und her, um zu prüfen, ob sie fest und zugleich elastisch war. Dann packte er Aviva wieder am Arm und stieß sie zurück ins Dorf. Beide hatten nicht bemerkt, dass sie im Wald beobachtet worden waren. Leroy hatte sich hinter einem Baum versteckt und alles mit angesehen.
Die Gefangenenhütte war ein kleines Häuschen aus Holzbrettern, mehr ein Verschlag als eine Hütte. Lendor öffnete die Tür, trieb Aviva hinein, schloss die Tür von außen mit einem metallenen Riegel und stapfte davon. Kurz darauf kam er zurück, diesmal begleitet von Rapo und zwei weiteren Jägern. Sie fanden Aviva am Boden sitzend. Ich muss es geschehen lassen, dachte sie und spürte, wie sie ihrem Körper entwich. Sie spürte sich nicht. Aviva wusste zwar nicht, wo sie sich befand, aber auf eine geheimnisvolle Weise konnte sie sich selbst von außen sehen, wie sie in der Mitte saß, umkreist von den Männern.
Sie sah, wie Rapo die Rute hob und immer wieder auf sie niederschlug. Sie spürte jedoch keinen Schmerz. Obwohl die Wucht der Schläge sie verletzte, kam kein Ton über ihre Lippen. Die Jäger schienen trunken zu sein, wie im Rausch spornten sie sich gegenseitig an und ein jeder trat mit seinen Füßen gegen Avivas zierlichen Körper.
Das Lachen der Männer holte Aviva wieder in die Gegenwart zurück. Kraftlos lag sie zusammengekauert am Boden. Sie hörte noch, wie Rapo selbstbewusst ausrief: „Bindet sie vor meinem Haus an! Sie existiert für uns nicht mehr, solange ich es sage. Alle sollen sehen, wer hier der Herr ist. Wir feiern heute Nacht. Sie gehört jetzt mir.“ Der letzte Hoffnungsschimmer in Aviva war erloschen. Sie spürte nur noch eine tiefe Sehnsucht nach der ihr so vertrauten Stimme. „Wo bist du?“, hörte sie sich weinend fragen.