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Drittes Buch. 1. Die Kirche Notre-Dame.

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Ohne Zweifel ist die Kirche Notre-Dame in Paris noch heute ein majestätisches und erhabenes Bauwerk. Doch so schön sie sich bei ihrem Alter erhalten hat, so schwer ist es, über die Beschädigungen nicht zu klagen, sich über die zahllosen Verstümmlungen nicht zu entrüsten, welche Zeit und Menschen ohne Ehrfurcht vor Karl dem Großen, welcher den Grundstein dazu gelegt, noch vor Philipp August, welcher es vollendet hat, diesem ehrwürdigen Denkmale zugleich zugefügt haben.

An der Façade dieser alten Königin unter unseren Domen findet sich neben einer Runzel immer eine Narbe. »Tempus edax, homo edacior«, was ich gern so übersetzen möchte: »Die Zeit ist blind, der Mensch ist thöricht.« Wenn wir Muße hätten, mit dem Leser die Spuren der Zerstörung, welche dieser alterthümlichen Kirche aufgeprägt sind, eine nach der andern zu untersuchen, – der Antheil der Zeit würde der geringste, der der Menschen der schlimmste sein; vor allem derjenige »der Männer der Kunst«, da es in den letzten zwei Jahrhunderten Individuen gegeben hat, die sich den Titel Baumeister beigelegt haben. Um nur gleich einige vorzügliche Beispiele anzuführen, so giebt es sicher wenige schönere architektonische Erscheinungen, als diese Façade. Hier enthüllen sich vor dem Auge allmählich und auf einmal drei gothisch gewölbte Portale, der gezackte und von achtundzwanzig Königsnischen eingefaßte Bogenkranz, die riesige, von ihren zwei Seitenfenstern flankirte Mittelrosette, ähnlich dem Priester mit Diaconus und Subdiaconus zur Seite, die hohe und zierliche Galerie aus Kreuzwölbungen, welche auf ihren zarten Säulchen eine mächtige Plattform trägt, endlich die zwei schwarzen, massiven Thürme mit ihren Schieferdächern als harmonische Theile eines prachtvollen, in fünf gigantischen Stockwerken über einander gethürmten Ganzen; alles massenhaft und ruhig, mit den zahllosen Einzelnheiten an Statuen, Bildhauer- und Schnitzarbeiten, welche kühn zur ruhigen Größe der Gesammtheit vereinigt sind; – es ist so zu sagen eine gewaltige Steinsymphonie, das ungeheure Werk eines Mannes und eines Volkes; das Ganze einheitlich und zusammengesetzt zu gleicher Zeit, wie die Iliade und die romantischen Dichtungen, deren Schwester diese Kirche ist; es ist das wunderbare Erzeugnis aus der Vereinigung aller Kräfte einer Epoche, wo man aus jedem Steine die hundertgestaltige Phantasie des Handwerkers hervortreten sieht, dem der Künstler die Hand lenkte, eine Art menschlicher Schöpfung, doch gewaltig und überreich, wie die göttliche Schöpfung, von welcher sie den zwiefachen Charakter entnommen zu haben scheint: den der Mannigfaltigkeit und den der Ewigkeit.

Und was wir hier von der Façade sagen, müssen wir auch von der ganzen Kirche sagen; und was wir von der Kathedrale zu Paris sagen, müssen wir ebenso von allen Kirchen der mittelalterlichen Christenheit sagen. Alles verhält sich in dieser Kunst, die aus sich selbst heraus entstanden ist, logisch und im schönsten Ebenmaße: an der Fußzehe schon erkennt man den Riesen.

Doch zurück zur Façade von Notre-Dame, wie sie uns noch gegenwärtig erscheint, wenn wir andächtigen Sinnes die ernste und mächtige Kathedrale bewundern, die uns Schauer einflößt, um mit den Worten ihrer Geschichtsschreiber zu reden: »Quae mole sua terrorem incutit spectantibus.«

Drei wichtige Dinge fehlen heute dieser Façade: zuerst der Aufgang von elf Stufen, welcher sie vordem über den Boden hob; dann die untere Reihe von Bildsäulen, welche die Nischen der drei Portale einnahm; und die obere Reihe der achtundzwanzig ältesten Könige von Frankreich, welche die Galerie des ersten Stockwerkes einfaßte, von Childebert an bis Philipp August mit »dem Reichsapfel« in der Hand.

