Читать книгу Das Haus der tausend Laternen - Victoria Holt - Страница 4

2

Оглавление

Den nächsten und übernächsten Sommer verbrachte ich wieder in Roland’s Croft; ich fühlte mich bereits ganz zu Hause dort. Alle gehörten zur Familie – Mrs. Couch in ihrem Schaukelstuhl, Mr. Catterwick, der würdevollsteife Herrscher des Hauses, Amy und Jess, die mir von ihren Liebesgeschichten erzählten. Jedesmal war ich ganz aufgeregt, wenn es heimging – alles war so wunderschön dort. Der Forst, in dem es bestimmt Geister gab, der Garten mit dem herrlichen Rasen, den Wegen und Blumenbeeten, das Tannenwäldchen am Rande des Forsts. Die Mahlzeiten am großen Tisch, das Geplauder und Getratsch, die Erzählungen von anderen Gutshäusern und von alten Tagen in Roland’s Croft, als ›die Familie‹ noch dort lebte.

Und für mich gab es außerdem noch den dritten Stock mit dem Schatz, mit Mr. Milners Räumen und denen des Chinesen.

Wenn Mr. Milner zu Hause war, änderte sich das Leben, wurde alles viel aufregender; es gab Abendgesellschaften, in der Küche tat sich ordentlich etwas. Gäste blieben über Nacht, Kaufleute, die riesige Mengen Essen verschlangen und viel Wein tranken. Mrs. Couch und Mr. Catterwick genossen diese Zeiten sehr. So war es richtig für sie. Mrs. Couch liebte es, wegen eines Abendessens in Aufregung zu geraten, und Mr. Catterwick paradierte gerne vor uns mit seiner großen Weinkenntnis.

Nach solchen Abendgesellschaften saßen wir dann alle um den großen Tisch und ließen uns von Jess und Mr. Catterwick erzählen.

Am liebsten hätte ich mich manchmal bei den Gästen unter dem Tisch versteckt und zugehört. Am interessantesten war mir allerdings nach wie vor Mr. Sylvester Milner.

Manchmal sah ich vom Garten zu dem vergitterten Fenster hinauf und bildete mir ein, einen Schatten zu sehen. Einmal erkannte ich ihn sogar ganz deutlich. Er blickte gerade hinunter, und ich sah hinauf. Irgendwie hatte ich den Eindruck, daß er mich beobachtete.

Dieser Gedanke ließ mich nicht mehr los. Mr. Milner hatte meiner Mutter nie von der Geschichte in der Schatzkammer erzählt. Sie fand das sehr rücksichtsvoll von ihm, obwohl es ihr im Grunde lieber gewesen wäre, er hätte es erwähnt. Trotzdem war sie nach einer Weile wieder ganz sicher, bleiben zu können. Unser dringendstes Problem war jetzt, was ich in einem Jahr nach der Schule machen sollte.

Die anderen Mädchen in Clunton wurden dann in London in die Gesellschaft eingeführt, gingen auf Bälle und fanden Ehemänner. Bei mir war es ganz anders. Meine Mutter meinte zwar immer noch, die Familie meines Vaters würde sich vielleicht doch noch ihrer Pflichten erinnern und auch mich in die Gesellschaft einführen, aber ganz glaubte sie wohl selbst nicht daran. Auf jeden Fall genoß ich in Clunton eine ausgezeichnete Erziehung, und außerdem dauerte es noch ein Jahr bis zu meinem achtzehnten Geburtstag.

Bei der Heimkehr im Sommer vor meinem siebzehnten Geburtstag schien meine Mutter über irgend etwas sehr aufgeregt zu sein. Sie holte mich selbst mit dem Ponywagen ab.

Auch ich war aufgeregt, als der Zug in der kleinen Station anhielt. Der Name Rolandsmere leuchtete mir in bunten Blumen entgegen – Geranien, Stiefmütterchen. Eine Lavendelbordüre umgab das Beet; die winzigen Blümchen verströmten betäubenden Duft. Ich spürte gleich, daß meine Mutter eine angenehme Überraschung zu verbergen suchte. Sie umarmte mich herzlich wie immer. Wie bestiegen die kleine Kutsche, sie nahm die Zügel in die Hand, und ich fing an, nach allen Bewohnern von Roland’s Croft zu fragen. Erfuhr, daß Mrs. Couch einen Willkommenskuchen für mich gebacken und seit Tagen nur von mir gesprochen hatte. Sogar Mr. Catterwick hatte geäußert, daß ich hoffentlich schönes Wetter haben würde. Von Amy und Jess erfuhr ich, daß es ihnen gutgehe, Jess sei aber zu sehr mit Jeffers befreundet und das gefiele Mrs. Jeff ers gar nicht. Der noch unverheiratete Gärtner mache Amy den Hof, es sehe so aus, als würden die beiden heiraten. Und das wäre ja gut, denn dann würde man Amy nicht verlieren.

»Und Mr. Sylvester Milner?«

»Er ist zu Hause.«

Nichts weiter. Also hatte ihre Erregung etwas mit ihm zu tun.

»Ist etwas mit ihm?«

Mutter antwortete nicht. Da packte mich die Angst.

»Mutter, es ist doch alles in Ordnung? Er schickt uns nicht fort?«

Die Sache mit der Schatzkammer lag schon so weit zurück, aber vielleicht hatte er Spaß daran, Leute lange in Ungewißheit zu lassen? Ich hatte ihn an sich für einen gütigen Menschen gehalten, aber auch für unerbittlich. Vielleicht hatte er die Güte nur vorgetäuscht.

»Nein«, sagte sie. »Keineswegs. Er hat sich mit mir unterhalten.«

»Worüber denn?«

»Über dich.«

»Weil ich in der Schatzkammer war?«

»Er interessiert sich für dich. Mr. Milner ist sehr nett, Jane. Er hat mich gefragt, wie lange du noch zur Schule gehst. Ich sagte ihm, daß die jungen Damen in deines Vaters Familie Clunton immer mit achtzehn verließen. Da fragte er: ›Und danach?‹«

»Was hast du gesagt?«

»Daß wir sehen wollten, wie es weiterginge. Er fragte auch, ob die Familie deines Vaters irgendwie für dich vorgesorgt hat. Ich sagte ihm offen, daß sie ihre Pflichten nicht erfüllt, und dann meinte er, du müßtest nach der Schule wohl irgendeinen Posten annehmen. Er sagte: ›Ihre Tochter ist durch ihre Ausbildung befähigt, andere zu unterrichten. Vielleicht haben Sie das für sie im Sinn?‹«

»Daran mag ich gar nicht denken«, sagte ich. »Am liebsten wäre mir jetzt, es ginge immer so weiter ... In die Schule gehen und nach Roland’s Croft heimkommen.«

»So gerne bist du hier?«

»Vom ersten Augenblick an! Der herrliche Forst, die Schatzkammer, Mrs. Couch und all die anderen, und Mr. Milner natürlich auch.«

»Er möchte mit dir reden.«

»Warum?«

»Das hat er mir nicht gesagt.«

»Komisch! Was will er denn?«

»Ich weiß es nicht. Aber ich glaube, dein Vater weiß, daß ich mir um deine Zukunft Sorgen mache. Er tut sicher etwas für dich.«

»Meinst du, er hat mir mein Eindringen verziehen?«

»Ich glaube schon. Du warst ja noch so jung.«

»Aber er ist so ... eigenartig.«

»Ja«, sagte Mutter langsam, »er ist eigenartig. Man weiß nie, was er denkt. Vielleicht etwas ganz anderes, als er sagt. Trotzdem meine ich, er ist ein guter Mensch.«

»Wann soll ich denn zu ihm?«

»Er erwartet dich morgen zum Tee.«

»Ob er mir sagen wird, daß er keine neugierigen Leute im Hause haben will?«

»Nach so langer Zeit bestimmt nicht.«

»Ich bin nicht so sicher. Vielleicht hält er die Menschen gerne im ungewissen und quält sie gerne.«

»Wir waren aber gar nicht mehr im ungewissen. Ich habe seit den Weihnachtsferien damals nicht mehr dran gedacht.«

»Ich bin nicht so sicher. Ich hatte öfters das Gefühl, als beobachte er mich.«

»Du mit deiner Phantasie!«

»Nein, ich habe ihn zweimal vom Garten aus gesehen. Am Fenster.«

»Ach, hör doch auf. Und jetzt gedulde dich.«

»Bis dahin ist es hoch so schrecklich lange.«

Ted, der junge Jeffers, kam in den Hof und brachte die Kutsche zu den Ställen. Ich ging gleich in die Küche hinunter. Mrs. Couch wischte sich die mehligen Arme an einem Handtuch ab und umarmte mich. »Janie!« rief sie, »Jess, Amy, sie ist schon da!« Und dann kamen sie alle, freuten sich, mich zu sehen, sagten mir, daß ich gewachsen sei und wieder Farbe in die Wangen kriegen müßte und eine richtige junge Dame werde.

»Und jetzt trinken wir gemütlich unseren Tee«, sagte Mrs. Couch. »Steht nicht so herum, tut was!«

Ja, ich war wieder zu Hause. Der Kuchen wurde vor mir aufgetischt – Mrs. Couchs ganzer Stolz. ›Willkommen daheim‹ stand in rosa Zuckerschrift auf weißem Überguß, dazu gab’s noch ihre herrlichen Kartoffelteigkuchen und anderes Kleingebäck. Sie hatte sich an alle meine Lieblingsbäckereien erinnert.

