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Roland’s Croft I

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Als ich zum ersten Mal vom Haus der tausend Laternen hörte, spürte ich sofort das Verlangen, mehr von einem Haus mit solch merkwürdigem Namen zu erfahren. Magisch-mystisch mutete er mich an. Warum hieß das Haus so? Waren tatsächlich tausend Laternen darin? Und welche Bedeutung hatten sie? Es klang wie aus einem Märchen aus Tausendundeine Nacht. Wie konnte ich ahnen, daß ich, Jane Lindsay, eines Tages in dieses Geheimnis, in große Gefahr und unglaubliche Intrigen verwickelt sein würde, die mit diesem merkwürdigen Haus zusammenhingen.

Eine Verwicklung, die schon Jahre davor begann und mir bereits damals viel Herzleid und Aufregung brachte.

Als meine Mutter Hausdame bei Sylvester Milner wurde, war ich fünfzehn. Sylvester Milner, jener eigenartige Mann, der solchen Einfluß auf mein Leben gewinnen sollte und ohne den ich nie vom Haus der tausend Laternen gehört, es nie erblickt hätte. Wäre mein Vater nicht gestorben, so hätten wir wohl weiter unser friedliches, normales Leben geführt. Als wohlerzogene, aber fast mittellose junge Dame hätte ich wohl einen passenden, liebevollen Mann gefunden und mit ihm ein glückliches, wenn auch wenig aufregendes Dasein gehabt.

Die Ehe meiner Eltern war zwar unkonventionell, aber durchaus nicht außergewöhnlich. Vater wuchs als Sohn eines reichen Gutsbesitzers im Norden Englands auf. Lindsay Manor war schon drei Jahrhunderte im Besitz der Familie. Der älteste Sohn erbte traditionsgemäß immer das Gut, der mittlere ging zum Militär und der dritte wurde Priester. Meinem Vater war die Militärlaufbahn bestimmt, und als er dagegen rebellierte, geriet er in Ungnade. Durch die Ehe mit meiner Mutter verschlechterte sich das Verhältnis noch mehr.

Die beiden lernten sich in der Heimat meiner Mutter, im Bergland, kennen. Mein Vater war begeisterter Kletterer. Die hübsche, lebhafte Wirtstochter im Hochlanddorf gefiel ihm, und er heiratete sie sozusagen vom Fleck weg – trotz des Einspruchs seiner Familie, die ihm die Tochter eines wohlhabenden Nachbarn zugedacht hatte. Sein Entschluß verärgerte seine Eltern so sehr, daß sie ihn völlig abschrieben und er nur noch eine winzige Jahresrente von zweihundert Pfund bekam.

Mein kunstbegeisterter Vater konnte und wußte viel, nur eine Kunst beherrschte er nicht – die des Geldverdienens. Er malte ganz gut, also nicht wirklich gut genug. Gelegentlich verkaufte er ein Bild, und im übrigen arbeitete er als Bergführer. In meinen frühesten Erinnerungen an ihn sehe ich Vater stets mit irgendeiner Gruppe mit Krampen und Seil losziehen – sein Blick strahlend vor Freude, denn Berge und Klettern waren ihm, nach seiner Familie, das liebste.

Ein Träumer und Idealist war er. Mutter sagte oft: »Gut, daß Jane und ich mit beiden Füßen auf der Erde stehen. Unsere Köpfe stecken zwar oft im Derbyshire-Nebel, aber nie in den Wolken.«

Wir liebten ihn beide sehr und er uns auch. Wir seien ein perfektes Trio, meinte er oft. Als einziges Kind erhielt ich die bestmögliche Erziehung, und das hieß für meinen Vater die Schule, an der alle Mädchen seiner Familie ausgebildet worden waren, das Internat Clunton. Auch meine Mutter war ganz dafür, denn ich war eine Lindsay und sollte als eine solche aufwachsen, auch wenn ich nie meinen Fuß in das großväterliche Haus gesetzt hatte.

Ohne finanzielle Sicherheit, dafür aber um so sicherer in unserer Liebe zueinander, lebten wir recht und schlecht von Vaters kleiner Jahresrente und seinen gelegentlichen Einkünften, kämpften uns fröhlich durch – bis zu jenem tragischen Januartag, an dem sich alles mit einem Schlag ändern sollte.

Ich hatte noch Ferien und war daheim. Das Wetter war die ganze Zeit über nicht gut gewesen – selten hatten unsere Berge so drohend gewirkt. Bleigrauer Himmel, eisiger Wind, und dann plötzlich, etwa fünf Stunden nachdem Vater mit seiner Klettergruppe aufgebrochen war, ein Schneesturm. Wenn es jetzt schneit, muß ich immer an jenen schrecklichen Tag denken. Ich kann das grellweiße Licht, das leise Fallen der Flocken nicht mehr ertragen.

Wir waren bald eingeschlossen vom Schnee. Konnten nichts tun als warten und hoffen, daß mein Vater mit seinen Gästen da draußen irgendwie durchkam.

»Er ist so bergerfahren«, meinte Mutter, »ihm passiert bestimmt nichts.«

Sie buk gerade Brot in dem riesigen Backofen neben dem Herd. Der Geruch frischen Brotes ist dadurch für mich auf immer mit jenen tragischen Wartestunden verbunden. Diesem Warten neben der tickenden Großvateruhr – endlosem Warten ...

Als der Sturm endlich nachließ, lagen die Schneewächten hoch auf Wegen und Felswänden. Eine Suchkolonne machte sich auf den Weg. Erst nach einer Woche fand man die Vermißten.

Wir wußten innerlich schon vorher Bescheid, obwohl Mutter noch bis zuletzt daran festhielt, er würde jeden Augenblick auftauchen und uns auslachen, weil wir solche Angst um ihn gehabt hatten.

»Er hat nie nachgegeben«, sagte sie zu mir, während wir vor dem Kaminfeuer saßen, und erzählte mir dann, wie sie einander kennen – und liebengelernt und er seiner Familie getrotzt hatte.

Seiner Familie konnte er trotzen – gegen das Unwetter war aber auch er machtlos. Wir begruben ihn und vier Leute seiner Gruppe. Zwei waren durchgekommen, sie berichteten von den schrecklichen Entbehrungen, dem entsetzlichen Leiden, das sie alle durchgemacht hatten. Eine ganz gewöhnliche, alltägliche Geschichte, wie sie in den Bergen immer wieder passiert.

»Warum müssen Männer auf Berge klettern?« fragte ich zornig. »Warum setzen sie sich sinnlos solchen Gefahren aus?«

»Sie müssen es tun«, sagte meine Mutter traurig, »sie können nicht anders.«

Ich fuhr bald darauf ins Internat zurück. Wie lange ich noch dort bleiben konnte, wußten wir nicht. Vaters Rente würde man uns beiden ja entziehen. Optimistisch, wie sie meist war, hoffte Mutter, die Lindsays würden sich ihrer Verantwortung mir gegenüber besinnen. Leider irrte sie. Mein Vater hatte den Familiencodex verletzt, wir waren und blieben ausgestoßen, wie mein Großvater es geschworen hatte.

Mutter lag sehr daran, mich weiter am Internat lassen zu können. Wie, wußte sie selbst noch nicht, aber sie war nicht der Typ, mit den Händen im Schoß zu warten, daß etwas geschah. Als ich zu den Sommerferien heimkehrte, erklärte sie mir ihr Vorhaben.

»Ich muß Geld verdienen«, sagte sie.

»Ich auch. Ich höre mit der Schule auf.«

»Kommt gar nicht in Frage!« sagte sie energisch. »Das würde dein Vater nie erlauben!« Sie sprach immer von ihm, als weile er noch bei uns. »Wenn ich den richtigen Posten finde, könnte es gelingen.«

»Posten als was?«

»Ich habe durchaus Kenntnisse und Fähigkeiten«, sagte sie.

»Als mein Vater noch lebte, half ich ihm in der Gastwirtschaft. Ich kann gut kochen und bin erfahren in der Haushaltführung. Also eigne ich mich bestens als Wirtschafterin oder Hausdame.«

»Werden denn solche Posten angeboten?«

»Mehr als genug. Gute Haushälterinnen wachsen nämlich nicht auf den Bäumen. Ich werde allerdings eine Bedingung stellen müssen.«

»Bedingungen willst du auch noch stellen?«

»Ja, nämlich, daß du die Ferien im Haus bei mir verbringen darfst.«

»Du schätzt dich aber sehr hoch ein.«

»Wenn ich’s nicht tue, tun’s die anderen auch nicht.«

Sie hatte solches Selbstvertrauen! Mußte es haben. Mir kam plötzlich der Gedanke, daß Vater sich nicht so zu helfen gewußt hätte, wäre sie zuerst gestorben. Ja, sie stand fest auf ihren Füßen und konnte für mich sorgen. Trotzdem mißtraute ich ihrem Vorhaben.