Was den Aufgang betrifft, so hat die Zeit, welche mit unwiderstehlichem und leisem Schritte die Bodenfläche der Altstadt erhöhte, ihn verschwinden lassen; aber sie, die eins nach dem andern von diesem Vorflut des Pariser Pflasters Verschlingen ließ, und auch die elf Stufen, welche die majestätische Höhe des Bauwerkes vergrößerten – die Zeit hat der Kirche wohl mehr gegeben, als sie ihr nahm; denn die Zeit hat über die Façade jenes düstre Colorit der Jahrhunderte gebreitet, welches aus der Alterthümlichkeit der Baudenkmäler das Alter ihrer Schönheit schafft.

Wer aber hat die beiden Statuen-Reihen herabgeworfen? Wer die Nischen geleert? Wer hat mitten in das schöne Hauptportal jenen neuen und unechten Spitzbogen hineingearbeitet? Wer gewagt, jenes geschmacklose, plumpe Thor aus geschnitztem Holze im Geschmacke Ludwig des Vierzehnten neben den Arabesken Biscornette's einzufügen? Die Leute, die Baumeister und Künstler unserer Zeit!

Und wenn wir in das Innere des Gebäudes treten, wer hat die Kolossalbildsäule des heiligen Christoph umgestürzt? Ihn, der unter den Statuen mit demselben Rechte sprichwörtlich war, wie der große Saal des Justizpalastes unter den Sälen, und wie der Münster von Straßburg unter den Münstern! Und diese unzähligen Statuen, welche alle Säulenweiten des Schiffs und Chores in knieender Stellung, zu Fuß, zu Pferde bevölkerten, Männer, Frauen, Kinder, Könige, Bischöfe, Geharnischte, in Stein, Marmor, Gold, Silber, Erz, selbst in Wachs – wer hat sie brutal weggefegt? Die Zeit hat es nicht gethan!

Und wer hat dem alten gothischen, mit Reliquienschreinen und Kästchen reich bedeckten Hochaltare jenen plumpen Marmorsarkophag mit Engelköpfen und Wolken untergeschoben, der wie ein vom Val-de-Grâce oder vom Invalidendome genommenes Muster aussieht? Wer hat einfältigerweise diesen plumpen Kunstanachronismus unter den karolingischen Denkmälern Hercanducs besiegelt? Ist es nicht Ludwig der Vierzehnte, der das Gelübde Ludwig des Dreizehnten erfüllte?

Und wer hat weiße, frostige Fensterscheiben an Stelle dieser »farbenglänzenden« Fenster gesetzt, welche das entzückte Auge unserer Väter zwischen der Rosette des großen Portales und den Fensterbogen des Chores hin- und herzog? Und was würde ein Unterkantor des sechzehnten Jahrhunderts sagen, wenn er den schönen gelben Maueranstrich sähe, mit dem die vandalischen Erzbischöfe ihre Kathedrale angepinselt haben? Er würde sich erinnern, daß dies die Farbe ist, mit welcher der Henker die »verrufenen« Häuser anstrich; er würde an das Palais Petit-Bourbon denken, welches wegen der Verrätherei des Connetables gleichfalls ganz gelb angestrichen wurde; »ein Gelb, welches noch dazu von einer solchen Dauerhaftigkeit ist«, sagt Sauval, »und so fest aufgetragen wurde, daß länger als ein Jahrhundert noch nicht vermocht hat, sein Colorit verschwinden zu lassen«; er würde glauben, daß die heilige Stätte verrufen geworden und würde entfliehen.