»Dieser Sommer wird sehr heiß«, sagte Mrs. Couch. »Alle Anzeichen sind danach. Hoffentlich scheint die Sonne nicht zuviel, das wäre schlecht fürs Obst. Dann würden meine Pflaumen nicht den kräftigen Geschmack bekommen. Übrigens ist der Schlehengin sehr gut geworden, und den Vogelbeerenschnaps kann man jetzt auch schon probieren.«

Alle waren irgendwie verändert. Amy strahlte sichtbar. Der Gärtner wolle sie ›zu der Seinen machen‹, vertraute sie mir später an. Auch Jess hatte ein verdächtiges Glänzen in den Augen. Sie tauschte mehrmals Blicke mit Jeffers – geheime Botschaften. Mr. Catterwick vergaß seine Würde einen Augenblick lang und sagte, es sei wie in alten Zeiten, wenn die jungen Damen von Clunton zurückkehrten, und er sei glücklich, mich zu sehen. Nach dem Tee ging ich in den Stall zu Grundel, dem Pony. In den letzten Ferien hat mir Mr. Milner erlaubt, es zu reiten.

»Grundel erwartet Sie schon«, sagte der junge Stallbursche, den Mr. Jeffers sich zum Helfer heranzog. Das Tier schmiegte seine weiche Schnauze an mich, und ich bildete mir ein, es habe mich wirklich vermißt.

Dann wanderte ich durch das Tannenwäldchen in den Forst hinein und dachte an alles Schöne hier und wie sehr ich diese neue Heimat liebte. Und überlegte dabei die ganze Zeit: Morgen werde ich ihn sehen. Dann sagt er mir vielleicht, was er wirklich von mir hält, warum er mir damals nicht das Haus verbot, da ich doch sein Geheimzimmer unerlaubt betreten hatte. Fragte mich, warum er mich von den Fenstern seines Zimmers beobachtete, denn ich war immer noch sicher, daß er es tat.

Am nächsten Tag war ich schon eine Stunde vor der festgesetzten Zeit bereit. Hatte mein Haar gebürstet und mit einem roten Band zusammengehalten. Mein schönstes Kleid angezogen. Zum Geburtstag hatte ich es erhalten, ich erinnerte mich noch an den Dezembertag, als wir es ausgewählt hatten. Hellblau, mit kleinen rotsilbernen Knöpfen vom Hals bis zum Saum. Es war mein Lieblingskleid, und ich wußte, daß ich gut darin aussah.

Mutter trat in mein Zimmer, sie runzelte die Stirn. »Ach, du bist schon soweit? Ja, so siehst du hübsch aus.«

»Was will er mir nur sagen, Mutter?«

»Bald wirst du es erfahren. Und nimm dich ein bißchen in acht.«

»Wie meinst du das?«

»Vergiß nicht, daß wir ihm all dies verdanken.«

»Du arbeitest aber auch fleißig. Ich bin sicher, daß er froh ist, dich zu haben.«

»Eine Haushälterin findet er leicht wieder. Vergiß nicht, daß er dir erlaubt hat, auch hier zu leben. Wie ein Mitglied der Familie. Das würden wenige tun, und ohne sein Verständnis hätten wir es all die Jahre nie so schön miteinander gehabt.«

»Ich werde daran denken«, versprach ich.

»Gehen wir?«

Ich nickte. Wir stiegen gemeinsam in den dritten Stock.

Mutter klopfte an die Tür. Er bat uns hereinzukommen. Seine Stimme war ziemlich hoch für einen Mann.

Er saß in seiner lila Samtjacke im Stuhl und hatte das Käppchen auf. Bei unserem Eintritt erhob er sich. »Kommen Sie doch bitte herein, Mrs. Lindsay«, sagte er höflich.

»Meine Tochter«, erklärte sie ganz überflüssigerweise.

Er nickte.

»Vielen Dank, Mrs. Lindsay.« Dann wandte er sich an mich.

»Bitte setzen Sie sich doch, Miß Lindsay.«

Meine Mutter zögerte noch einen Augenblick lang, dann verließ sie das Zimmer.

Ich setzte mich, und er nahm auch seinen Platz wieder ein.

»Ich habe mich oft mit Ihnen befaßt«, sagte er.

»Ja, ich weiß«, sagte ich.

»So, das wußten Sie?«

»Ich sah Sie vom Fenster zu mir herunterschauen.«

Er lächelte. Meine Offenheit schien ihn zu amüsieren.

»Wie alt sind Sie eigentlich?«

»Im September werde ich siebzehn.«

»Noch ganz schön jung, was?«

»Nächstes Jahr bin ich achtzehn.«

»Ja, genau. Und jetzt trinken wir erst einmal Tee.«

Er klatschte in die Hände, und wie durch Zauber erschien Ling Fu auf der Schwelle.

Mr. Milner sagte etwas Unverständliches zu ihm. Es war natürlich Chinesisch. Ling Fu verbeugte sich und verschwand.

»Sie finden es sicher merkwürdig, daß ich einen chinesischen Diener habe. Sicher kennen Sie niemanden sonst, der einen hat. Stimmt’s?« Erwartete gar nicht auf meine Antwort. »Die Sache ist gar nicht so sonderbar, sondern ganz verständlich. Ich verbringe nämlich einen Großteil meines Lebens in China – hauptsächlich in Hongkong, und dort leben ja fast nur Chinesen. Ich habe da ein Haus. Sicher wissen Sie, daß ich oft monatelang nicht hier bin. Dann bin ich meistens in meinem anderen Haus. Wissen Sie etwas über Hongkong?«

Ich dachte fieberhaft nach, wollte nicht unwissend erscheinen. Vor ihm mußte ich meine Intelligenz beweisen. Das schien mir für meine Zukunft wichtig zu sein. »Ich glaube, es ist eine Insel vor der chinesischen Küste. Ein britisches Protektorat.«

Er nickte. »Ja«, sagte er, »die britische Flagge wurde 1841 dort zum ersten Mal gehißt. Damals war die Insel fast unbewohnt. Nur wenige Häuser standen darauf. In den fünfundvierzig Jahren seither hat sich das geändert. Wir nahmen Hongkong nach dem Opiumkrieg in Besitz. Wissen Sie etwas vom Opiumkrieg?«

Ich gestand, daß ich nichts davon wußte.

»Dann müssen Sie es noch lernen. Das ist eine sehr interessante Geschichte. Wir Briten sind ja eine Handelsnation. Wir sind durch Handel so groß geworden. Verachten Sie mir nie den Handel. Er bringt vielen Menschen Wohlstand und angenehmes Leben. Sie sind sicher stolz auf unsere Flagge. Die Flagge über Kanada, Indien, Hongkong ... Und wer pflanzte die Flagge dort auf? Die Handelsleute, Miß Lindsay. Das dürfen Sie nie vergessen. China begann vor sechsundvierzig Jahren den Krieg mit uns, weil wir Opium aus Indien ins Land brachten. Das war nicht recht von uns, sagen Sie sicher. Aber mit Recht und Unrecht ist das so eine Sache. Alles hat seine zwei Seiten, und jeder macht immer wieder Fehler. Ah, da ist unser Tee.«

Auf der blauen Teekanne war ein goldener Drache, die Tassen hatten das gleiche Muster. Ling Fu verschwand lautlos. Mr. Milner schenkte den Tee selbst ein. »Chinesischer Tee. In meinem Haus hier erinnert Sie viel an China, das haben Sie sicher schon entdeckt.«

Er reichte mir meine Tasse und gab mir eine Keksstange aus einem Fäßchen mit dem gleichen goldblauen Muster. Das Gebäck schmeckte nach Honig und Nüssen und schien nicht von Mrs. Couch gemacht zu sein.

»Schmeckt Ihnen der Keks?«

Ja, er schmeckte mir, obwohl die in der Küche unten ganz anders waren.

»Seit meinem fünfzehnten Lebensjahr reise ich zwischen hier und China hin und her. Dreißig Jahre schon. Ein Leben lang sozusagen ... Ihnen wird es jedenfalls so erscheinen.«

»Eine lange Zeit, ja.«

»In dreißig Jahren lernt man viel. Ich bin Kaufmann. Mein Vater war auch schon Kaufmann. Ich habe sein Geschäft geerbt. War nie verheiratet, habe auch keinen Sohn, der übernehmen kann. Jeder Mann wünscht sich einen Sohn. Jeder König einen Erben. Der König ist tot, lang lebe der König. Was, Miß Lindsay?«

»Ja, da haben Sie recht.«

»Sie wissen jetzt natürlich genau, daß ich fünfundvierzig Jahre alt bin.« Er zwinkerte mir zu.

»Eine wißbegierige Dame wie Sie findet dergleichen sofort heraus. Menschen ohne Neugierde mag ich nicht. Wie können sie je etwas über das Leben und die Umwelt lernen? Ich will Ihnen etwas anvertrauen – weil Sie sich für alles ringsum interessieren. Sie konnten damals der Versuchung nicht widerstehen, in die Schatzkammer hineinzugehen. Sie sind eine echte Eva, Miß Lindsay. Jetzt haben Sie vom Baum der Erkenntnis gegessen und müssen jetzt die Folgen tragen.«

Wieder glaubte ich, er würde uns hinausweisen und quäle mich noch davor. Irgendwo hatte ich einmal gelesen, daß die Chinesen das taten, und da er so viel über China sprach, nahm ich an, er bediene sich dieser Methoden.

Schon seine nächsten Worte verscheuchten all meine Angst.