Erst im nächsten halben Jahr gingen unsre Mittel endgültig zur Neige. Bis dahin sollte ich auf jeden Fall noch die Schule weiterbesuchen. Das tat ich denn auch, und dann kam eines Tages ein Brief, in dem ich zum ersten Mal den Namen Sylvester Milner las.

Meine liebe Jane,

Morgen fahre ich in die Gegend vom New Forest, habe dort ein Interview mit einem Herrn Sylvester Milner, dem Besitzer von Roland’s Croft. Er sucht eine Haushälterin. Meine Bedingung habe ich zwar bereits genannt, aber noch keine Antwort darauf erhalten. Daß ich trotzdem zur Vorstellung gebeten wurde, ist aber wohl ein gutes Zeichen. Ich schreibe Dir dann gleich. Wenn ich den Posten bekomme, verdiene ich genug, um Dir das Internat weiter ermöglichen zu können, zumal ich ja Wohnung und Verpflegung im Haus bekommen würde wie auch Du während der Ferien. Es wäre eine wunderbare Lösung für uns. Jetzt muß ich die Leute nur noch dazu bringen, mich anzustellen.

Ich konnte sie mir lebhaft vorstellen, wie sie sich resolut auf den Weg machte, bereit, um ihren Platz an der Sonne zu kämpfen – weniger für sie selbst als für mich. So klein sie war – ich überragte sie bereits, da ich im Wuchs nach meinem Vater geriet –, an Energie nahm es nicht so leicht jemand mit ihr auf. Rein äußerlich ähnelten wir einander übrigens kaum, bis auf die blauschwarzen Haare. Meine Haut war blaß, ihre stets rosig. Ich hatte die tiefliegenden grauen Augen meines Vaters, ihre waren klein und braun und blitzten fröhlich in die Welt. Aber in unserer Entschlußkraft, alles beiseite zu schieben, was sich unseren Zielen entgegenstellte, waren wir völlig gleich, und so war ich ziemlich sicher, daß sie ihres auch diesmal erreichen würde. Und ich behielt recht. Schon nach wenigen Tagen erfuhr ich, daß sie bald ihre Arbeit aufnehmen würde. Und zu Semesterschluß reiste auch ich nach Roland’s Croft.

Bis London fuhr ich mit einer Gruppe anderer Mädchen, dann stieg ich in einen Zug nach Hampshire um. Von Lyndhurst aus ging es mit dem Bummelzug weiter, nach Rolandsmere. Mutter hatte mir alles genauestens aufgeschrieben. An der kleinen Landstation würde man mich abholen, und falls ihre Pflichten es zuließen, käme sie mit, sonst sähen wir uns dann erst im Haus.

Wie ungeduldig ich war! Ein merkwürdiges Gefühl, in eine neue ›Heimat‹ zu reisen. Von Mr. Milner hatte Mutter gar nichts geschrieben. Warum wohl? Sie war doch sonst nicht so schweigsam. Auch über das Haus hatte sie wenig erzählt, nur daß es sehr groß sei und riesige Ländereien dazugehörten.

»Ganz anders als unser Häuschen«, hatte sie geschrieben – nun, das konnte ich mir auch denken. Und gerade ihre Schweigsamkeit ließ mich auf die phantastischsten Gedanken kommen.

Roland’s Croft. Welcher Roland, und warum Croft – ein kleines Pachtgut also. Namen bedeuteten doch meist etwas. Und warum erwähnte Mutter ihren Dienstgeber kaum?

Meine Phantasie ging mit mir durch. Einmal stellte ich ihn mir jung und gutaussehend vor, dann wieder als Mann mittleren Alters mit einer großen Familie. Nein, ein Junggeselle mußte er sein, der die Gesellschaft mied. Weltmüde und zynisch war er, lebte als Einsiedler in seinem Riesenhaus. Oder nein – er war häßlich und abstoßend und ließ sich nie blicken. Man sprach nur im Flüsterton von ihm. Nachts erklangen merkwürdige Geräusche im Haus. »Gar nicht beachten«, würde man mir sagen, »Mr. Milner wandert nur durchs Haus.«

Mein Vater hatte immer gesagt, ich müsse meine Phantasie zügeln. Sie war wirklich oft zu lebhaft. Mutter meinte, sie galoppiere mit mir davon. Gepaart mit meiner unersättlichen Neugier gegenüber allem, was mich umgab, war dies natürlich eine gefährliche Veranlagung.

Schnaufend kam das Züglein zum Stehen. Der leichte Dezemberdunst, der die blasse Wintersonne fast verhüllte, tauchte die kleine stille Station in ein geheimnisvolles Licht. Der Ortsname war mit Pflanzen in ein Blumenbeet ›geschrieben‹. Nur wenige Menschen stiegen mit mir aus. Ein großer Mann mit Zylinder und goldbortenverziertem Mantel ging sofort auf mich zu.

So gewichtig kam er daher, daß ich impulsiv fragte, ob er Mr. Milner sei.

Leicht verwundert sah er mich an, dann lachte er hellauf. »Nö, Frolleinchen«, rief er, »bin doch der Kutscher.« Und murmelte dann selbstvergessen: »Mr. Sylvester Milner! Ist ja ’n Witz!« Dann wandte er sich wieder mir zu. »Ist das Ihr Gepäck? Sie kommen grad von der Schule, was? Kommen Sie mit mir zur Kutsche?« Er betrachtete mich von Kopf bis Fuß. »Sehen Ihrer Mutter überhaupt nicht ähnlich«, stellte er erstaunt fest.

Ein kurzes Nicken, er wandte sich um und rief einen Mann herbei, der an der Wand des kleinen Stationsgebäudes gelehnt hatte. »He, Harry, komm mal ran!« Harry nahm mein Gepäck, und wir gingen im Gänsemarsch zum Wagen hinüber, der Kutscher vor mir, in wiegendem Gang, als müsse er seine gewichtige Position beweisen.

Das Gepäck wurde verstaut, ich kletterte hinauf, und der Kutscher nahm die Zügel zur Hand. Er sah mich etwas verdrießlich an. »So kleine Wägelchen kutschiere ich ja sonst nicht, nur weil Ihre Mama ...«

»Vielen Dank«, sagte ich, »Herr ... äh ...«

»Jeffers«, antwortete er, »ich heiße Jeffers.« Und dann ging’s los.

Über blätterbedeckte Landwege ging es am Rande des riesigen Waldes entlang. Wie geheimnisvoll selbst die Bäume auf mich wirkten! Ganz anders war es hier als in unserer Bergheimat. Und in diesem Wald hatte Wilhelm der Eroberer gejagt, und sein Sohn Rufus war auf geheimnisvolle Weise darin umgekommen.

»Merkwürdig, daß man diesen Wald den neuen Forst nennt«, meinte ich.

»Wieso – warum?« fragte der Kutscher erstaunt.

»Na ja, ich meine, weil er doch schon achthundert Jahre alt ist.«

»Irgendwann war er eben mal neu – wie wohl alle Dinge«, brummelte er.

»Man sagt, er sei aus Menschenblut gewachsen.«

»Was Sie für komisches Zeug denken, Fräulein!«

»Das habe ich mir nicht selbst ausgedacht. Die Bewohner wurden von hier vertrieben, damit der Wald gepflanzt werden konnte, und wer es wagte, darin Eber oder anderes Wild zu jagen, dem schlug man die Hände ab oder stach ihm die Augen aus oder erhängte ihn an einem Baum.«

»Jedenfalls gibt’s jetzt keine wilden Eber mehr drin«, sagte er ganz nüchtern.

»Wir haben’s nämlich in der Schule gelernt«, setzte ich noch hinzu.

»Ja, gewiß. Und jetzt sind Sie hier auf Ferien. Hat mich ja gewundert, daß das durchging beim Herrn. Aber Ihre Mutter hat’s eben einfach durchgesetzt.«

»Was ist dieser Mr. Milner eigentlich für ein Mensch?«

»Das ist mir mal ’ne Frage – was er für ein Mensch ist? Ich glaube, das weiß niemand hier.«

»Ist er noch jung?«

»Im Vergleich zu mir schon, für Sie ist er wohl eher alt.«

Viel mehr war aus Jeffers offenbar nicht herauszukriegen. Ich betrachtete wieder die Landschaft, dachte an die Normannenkönige, an die Gespenstergeschichten, die sich um diesen Forst woben, und fieberte unserer Ankunft beim Herrenhaus entgegen.

