Читать книгу Aviva und die Stimme aus der Wüste - Vesna Tomas - Страница 12
ОглавлениеTrotz ihrer Erschöpfung traute Aviva sich nicht, einzuschlafen. Ihre Gedanken wanderten wieder zur letzten Nacht und dem schwarzen Raubtier. Wo ist sie wohl jetzt, die schöne große Katze?
Aviva fühlte sich wie in einem Traum. Unfassbar, was alles an diesem Tag geschehen war. Wie ist es möglich, so viele und so verschiedene Abenteuer an einem Tag zu durchleben? In ihr wirbelten die Gefühle durcheinander. Sie empfand große Freude, denn sie war frei – frei von Rapo, frei von der Unterdrückung und frei davon, nichts wert zu sein. Dann jedoch musste sie an die Verurteilung und die Misshandlungen denken. Sie hatte die Schläge der Männer nicht wirklich gespürt. Umso mehr jetzt, wo es still um sie war. Ihr ganzer Körper tat weh. Bei der kleinsten Bewegung durchzuckte sie ein Schmerz, der ihr den Atem nahm. Ihr Rücken war sicher voller blauer Flecken und Striemen. Es dauerte eine ganze Zeit, bis sie endlich eine erträgliche Liegeposition eingenommen hatte.
Als Nächstes kamen ihr ihre Geschwister in den Sinn. Eine tiefe Traurigkeit holte sie ein, als sie an Gora, Jada und Salin dachte. Sie hatte niemanden, an den sie sich halten konnte, niemanden, der für sie sorgte oder für den sie sorgen konnte. Der Kummer wurde immer stärker und drückte heftig gegen ihren Brustkorb, sodass sie einen schmerzhaften Riss in ihrem Herzen verspürte. Die Hitze im Brustkorb breitete sich aus, es brannte, tief im Inneren spürte sie einen fast unerträglichen Schmerz, als wenn ihr ein Glied abgerissen worden wäre. So war es auch, der letzte Faden ihrer Bindung zur Sippe war gerissen. Avivas Finger krallten sich in den Umhang, als ein heftiges Schluchzen aus ihrer Brust hervorbrach und ihr zierlicher Körper anfing, sich unkontrolliert zu schütteln. In diesem Moment ließ Basko ein mitfühlendes Winseln ertönen. Eine Weile lag sie so da, bis allmählich die heftige Spannung in ihr nachließ und sie einschlief.
***
Aviva öffnete die Augen. Wo bin ich? Träume ich?
Sie blickte umher. Etwas stimmte nicht. Ein eigenartiges Gefühl beschlich sie. Tatsächlich, sie schien sich an einem anderen Ort zu befinden! Sie schaute sich um. Es musste eine Grotte sein, in der sie stand. Unter ihren Füßen war felsiger Boden und nur aus einer Richtung drang Tageslicht in diese Grotte. Vor ihr war eine Felswand. Irgendetwas war darin verborgen. Als sie sich die Wand genauer anschaute, konnte sie es erkennen: Es war eine Skulptur, die aussah wie ein Mensch, gemeißelt in die Felswand. Ein sehr großer Mann in einem langen Kleid.
Plötzlich merkte Aviva, dass diese Skulptur gar nicht in die Felswand gemeißelt war, sondern aus der Wand hervortrat und lebendig wie ein Mensch vor ihr stand. Aviva konnte nicht anders, als staunend vor ihm zu stehen. Wie gebannt betrachtete Aviva sein Gesicht. Ein strahlendes Gesicht mit leuchtenden Augen. Aviva war zutiefst ergriffen, denn solch gütige Augen hatte sie noch nie zuvor gesehen. Ob sie aus Feuer oder Lichtfunken waren, konnte sie nicht unterscheiden, doch sie fühlte dafür umso mehr eine vertraute Gegenwart in ihrem Herzen.
„Aviva!“, hörte sie ihn sagen. Kam die Stimme aus ihrem Herzen oder aus den gütigen Augen der Erscheinung? Sie wusste es nicht, aber in ihr machte sich ein unverkennbares Glücksgefühl breit. Es war die Stimme, ihre Stimme, die zu ihr sprach!
„Du gehörst mir“, erklang sie wieder.
Aviva schossen Tränen in die Augen. Seine Stimme war erfüllt von Zärtlichkeit und Liebe, nicht besitzergreifend und doch bestimmt.
Ich gehöre ihm? Masia?
Ein erneutes Staunen löste die Tränen ab, denn jetzt streckte er ihr seine Hand entgegen und Aviva verspürte ein Verlangen danach, sie zu berühren. Als sie es tat, spürte sie eine Liebe, wie sie sie noch nie empfunden hatte. Sie wurde von einem Licht ergriffen, das ihren Arm hochstieg und ihren ganzen Körper erfasste. Sie fühlte sich wie ein strahlender Fluss aus Licht. Aviva verwandelte sich. In ihren Gedanken konnte sie die ganze Welt erfassen und sie vor allem verstehen. Sie wurde von einer Intelligenz und einer Liebe durchdrungen, die sie nie mit Worten würde erklären können. Die Liebe war so intensiv und die Kraft so stark, dass sie über sich selbst und alles, was auf dieser Welt war, emporgehoben wurde.