Und wenn wir auf die Kathedrale hinaufsteigen, ohne uns bei den tausend Barbareien aller Art aufzuhalten, – was hat man mit dem hübschen kleinen Thurme angefangen, welcher sich auf den Durchschnittspunkt des Kreuzgewölbes stützte, und welcher ebenso schlank und kühn, wie sein Nachbar, der (gleichfalls zerstörte) Thurm der heiligen Kapelle, aber höher, spitzer, tönender und reicher durchbrochen, als die Thürme, in den Himmel hineinragte? Ein Baumeister von gutem Geschmacke (1787) hat ihn abgetragen und geglaubt, es genüge, die Verletzung hinter jenem breiten Bleipflaster zu verstecken, das dem Deckel eines Kochtopfes gleicht. So ist die wundervolle Kunst des Mittelalters allerorts behandelt worden, namentlich aber in Frankreich. An ihrer Ruine kann man drei Arten von Verletzungen unterscheiden, welche ihr sämmtlich Wunden verschiedener Tiefe beibrachten: zuerst die Zeit, welche ihr Aeußeres hier und da kaum merklich verletzt und angefressen hat; dann die politischen und religiösen Umwälzungen, die ihrer Natur nach blind und leidenschaftlich, bald für die geistliche, bald für die weltliche Macht im Sturme über sie hergefallen sind, und das reiche Kleid seiner Steinmetz- und Bildhauerarbeiten zerfetzt, ihre Rosetten zerschlagen, ihre Arabesken- und Figurenkränze zerbrochen, ihre Statuen herabgerissen haben; endlich die immer wunderlicheren und alberneren Moden, welche seit den regellosen und glänzenden Abschweifungen der »Renaissance« in dem unvermeidlichen Verfalle der Baukunst endigten. Die Moden haben mehr Uebel verursacht, als die Revolutionen. Sie haben in den Lebensnerv geschnitten, sie haben das Knochengerüst der Kunst angegriffen, haben das Bauwerk beschnitten, zerstückelt, es in seiner Gestalt wie in seiner Symbolik, in seinem Zusammenhange wie in seiner Schönheit zerstört. Und hernach haben die Moden wieder ausgebessert, eine Anmaßung, die wenigstens weder die Zeit, noch die Revolutionen gehabt haben. Sie haben dreist, mit »gutem Geschmacke« den Verletzungen der gothischen Baukunst ihre elenden alltäglichen Schnörkeleien, ihre marmornen Bänder, ihre metallenen Zieraten angepaßt: eine wahre Pest von Kugelverzierungen, Schnecken, Einschnitten, Einkleidungen, Guirlanden, Fransen, steinernen Flammen, bronzenen Wolken, dicken Liebesgöttern, bausbäckigen Engelsköpfen, welche in der Betzelle Katharinens von Medici das Antlitz der Kunst benagt und sie, zwei Jahrhunderte später im Boudoir der Dubarry, gequält und grinzend verenden läßt.

So entstellen also, um die Punkte, welche wir soeben nannten, zusammenzufassen, drei Arten von Verwüstungen heute die gothische Baukunst: Furchen und Flecke auf der Oberfläche, als das Werk der Zeit; thatsächliche Spuren, Gewaltthätigkeiten, Verletzungen, Brüche – als das Werk der Revolutionen von Luther an bis Mirabeau; Verstümmlungen, Abtragungen, Versetzungen des Gliederbaues, »Restaurationen« – dies die griechische, römische und barbarische Arbeit von Kunstgelehrten nach Maßgabe Vitruvs und Vignola's. Diese herrliche Kunst, welche die Vandalen erschaffen hatten, haben die Akademien vernichtet. Auf die Jahrhunderte, auf die Revolutionen, welche wenigstens unparteiisch und großartig verwüsteten, folgte der Schwarm zünftiger und vereideter Schularchitekten, welche sie planmäßig und mit Wahl des schlechten Geschmackes herabwürdigten, welche, zum höchsten Ruhme des Parthenons, das krause Faltenwerk Ludwigs des Fünfzehnten an die Stelle gothischer Zackenzieraten setzten. Das ist der Fußtritt des Esels für den sterbenden Löwen. Das ist die alte Eiche, die von oben abstirbt, und die zuguterletzt von den Würmern angebohrt, zerfressen und durchlöchert wird.