Eine endlos lange, tannenbestandene Auffahrtsallee führte geradewegs zu der weiten Rasenfläche vor dem Haus. Elegant und imposant zugleich wirkte das Gebäude – stammte offenbar aus der frühgeorgianischen Zeit. Hochmütig und karg mutete mich die Fassade an – vielleicht, weil ich eher mit einem türmchenbewehrten Schloß voller Erker und Zierat gerechnet hatte. Symmetrisch angelegte Fenster, im Erdgeschoß eher breit und nicht so hoch, im ersten Stock überhoch, im nächsten etwas kleiner und ganz oben quadratisch. Die Eleganz des achtzehnten Jahrhunderts stach deutlich vom verspielten Barock und gotischen Schnörkelwerk der vorangegangenen Jahrhunderte ab. Wunderschön das fächerartige Oberlicht über der klassisch einfachen Eingangstür. Zwei Säulchen stützten den Portico davor. Das griechische Blattmuster auf den Säulen studierte ich erst später genauer. Im Augenblick fielen mir nur die großen chinesischen Hunde zu Füßen der Säulen auf. Fremdartigwild starrten sie mich in sonst so vertrauter, typisch englischer Umgebung an.

Ein Hausmädchen im schwarzen Kleid mit weißem Häubchen und steif gestärkter Rüschenschürze öffnete uns. Sie hatte wohl den Wagen schon gehört.

»Sie sind sicher die junge Dame vom Internat«, sagte sie.

»Kommen Sie herein, ich sage Madame gleich Bescheid.«

Madame? Meine Mutter hatte sich also diesen Titel zugelegt. Ich mußte innerlich lachen. Ein Gefühl der Sicherheit umhüllte mich wohlig.

Während ich in der Halle wartete, sah ich mich um. An der zart gemusterten Stuckdecke hing ein Kronleuchter. Die kreisförmig geführte Treppe hatte herrliche Proportionen. Eine Großvateruhr tickte unüberhörbar. Ich horchte nach anderen Geräuschen. Abgesehen von der Uhr nichts. Merkwürdig! Geradezu unheimlich ruhig war es hier in diesem Haus.

Und dann tauchte meine Mutter auf der Treppe auf. Sie rannte zu mir hinunter, wir umarmten einander.

»Kind, daß du nur endlich da bist! Ich habe schon die Tage gezählt! Wo ist dein Gepäck? Ich lasse es in dein Zimmer hinaufbringen. Jetzt kommst du erst einmal in meines. Wir müssen uns so viel erzählen.«

Sie sah ganz verändert aus. Das Kleid raschelte bei jedem Schritt. Mit den Spitzen auf den Haaren sah sie ungeheuer würdig aus. Die Wirtschafterin dieses Hauses hatte kaum noch Ähnlichkeit mit der Mutter in unserem kleinen Heim. Nicht nur äußerlich. Ein wenig gehemmt kam sie mir vor, als wir dann Arm in Arm hinaufstiegen. Kein Wunder, daß ich sie vorher nicht näher kommen gehört hatte, die Teppiche waren ganz dicht und flauschig. Immer höher hinauf ging es. Von jedem Stockwerk aus konnte man in die Halle hinunterblicken.

»Ja, es ist recht hübsch und angenehm«, sagte sie.

Ihr Zimmer war im zweiten Stockwerk. Gemütlich eingerichtet mit schweren Vorhängen. Sehr elegant wirkten die Möbel. Ich wußte damals über solche Dinge noch nicht Bescheid, später erfuhr ich, daß sowohl das Schränkchen und die wunderschön geschnitzten Stühle und der Tisch echte Stilmöbel aus der Zeit Georgs III. waren.

Mutter sah meinen prüfenden Blick. »Ich hätte ja lieber meine eigenen Sachen behalten«, sagte sie lächelnd, »Mr. Milner hätte sie bestimmt greulich gefunden, aber sie waren so gemütlich und bequem.«

Schön und elegant und genau richtig war die Einrichtung, das sah ich ein, aber es fehlte die bestimmte Heimeligkeit unserer Zimmer daheim. Immerhin brannte Feuer im Kamin, der Wasserkessel darüber sang.

Mutter schloß die Tür und fing plötzlich laut zu lachen an. Drückte mich noch einmal fest an sich. Jetzt erst war sie aus der Rolle der würdigen Haushälterin geschlüpft, hatte sich wieder in meine Mutter verwandelt.

»Erzähl mir alles«, sagte ich.

»Das Wasser kocht gleich«, gab sie zur Antwort, »wir plaudern darüber beim Tee. Ich dachte schon, du würdest nie hierher finden.«

Die Tassen standen schon auf dem Tablett bereit, sie tat drei Löffelchen Tee in die Kanne und goß auf. »Ein paar Minuten lassen wir ihn noch ziehen. So!« sagte sie dann. »Wer hätte das gedacht? Alles ist in wunderschönster Ordnung. Schöner ginge es gar nicht.«

»Und was ist mit ihm?«

»Wem?«

»Mister Milner.«

»Er ist weggefahren.« Als sie mein enttäuschtes Gesicht sah, lachte sie. »Das ist ganz gut so, Janie. So haben wir das Haus ganz für uns.«

»Ich wollte ihn aber sehen.«

»Und ich dachte, du wolltest mich sehen!«

Ich beugte mich zu ihr und gab ihr einen Kuß. »Du hast dich also eingewöhnt und bist wirklich glücklich?«

»Besser hätte ich es gar nicht treffen können. Ich glaube, das hat dein Vater für uns getan.« Seit seinem Tod glaubte sie, er wache über uns und deshalb könne uns kein Leid geschehen. Ein sehr starkes okkultes Empfinden mischte sich in ihr mit absolut diesseitiger Vernunft. Obwohl sie selbst überzeugt war, daß unser Vater uns auf den besten Weg leitete, tat sie ihrerseits auch ihr möglichstes dazu. Daß sie mit ihrer Stellung in Roland’s Croft zufrieden und glücklich war, war ihr deutlich anzusehen.

»Ich hätte es mir selber besser nicht ausmalen können«, sagte sie. »Es ist ein fabelhafter Posten, und das Personal respektiert mich.«

»Die Mädchen nennen dich Madame?«

»Ja, eine Höflichkeitsform, auf der ich bestand. Weißt du, Janie, die Leute werten einen immer genauso, wie man sich selbst wertet. Und deshalb setze ich meinen Wert ziemlich hoch an.«

»Gibt es viel Personal?«

»Drei Gärtner – zwei sind schon verheiratet und leben in Häuschen auf dem Gutsgelände. Dann noch Jeffers, der Kutscher, mit seiner Frau. Ihre Wohnung liegt über den Ställen. Die zwei Gärtnersfrauen arbeiten auch im Haus mit. Außerdem haben wir noch Jess und Amy, sie sind Stuben- und Hausmädchen. Und Mister Catterwick, unseren Butler, und Mrs. Couch, die Köchin.«

»Und du leitest das Ganze?«

»Mr. Catterwick und Mrs. Couch sind da wohl anderer Meinung. Mr. Catterwick ist ein echter Gentleman. Mindestens einmal täglich erzählt er mir, daß er schon in viel großartigeren Häusern gedient hat. Und Mrs. Couch ist Herrin unserer Küche. Gnade dem, der sich da einmischen wollte.«

Mutter plauderte munter wie eh und je. Ich glaube, das war einer ihrer Züge, die meinem Vater am meisten gefallen hatten. Er selbst war still und eher zurückgezogen und sensibel gewesen, genau das Gegenteil von ihr. Und sie war der kleine freche Spatz, wie er es einmal bezeichnet hatte, der noch mit dem großen Adler um sein Recht kämpfen würde. Ich konnte mir gut vorstellen, wie sie diesem Haushalt hier vorstand. Mit Ausnahme von Köchin und Butler natürlich.

»Ein wunderschönes Haus«, sagte ich, »aber ein bißchen unheimlich.«

»Du mit deiner Phantasie! Das kommt dir nur so vor, weil noch keine Lampen angezündet sind. Ich mache jetzt meine auch an.«

Sie nahm den Glasschirm von der Petroleumlampe ab und hielt ein brennendes Streichholz an den Docht.

Wir tranken vom Tee und aßen dazu Kekse aus einer Dose.

»Hast du bei deiner Vorstellung Mr. Milner kennengelernt?«

»Ja, natürlich.«

»Dann erzähl mir doch von ihm.«

Sie schwieg noch eine Weile, schien in eine unsichtbare Ferne zu blicken. An Worten fehlte es ihr eigentlich sonst nie, darum sagte ich sogleich: »Irgendwas an ihm stimmt doch nicht. Er ist ...«

»Ein Gentleman«, sagte sie.