»Ich glaube, wir beide könnten einander sehr nützlich sein.«

»Inwiefern, Mr. Milner?«

»Das sage ich Ihnen gleich. Ich bin Kaufmann, ich kaufe und verkaufe. Auf meinen Reisen nach China und durch die ganze Welt entdecke ich seltene und wertvolle Dinge. Die verkaufe ich in aller Welt. Es gibt viele Sammler, die auf meine Entdeckungen warten. Sie haben mein Museum gesehen; einige der Stücke darin sind sehr viel Geld wert. Manche verkaufe ich mit großem Gewinn, andere mit kleinem, von manchen mag ich mich gar nicht trennen. Meine Sammlung verändert sich fortlaufend. Manchmal ist sie mehr wert, dann wieder weniger. Es steckt aber immer eine Menge Geld drin, und es handelt sich immer um Geschäfte dabei, wenn es auch viel Vergnügen bereitet, mit diesen schönen Dingen zu handeln. Das werden Sie vielleicht auch eines Tages begreifen. Darf ich Ihnen noch nachgießen?«

Er füllte meine Tasse wieder, und ich aß noch von den wunderbaren Keksen. Er lächelte mir freundlich zu. »Sie sind offenbar sehr – anpassungsfähig«, sagte er. »Das ist sehr gut. Ich komme jetzt zum Zweck unseres Treffens. Ich brauche eine Sekretärin. Damit meine ich aber nicht nur jemanden, der nach Diktat meine Briefe schreibt. Ich brauche viel mehr. Jemanden, der gerne die Dinge lernt, mit denen ich zu tun habe. Einen Menschen, der ganz besondere Eigenschaften hat. Begreifen Sie, worauf ich hinauswill?«

»Ich glaube schon.«

»Und was halten Sie von meinem Vorschlag?«

Ich konnte meine Erregung kaum verbergen. »Sie meinen, ich könnte alles über diese Kostbarkeiten lernen und Ihnen wirklich von Nutzen sein?«

Er nickte. »Ich habe mich mit Ihrer Mutter über Ihre Zukunft unterhalten. Als ich Sie in meiner Schatzkammer antraf, hielten Sie Yarrow-Stäbchen in den Händen. Wissen Sie, was sie bedeuten?«

»Nein. Aber ich erinnere mich daran.«

»Wahrscheinlich waren Sie davon fasziniert. Diese Stäbchen sagen nämlich über die Zukunft eines Menschen aus, wenn man in ihnen zu lesen versteht. Sie haben mir gesagt, daß Ihr Leben in irgendeiner Weise mit meinem verknüpft werden wird.«

»Das wollen Sie aus den Stäbchen gelesen haben? Wie könnte denn ...?«

»Wenn Sie mehr über den Fernen Osten wissen, werden Sie Ihre Skepsis verlieren. Die Kraft der Yarrow-Stäbchen ist schon seit Tausenden von Jahren bekannt. Ich habe sie damals, nachdem Sie weg waren, ausgelegt, um zu sehen, wie wichtig Ihre Anwesenheit in meinem Haus sei, ob sie wichtig wäre. Die Antwort lautete: Ja.«

»Also eine Art Zukunftsdeutung?«

Er lächelte. »Sie haben es erfaßt.«

»Und wann soll ich anfangen?«

»Wenn Ihre Ausbildung beendet ist, also in etwa einem Jahr. Es wäre mir lieb, wenn Sie inzwischen die Bücher studieren könnten, die ich Ihnen geben werde. Aus ihnen werden Sie lernen, Kunstwerke zu erkennen und einzuschätzen.«

»Und ich kann weiter in den Ferien herkommen und hier lernen?«

»Ja, genau«, sagte er. »Sie bekommen einen Schlüssel zu meiner Kammer und können die Gegenstände dort studieren und ihren Wert erkennen lernen. Sie werden auch über mein Geschäft einiges erfahren. Ihre Mutter sagte mir, daß die Familie Ihres Vaters nichts für Sie tut und Sie verdienen müssen. Als Gouvernante, als Hausdame? Was sonst kann eine junge Dame heutzutage tun? Bei mir wird es etwas anderes sein. Ich biete Ihnen eine Möglichkeit, weiterzulernen und die faszinierende Welt der Kunst kennenzulernen. Wäre das etwas für Sie?«

»Wunderbar wäre das! Ich möchte es sehr gerne tun. Soll ich nicht gleich von der Schule gehen und anfangen?«

Er lachte. »Nein, Sie müssen Ihre Ausbildung zuerst beenden. Und dann kommt eine Lehrzeit. Sie können sie aber teilweise schon während der Schule absolvieren. Sie studieren einfach in den Ferien die Bücher und die chinesischen Schätze hier.«

»Ich wußte es schon am ersten Tag, daß ich hier mein Glück finden würde. Oh, wie herrlich!«

»Man kann nicht weit genug in die Zukunft hinaus schauen«, sagte er. »Ich leite eine sehr erfolgreiche Firma. Sie wissen jetzt, womit ich handle. Und durch meine Kenntnisse von China und chinesischer Kunst weiß ich, wieviel die Sachen wert sind. Leute, die sich Sammlungen anlegen, wissen, daß sie mir vertrauen können. Mein Vater war ein großer Handelsherr. Er reiste in der ganzen Welt umher, meistens war er jedoch in China. Er hinterließ mir sein Geschäft. Ich war der Älteste zu Hause. Wir sollten das Geschäft miteinander führen, aber es gab Differenzen, wir trennten uns. Bis zu einem gewissen Grad wurden wir sogar Rivalen, das ließ sich nicht vermeiden. Ich hatte mehr Erfolg. Die Situation war nicht ganz angenehm. Ich glaube, mein noch lebender Bruder ist nie ganz darüber hinweggekommen, daß Vater das Haus der tausend Laternen mir hinterließ.«

»Haus der tausend Laternen?«

Wieder lächelte er. »Der Name interessiert Sie? Klingt faszinierend, nicht wahr? So heißt mein Haus in Hongkong.«

»Es enthält wirklich tausend Laternen?«

»In jedem Zimmer hängen welche. Es müssen wohl einmal tausend gewesen sein.«

»So viele Laternen! Das muß ja ein Riesenhaus sein.«

»Ist es auch. Mein Vater erhielt es für einen Dienst, den er einem großen Mandarin erwies.«

»Klingt wie aus Tausendundeiner Nacht.«

»Nur, daß es ein chinesisches Märchen ist.«

Eine Tür in die Welt hatte sich mir geöffnet, in eine exotische, fremdartige Welt.

»Ich möchte am liebsten gleich zu lernen anfangen.«

Das gefiel ihm. »Ihre Ungeduld und Neugier gefällt mir, das brauchen Sie bei mir. Natürlich müssen Sie viel lernen. Wenn Sie merken, wieviel, werden Sie vielleicht gar nicht weitermachen wollen. Sie müssen sich aber erst in einem Jahr entscheiden.«

»Ich habe mich schon entschieden«, sagte ich entschlossen.

Darüber war er sichtlich froh. »Wenn Sie ausgetrunken haben, gehen wir zu meinen Schätzen hinüber. Sie bekommen den Schlüssel und können hinein, wann immer Sie wollen. Studieren Sie alles, was Sie dort finden. Vergleichen Sie die Dinge mit den Abbildungen in den Büchern, die ich Ihnen geben werde. Achten Sie auf Glanz und Zartheit, lernen Sie herauszufinden, aus welcher Zeit ein Stück stammt. Manche sind erst ein paar hundert Jahre alt, andere wurden vor Tausenden von Jahren geschaffen. Kommen Sie jetzt mit mir?«

Ich folgte ihm in die Schatzkammer. Zum zweiten Mal stand ich in diesem Raum, und mein Blick fiel sofort zu dem bronzenen Buddha, der mir so bösartig erschienen war und mich damals, als ich hier eingesperrt war, so erschreckt hatte.

Mr. Milners Blick folgte meinem. »Eine schöne Figur, nicht wahr? Konnte mich nie davon trennen. Stammt aus dem dritten oder vierten Jahrhundert vor Christus. Damals kamen buddhistische Missionare aus Indien nach China. Sie werden darüber in den Geschichtsbüchern lesen. Sie kamen mit Karawanen angeritten, manchmal auch zu Fuß. Jahrelang waren sie unterwegs, blieben da und dort und schnitzten sich Schreine, an denen sie während der kurzen Aufenthalte ihre Andachten verrichten konnten. Während der T’ang-Dynastie erreichte der Buddhismus seinen größten Einfluß in China; aus dieser Zeit stammt auch meine Buddhastatue.«

»Wie unendlich alt sie schon ist!«

Er lächelte. »Nur nach unserem Begriff.«

»Sie kommt mir irgendwie böse vor«, sagte ich. »Die Augen folgen einem überall hin.«

»Das hat man eigens so gemacht.«

»Sie wirkt ganz lebendig.«

»Alle Kunst wirkt lebendig. Sehen Sie sich diese an! Eine Statue der Kuan Yin, der Göttin der Gnade und des Mitleids. Finden Sie sie nicht auch wunderschön?«

Es war die Gestalt einer Frau, auf einen Felsen gestellt. Eine Holzschnitzarbeit mit bunten Farben und Blattgold, wunderschön bemalt.

»Es heißt, daß sie alle Hilferufe erhört«, sagte er. »Sie stammt wahrscheinlich aus der Yuen-Dynastie, also dem dreizehnten oder vierzehnten Jahrhundert.«

»Das muß doch alles schrecklich wertvoll sein!«

Er legte mir die Hand auf den Arm. »Ja, das stimmt. Und einige mag ich deshalb auch gar nicht verkaufen. Sie werden alles über die verschiedenen Dynastien und die Kunst der verschiedenen Zeiten lernen müssen. Sie haben viel zu lernen im nächsten Jahr! Und wenn Sie dann mit der Schule fertig sind, können Sie hier Ihren Posten übernehmen.«

Er zeigte mir einige Bilderrollen mit zarten Landschaften.