Wenn doch lieber noch der Zeitraum vorhanden wäre, wo Robert Cenalis, welcher Notre-Dame von Paris mit jenem berühmten, »von den alten Heiden so oft angerufenen« und von Herostrat unsterblich gemachten Tempel der Diana in Ephesus verglich, entdeckte, daß die gallische Kathedrale »an Länge, Breite, Höhe und Bauart viel vortrefflicher sei«!

Notre-Dame in Paris ist übrigens nicht das, was man ein vollkommenes, abgeschlossenes und klassisches Baudenkmal nennen kann. Sie ist keine eigentlich romanische, sie ist aber auch keine gothische Kirche. Dieses Gebäude ist kein Urbild. Notre-Dame in Paris hat nicht, wie die Abtei zu Tournus, die wuchtige und massive Breite, die runde und weite Wölbung, die eisige Nacktheit, die majestätische Einfachheit von Gebäuden, welche dem Rundbogen die Entstehung verdanken. Sie ist auch nicht, wie die Kathedrale von Bourges, das großartige, schlanke, vielformige, reiche, strotzende, blühende Erzeugnis der Gothik. Es ist unmöglich, sie unter jene alte Familie finsterer, mystischer, niedriger und von dem Rundbogen gleichsam zusammengedrückter Kirchen zu rechnen, welche, was die Decke betrifft, fast ägyptisch, ganz hieroglyphisch, ganz priesterlich, ganz symbolisch sind; die hinsichtlich ihrer Verzierungen mehr mit Rauten und Zickzacks als mit Blumen, mehr mit Blumen als mit Thieren, mehr mit Thieren als mit Menschenfiguren überladen sind; es ist weniger ein Werk des Baumeisters als des Bischofs, die erste Umgestaltung der Kunst, der ganze Ausdruck der theokratischen und militärischen Zucht, welche im untergehenden oströmischen Reiche Wurzel schlägt und mit Wilhelm dem Eroberer aufhört. Ebenso wenig kann unsere Kathedrale unter jene andere Familie hoher, luftiger, an Glasmalereien und Bildhauerarbeiten reicher Kirchen gerechnet werden, die scharf in den Formen, kühn in den Gestaltungen bürgerliches Gemeingut als politische Ausdrucksformen, frei, launig und fessellos als Kunstwerke sind; es ist die zweite Umgestaltung der Baukunst, welche nicht mehr hieroglyphisch, unwandelbar und priesterlich, sondern kunstreich, fortschrittlich und volksthümlich ist, mit der Rückkehr von den Kreuzzügen beginnt und unter Ludwig dem Elften endet. Notre-Dame in Paris ist nicht von rein romanischer Abkunft, wie die ersteren, aber auch nicht von rein arabischer, wie die zweiten.

Sie ist ein Uebergangsbauwerk. Der sächsische Baumeister war eben mit den ersten Pfeilern des Schiffes fertig, als der Spitzbogen, welcher aus dem Kreuzzuge mitkam, sich siegreich auf diesen breiten romanischen Kapitälen niederließ, welche nur Rundbogen tragen sollten. Der von nun an herrschende Spitzbogen hat den übrigen Theil der Kirche aufgeführt. Doch unerfahren und schüchtern bei seinem ersten Auftreten, erweitert er sich, breitet sich aus, mäßigt sich noch und wagt noch nicht, sich in Thürme und Spitzbogenfenster emporzuschwingen, wie er es später an so viel wundervollen Münstern gethan. Man möchte sagen, er fühlt die Nachbarschaft der schweren, romanischen Pfeiler.

Uebrigens sind diese Bauwerke der Uebergangsperiode aus dem Romanischen ins Gothische nicht weniger des Studiums werth, als die der reinen Formen. Sie bringen eine Abart der Kunst zum Ausdrucke, welche ohne sie verloren gegangen sein würde. Es ist das Pfropfreis des Spitzbogens auf dem Rundbogen.