***
Es war früh am Morgen, als Aviva ihre Augen öffnete. Tiefe Geborgenheit und Freude erfüllten ihr Herz. Im ersten Augenblick wusste Aviva nicht, wo sie war. Sie genoss einfach diesen Moment der Zufriedenheit. Dann war sie plötzlich ganz wach. Wo bin ich?
Sie setzte sich auf. Dann erkannte sie den Lagerplatz von Leroy. Sie wusste wieder, wo sie sich befand und was alles geschehen war. Sie streifte Leroys vom Tau feuchten Umhang ab und stand auf. Sie musste fort von hier. Leroy hatte ihr geraten, in der frühen Stunde zu gehen. Die Landschaft vor ihr sah friedlich aus und es lag Tau auf den Gräsern. Sie bewegte ihre Glieder ein wenig. Neben ihr lag der Pfeil.
Als sie aufstand, fiel ihr auf, mit welcher Leichtigkeit sie das tat. Ihre Knie schmerzten nicht mehr und sie fühlte sich wohl in ihrem Körper. Etwas war anders. Dann kam ihr plötzlich der Traum der vergangenen Nacht in den Sinn. Die Grotte, das Licht! Habe ich wirklich nur geträumt? Mit dem Verstand konnte sie es nicht erklären, aber trotz allem, was am Tag zuvor geschehen war, fühlte sie sich verwandelt und gestärkt. Eine liebevolle Gegenwart umgab sie spürbar. Sie fühlte sich nicht mehr allein.
Sie nahm etwas von dem Proviant, aß ein Stück getrocknetes Fleisch und trank aus der kleinen in Leder eingebundenen Flasche. Nachdem sie ihre Kleider notdürftig etwas geordnet hatte, schaute sie sich nach Basko um, doch er war nirgends zu sehen. Trotzdem zog sie mutig los, dem Sonnenaufgang entgegen, ostwärts. Ihr Entschluss stand fest: Sie wollte in das Land hinter der Wüste.
Mehrere Pfade lagen vor ihr. Aviva kannte die Wege nicht; sie wusste nur, dass einige davon zu den Dörfern anderer Sippen führten. Sie musste gut achtgeben, welchen von ihnen sie wählte. Sie beschloss, als Orientierung stets die Wüste im Blick zu behalten. Aber zunächst musste sie möglichst schnell weit weg von Cagor, ihrem Dorf, und dabei möglichst keinem Menschen begegnen, den sie kannte. Erst auf einem der weit entfernt gelegenen Märkte würde sie sich wieder verpflegen können. Bis dahin vertraute sie darauf, dass die Natur ihr geben würde, was sie benötigte. Aviva folgte ihrem Instinkt. Der gewählte Pfad führte sie zuerst einen Hang hinunter und über eine Weide. Dahinter lag ein Wald mit uralten Bäumen. Die Stämme waren so dick, dass es Aviva ein Leichtes war, sich dahinter zu verstecken, wenn Gefahr drohte. Der Weg war so schmal, dass sie ihre nackten Füße gerade so nebeneinander stellen konnte.
Mit flinken Schritten eilte sie voran. Der Boden war immer noch nass vom Tau und Aviva bemerkte trotz ihrer Eile die einzelnen Tropfen auf den Gräsern, in denen sich die verschiedensten Farben spiegelten. Diese Farben hatte sie früher ab und zu am Himmel gesehen, wenn ein farbig leuchtender Bogen den Himmel mit der Erde zu verbinden schienen. Aber niemand in ihrem Dorf hatte sich getraut, dieses Ereignis offen zu bewundern. Aviva war es, als ob sich ihr eine neue Welt zeigte. Sie kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Während sie die Schönheit der Landschaft und das bezaubernde Farbenspiel in den Wassertropfen in sich aufsog, kam ihr wieder die letzte Nacht in den Sinn.
Es war kein Traum gewesen, das wusste Aviva auf einmal, ohne begründen zu können, warum. Sie spürte jetzt noch die Leichtigkeit, die sie erfüllt hatte, als das Licht in jede ihrer Zellen gedrungen war, bis sie selbst nur noch aus Licht bestand. Aviva wusste nicht, wie das hatte passieren können, aber sie war sich sicher, im Schlaf etwas Wahres erlebt zu haben. Intuitiv ahnte sie, dass sie mit etwas in Berührung gekommen war, was eigentlich ein Geheimnis war. Sie fühlte sich darin eingeweiht, ohne zu wissen, was sie damit anfangen sollte. Dennoch erfüllte sie eine tiefe Ruhe und Zuversicht.