»Diese Kunst läßt sich erst nach vielen Jahren erfassen. Sie sollten sich nicht gleich zuviel vornehmen. Ich schicke Ihnen gleich das erste Buch, und wir treffen uns wieder einmal zum Tee. Dann erzähle ich Ihnen weiter.«

»Ich möchte das sehr gerne lernen«, sagte ich tief überzeugt. Gleich nach der Teestunde ging ich zu meiner Mutter. Sie sah mich forschend an, und ich warf mich in ihre Arme. »Es war herrlich!« jubelte ich. »Ich werde alles über chinesische Kunst und über seine Sammlung lernen. Ich soll für ihn arbeiten. Er wird mich ausbilden!«

Mutter schob mich von sich weg. »Was soll das alles?«

»Deswegen wollte er mich sehen. Meine Neugier gefällt ihm so sehr. Ich werde über Kunst lernen und dann seine Sekretärin sein. Nein, seine Assistentin! Bis zum Schulabgang lerne ich schon und werde dann viel wissen und mit ihm arbeiten.«

»Jetzt mal ganz ruhig, Jane. Keine Phantasien!«

»Es stimmt aber! Ich werde über Kunst lernen, meine Zukunft ist gesichert. Nicht als Gouvernante oder Gesellschaftsdame irgendeiner gräßlichen Alten. Ich werde alles über China lernen und für Mr. Milner arbeiten.«

Als meine Mutter einsah, daß dies wirklich stimmen mußte, sagte sie nur: »Das hat dein Vater für uns getan. Ich wußte, daß er sich um uns kümmert.«

All meine Begeisterung brachte ich für den neuen Plan mit. Las unermüdlich während der ganzen Ferien. Verbrachte viel Zeit in der Schatzkammer, die ich nun nicht mehr so nannte. Es war einfach der Verkaufsraum. Ich war sehr stolz, als einzige außer Ling Fu und Mr. Milner einen Schlüssel dazu zu haben. Manchmal trank ich wieder Tee bei Mr. Milner, und wir wurden gute Freunde.

Die anderen betrachteten mich geradezu ehrfürchtig. Obwohl ich mit viel Liebe unter der Dienerschaft aufgenommen wurde, erkannten sie jetzt, daß ich nicht ganz zu ihnen gehörte. Ich war zwar immer schon auf der höheren Schule gewesen, aber jetzt wurde ich durch Mr. Milners Aufmerksamkeit erst richtig hervorgehoben.

Meine Mutter blühte auf. Sie betrachtete mich oft stumm, den Kopf leicht zur Seite gelegt, manchmal bewegten sich dabei ihre Lippen, als spräche sie mit meinem Vater. Ich wußte, daß sie das oft tat, wenn sie allein war. Einmal kam ich gerade hinein, als sie sagte: »Mit den hochmütigen Lindsays sind wir jetzt ganz schön auf gleich gekommen, was?« Sie teilte alle Freuden mit meinem Vater. Mr. Milner war für sie der gute Patenonkel, der mit einem Zauberstab all unsere Sorgen verscheuchte.

Es waren goldene Tage für mich! Stundenlang lag ich im Tannenwäldchen, aufgestützt auf ein Buch, das mich in fernste Vergangenheit brachte. Wie Mr. Milner es mir geraten hatte, fing ich mit der allerfrühesten Zeit an.

Las von der Tschang- und Tschu-Dynastie und von Konfuzius, der mit seinen Schülern über Sitten und Tradition seiner Zeit sprach. Blätterte mich durch die Tsin- und Han-Dynastien zur Yuen- und Ming-Zeit durch. Lernte alles über eine Kultur, die um so vieles älter war als unsere eigene. Mit meinem neuen Wissen konnte ich die Vasen und Ornamente schon einigermaßen einschätzen und begreifen, was sie ausdrücken sollten. Je mehr ich lernte, um so begeisterter wurde ich. Am Ende des Sommers war ich so eingesponnen in dieses Lernen, daß ich nur mit größtem Bedauern in die Schule zurückkehrte.

Im Internat lernte ich, was zu lernen war, aber wirklich interessiert war ich nur an meiner Tätigkeit danach. Die Schulmädchenwelt sagte mir nichts mehr. Alle Komödien und Dramen, die ich dort kennenlernte, erschienen mir kindisch. Ich machte mich nicht gerade unbeliebt, hielt mich aber abseits und wollte nur weg.

Wenn ich wieder heimkam – denn Roland’s Croft war jetzt mein Heim geworden –, wollte ich bitten, die Schule doch gleich verlassen zu können und nicht bis zum achtzehnten Geburtstag warten zu müssen.

Zu Weihnachten war jedoch Mr. Milner zu meinem größten Bedauern nicht da. Wir verbrachten es so wie im Vorjahr, nur daß mich das Schmücken des Baumes und der Halle nicht mehr so begeisterte, und auch das Puddingkosten nicht.

Ich verbrachte viele Stunden im Verkaufsraum und bildete mir ein, der bronzene Buddha sähe mich jetzt anders an. Ich glaubte, eine nur leicht verhüllte Zustimmung in seinem Blick zu erkennen.

Diesmal las ich noch mehr als im Sommer. Mr. Milner hatte mir die Erlaubnis erteilt, alle Bücher in seiner chinesischen Bibliothek im Raum neben seinem Arbeitszimmer zu benützen. Das tat ich oft und gerne.

Zu Weihnachten passierte dann etwas sehr Unangenehmes. Ich war jedoch zu sehr in meine eigenen Angelegenheiten vertieft, so daß ich der Sache damals keine große Bedeutung zumaß. Ich ging mit meiner Mutter im Forst spazieren, und wir unterhielten uns über ihr Lieblingsthema: wie froh sie war, daß Mr. Milner mich so sehr mochte. Und dann sagte sie plötzlich: »Augenblick, Jane, du gehst mir zu schnell.« Sie setzte sich auf einen Baumstrunk und mir fiel auf, daß ihre Wangen mehr als sonst gerötet waren. Schmaler kam sie mir auch vor.

Sie sah irgendwie ganz verändert aus. Ich setzte mich neben sie und fragte: »Ist dir was?«

»Nur eine leichte Erkältung. So was geht schnell vorbei.«

Ich dachte dann nicht mehr weiter daran. Am Weihnachtsmorgen ging ich zu ihr ins Zimmer, um ihr mein Geschenk zu bringen. Sie lag noch im Bett. Ungewöhnlich bei ihr, wo sie meist so früh aufstand.

»Fröhliche Weihnachten«, sagte ich. Sie wachte durch meine Worte auf und legte dann rasch die Hand aufs Kissen, als wolle sie etwas verstecken.

Ich war erstaunt über ihr Verhalten, aber sie lächelte gleich wieder, und ich freute mich so über Weihnachten, daß ich das Ganze wieder vergaß.

Als wir dann über meine Zukunft sprachen, war sie auch der Meinung, ich solle meine Schule früher beenden. »Je früher du bei Mr. Milner anfängst, um so besser.«

Mr. Milner blieb jedoch bei seiner Meinung, daß ich meine Ausbildung beenden sollte, und so verließ ich das Internat erst zu den nächsten Sommerferien. Im September wurde ich achtzehn.

Meine Arbeit bei Mr. Milner begann, und ich ging ganz in ihr auf. Jeden Morgen verbrachte ich eine Stunde bei ihm, er diktierte mir dann Briefe, die ich für ihn zu schreiben hatte. Ich hatte mir dafür eine sehr schöne Handschrift angeeignet. Ich war auch sehr stolz darauf, Namen der Dynastien richtig zu buchstabieren, ohne ihn fragen zu müssen. Je mehr mein Wissen sich erweiterte, um so interessanter wurde die Sache für mich.

Einmal zeigte er mir eine wunderschöne Vase, die er gerade gekauft hatte, und bat mich, ihre Entstehungszeit zu nennen. Ich irrte mich um etwa dreihundert Jahre, aber er war trotzdem erfreut. »Sie müssen noch viel lernen«, sagte er, »aber völlig unwissend sind Sie nicht mehr.«

Ich wurde nicht nur mit chinesischer Kunst und Geschichte vertraut, sondern auch mit Mr. Milner. Er war der älteste von drei Brüdern. Alle hatten im Geschäft des Vaters mitgearbeitet, der Jüngste, Magnus, allerdings ohne eigentliche Neigung dazu.

»Ohne wirkliche Neigung und absolute Hingabe kann man in diesem Beruf keinen Erfolg haben«, erklärte er mir. »Mein Bruder Redmond und ich haben diese Neigung, aber wir konnten nicht zusammenarbeiten. Über vieles konnten wir uns nach Vaters Tod nicht einig werden, so daß wir uns trennten. Redmond starb vor kurzem an einem Herzanfall. Sein Sohn Adam hat sein Geschäft übernommen. Er ist auch eine Art Konkurrent.«

Mr. Milner bedauerte dies offensichtlich. »Adam ist fleißig und kennt sich in einigen unserer Geschäftsbereiche sehr gut aus – ein sehr ernsthafter, junger Mensch. Ich habe übrigens zwei Neffen, Adam und Joliffe.«

»Sind es Brüder?«

»Nein, Joliffe ist der Sohn meines Bruders Magnus. Magnus heiratete eine junge Schauspielerin. Versuchte sich auch in ihrem Beruf, aber ohne Erfolg. Magnus hatte überhaupt nie viel Erfolg. Beide starben bei einem Unfall. Die Pferde gingen mit ihrer Kutsche durch. Joliffe war damals erst acht Jahre alt. Er ist jetzt auch ein Konkurrent im Geschäft.« Er seufzte. »Ach ja, Joliffe«, sagte er unwillkürlich. Ich hoffte auf mehr, aber offenbar war Mr. Milner der Meinung, mir genug mitgeteilt zu haben.