Notre-Dame zu Paris insbesondere ist ein merkwürdiges Muster dieser Abart. Jede Fläche, jeder Stein des ehrwürdigen Denkmals ist ein Blatt nicht allein der Geschichte des Landes, sondern auch derjenigen der Wissenschaft und Kunst. Während also, um hier nur hauptsächliche Einzelnheiten anzuführen, die kleine Rothe Pforte fast die Grenzen der gothischen Zartheit des fünfzehnten Jahrhunderts streift, reichen die Pfeiler des Schiffes vermöge ihres Umfanges und ihrer Schwere bis zur karolingischen Abtei von Saint-Germam-des-Prés zurück. Man möchte glauben, daß sechs Jahrhunderte zwischen dieser Thür und diesen Pfeilern liegen. Sogar die Alchymisten finden in den Symbolen des großen Portales einen befriedigenden Inbegriff ihrer Wissenschaft, von der die Kirche Saint-Jacques-de-la-Boucherie eine so vollständige Hieroglyphe war. Somit finden sich die romanische Abtei, die mystische Kirche, gothische und sächsische Kunst, der schwere, runde Pfeiler, welcher an Gregor den Siebenten erinnert, die geheimnisvolle Symbolik, mit der Nikolaus Flamel als Vorläufer Luthers auftritt, die Einheit der Kirche, das Schisma, Saint-Germain-des-Prés, Saint-Jaques-de-la-Boucherie – alles das verschmolzen, vereinigt, verbunden in der Kirche Notre-Dame. Diese formenschöpferische Hauptkirche ist unter den alten Gotteshäusern von Paris eine Art Wunder; sie hat das Haupt von der einen, die Glieder von der andern, das Schiff von jener, von allen etwas. Wir wiederholen es, diese Bastardbauformen sind nicht am wenigsten interessant für den Künstler, den Alterthumsforscher, für den Geschichtsschreiber. Sie lassen erkennen, in wie weit die Baukunst etwas Ursprüngliches ist (was auch die cyklopischen Ueberreste, die Pyramiden Aegyptens, die riesigen Hindupagoden darthun), daß die größten Erzeugnisse der Baukunst weniger die Werke einzelner, als vielmehr solche der Gesellschaft sind; mehr das Erzeugnis arbeitender Völker, als der Erguß genialer Männer; die Schatzkammer, welche ein Volk hinterläßt; die Anhäufungen, welche Jahrhunderte bewirken, der allmähliche Niederschlag aus gesellschaftlichen Gährungsprocessen; mit einem Worte Bildungsformen. Jede Zeitwoge deckt ihre Anspülung darüber, jede Generation legt ihre Schicht auf das Denkmal, jeder einzelne trägt seinen Stein herbei. Wie es die Biber, die Bienen machen, so machen es auch die Menschen. Das große Symbol der Baukunst: Babel ist ein Bienenkorb.

Die großen Baudenkmäler, gerade wie die großen Gebirge, sind das Werk von Jahrhunderten. Oft gestaltet die Kunst sich um, während sie noch ruhen, pendent opera interrupta; sie bilden sich ruhig fort, gemäß der neugestalteten Kunst. Die neue Kunst bemächtigt sich des Denkmals, wo sie es findet, versenkt sich in dasselbe, assimilirt sich mit ihm, entwickelt es nach seinem Geschmacke und beendigt es, wenn sie kann. Das geht ohne Störung, ohne Anstrengung, ohne Rückschritt vor sich, zufolge eines ruhigen Naturgesetzes. Ein Pfropfreis kommt dazu, die Säfte circuliren, wieder beginnt eine Vegetation. Wahrlich, es ist Stoff für sehr große Bücher und oft Weltgeschichte der Menschheit in diesen allmählichen Verbindungen mehrerer Kunstgattungen zu verschiedenen Höhen an ein und demselben Baudenkmale. Der Mensch, der Künstler, das Individuum verschwinden bei diesen großen Massen ohne Namen des Urhebers; es ist der Geist der Menschheit, der sich hier zusammenfaßt und als Ganzes erscheint. Die Zeit ist der Baumeister, ein Volk macht den Maurer.