»Und wo ist er jetzt?«

»Geschäftlich unterwegs. Das ist er oft.«

»Warum hat er dann so ein großes Haus und so viel Dienerschaft?«

»Manche mögen’s eben so.«

»Er muß sehr reich sein.«

»Er ist Kaufmann.«

»Kaufmann? Was für ein Kaufmann?«

»Er reist in der ganzen Welt herum. Auch nach China.«

Ich dachte an die chinesischen Steinhunde vor dem Haus.

»Und wie sieht er aus?«

»Schwer zu beschreiben.«

»Warum?«

»Tja – er ist eben so anders.«

»Wann werde ich ihn kennenlernen?«

»Irgendwann bestimmt.«

»Noch in diesen Ferien?«

»Das glaube ich weniger. Allerdings, man weiß bei ihm nie. Er taucht ganz plötzlich auf ...«

»Wie ein Geist«, sagte ich.

Sie lachte. »Damit meine ich natürlich, daß er uns nicht vorher sagt, wann er zurückkommt. Er ist ganz plötzlich da.«

»Sieht er gut aus?«

»Für manche Leute vielleicht.«

»Was verkauft er denn?«

»Sehr wertvolle Dinge.«

So wortkarg war Mutter sonst nie. Mein Eindruck, daß irgendwas an Mr. Milner nicht stimmte, wurde noch verstärkt.

»Ja – einen komischen Mann wirst du manchmal hier herumgehen sehen.«

»Was für einen?«

»Einen Chinesen. Er heißt Ling Fu. Sieht ein bißchen anders aus als die übrige Dienerschaft. Er reist immer mit Mr. Milner und kümmert sich um seine private Schatzkammer. Dort darf niemand sonst hinein.«

Na endlich – jetzt kam das große Geheimnis! »Verbirgt er etwas in dem Raum?« fragte ich.

Meine Mutter lachte. »Jetzt hörst du aber auf mit deinen Phantasien! Mr. Milner sammelt seltene, kostbare Kunstgegenstände aus Jade, Rosenquarz, Koralle und Elfenbein. Er kauft sie und verkauft sie wieder. Und einige hebt er auf, bis sich ein Käufer findet. Er ist Fachmann auf dem Gebiet. Ling Fu staubt die Sachen ab und kümmert sich um alles. Mr. Milner hat mir erklärt, daß es besser wäre, wenn kein anderer von der Dienerschaft damit zu tun hätte.«

»Bist du schon mal in der Kammer gewesen?«

»Warum sollte ich? Ich kümmere mich nur um den Haushalt, das ist meine Aufgabe.«

Ich sah in die Flammen, Bilder tauchten vor mir auf. Ein Gesicht, das zuerst freundlich nickte und dann im Niederbrennen der Kohle sich ganz sachte in eine bösartige Fratze verwandelte. Mr. Milner, dachte ich.

Mutter zeigte mir dann mein Zimmer. Es lag gleich neben ihrem. Ein kleiner Raum mit französischem Fenster vom Boden bis zur Decke. Die Möbel etwas einfacher, aber auch sehr geschmackvoll.

»Du siehst von hier in den Garten hinunter«, erklärte Mutter.

»Jetzt kann man nicht viel erkennen, aber er ist sehr schön gehalten. Tadellos gepflegter Rasen, und herrliche Blumen im Frühling und Sommer. Jetzt kann man nur sehen, wie das Haus gebaut ist. Ein offenes Rechteck, wie ein großes E ohne Mittelstrich. Schau einmal zu dem anderen Flügel hinüber. Siehst du die zwei Fenster dort? Das ist die Schatzkammer.« Schon der Anblick der Fenster erregte mich sehr. »Bei Tageslicht siehst du es dann ganz deutlich«, sagte Mutter. Sie schien sehr zufrieden mit sich; alles war ihr nach Wunsch gegangen.

Dann gingen wir in ihr Zimmer zurück und redeten weiter. Redeten und redeten. Ihre Freude und Begeisterung steckte mich an. Alles war wirklich so, wie sie es sich nur wünschen konnte. Trotz dieser Begeisterung war meine erste Nacht im neuen Haus nicht angenehm. Der Wind säuselte zwischen den Bäumen, es klang wie Stimmen, die alle zu murmeln schienen: »Sylvester Milner.«

Die Ferien wurden sehr schön für mich. Bald war ich mit allen Leuten vom Personal gut bekannt. Mrs. Couch mochte mich zum Glück gut leiden, und auch Mr. Catterwick hatte nichts gegen meine Anwesenheit einzuwenden. Als die Gärtner den Weihnachtsbaum umschnitten, war ich dabei und half auch beim Abschneiden von Stechpalmenzweigen und Misteln.

In der Küche duftete es. Mrs. Couch, die so rundlich, rosig und freundlich aussah, wie ihr Name klang, buk zahllose Kuchen und Pasteten und machte sich mit dem Weihnachtspudding zu schaffen. Ich war bereits ihr erklärter Liebling und durfte auch von ihren Kostproben nehmen. Ich war sehr glücklich, als ich da neben dem Herd saß, die Puddings gluckern hörte und zusah, wie Mrs. Couch einen nach dem anderen mit einer langen Gabel herausholte, die sie in das Einwickeltuch hakte und dann in die Reihe neben die anderen schob. Zuletzt kam die kleine Schüssel mit der Kostprobe. Und dann saß ich am Tisch, aß mein kleines Häppchen davon und beobachtete, wie sich die Miene von Mrs. Couch beim Kosten langsam von zögernder Vorsicht bis zu voller Befriedigung änderte.

»Nicht so gut wie letztes Jahr, aber besser als im vorvorigen.«

Alle, die sie mit einer Kostprobe geehrt hatte, protestierten, daß es die besten Puddings seit langem seien und ihr ein schlechter überhaupt nie gelingen würde.

Für diese Komplimente wurden wir alle mit einem Schlückchen von ihrem berühmten Pastinak-Wurzelwein belohnt. Nur Mr. Catterwick und meine Mutter erhielten Schlehengin, wohl um ihren höheren Rang zu unterstreichen.

Mrs. Couch erzählte mir, daß früher hier die alteingesessene Familie gelebt hatte und ihr niemand weismachen könne – wer hätte das wohl auch probiert –, es sei recht und billig, daß diese Häuser in die Hände Fremder gelangen sollten, die damit in keiner Weise verwachsen waren.

Dies bezog sich natürlich auf Mr. Sylvester Milner.

»Kommt er Weihnachten heim?« fragte eine der Gärtnersfrauen.

»Hoffentlich nicht«, sagte Jess und wurde gleich von Mr. Catterwick zurechtgewiesen. Wie immer, wenn sein Name genannt wurde, fühlte ich Schauer und Neugier und Furcht zugleich.

Meine Mutter hielt sich genauso wie Mr. Catterwick ein wenig abseits vom Personal, und die Dienerschaft respektierte dies auch. Man wußte, daß sie einmal bessere Zeiten gesehen hatte und ich im Internat in Clunton erzogen wurde, wo auch eine der Töchter des Hauses gewesen war.

»Natürlich wäre damals die Tochter der Haushälterin nie in die gleiche Schule wie die Tochter der Herrschaft gegangen«, sagte Mrs. Couch. »Es wäre undenkbar gewesen. Aber heute ist alles ein wenig anders. Seit er herkam ...« Sie hob die Schultern und blickte resigniert zur Decke.

Ich hätte nie gedacht, Weihnachtsfeiertage ohne meinen Vater so genießen zu können. Am meisten faszinierte mich aber das Geheimnis des Mr. Milner.

Ich versuchte, alles über ihn herauszufinden. Offenbar sprach er nur sehr wenig, zeigte aber stets deutlich, daß alles nach seinen Anweisungen zu geschehen habe. Er hatte einiges im Haus geändert, die heidnischen Hunde vor dem Haus stammten auch von ihm. Die früheren Besitzer hatten offenbar Pech gehabt und das Haus verkaufen müssen. Da war er aufgetaucht und hatte es gekauft. Er krieche überall herum, sagte Mrs. Couch. Tauche plötzlich irgendwo auf und rede mit Ling Fu ein komisches Kauderwelsch.

»Oft schließen sich die beiden in der Schatzkammer ein«, erzählte sie mir. Das kam ihr wohl besonders heidnisch vor: ein Zimmer vor Mr. Catterwick verschlossen zu halten und einem Ausländer dafür den Schlüssel anzuvertrauen!