Auch Mrs. Couch erwähnte Joliffe eines Tages. Sie lehnte sich in ihrem Schaukelstuhl zurück und sagte: »Ach, dieser Joliffe! Das ist mir einer!«

Ihre Augen glitzerten wie bei einem schüchternen jungen Mädchen. ›»Meine Güte, junger Herr‹, habe ich zu ihm gesagt. ›Sie wollen mich doch nicht etwa dran kriegen wie die jungen Damen?‹ Und da sagte er doch: ›In Ihrem Herzen sind Sie auch noch jung, Mrs. Couch.‹ Der Frechling! Bleibt einem nie eine Antwort schuldig!«

»Kommt er ab und zu her?«

»Ja. Aber ohne vorher was zu sagen. Mr. Sylvester ist es gar nicht recht. Aber schließlich ist er ja sein Neffe und sieht dies als sein Heim an ... Eines seiner Häuser!«

Wenn Jess von ihm sprach, bekam sie Grübchen in den Wangen. »Für den täte man manches«, gestand sie mir.

Erwähnte man seinen Namen vor Mr. Jeffers, dann wurde seine Miene spöttisch, und er brummelte etwas von Frauen, die eben auf gewisse Männer immer reinfielen.

Amy sagte nur, Joliffe sehe gar nicht so gut aus, aber wenn er da sei, habe man nur Augen für ihn. Irgendwas Besonderes sei an ihm, aber man müsse sich in acht nehmen.

Sogar meine Mutter blickte ganz sanft drein, wenn sie über ihn sprach. »Ja, er war öfter mal zu Besuch da. Ein sehr charmanter junger Mann. Es hat mir Freude gemacht, mich um ihn zu kümmern. Lange blieb er allerdings nie. War sehr unruhig. Ritt viel aus und war immer auf dem Sprung. Da Mr. Milner keine eigenen Kinder hat, macht er ihn vielleicht zu seinem Erben.« Mr. Milner erwähnte Joliffe mir gegenüber dann noch ein paarmal, ich spürte aber, daß er die Meinung der Damen nicht teilte.

Joliffe schien einen natürlichen Instinkt für die Entdeckung von Kunstwerken zu haben. Trotzdem war Mr. Milner nicht ganz mit ihm einverstanden.

»Unser Vater wollte, daß meine Brüder und ich zusammenarbeiteten, dann hätten wir einen Großteil des Kunstmarkts beherrschen können. Jetzt sind wir drei Konkurrenzfirmen, anstatt zusammenzuhalten. Offenbar kann man mit mir nicht gut zusammenarbeiten.«

»Das finde ich aber gar nicht.«

Er lächelte erfreut. »Sie sehen das auch aus einer anderen Situation. Joliffe wollte die Zügel in der Hand halten, und das konnte ich ihm nicht gestatten.«

Ich hätte gerne noch viel mehr über seine Familie erfahren, aber nach diesem Bericht über seine engsten Anverwandten ließ er nichts mehr verlauten, und ich erkannte, daß er mir nur so viel gesagt hatte, weil es eben mit dem Geschäft zu tun hatte. Über chinesische Kunst in den verschiedenen Dynastien erzählte er mir dafür immer mehr.

Oft, wenn er hörte, daß jemand einen kostbaren Kunstgegenstand verkaufen wollte, reiste er dorthin, ganz gleich, wo es war. Im ganzen Land suchte er nach solchen Dingen.

Einmal kam er ganz aufgeregt zurück; er meinte eine besondere Entdeckung gemacht zu haben.

Während der Teestunde – diesmal schenkte ich aus der Drachenkanne ein – erzählte er mir Näheres.

»Ich habe noch eine Kuan Yin gefunden. Eine Göttin der Gnade und des Mitleids. Ein wunderschönes Stück, allerdings nicht groß. Vielleicht hat mein Vater diese Statue gesucht. Ich glaubte allerdings immer, daß die, nach der er suchte, nie aus China herausgelassen wurde. Sicher bin ich aber nicht.«

»Sie haben doch schon eine im Verkaufsraum.«

»Ein sehr schönes Stück, aber nicht die Kuan Yin. Es handelt sich dabei um eine Abbildung der Gottheit aus der Sung-Dynastie. Von einem großen Künstler. Diese Dynastie begann vor etwa neunhundert Jahren, als China im Zeichen eines blutigen Bürgerkrieges stand. Kaiser Sung Kai Tsu war ein hochbegabter Mann, der sich jedoch hauptsächlich mit der Unterwerfung der Tartaren befaßte. In den Schlachten starben Millionen, und in dieser großen Leidenszeit beteten die Menschen zur Göttin Kuan Yin, die angeblich jeden Angstruf erhört: Nach der Legende soll sie selbst den Künstler zu der Statue inspiriert haben und in sie geschlüpft sein. Es ist nicht nur das schönste Kunstwerk, das je geschaffen wurde, sondern hat auch mystische Eigenschaften. Jeder Sammler träumt davon, die Kuan Yin aus der Sung-Dynastie zu finden.«

»Und Sie glauben, sie gefunden zu haben?«

Er lächelte über meinen Eifer.

»Liebe Miß Jane! Viermal schon hoffte ich, sie gefunden zu haben. Ich habe die schönsten Kuan Yins entdeckt und mir jedesmal gesagt: Das muß sie sein! Keine andere kann schöner sein als sie. Und es stimmte noch nie. Die Statue hier bei mir ist sehr schön, darum habe ich sie auch behalten, aber es ist nicht die Kuan Yin, nach der wir alle fahnden.«

»Und woran würden Sie die Richtige erkennen, falls Sie sie finden?«

»Falls ich sie finde? Dann wäre ich wohl der glücklichste Mann unter allen Sammlern und Kunsthändlern.«

»Und die neue ...?«

»Ich wage nicht allzuviel zu hoffen, sonst ist meine Enttäuschung dann zu groß.«

»Wie kann überhaupt jemand sicher sein, sie gefunden zu haben, wenn sogar Sie nicht ganz sicher sind?«

»Der Künstler hat irgendwo das Wort ›Sung‹ eingeschnitzt. Das kann natürlich nachgeahmt werden und wurde auch nachgeahmt. Wir müssen daher erst feststellen, ob das wirklich aus der Sung-Dynastie stammt. Dann sind wir auf halbem Wege. Es gab aber auch während der Sung-Zeit mehrere Kopien davon. Der Künstler, der zuerst die Buchstaben hineingeschnitzt hat, verwendete Farben, die nur er zu mischen verstand. Es ist ein ganz feiner Unterschied zwischen seinen Farben und den anderen, eine Leuchtkraft, die nie nachläßt. Man muß viele Tests durchgehen, um sicher zu sein, daß es sich um die richtige Figur handelt. Die anderen Statuen aus der Sung-Zeit sind natürlich auch sehr wertvoll, aber jeder sucht nur nach der einen.«

»Wenn die anderen genauso schön sind, warum ist die eine dann so viel wert?«

»Vielleicht wegen der Legende, die um sie schwebt. Der Mann, der sie findet und in Ehren hält, gibt damit der Göttin selbst Schutz und Schirm. Sie wird seine Angstrufe hören und auch alle seine Bitten erhören und, da sie unbeschränkte Macht hat, sich um ihn kümmern, solange sie ihm gehört. Ihm wird es also Wohlergehen und er wird sein ganzes Leben zufrieden sein.«

»Dann hat also die Legende die Gestalt so wertvoll gemacht?«

»Das stimmt. Aber es ist außerdem ein großes Kunstwerk.«

»Und Sie glauben, daß Sie dieses Stück entdeckt haben?«

»Im Grunde meines Herzens glaube ich es nicht, weil ich meine, daß es nie aus China herausgekommen ist. Meine neue Statue fand ich in einem Gutshaus. Niemand schien zu wissen, worum es sich dabei überhaupt handelt. Sie war nur als chinesische Figur‹ gekennzeichnet. Andere chinesische Kunstsachen gab es auch, größtenteils aber aus den letzten beiden Jahrhunderten. Trotzdem ist es ein guter Fang, und ich lasse sie auf jeden Fall prüfen.«

Bald nachdem Mr. Milner diese neue Kuan Yin gebracht und im Verkaufsraum aufgestellt hatte, hörte er von zwei weiteren Verkäufen auf dem Land und beschloß hinzufahren. Eine Woche lang wollte er wegbleiben, und bei seiner Abreise sagte er: »Bei einer Gelegenheit wie dieser bin ich besonders froh, hier eine Assistentin zu wissen, die sich um meine Sachen kümmert, während ich weg bin.«

Ling Fu reiste mit ihm, wie schon so oft. Von einigen Kaufleuten, die zu Mr. Milner ins Haus kamen, hatte ich erfahren, daß der chinesische Diener in Kunstkreisen bereits gut bekannt war.

Ich freute mich sehr über meine erste Selbständigkeit und lief mehrmals am Tag in mein Zimmer, um zu sehen, ob der Schlüssel zum Schauraum noch in der Sandelholzschachtel lag, die ich zuunterst in einer Schublade versteckt hielt.