Um hier nur die christlich-europäische Baukunst, diese nachgeborene Schwester der großen Mauerverbindungen des Orients ins Auge zu fassen, so erscheint sie dem Auge als eine mächtige, in drei scharf gesonderte Schichten getheilte Formation, welche sich übereinander thürmen: die romanische, die gothische Schicht und die der Renaissance, welche wir gern die griechisch-römische nennen möchten. Die romanische Schicht, die älteste und unterste, hat den Rundbogen als Merkmal, der, von der griechischen Säule getragen, in der neuen und obersten Schicht, der Renaissance, wieder zum Vorschein kommt. Zwischen beiden liegt der Spitzbogen. Die Bauwerke, welche ausschließlich einer dieser drei Schichten angehören, sind vollständig klar, einheitlich und vollständig. Dahin gehört die Abtei zu Jumiéges, die Kathedrale zu Reims, die Heilige Kreuzkirche zu Orléans. Aber die drei Schichten mischen und verschmelzen sich an ihren Grenzscheiden, wie die Farben im Sonnenspectrum. Daher kommen die zusammengesetzten Baudenkmäler, die Gebäude der Abstufungen und Uebergangszeit. Eins ist romanisch in den Grundmauern, gothisch in der Mitte, griechisch-römisch in der Spitze; der Grund ist, weil sechshundert Jahre auf seine Vollendung verwendet worden sind. Diese Abart ist selten. Der Vertheidigungsthurm von Etanges ist ein Muster davon. Doch häufiger sind die Baudenkmäler zweier Formationen. Dahin gehört Notre-Dame in Paris, als Spitzbogenmonument, das mit seinen ersten Pfeilern in jene romanische Schicht hinabtaucht, wohin das Portal von Saint-Denis und das Schiff von Saint-Germain-des-Prés versenkt sind. Dahin gehört der herrliche, halbgothische Kapitelsaal zu Bocherville, bei welchem die romanische Schicht bis zur Mitte der Wände reicht; dahin die Kathedrale zu Rouen, die ganz gothisch sein würde, wenn sie mit der Spitze ihres Mittelthurmes nicht in die Schicht der Renaissance hineinreichte.

Uebrigens betreffen alle jene Nüancen und Unterschiede nur die Oberfläche der Bauwerke. Die Kunst hat nur am Aeußern Veränderungen vorgenommen. Die Einrichtung des christlichen Gotteshauses ist an und für sich nicht angerührt worden. Es ist immer dieselbe innere Gestalt, dieselbe logische Vertheilung der einzelnen Partien. Welches auch immer die gemeiselte und schmuckvolle Hülle einer Kathedrale sein möge, so findet man dahinter, wenigstens im Keime und im anfänglichen Zustande, immer wieder die römische Basilika. Sie entwickelt sich ewig auf diesem Boden nach demselben Gesetze. Es sind unbeirrterweise zwei Schiffe, die sich kreuzweise durchschneiden, und deren oberer Endtheil, in einen Halbbogen gerundet, den Chor bildet; auch finden sich immer Seitenchöre für die Processionen im Innern, für die Kapellen, Gattungen von Seitengängen, wo das Hauptschiff mit seinen Bogenweiten hineinmündet. Sind diese Vorbedingungen erfüllt, so ändert sich die Zahl der Kapellen, der Portale, der Thürme und Thürmchen ins Unendliche, ganz nach der Phantasie des Jahrhunderts, des Volkes und der Kunst. Ist für den Dienst des Cultus einmal gesorgt und er festgestellt, so verfährt die Baukunst nach Gutdünken. Bildsäulen, Glasmalereien, Rosetten, Arabesken, Zackenwerk, Kapitäle, Basreliefs, alle diese Erzeugnisse der Phantasie bestimmt sie nach einer Berechnung, wie sie ihr paßt. Daher der wunderbare Reichthum im Aeußern dieser Bauwerke, in deren Grundform so viel Ordnung und Einheit herrscht. Der Stamm des Baumes ist unwandelbar, sein Astwerk vielseitig-launig.

Der Glöckner von Notre Dame

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