Für meine Mutter und mich war es außerordentlich gut, daß wir diese erste Weihnacht ohne Vater in einer so angenehmen Umgebung feierten. Dadurch dachten wir nicht so wehmütig an die Vergangenheit. Mir kam es noch alles wie ein Wunder vor. Meine Mutter sagte einfach, Vater habe es so arrangiert. Habe uns in dieses Haus geführt, weil er über uns wache. Es schien wirklich so zu sein, denn alles verlief tatsächlich wunderbar.

Unter vielen Scherzen schmückten wir die Eingangshalle mit Stechpalmen, Efeu und Mistelzweigen. Sogar Mr. Catterwick mußte über unsere Späße grinsen und schalt die Hausmädchen nur sehr sanft wegen ihres Übermuts. Weihnachtssänger kamen am Heiligen Abend zum Haus, Mutter gab ihnen für ihre Lieder einen Shilling in die Büchse.

»Als die Familie noch hier lebte«, sagte Mrs. Couch, »ließ man die Sänger herein, und der Herr und die Herrin boten ihnen heißen Punsch und gefüllte Pastetchen an. So wurde es seit Generationen gehalten. Wie schade, daß sich alles ändert.«

Mrs. Couch hatte einen Schaukelstuhl in der Küche und benutzte ihn gerne, wenn sie vom vielen Kochen und Backen müde war. Das Hin- und Herschaukeln beruhigte sie. Sie unterhielt sich oft mit mir, und ich war froh, zuhören zu können. Viele Stunden verbrachte ich in der Küche. Meine Mutter freute sich, daß wir einander mochten, denn die Köchin war zweifellos eine wichtige Person in diesem Haus.

Sie sprach viel über die Familie und wie es damals gewesen war. »Ein richtiger Haushalt«, sagte sie und deutete an, daß der jetzige Zustand nicht ganz richtig war. »Der Herr und die Herrin und die zwei Töchter. Sie wurden in die Gesellschaft eingeführt, wie es sich für junge Damen gehört, und hätten sicher bald gute Partien machen können. Leider war der Herr ein Spieler, immer schon ... und sein Vater auch. Sie haben beide das ganze Vermögen durchgebracht.«

»Und dann das Haus verkauft«, ergänzte ich.

»Für ein Butterbrot«, zischelte sie. »Mr. Milner ist ein richtiger Kaufmann. Er erwarb das Haus, als die Familie es um jeden Preis loswerden mußte.«

»Was ist mit der Familie passiert?«

»Der Herr starb an einem Schock, heißt es. Die Herrin zog zu ihrer Familie. Eine der jungen Damen ging mit ihr, die andere soll Gouvernante geworden sein. Wie schrecklich, wo sie doch selber immer eine Gouvernante hatte und nach ihrer Erziehung erwarten durfte, auch eine für ihre Kinder zu haben.«

Der Gedanke schoß mir durch den Kopf, was ich wohl später tun sollte. Würde ich auch Gouvernante werden? Wie gräßlich!

»Er fragte mich, ob ich bleiben möchte, und ich sagte ja. Das Haus war mir immer recht gewesen. Ich wußte ja nicht ...«

Jetzt beugte ich mich zu ihr. »Was wußten Sie nicht?«

»Daß sich alles so ändern würde.«

»Das Leben ändert sich dauernd«, erinnerte ich sie.

»Jahrelang war hier immer alles im gleichen Gang geblieben, wie es sich gehörte. Natürlich gab’s dies und das, und Mr. Catterwick und ich haben öfter gestritten, wie heute auch noch. Aber es war irgendwie anders damals.«

»Wie ist es eigentlich, wenn er hier ist?« fragte ich.

»Mr. Milner? Ja, da kommen Freunde von ihm zum Essen, und sie gehen meistens danach in die Schatzkammer. Reden miteinander. Reden über Geschäfte, nehme ich an. So was liegt mir gar nicht und Mr. Catterwick auch nicht. Ich bin an Landedelleute gewöhnt und Mr. Catterwick auch.«

»Sie hätten ja weggehen können, in ein Haus, wo die Familie das Vermögen noch nicht verspielt hat«, meinte ich.

»Ich wechsle nicht gerne, und hier bin ich schon alles gewohnt. Ich lasse mir schon dies und jenes gefallen. Immer ist er ja nicht hier.«

»Redet er manchmal mit Ihnen?«

Sie legte den Kopf zur Seite und sagte: »In der Küche gewesen und mit mir das Menü besprochen hat er nie, wie das bei einer Familie üblich ist.«

»Und wenn seine Freunde kommen?«

»Dann gehe ich zu ihm hinauf und klopfe ganz laut an die Tür. ›Was soll’s zum Essen geben, Mr. Milner‹, sage ich, und er sagt: ›Das überlasse ich ganz Ihnen, Mrs. Couch.‹ Und woher soll ich wissen, ob diese Freunde irgendwas besonders mögen oder nicht? Er ist ganz anders als die Familie. Reich ist er, muß er wohl sein. Schließlich hat er Haus und Grundstück gekauft und erhält uns alle hier.«

»Dabei ist er kaum je da.«

»Zwischen seinen Reisen kommt er schon immer mal her.«

»Und wann kommt er diesmal?«

»Das sagt er nie vorher.«

»Vielleicht kommt er so plötzlich, damit er sieht, was Sie alle gerade treiben.«

»Das traue ich ihm durchaus zu.«

So redeten und redeten wir, und es gelang mir immer, Mrs. Couch vom Gerede über die ehemalige Familie zum gegenwärtigen Besitzer von Roland’s Croft zu bringen.

Am Weihnachtstag gab es Entenbraten, und nachher trug Mr. Catterwick höchst feierlich den Pudding herein; liebevoll beobachtete Mrs. Couch den Brandyflammenkranz. Meine Mutter saß am einen Ende des großen Tisches, Mr. Catterwick am anderen, die Dienerschaft und deren Familien an den Längsseiten des Tisches.

Ich fand die Münze im Pudding und hatte drei Wünsche frei. Zuerst wünschte ich mir, Mr. Milner noch vor Schulbeginn zu sehen, dann einen Blick in die Schatzkammer und als drittes, daß meine Mutter und ich weiterhin in Roland’s Croft bleiben dürften.

Und ich dachte, wenn wir meinen Vater dabei hätten, wäre es unsere schönste Weihnacht überhaupt, aber wenn er noch gelebt hätte, wären wir ja nicht dort gewesen.

Nach dem Essen mußte jeder etwas zum besten geben, außer meiner Mutter und Mr. Catterwick, deren ›Würde‹ sie davor rettete, und Mrs. Couch, die zu umfangreich für irgendwelche Vorführungen war. Es wurde gesungen, gedichtet und sogar getanzt. Einer der Gärtner spielte mit seinem Sohn auf der Geige. Ich gab ›Das Wrack am Bosporus‹ zum besten, so schön, wie Mrs. Couch sagte, daß einem die Tränen in die Augen kamen.

Im Verlauf des Abends schickte mich meine Mutter nach oben, ihren Schal zu holen. Als ich die Tür hinter mir zumachte und damit Gemütlichkeit und Fröhlichkeit aussperrte, empfand ich die plötzliche Stille ringsum bedrückend. Ich ging die Treppe hinauf; unheimliche Kälte schien nach mir zu greifen. Es war wohl eine Vorahnung. Die warme Halle unten schien Welten entfernt zu sein. In plötzlicher Panik raste ich die Treppe hinauf ins Zimmer meiner Mutter, fand bald den Schal und wollte wieder hinunterlaufen. Blieb dann am Fenster stehen und spähte hinaus. Die Kerze, die ich mitgebracht hatte, zeigte mir nur die Spiegelung meines eigenen Gesichts. Ich hörte den Wind in den Bäumen und wußte, daß nicht weit von uns ein Forst lag, von dem es vor Urzeiten hieß, er werde von den Geistern derer heimgesucht, die seinetwegen gelitten hatten.

Es zog mich zurück in die gemütliche Runde unten, und doch zwang mich etwas unwiderstehlich, noch zu bleiben.

Ich dachte plötzlich an die Schatzkammer, die ewig versperrt war. Ein versperrter Raum ist irgendwie aufreizend. Ich erinnerte mich an ein Gespräch mit Mrs. Couch. »Da drin sind wohl sehr kostbare Dinge aufgehoben, daß man sie so versperrt«, hatte ich gesagt. »Wird wohl so sein.« – »Es kommt mir vor wie bei Blaubart. Seine Frau war zu neugierig. Hat Mr. Sylvester auch eine Frau?« – »Er ist ein komischer Mensch. Sagt nie etwas. Hier ist jedenfalls jetzt keine Frau von ihm.« – »Vielleicht ist sie im Geheimzimmer. Vielleicht ist sie sein Schatz.« Da hatte Mrs. Couch lachen müssen. »Ehefrauen müssen auch essen«, sagte sie. »Und da wäre ich wohl die erste, die wüßte, wenn noch jemand zu essen bekommt.«

Und dann packte mich meine übergroße Neugier, die schon mein Vater immer eindämmen wollte, und unbändiges Verlangen ergriff mich, in die Schatzkammer zu spähen.