Meine größte Freude daneben waren das Ausreiten und meine Spaziergänge – ich genoß den riesigen Forst stets aufs neue. Am meisten faszinierte mich wohl die Geschichte dieses Forsts, den Wilhelm der Eroberer im elften Jahrhundert schuf. Gerne saß ich unter einem Baum oder einem umgefallenen Stamm und stellte mir vor, wie die Jäger früher mit Pfeilen den Hirschen und Ebern nachjagten. Eine Stelle mochte ich besonders gern: eine alte Ruine, die wohl schon seit Jahrhunderten vermoderte. Efeu bedeckte das uralte Gestein. Eine Mauer stand noch zur Gänze, ein Vordach war noch daran. Bei plötzlichem Regen hatte ich dort oft Schutz gefunden. Und so ging es mir auch an diesem Tag. Ich war nachmittags hinausgewandert. Unter dem dichten Laubdach schlenderte ich in der Hitze dieses schwülen Tages dahin. Plötzlich fiel mir auf, wie still alles war. Nichts von den üblichen leisen Geräuschen, alles war irgendwie unnatürlich stumm und lastend. Ob wohl Wilhelm Rufus an einem solchen Tag ausgeritten war und die Vorahnung hatte, nie zurückzukehren? Es hieß, daß seine Leiche in dem halb verfallenen Gemäuer eines Gebäudes gefunden wurde, dessen Besitzer sein Vater wohl vertrieben hatte, um seinen Forst anlegen zu können. Nach einer anderen Sage allerdings soll der junge König unter einer alten Eiche gefunden worden sein und es sich um einen Ritualmord gehandelt haben. Mit dem Todespfeil in der Brust habe man ihn entdeckt – mysteriöses Ende des Roten Königs.

Was ich mir im Forst so alles ausdachte! Oft überlegte ich, ob einem das Leben vorbestimmt ist. Ich erinnerte mich, daß sogar Mr. Milner die Yarrow-Stäbchen studierte. Hatte ihn das, was er sah, dazu bewogen, mir diesen Posten anzubieten? Hätte ich die Stäbchen nicht gerade in dem Augenblick in die Hand genommen, was dann? Würde ich mir jetzt den Kopf über einen Posten zerbrechen müssen? War es überhaupt möglich, daß ein Mann wie Mr. Milner wirklich an solche Dinge glaubte?

An diesem Tag dachte ich an die Kuan Yin aus der Sung-Periode und wie schön es wäre, wenn gerade ich dieses Stück entdecken würde.

Unwirklich still war es im Wald. Der Himmel wurde immer dunkler. Und plötzlich flammte der erste Blitz auf, ein Donnerschlag folgte. Bald würde das Gewitter hier sein. Mrs, Couch hatte immer schreckliche Angst davor, Sie versteckte sich dann im Schrank unter der Treppe vom Dienerraum zum Erdgeschoß. Ihre Großmutter hatte ihr erklärt, Gewitter seien der Zorn Gottes. Vergeblich hatte ich versucht, ihr eine wissenschaftliche Erklärung zu geben. »Was soll ich mit dem Zeug aus gelehrten Büchern«, sagte sie. »Alles ganz schön und gut, aber ich glaube meiner Großmutter. ›Nie unter Bäume stellen‹, sagte sie mir. ›Unter Bäumen wird man vom Blitz erschlagen.«

Auch meine Mutter kannte diesen Spruch. »Lieber naß werden«, sagte sie, »aber bei Gewitter nie unter Bäume stellen.«

Es war unheimlich dunkel geworden, das Gewitter kam näher; in wenigen Minuten würde es über mir losgehen und bis dahin kam ich nicht mehr aus dem Forst heraus. Aber meine Ruine war ganz in der Nähe, unter ihrem Vordach fand ich doch etwas Schutz, bis das Ärgste vorbei war.

Ich rannte so schnell ich konnte und erreichte das Gemäuer gerade noch rechtzeitig. Während ich mich dazu beglückwünschte, sah ich einen Mann auf mich zulaufen.

»So ein Wetter! Darf ich mich auch unterstellen?« Seine Jacke war schon ganz naß; er nahm den Hut ab, und ein Wasserschwall ergoß sich auf den Boden vor ihm.

Nett sah er aus, wie er da lachend zum Himmel blickte und seine kräftigen weißen Zähne zeigte. Am ausdrucksvollsten waren jedoch seine Augen – dunkelblau unter dichten schwarzen Wimpern und Augenbrauen; auch die Haare schwarz. Es war nicht nur dieser interessante Kontrast, auch irgend etwas in seinem Gesichtsausdruck faszinierte mich. In den wenigen Augenblicken konnte ich es aber nicht näher beschreiben. Im übrigen war er ziemlich groß und mager.

»Bin offenbar gerade rechtzeitig hergekommen«, meinte er und blickte mich forschend an; ich zuckte ein wenig zusammen, überlegte, ob mein Haar wohl sehr durcheinander war. Das gemusterte Baumwollkleid stand mir auch nicht besonders.

Er hatte sich so dicht neben mich gestellt, daß ich ein wenig zurückwich. Seine Gegenwart irritierte mich.

»Waren Sie auch gerade spazieren?« fragte er mich.

»Ja«, antwortete ich. »Das tue ich oft. Ich liebe den Wald, er ist so schön.«

»Und im Augenblick auch sehr schön naß. Sie gehen oft allein spazieren?«

»Ich bin gern allein.«

»Eine junge Dame ganz allein? Ist das nicht gefährlich?«

»Daran habe ich noch nie gedacht.«

Seine blauen Augen funkelten fröhlich. »Sollten Sie aber.«

»Wirklich?«

»Sie können doch gar nicht wissen, was Ihnen hier begegnet.«

»Ich bin ja nicht weit vom Haus.«

»Sie sind hier zu Hause?«

»Ja. Als das Wetter anfing, überlegte ich sogar noch, ob ich nicht lieber dorthin zurücklaufen sollte.«

»Trotzdem wundert es mich, daß man Sie allein hier herumstreifen läßt.«

»Ich bin sehr selbständig.« Bei diesen Worten rückte ich noch ein wenig mehr von ihm ab.

»Das glaube ich Ihnen gern. Sie sind also hier in der Nähe zu Hause?«

»Ja ... in Roland’s Croft.«

Er nickte.

»Sie kennen es?«

»Gehört einem exzentrischen alten Herrn, stimmt’s?«

»Mr. Milner ist nicht exzentrisch und auch nicht alt. Er ist ein sehr interessanter Mann.«

»Selbstverständlich. Sie sind mit ihm verwandt?«

»Ich arbeite für ihn. Meine Mutter ist dort Haushälterin.«

»Ach so.«

»Glauben Sie, daß das Wetter schon nachläßt?«

»Möglich, aber wir sollten noch hierbleiben. Unwetter kommen gern zurück. Erst muß man ganz sicher sein, daß sie wirklich vorbei sind.«

»Sie leben auch hier in der Nähe?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich mache nur kurz Urlaub. Als das Wetter anfing, war ich gerade auf einem Spaziergang. Ich sah Sie von weitem so entschlossen davonlaufen, daß ich sicher war, Sie hätten hier einen Unterschlupf. Deshalb rannte ich nach.« Die Lachfältchen um seine Augen standen ihm gut.

»Was das wohl gewesen sein mag?« Er blickte die Mauer hinauf. »Sehen Sie sich diese Mauern an. Sie müssen Jahrhunderte alt sein.«

»Das glaube ich auch.«

»Was mag es gewesen sein? Ein Haus?«

»Ich denke schon. Es ist vielleicht schon neunhundert Jahre alt.«

»Da könnten Sie durchaus recht haben.«

»Vielleicht war es eins der Häuser, die teilweise zerstört wurden, um Platz zu schaffen für den Jagdforst der Könige. Können Sie sich das vorstellen? Der König gibt Befehl. Bauernland wird zu Waldgebiet, zum Teufel mit allen, die dort zu Hause sind! Kein Wunder, daß man diese Könige haßte. Den Haß spürt man heute noch manchmal im Forst.« Ich brach plötzlich ab. Warum sprach ich mit ihm darüber? Ich amüsierte ihn sichtlich.

»Sie sind nicht nur eine sehr kluge junge Dame, die allein herumstreift, sondern auch sehr phantasievoll. Eine interessante Kombination, finde ich – Kühnheit und Phantasie. Damit kommen Sie bestimmt weit.«

»Was meinen Sie damit – weit kommen?«

Er beugte sich zu mir herüber. »So weit Sie wollen. Ich finde außerdem, daß Sie sehr entschlossen sind.«

»Sind Sie ein Wahrsager?«

Wieder lachte er. »Manchmal habe ich seherische Kräfte. Soll ich Ihnen was sagen? Ich stamme vom Zauberer Merlin ab. Spüren Sie jetzt seine Gegenwart in diesem Wald?«

»Nein, und er würde auch gar nicht hier sein können, sofern es ihn überhaupt gab. Dieser Forst wurde von den normannischen Königen geschaffen, lange nachdem Merlin starb.«

»O nein, Merlin ist von Jahrhundert zu Jahrhundert gewandert, er hatte kein Zeitgefühl.«

»Sie amüsieren sich wohl über mich? Tut mir leid, wenn Ihnen mein Gerede sehr dumm vorkommt.«

»Keineswegs. Wenn Sie mich amüsieren, dann nur in der nettesten Weise. Es ist doch das Schönste im Leben, wenn man sich amüsiert.«

»Ich liebe diesen Forst«, sagte ich. »Ich habe viel über ihn gelesen, darum stelle ich mir wohl so manches vor.«

Merkwürdige Unterhaltung mit einem völlig fremden Menschen.

»Der Himmel hellt sich auf, der Regen läßt nach.«

»Hoffentlich nicht. Es ist viel interessanter, sich hier vor dem Sturm zu schützen, als allein im Wald herumzuspazieren.«

»Doch, es läßt nach.« Ich trat nach draußen, er zog mich aber am Arm zurück. Wie stark ich seine Gegenwart spürte!