Aviva lief mehrere Stunden lang durch den Wald und folgte kurvigen und steilen Wegen, die sich zwischen den Bäumen hindurchschlängelten. Es ging Hänge hinauf und steile Schluchten hinunter. Nicht immer war in der Ferne die Wüste zu sehen. Oft war Aviva der Blick versperrt, aber sie versuchte, ihre ursprüngliche Richtung beizubehalten. Inzwischen musste es schon Mittag sein, denn die Sonne stand hoch. Obwohl Aviva im Schatten der Bäume lief, schwitzte sie und ihre Füße schmerzten. Da gabelte sich vor ihr der Weg. Der breitere Weg führte sie nach links zu einer Lichtung. Neben der Lichtung war ein schmaler Pfad, der von der Lichtung wegführte. Ich muss diesen Pfad nehmen, dachte sie, er führt Richtung Wüste.
Aviva blieb stehen. Sie musste sich eine Pause gönnen, denn vom langen Laufen war sie außer Atem geraten. Erst als ihr Atem ruhiger wurde, konnte sie ein Rauschen hören. Wasser! Aviva war sehr durstig und erleichtert, sich bald erfrischen zu können. Das Rauschen kam aus der Richtung der Waldlichtung. Aviva schaute nochmals auf den anderen, schmaleren Pfad, als sie aus der Ferne Geräusche vernahm. Hinter ihr flogen plötzlich Vögel aus den Baumkronen in den Himmel hinauf, als ob sie verscheucht würden.
Aviva hielt den Atem an und lauschte. Oh nein! Nicht mehr allzu weit von sich weg hörte sie Hundegebell. Es mussten viele Hunde sein, die wild kläfften. Ihr Herz fing an zu rasen und ohne zu überlegen rannte Aviva in Richtung des breiteren Weges, auf die Waldlichtung zu. Sie hoffte auf einen Bach, der ihre Spuren verwischen konnte.
Vor ihrem geistigen Auge tauchte plötzlich Rapos wutentbranntes Gesicht auf. Als Jäger war er erfahren darin, Fährten zu lesen. Ja, es war sicher Rapo, der sie suchte. Ich muss hier weg!, dachte sie. Aviva setzte alles daran, so schnell sie konnte zum Wasser zu gelangen und beschleunigte ihre Schritte. Das Gebell der Hunde wurde immer lauter. Dann hörte sie jemanden rufen: „Da ist sie, in diese Richtung!“ Es war nicht Rapos Stimme, also waren noch andere Jäger dabei. Sie würde ihnen nicht entkommen. Doch ihre Beine bewegten sich wie von selbst und sie rannte und rannte. Das Entsetzen wollte sie packen. Verzweifelt dachte sie: Lieber sterbe ich, als zurück zu müssen.
Dann spielte sich alles blitzschnell ab. Auf einmal sah Aviva vor sich ein schimmerndes Licht. Das muss die Waldlichtung sein! Die Hunde waren ihr dicht auf den Fersen und jetzt sah sie auch Rapo auf sich zurennen. Als er sie fast erreicht hatte, stolperte Aviva, aber sie fühlte weder einen Aufschlag, noch den Boden unter sich. Es war, als ob sich die Erde geöffnet und sie wie ein großer Mund verschlungen hätte. Das Letzte was sie sah, bevor die Dunkelheit sie umfing, war die Waldlichtung. Sie bestand jedoch nicht aus festem Boden, sondern aus einem tiefen Abgrund mit einem riesigen Wasserfall, der aus einem Felsen strömte. Dann sah sie nichts mehr, nur das Tosen des Wassers rauschte laut in ihren Ohren.
Aviva sank tiefer und tiefer. Entsetzen machte sich in ihr breit und sie wollte schreien, brachte aber keinen Laut über ihre Lippen. Sie fühlte sich wie gelähmt und die Angst krallte sich um ihr Herz, als sie aus der Ferne Stimmen hörte. Es waren die Jäger, sie fluchten wütend. Ihre Hunde hingegen verstummten allmählich.
„Wie konnte sie bloß entkommen?“, hörte Aviva die Jäger aufgebracht ausrufen.
„Sie ist in den Abgrund gestürzt, das Wild wird sie holen.“ Rapo stieß heftige und boshafte Flüche aus. Er war als Mann und Jäger gedemütigt worden und machte seiner Wut Luft.
Die Stimmen und auch das Rauschen des Wassers schienen sich immer weiter zu entfernen. Aviva empfand nur noch Angst vor der Dunkelheit, die sie umgab. Je tiefer sie stürzte, umso schwindeliger wurde ihr, bis sie in eine dämmrige Benommenheit sank. So muss sich Sterben anfühlen, war ihr letzter Gedanke, bevor sie ohnmächtig wurde.