Ich wußte, wo sie war. Meine Mutter hatte es mir gesagt. »Mr. Milners Zimmer sind im dritten Stock.«

Ich hatte mir unter einem Vorwand eines Nachmittags oben zu schaffen gemacht. An allen Türen probiert, in die Zimmer geschaut. Schlafzimmer, Wohnzimmer, Bibliothek. Und eine Tür war versperrt.

Mit dem Schal meiner Mutter in der Hand zwang ich mich nun, wieder dort hinaufzusteigen. Die Dunkelheit und Stille in diesem Teil des Stiegenhauses erdrückten mich fast.

Ich hielt die Kerze ganz hoch. Mein flackernder Schatten an der Wand sah eigenartig bedrohlich aus. Geh zurück, warnte mich eine innere Stimme. Du hast kein Recht, hinaufzugehen. Aber etwas in mir war stärker. Ließ mich weitergehen, genau auf die Tür zu, die damals versperrt war. Ich drückte auf die Klinke, mein Herz schlug wie wild. Irgendwie erwartete ich, daß sich die Tür öffnen würde und ich hineingezogen würde in ... ich wußte selbst nicht, wo hinein. Zu meiner unendlichen Erleichterung war die Tür immer noch versperrt. Ich packte die Kerze fester und lief nach unten.

Welche Wonne, die Tür zur unteren Halle zu öffnen, Mr. Jeffers eine alte Ballade singen zu hören – nicht ganz notenrein – und Mutter den Finger auf die Lippen legen sehen, damit ich still blieb, bis das Lied vorbei war. Ich blieb gerne stehen, bis sich mein Herz von seinem rasenden Schlagen beruhigt hatte, und lachte mich insgeheim wegen meiner phantastischen Vorstellungen aus; fragte mich, was ich denn eigentlich oben erwartet hatte.

»Du warst lange weg«, sagte meine Mutter. »Konntest du den Schal nicht gleich finden?«

Am zweiten Tag des neuen Jahres passierte etwas, was mir lange in Erinnerung blieb. Amy, unser Hausmädchen, sollte etwas vom obersten Küchenregal holen und riß dabei ein paar Stechpalmenzweige herunter.

Ich saß gerade in der Küche – wir waren allein –, und sie meinte: »Das Zeug ist sowieso immer im Weg und die Zweige da drüben auch. Am besten nehmen wir alles ab. Hilf mir bitte, Jane.«

Ich hielt den Stuhl fest, sie stieg hinauf und holte die Zweige herunter. »Sieht jetzt so komisch aus«, meinte ich. »Am besten nehmen wir alles ab.«

Und das taten wir auch. Mittendrin kam Mrs. Couch herein. Schaute uns entsetzt an.

»Was macht ihr denn?«

»Das blöde Zeug war im Weg«, sagte Amy. »Weihnachten ist ohnehin schon längst vorbei.«

»Was heißt hier Weihnachten vorbei? Weißt du nicht, daß es bis zum Ende der Rauhnächte oben bleiben muß? Und gräßliches Unglück bringt, wenn man es vorher heruntertut?«

Amy war ganz blaß geworden. Ich blickte von einer zur anderen. Mrs. Couch sah gar nicht mehr freundlich aus, eher wie eine Prophetin des Bösen. Ihre Augen verschwanden fast im Puddinggesicht.

»Schnell wieder rauf damit«, befahl sie. »Vielleicht hat man’s noch nicht bemerkt.«

»Wer soll’s bemerkt haben?« fragte ich.

Sie war zu erschüttert, um mir eine Antwort zu geben.

Später, als sie wieder in ihrem Stuhl schaukelte, fragte ich sie, warum der Schmuck so lange drauf bleiben müsse. Sie sagte, dies sei von Generation zu Generation weitergegeben worden. Nur so ein Dummchen wie Amy wisse das nicht. Die Hexen würden durch die frühe Abnahme beleidigt.

»Wieso denn? Was haben die Hexen mit Weihnachten zu tun?«

»Manche Sachen kann man eben nicht erklären«, sagte Mrs. Couch geheimnisvoll. »Die Schwägerin meines Bruders hat auch nicht daran geglaubt. Sie nahm die Zweige am Neujahrstag ab, und dann passierte es eben.«

»Was denn?«

»Ehe das Jahr um war, ist sie tot gewesen. Ist das vielleicht kein Beweis?«

Ich war nicht ganz überzeugt, doch der frühe Tod dieser Schwägerin im Zusammenhang mit dem Abnehmen der Zweige durfte nicht angezweifelt werden.

Die denkwürdigen Ferien endeten mit einem dramatischen Höhepunkt.

Am zwanzigsten Januar wollte ich zur Schule zurückreisen. Meine Mutter nähte eifrig meinen Namen in die Sachen und bereitete mein Gepäck vor. Mr. Jeffers sollte mich zum Bahnhof bringen, diesmal fuhr sie aber mit. Mr. Jeffers sagte, es sei wie in alten Zeiten für ihn, wenn er die Damen nach den Ferien zum Zug brachte. Noch dazu, wo auch ich in Clunton studierte. Daß er mein Recht anzweifelte, ein so exklusives Etablissement zu besuchen, wo ich doch nur Tochter der Haushälterin war, war klar. Er war genausowenig wie Mrs. Couch bereit, Veränderungen anzuerkennen, die die Zeiten eben mit sich brachten.

Mir tat es leid, daß die schöne Zeit zu Ende ging. Ich kam mir schon ganz als Mitglied des Haushalts vor. Zwei Dinge bedauerte ich und hatte insgeheim auf ein Wunder gehofft. Nämlich in die Schatzkammer schauen zu dürfen, um festzustellen, daß wirklich nur kostbare Dinge darin aufbewahrt wurden, und Mr. Sylvester Milner persönlich kennenzulernen.

Meine Mutter hatte unter anderem den festen Glauben, daß man Dinge, die man sich wirklich wünschte, auch bekam, sofern man sonst alles unternahm, um sie zu erhalten. »Fester Glaube und feste Entschlußkraft«, sagte sie immer, »sind sehr notwendig.«

Erst in den Sommerferien würde ich Roland’s Croft wiedersehen. Und ich hatte Sylvester Milner immer noch nicht kennengelernt.

Etwa fünf Tage vor meiner Abreise ging das Gerede, daß Mr. Milner bald heimkehren würde. Ling Fu sollte vor ihm eintreffen. Welch ein Pech für mich, daß Mr. Milner gerade nach meiner Abreise kommen würde. Immerhin würde ich den geheimnisvollen Diener sehen.

Ich beobachtete seine Ankunft von meinem Fenster aus. Die kleine Gestalt, die aus der Gig auftauchte, enttäuschte mich ein wenig. Er sah zum Haus hinauf, als wüßte er, daß man ihn beobachtete. Ich trat rasch vom Fenster zurück. Natürlich konnte er mich nicht gesehen haben, aber ich hatte das unangenehme Gefühl, das man als ungebetener Lauscher hat. Sein orientalisches Gesicht sah ich nur ganz kurz. Daß er europäisch gekleidet war und keinen Zopf trug, enttäuschte mich.

Im Haus wechselte er allerdings die Kleider, zog Hosen aus glitzerndem Seidenstoff und darüber eine Art Tunika an. Seine Hausschuhe waren mit einer Silberzeichnung versehen und an den Zehen leicht hochgebogen. In dieser Aufmachung sah er schon orientalischer aus.

»Schleich, schleich, schleich im Haus herum«, beklagte sich Mrs. Couch. »Nie weiß man, wo er steckt. Was hat Mr. Milner nur gegen englische Diener? Kannst du mir das verraten?«

Ich interessierte mich sehr für ihn, er sah mich aber kaum je an. Zwei Tage ehe ich in die Schule mußte, entdeckte ich, daß man die Vorhänge im Schatzzimmer zurückgezogen hatte. Also mußte er drin sein.