»Es ist noch nicht sicher genug«, sagte er.

»Ich hab’s nicht weit.«

»Bleiben Sie trotzdem lieber noch da. Außerdem werden wir doch nicht unser nettes Gespräch unterbrechen! Sie interessieren sich also für die Vergangenheit?«

»Allerdings.«

»Na schön. Die Vergangenheit warnt uns vor allem Bösen in der Gegenwart und Zukunft. Und in dieser Ruine hier vermuten Sie etwas Besonderes.«

»Ruinen interessieren mich überhaupt. Irgendwann muß ja hier jemand gelebt haben. Menschen haben zwischen diesen Mauern gehaust. Ich muß immer an sie denken. Wie sie wohl lebten, lachten, litten, sich freuten ...«

Er sah mich forschend an. »Sie haben recht. Irgendwas ist hier. Ich spüre es jetzt auch. Etwas Historisches. Und eines Tages werden wir uns zurückerinnern und sagen: ›Ah, das war ja die Stelle, wo wir uns vor dem Gewitter schützten.‹«

Mir schien, als wolle er wieder nach mir greifen, und zog mich weiter zurück. »Sehen Sie doch«, sagte ich. »Es wird wirklich heller. Ich probier’s jetzt. Leben Sie wohl!«

Damit ließ ich ihn stehen und rannte in den Wald.

Es regnete noch dicht; meine Füße versanken fast in dem nassen Blätterwerk auf dem feuchten Boden. Aber ich mußte weg! Was würde er wohl tun? Irgendwas war an ihm, eine Vitalität, die mich überwältigen würde, wenn ich weiter blieb. Er hatte mich ausgelacht, das war mir klar. Und ich wußte nicht recht Bescheid mit ihm; hatte halb bleiben wollen, halb wollte ich weg.

Eine merkwürdige Begegnung jedenfalls – und dabei im Grunde nur zwei Menschen, die Schutz vor dem Regen suchten, nichts weiter.

Als ich zu Hause ankam, war meine Mutter gerade in der Halle. »Du meine Güte, Jane«, sagte sie, »wo bist du denn gewesen?« Sie faßte mich an. »Du bist ja bis auf die Haut naß.«

»Bin ins Unwetter gekommen.«

»Und völlig außer Atem bist du auch. Komm nach oben, du mußt das nasse Kleid ausziehen! Amy soll dir heißes Wasser bringen. Du nimmst gleich ein Bad und ziehst dir dann trockene Sachen an.«

Sie goß selbst das heiße Wasser in die Sitzbadewanne in ihrem Schlafzimmer und ließ mich hineinsteigen. Ich mußte mich danach fest abtrocknen und trockene Kleider anziehen. Als ich fertig war, fiel mir eine ungewöhnliche Unruhe im Dienertrakt auf. Neugierig ging ich hinunter.

Mrs. Couch schnaufte zufrieden, Jess und Amy waren sehr guter Laune.

»Du meine Güte«, sagte Mrs. Couch, »so ein Tag! Erst verbrennt mir das Gebäck im Ofen, und jetzt kommt noch Mr. Joliffe.«

Bequem in einem Sessel liegend, die Beine ausgespreizt, sah ich den Mann aus dem Wald wieder vor mir.

Er lächelte mich in seiner ganz speziellen Art an – die mir noch sehr vertraut werden sollte, halb spottend, halb zärtlich.

»Wir sind alte Bekannte«, sagte er.

Alles verstummte in der Küche. Und dann sagte ich so kühl wie möglich zu Mrs. Couch, die mich mit offenem Mund anstarrte: »Wir haben im Wald vor dem Regen Schutz gesucht.«

»Na, so was!« sagte Mrs. Couch und sah von einem zum anderen.

»Etwa zehn Minuten lang«, fügte ich noch hinzu.

»Was durchaus genügte, um uns anzufreunden«, setzte er hinzu und lächelte mich weiter an. Damals wußte ich noch nicht, warum mich dieses Lächeln so berührte.

»Mr. Joliffe gewinnt immer schnell neue Freunde«, sagte Mrs. Couch.

»Das spart viel Zeit im Leben«, spottete er.

»Warum haben Sie mir nicht gesagt, daß Sie Mr. Milners Neffe sind?«

»Ich wollte Sie damit überraschen. Außerdem hätten Sie es sich vielleicht denken können.«

»Sie sagten, Sie seien nur auf Besuch hier.«

»Stimmt ja auch.«

»Und auf einem Spaziergang im Wald.«

»Stimmt auch, ich war auf dem Weg zu meinem Onkel. Jess, laß doch Jeffers die Sachen vom Bahnhof holen!«

»Selbstverständlich, Mr. Joliffe«, sagte Jess und wurde ganz rot.

Ich fühlte mich unbehaglich. Alle benahmen sich, als wäre er ein Prinz. Das irritierte mich ein bißchen.

Mrs. Couch gurrte geradezu: »Sieht Ihnen wieder mal ähnlich, Mr. Joliffe, uns nicht zu warnen! Vergangene Woche haben wir den letzten Schlehengin getrunken. Wenn ich’s gewußt hätte, hätte ich Ihnen welchen aufgehoben. Sie mögen ihn doch so gern.«

»Nirgends in der Welt gibt es so guten Schlehengin wie bei meiner lieben Mrs. Couch.«

Sie drehte sich in ihrem Schaukelstuhl hin und her wie ein schüchternes Mädchen. »Ach, Sie sind mir einer! Aber zum Abendessen gibt es Johannisbeertorte.«

Ich sagte, daß ich noch zu tun hätte, und ging hinaus. Und fühlte genau, wie sein Blick mir folgte.

Solange er da war, schien das Haus wie verändert zu sein.

Auch mich packte die allgemeine Erregung. Alles war anders jetzt. Die Ernsthaftigkeit, die Mr. Milners Anwesenheit stets verbreitete, verschwand. Kein Haus der Geheimnisse, nichts Unheimliches und Düsteres haftete ihm mehr an. Nein, ein fröhliches Haus wurde es.

Joliffe pfiff gerne und gut, er konnte Vögel nachahmen und kannte viele hübsche Melodien aus modernen Operetten. Es war überhaupt so etwas Fröhliches an ihm. Offensichtlich liebte er das Leben, und alle Menschen um ihn wurden von dieser Fröhlichkeit mitgerissen. Nie versäumte er eine Gelegenheit, alle zu verzaubern, und ich merkte bald, daß er sich bei mir besondere Mühe gab.

Ritt ich aus, so war er an meiner Seite, ging ich in den Wald, so horte ich schon bald sein Pfeifen hinter mir. Wir sprachen viel über uns selbst miteinander. Ich erzählte ihm von meinem Vater und dessen frühem Tod in den Bergen, er berichtete von seinen Eltern und wie er zwischen Sylvester und Redmond aufwuchs.

»In ähnlicher Atmosphäre wie hier in Roland’s Croft«, erklärte er. »Alles strotzte nur so von chinesischer Kunst. Haben Sie nicht auch das Gefühl?«

»Es ist ja schließlich sein Geschäft.«

»Aber wo man auch hinblickt, ist China. Die Vasen, die Teppiche, ein Stückchen hier, ein Stückchen dort und dazu der Diener meines Onkels. Spüren Sie das nicht?«

»O ja. Es fasziniert mich.«

»Weil Sie nicht darin aufgewachsen sind. Ich stecke ja auch drin ... bis über die Ohren.«

»In dem Geschäft, meinen Sie?«

»Ja. Warum auch nicht? Ich habe schon sozusagen als Dreikäsehoch Ming-Vasen erkennen gelernt. Heute bin ich aber ganz unabhängig. Als mich Onkel Sylvester nach China sandte, hatte ich plötzlich das Gefühl, ich müßte meine Fähigkeiten und Kräfte, mein Entdeckertalent für mich selber verwenden. Verstehen Sie das?«

»Ja. Sie haben ein eigenes Geschäft der Familienbranche aufgemacht.«

»Richtig. Wir sind alle im gleichen See. Aber jeder hat sein eigenes Boot.«

Er erzählte viel von Hongkong – ein Ort, der ihn offenbar faszinierte. Auch Mr. Milner hatte mir viel erzählt, aber ganz andere Dinge. Von ihm hörte ich über die verschiedenen Dynastien, ihren Aufstieg und Untergang. Joliffe zeigte mir andere Bilder. Die grünen Hügel über den Sandstränden der Insel. Die Treppenwege zu den höchst gelegenen Häusern. Brief Schreiber auf den Straßen, die Analphabeten nach Diktat ihre Post schrieben. Chinesische Wahrsager an allen Ecken schüttelten ihre Behälter mit den Stäbchen, die man dann auswählte und ›lesen‹ ließ, um das Schicksal vorauszusagen. Boote, die sich zu schwimmenden Dörfern gruppierten. Seine Erzählungen begeisterten mich. Was Mr. Milner mir beigebracht hatte, interessierte mich sehr, aber in Joliffes Berichten lebte alles, war bunt und vielfältig und weckte die Sehnsucht in mir, all das selbst sehen zu dürfen.

Am zweiten Tag seines Besuches hatte er mich gefragt, wo ich denn meine Mahlzeiten einnähme.