Die Versuchung war unwiderstehlich. Zum dritten Stockwerk konnte ich ohne weiteres hinaufgehen, ich mußte mir nur eine Ausrede einfallen lassen, falls ich entdeckt wurde. Die Aussicht von den oberen Fenstern erproben? Ob das genügte? Ich war zu ungeduldig, mir eine bessere Entschuldigung auszudenken. Ganz leise stieg ich hinauf. Gerade in den oberen Stockwerken war die Stille im ganzen Haus besonders fühlbar. Meine Mutter hatte die Zimmer Mr. Milners eigens reinigen lassen, damit alles für seine Rückkehr bereit war. Es duftete nach einer Politur, die sie selbst gemischt hatte und ihrer Meinung nach die einzige und beste war – eine Mischung aus Bienenwachs und Terpentin. Und dann stand ich vor der Schatzkammer, und die Tür war offen.

Mein Herz schlug immer schneller. Ich blieb auf der Schwelle stehen und starrte hinein. Niemand drinnen. Da ging ich einen Schritt hinein. Tatsächlich standen überall wunderbare Figuren, große und kleine. Herrliche bunte Vasen sah ich und einige Buddhas, offenbar aus Jade geschnitzt. Fasziniert betrachtete ich ihre fremdartigen Gesichter. Einige sahen lustig aus, andere finster. Noch ein paar Schritte hinein – ich stand in Mr. Milners Schatzkammer.

In einem kleinen Nebenraum entdeckte ich eine Spüle und Reinigungsmaterial. Hörte plötzlich Schritte hinter mir. Jemand kam den Korridor entlang. Wenn ich jetzt versuchte, noch hinauszukommen, würde man mich sehen. So trat ich ganz in das kleine Zimmer und wartete. Zu meinem Schrecken hörte ich gleich darauf, wie die Außentür geschlossen wurde und dann ein leises, metallischem Knacken wie von einem Schlüssel, der im Schloß umgedreht wird.

Ich ging rasch in die Schatzkammer hinaus und probierte die Tür zu öffnen. Versperrt.

Entsetzt starrte ich sie an. Erst jetzt wurde mir klar, in welcher Lage ich mich befand. Schreckliche Folgen würde mein Vorwitz haben! Dieses Zimmer war voller Kostbarkeiten. Außer Ling Fu durfte niemand hier hinein. Und ich, die ich ohnehin nur geduldet war, hatte es gewagt, die Vorschrift zu mißachten, und war für meine Schlechtigkeit eingesperrt worden.

Ich ging zum Fenster. Es war vergittert. Wohl zum Schutz der Kostbarkeiten. Vielleicht konnte ich jemanden auf mich aufmerksam machen – hoffentlich meine Mutter. Unten war niemand zu sehen. Ich ging zur Tür, zögerte, wollte klopfen und überlegte es mir dann. Niemand außer meiner Mutter sollte mir öffnen. Es wäre sehr peinlich für mich gewesen, Ling Fu zu gestehen, daß ich ins Zimmer ging, während er nicht dort war. Vermutlich war er nur auf kurze Zeit in eins der Zimmer im gleichen Stockwerk gegangen und ich zufällig gerade in dem Augenblick vorbeigekommen.

Ich sah mich um. Mr. Milner war offensichtlich Kaufmann und hielt seine Ware hier auf Lager. Es gab kein großes Geheimnis, wie ich es bisher immer vermutet hatte. Obwohl ich von den Kunstgegenständen nichts verstand, erkannte ich doch ihre große Schönheit. Sie waren bestimmt sehr wertvoll, aber ein bißchen Enttäuschung empfand ich doch, weil ich gehofft hatte, in diesem Zimmer ein dunkles Geheimnis zu lüften, das mir Hinweise auf den Charakter des Mr. Milner geben würde. Und nun war es genauso, wie man es mir erzählt hatte. Ein Lagerraum mit Schätzen, der wegen seines Wertes dem übrigen Personal nicht offenstehen durfte und deshalb Ling Fu allein anvertraut war; als Chinese verstand er wohl einiges davon.

Eine große Enttäuschung also, und durch meine Neugier war ich in eine sehr dumme Situation gekommen. Wie konnte ich hier herausgelangen, ohne meinen Fehler offenkundig werden zu lassen? Wenn meine Mutter mich entdeckte, würde sie zwar entsetzt sein, aber sie wußte ja, wie schwer es mir fiel, meine Neugier zu bezähmen. Sie würde mich rasch hinausjagen und mich warnen, nie wieder so etwas zu tun. Aber wie konnte ich sie auf mich aufmerksam machen? Ich ging zum Fenster. Durch die Gitterstäbe fühlte ich mich wie eine Gefangene. Nochmals rüttelte ich an der Tür, sah mich dann um, als erwarte ich eine Eingebung, und vergaß beim Anblick dieser schönen Dinge fast mein Dilemma. Eine elfenbeinerne Frauengestalt faszinierte mich besonders – groß, grazil und wunderschön –, Ehrfurcht übermannte mich. Dann trat ich näher, um sie genauer zu betrachten. Ihre Gesichtszüge waren fein ziseliert und im Ausdruck so lebendig, daß ich das Gefühl hatte, von ihr beobachtet zu werden. Die dicken Buddhas mit ihren starren Blicken gefielen mir nicht besonders. Ein riesengroßer schien aus Bronze zu sein. Er war nicht ganz so dick und saß auf einer Lotosblume. Die Augen wirkten bösartig, wo immer ich hinsah, schien dieser Blick mir zu folgen.

Ich mußte hier herauskommen. Wenn es auch nur Gestalten aus Stein, Elfenbein und Bronze waren, irgendeine merkwürdige Art haftete ihnen an, die genau mit dem übereinstimmte, was ich im ganzen Haus empfand.

Bei Dunkelheit wäre ich nicht gerne hier drinnen gewesen. Irgendwie hatte ich das dumme Gefühl, daß diese scheinbar leblosen Gegenstände ganz lebendig würden. Sie alle – und ihr Herr – hatten das Haus so fremdartig gemacht.

Aber wie sollte ich hinauskommen? Wieder stand ich am Fenster. Vielleicht kam doch jemand in den Garten? Wenn es doch nur meine Mutter wäre! Aber auch eines der Mädchen konnte ich alarmieren. Mrs. Couch würde kaum herauskommen, sie verließ das Haus selten. Wer immer es auch wäre, ich würde ihm oder ihr sehr dankbar sein und meinen Fehltritt aus Neugierde eingestehen.

Nochmals ging ich zur Tür, an dem bronzenen Buddha vorbei. Die Augen schienen mir höhnisch nachzublicken. Ich drückte auf die Klinke, rüttelte an der Tür, schlug darauf und schrie in plötzlicher Panik: »Ich bin eingesperrt.«

Keine Antwort.

Kindheitserinnerungen stiegen auf. Wie oft hatte man mir gesagt: »Neugierige Katzen sterben bald.« Ich hörte meine Mutter, wie sie die Geschichte vom neugierigen Mädchen und der Zinnkanne erzählte.

Ich hätte nicht hier hereinkommen dürfen. Ich wußte ja, daß es verboten war. Mißbrauch der Gastfreundschaft, würde meine Mutter sagen. Für Neugierde wird man eben bestraft. Das merkte ich jetzt.

Ich versuchte ruhig zu bleiben. Betrachtete noch einmal die schönen Gegenstände. Plötzlich sah ich eine Anzahl Stöckchen in einem Jadebehälter. Sie schienen aus Elfenbein gemacht zu sein.

Ich zählte sie. Neunundvierzig. Wozu sie wohl dienen mochten?

Wieder ging ich in den Nebenraum. Betrachtete ihn genauer. Öffnete eine Schranktür, sah Bürsten und Pinsel, Staubtücher und einen langen Arbeitsmantel, den Ling Fu wahrscheinlich beim Reinigen der Schätze trug. Ein Stuhl stand auch da. Ich setzte mich und starrte verzweifelt auf meine Füße.

Von unten hörte ich Hufgeklapper und rannte rasch zum Fenster. Die große Kutsche wurde eben von Jeffers aus der Garage gefahren, er bog in die Allee ein.

Wieder setzte ich mich und überlegte, wie ich herauskommen sollte.

Es machte mir jetzt nichts mehr aus, hier entdeckt zu werden. Ich wollte nur noch heraus. Schrie, so laut ich konnte. Niemand rührte sich. Die Wände waren dick, und in den dritten Stock kam selten jemand. Ich wurde immer ängstlicher, denn bald schon brach die im Winter so frühe Dämmerung ein. Kurz nach drei war ich wohl in das Zimmer geschlichen. Jetzt war es bestimmt schon vier Uhr vorbei. Noch würde mich meine Mutter nicht vermissen. Aber später ... Ich versuchte mir vorzustellen, was mit mir passieren konnte. Wie oft ging Ling Fu in das Zimmer? Keinesfalls jeden Tag. Dann blieb ich also eingesperrt wie Rapunzel in ihrem Turm. Und man würde später mein Skelett finden. Und vorher stand mir eine Nacht mit dem böse dreinschauenden Bronzebuddha bevor. Auch einige andere Gestalten waren mir jetzt unheimlich. Die langsam einfallenden Schatten schienen sie kaum erkennbar zu verändern. Und in der Dunkelheit ... Die Vorstellung, in der Dunkelheit mit solchen Gestalten beisammen zu sein, ließ mich noch stärker an die Tür hämmern.

Ich versuchte zu überlegen, was jetzt am besten zu tun sei. Vom Fenster aus sah ich die Wintersonne tief am Horizont stehen. In einer halben Stunde war sie bestimmt verschwunden.

Ich hämmerte wieder auf die Tür. Keine Antwort. Bald würde man mich vermissen, tröstete ich mich. Meine Mutter würde in Sorge sein. Mrs. Couch würde im Schaukelstuhl sitzen und von den entsetzlichen Dingen reden, die verlorengegangenen Mädchen passieren konnten.

Das Zimmer hüllte sich in Schatten. Die absolute Stille wurde mir bewußt. Die Gegenstände schienen ihre Gestalt zu verändern; vergeblich versuchte ich, meinen Blick von dem großen Buddha abzuwenden. Einen Moment lang schienen seine Augen aufzublitzen. Mir kam vor, als senkte er die Lider. Vorher wirkte der Blick eher spöttisch, jetzt kam er mir böse vor.

Meine Phantasie malte immer schrecklichere Bilder. Sah Mr. Milner als Zauberer. Ein Pygmalion, der diesen Gestalten Leben einhauchte. Sie waren nicht mehr das, was sie zu sein schienen. Gestalten aus Stein und Bronze – von lebendigem Geist beseelt, dem Geist des Bösen.

Das Licht wurde immer schwächer. Ohne zu wissen, warum, ergriff ich die Elfenbeinstäbchen, starrte sie konzentriert an und versuchte zu überlegen, wie ich vor Einbruch der Dunkelheit aus diesem Zimmer kam.

Und hörte plötzlich einen Laut: Zum ersten Mal in meinem Leben sträubten sich mir buchstäblich die Haare auf dem Kopf. Ich stand ganz still und hielt die Stäbchen fest in der Hand.

Langsam öffnete sich die Tür. Ich sah einen flackernden Lichtschein. Auf der Schwelle stand eine menschliche Gestalt. Zuerst dachte ich, der bronzene Buddha sei lebendig geworden, dann entdeckte ich, daß ein wirklicher Mann dort stand.

Er trug einen Kerzenhalter mit einer brennenden Kerze. Hielt sie so hoch, daß das Licht ihm das Gesicht beschien – ein merkwürdiges Gesicht. Fast ausdruckslos. Auf dem Kopf saß ein rundes Samtkäppchen im selben lila Ton wie die Jacke. Er starrte mich an.

»Wer bist du?« fragte er herrisch.

»Ich bin Jane Lindsay«, antwortete ich mit angstgepreßter, hoher Stimme. »Man hat mich hier eingesperrt.«

Er schloß die Tür hinter sich und richtete das Licht auf mich.

»Was machst du da mit den Yarrow-Stäbchen?«

Ich sah auf die Elfenbeindinger in meiner Hand. »Ich weiß es nicht.« Ein fürchterlicher Schrecken hatte mich getroffen. Ich wußte jetzt, daß mein Wunsch erfüllt worden war. Ich stand Mr. Sylvester Milner gegenüber.

Er nahm mir die Stäbchen aus der Hand und arrangierte sie zu meiner großen Überraschung auf einem kleinen Tisch, dessen Oberfläche ebenfalls mit Elfenbein eingelegt war. Er schien ganz versunken zu sein in seine Tätigkeit, mehr an den Stäbchen interessiert als an mir. Dann sah er mich plötzlich scharf an.

»So, so«, murmelte er.

Ich stotterte verwirrt: »Tut mir so leid ... Tür war offen ... wollte nur reinschauen ... plötzlich jemand gekommen, hat zugesperrt ...«

»Die Tür ist immer zugesperrt«, sagte er. »Du kannst dir wohl denken, warum.«

»Weil das alles so wertvoll ist.«

»Du interessierst dich für Kunst?«

Ich zögerte, denn ich hatte das Gefühl, daß er eine Unwahrheit sofort erkennen würde. »Wenn ich mehr darüber wüßte, bestimmt.«

Er nickte nur. »Neugierig bist du aber schon.«

»Ja, das bin ich wohl.«

»Hier herein darfst du nie ohne Erlaubnis kommen. Es ist verboten. Geh jetzt!«

Im Hinausgehen warf ich noch einen Blick auf die Elfenbeinstäbchen. Ich hatte schreckliche Angst, daß Mr. Milner mich bei den Haaren packen und in eine seiner Gestalten verwandeln würde. Vielleicht ließ er mich einfach verschwinden, und niemand erfuhr je, was aus mir geworden war.

Nichts dergleichen geschah. Ich stand wieder draußen im Korridor; rannte in mein Zimmer hinunter, warf die Tür hinter mir ins Schloß. Betrachtete mich im Spiegel. Meine Wangen waren dunkelrot, die Haare unordentlicher als sonst, die Augen glänzten. Das Erlebnis kam mir irgendwie unheimlich vor.

In diesem Augenblick trat meine Mutter ins Zimmer.

»Wo bist du denn gewesen? Ich habe dich schon überall gesucht. Dein Koffer ist fast fertig gepackt.«

Ich zögerte. Und dann dachte ich mir, es sei doch besser, die Wahrheit zu gestehen.

»Mutter«, sagte ich, »ich glaube, ich bin Mr. Sylvester Milner begegnet.«

»Ja, er ist gerade zurückgekehrt. Hast du ihn von deinem Fenster aus gesehen?«

»Ich habe ihn in der Schatzkammer getroffen.«

»Was?« schrie sie.

Als ich ihr alles berichtet hatte, wurde sie ganz blaß. »Ach, Jane«, sagte sie, »wie konntest du nur! Alles ist bisher so gut gegangen für uns. Jetzt ist es zu Ende damit. Man wird mich hinauswerfen.«

Ich war sehr betroffen. Sie hatte sich so bemüht, und ich zerstörte jetzt alles durch meine Neugier.

»Ich habe mir gar nichts dabei gedacht.«

Meine übliche Entschuldigung. Wie schon so oft. »Ich wollte ja nur ... nur schnell reinschauen und wieder hinaus. Weißt du, all das Gerede über die Schatzkammer. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, daß da nur Sachen herumstehen, gewöhnliche Sachen. Meinte, es müßte etwas Geheimnisvolles ...«

Mutter hörte mir gar nicht zu. Ich wußte, sie packte in Gedanken ihre Koffer, überlegte, wie sie wieder einen Posten finden könnte. Und wo konnte sie es noch einmal so wunderbar antreffen wie hier in Roland’s Croft?

Traurig war die Fahrt zum Bahnhof mit Jeffers und meiner Mutter. In den zwei Tagen zwischen meinem Abenteuer und meiner Abfahrt hatte sie stündlich erwartet, zu Mr. Milner befohlen zu werden. Ich blickte noch einmal zurück zu den chinesischen Hunden und dachte: ›Euch werde ich nicht wiedersehen.‹ Meine nächsten Sommerferien verbrachte ich bestimmt woanders. Ich war womöglich noch trauriger als meine Mutter, denn ich fühlte mich ja schuldig.

Sie umarmte mich herzlich. »Mach dir nichts draus. Ist schon vergessen. Dein Vater findet sicher wieder was für uns ... vielleicht was noch Schöneres.«

Ich nickte düster. Für mich konnte es nichts Schöneres und Interessanteres geben als Roland’s Croft mit seiner gemütlichen Küche und dem Dienerraum, der unheimlichen Schatzkammer und dem merkwürdigen Besitzer.

Mit jeder Post erwartete ich, von Mutters Kündigung zu hören.

Nichts geschah.

Und dann schrieb Mutter mir: »Mr. Milner hat nie erwähnt, daß er dich in der Schatzkammer fand. Er scheint es vergessen zu haben. Dafür bin ich sehr dankbar. Wenn ich bis zu deinen Sommerferien noch immer nichts von ihm höre, ist sicher alles in Ordnung.«

Und sie hörte nichts. Ich bereitete mich auf die Heimfahrt nach Roland’s Croft vor.

Alle drei Wünsche der Münze aus dem Pudding hatten sich erfüllt.

Das Haus der tausend Laternen

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