»Manchmal im Wohnzimmer meiner Mutter, manchmal bei der Dienerschaft.«

»Während ich ganz allein essen muß? Das geht nicht! Sie essen von jetzt ab mit mir ... tête-à-tête. Was halten Sie davon?« Sein Wort war Gesetz im Haus, denn solange Mr. Milner nicht da war, übernahm Joliffe seinen Platz. Mrs. Couch deckte ohne weiteres für mich im großen Eßzimmer mit auf. Ich saß am einen Ende des langen Tisches, Joliffe am anderen. Ihm machte es Spaß, ich war aber ein bißchen unruhig. Was würde Mr. Sylvester sagen, wenn er mich bei seiner Heimkehr hier vorfand? In Joliffes bezaubernder Gesellschaft vergaß ich diese Gedanken jedoch bald.

Am dritten Tag nach seiner Ankunft kam meine Mutter einmal in mein Zimmer.

»Joliffe interessiert sich sehr für dich«, sagte sie.

»Ja, ich weiß«, antwortete ich. »Wir haben die gleichen Interessen, er ist ja auch Kunsthändler.«

Meine Mutter sah mich merkwürdig an. Wenn einen die Anwesenheit eines Menschen erregt und man in seiner Abwesenheit völlig deprimiert wird, dann war das wohl Liebe; und ich liebte Joliffe Milner, das war ziemlich klar. Auch ein Blick in den Spiegel zeigte mir, wie verändert ich war.

»Glaubst du, daß er es ernst meint?« fragte meine Mutter.

»Ernst? Daran habe ich noch nie gedacht. Er lacht über fast alles, ernst kann man ihn wirklich nicht nennen.«

Und dann fiel mir der veränderte Gesichtsausdruck meiner Mutter auf. Seit dem letzten Sommer war sie nicht mehr die gleiche. Ihre Wangen immer noch rosig, aber in den Augen lag ein unnatürlicher Glanz, und sie schien irgendein Geheimnis mit sich herumzutragen. Andere merkten das wohl kaum, aber ich kannte sie zu gut, um es zu übersehen. Irgendwas war anders. Aber was? Warum? Und dann vergaß ich es wieder, weil meine Gedanken bei Joliffe waren.

»Er ist sehr charmant«, sagte meine Mutter. »Dein Vater war es auch, aber ...«

Sie hob die Schultern, und ich war zu sehr in eigenen Gedanken, um sie zu fragen, was sie hatte sagen wollen.

Ich zog mein Reitkleid an – Mutter hatte mir eines geschenkt – und ritt aus. Wie ich erwartet hatte, begleitete mich Joliffe.

Wir verbrachten einen zauberhaften Vormittag.

Ich hatte natürlich meine Pflichten und durfte sie trotz dieser erregenden Stunden nicht versäumen. Post mußte vor allem erledigt werden. Die Arbeit in dem kleinen Büro Mr. Milners hatte mir immer Spaß gemacht, und ich genoß die Verantwortung, die er mir übertragen hatte.

Seit Joliffe im Haus war, wollte ich jedoch am liebsten nur noch mit ihm draußen sein.

Zwei- bis dreimal jede Woche ging ich in den Schauraum; es gab mir jedesmal einen Stich, die Tür aufzusperren, über die Schwelle zu treten und ganz allein mit diesen kostbaren Gegenständen zu sein, die mir jetzt schon so vertraut waren.

Wegen Joliffe hatte ich diese Besuche mehrmals unterlassen und entschloß mich dann ganz plötzlich, sie nachzuholen.

Ich schloß auf, trat ein und machte die Tür hinter mir zu. Sah mich langsam um. Der erste Blick galt immer dem Bronzebuddha. Dann betrachtete ich die Kuan-Yin-Statue und bekam plötzlich den Einfall, sie mit der neuen zu vergleichen, die Mr. Milner so begeistert hatte.

Er hatte sie in einer gläsernen Vitrine untergebracht. Ich traute meinen Augen nicht. Die Vitrine war leer!

Es war unmöglich. Ich hatte sie ja noch gesehen, als ich das letzte Mal hier war. Vor Mr. Sylvesters Abreise war das gewesen.

Es gab nur eine Erklärung. Er hatte sie mitgenommen! Aber warum hatte er mir nichts davon gesagt? Er mußte doch wissen, daß ich ihren Verlust bemerken würde. Eigenartig! Die Figur mitzunehmen, ohne mir etwas zu sagen!

Die Sache verstörte mich so, daß ich mich auf nichts anderes konzentrieren konnte. Ich verschloß die Tür sorgfältig und ging in mein Zimmer zurück. Der Vorfall hatte mich sehr mitgenommen. Nachdem Mr. Milner so ernsthaft über die Wichtigkeit und den Wert dieser Statue geredet hatte, wie konnte er sie einfach mitnehmen, ohne etwas zu sagen?

Ich ging zu meinem Fenster und blickte zum Gitterfenster hinüber. Niemand konnte hineingelangt sein. Nur ich hatte einen Schlüssel. Also mußte Mr. Sylvester sie mitgenommen haben. Vielleicht ließ er sie prüfen?

Ich ritt wieder mit Joliffe aus und vergaß alles andere. Wie herrlich war es, den Wald und die Lichtungen zu durchstreifen! Wir machten bei einem alten Gasthof Rast, der Wirt brachte uns Apfelmost und selbstgebackenes Brot mit frischem Schinken. Gemütlich saßen wir in der Stube. Der Boden war mit Ziegeln ausgelegt, von den Dachbalken hingen Schinken und Speckseiten, über dem Kaminfeuer glänzte das Kupfergeschirr. Glücklicher war ich noch nie gewesen. Und ich wußte auch, warum: Joliffe war mein ganzes Glück. Während wir von unserem Most tranken – er war schon leicht gegoren – und die herrlichen Brote aßen, fragte ich ihn, wie oft er nach Roland’s Croft komme.

»Nicht sehr oft.«

»Alle tun aber, als wären Sie immer dort. Die Besuche machen Ihnen großen Spaß, glaube ich.«

»Noch nie so sehr wie diesmal.«

Bei diesen Worten sah er mich mit seinen blauen Augen tief an und zeigte damit am deutlichsten, warum dieser Besuch der schönste war.

Auf dem Rückweg waren wir beide still. Ich glaubte zu spüren, daß er nahe daran war, etwas zu sagen, was für uns beide sehr wichtig war. Merkwürdig, daß er schwieg! Eine Seite seines Wesens, die ich bisher noch nicht kennengelernt hatte.

Wir kamen am frühen Nachmittag heim, und ich sah ihn an diesem Tag nicht mehr. Er ließ mir Nachricht geben, daß er eine Verabredung habe und zum Abendessen nicht da sei. Meine Mutter und ich aßen in ihrem Wohnzimmer. Sie war in merkwürdiger Stimmung und sprach dauernd über die Zeit, in der mein Vater ihr den Hof gemacht hatte.

»Ich habe mir oft Gedanken gemacht«, sagte sie, »weil er sich doch wegen mir mit der Familie überwarf. Ohne mich hätte er ein gutes Einkommen gehabt. Nicht nur diese kleine Jahresrente.«

»Wir waren ihm aber lieber«, versicherte ich ihr.

»Ja, das hat er mir auch tausendmal erklärt. Ich wüßte dich so gerne gut versorgt, Janie. Natürlich hast du jetzt hier diesen Posten, und Mr. Milner ist wirklich ein guter Mensch, aber ...« Sie sah mich an, als erwarte sie eine Erklärung von mir. Ich wußte, sie wollte, Joliffe würde mich bitten, seine Frau zu werden. Sie wollte mich so glücklich sehen, wie sie es mit meinem Vater gewesen war.

»Du bist zwar noch jung«, sagte sie dann, als ich stumm blieb.

»Erst achtzehn. Aber ich habe deinen Vater auch mit achtzehn geheiratet. Wir wußten beide sofort Bescheid, als wir einander kennenlernten. So schnell ging das.«

Sie erhoffte sich Geständnisse von mir, aber ich konnte ihr keine machen.

In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich lag wach und dachte an die Wirtsstube, an Joliffes Blick. Ich ging unser Gespräch noch einmal durch, und dann fiel mir auf einmal die verschwundene Statue ein. Und wie merkwürdig ihr Verschwinden war.

Ich schlummerte ein und träumte im Schauraum zu sein. Der Bronzebuddha bewegte plötzlich die Augen, sie schienen mich anzuklagen.

Nach etwa einer Stunde stand ich auf und ging zum Fenster.

Blickte wieder zum Gitter des Schauraums, wie damals am ersten Tag in Roland’s Croft. Wie anders alles aussah im Mondlicht – geheimnisvoll und unheimlich –, man hatte richtig das Gefühl, daß hier alles mögliche passieren konnte. Mir wurde kalt, aber ich wußte, daß ich nicht mehr schlafen konnte, und blieb am Fenster sitzen. Und dann sah ich plötzlich ein Licht aufflackern. Ich konnte meinen Augen kaum trauen. Ein Licht hinter dem Gitterfenster. Kein Zweifel. Irgendwas, irgendwer war oben.

Ich erschauerte. Das Streichholz, mit dem ich meine Kerze anzündete, zitterte mir in der Hand. Ich ging zum Fenster zurück. Draußen war alles dunkel. Und dann sah ich es wieder ... da ... der flackernde Lichtschein!

Diebe! dachte ich. Mr. Sylvester ist nicht hier. Ich bin verantwortlich. Rasch zog ich meinen Morgenmantel über und schlüpfte in die Hausschuhe. Ich mußte nachsehen.

Eilig lief ich hinauf. Blieb dann vor der Tür stehen, drückte die Klinke nieder. Versperrt. Da bekam ich eine Gänsehaut. Erschrak bis ins Innerste. Einbrecher waren halb so schlimm wie dieses Etwas, das offensichtlich im Raum war.

Ich lief wieder hinunter, holte den Schlüssel aus dem Sandelholzkästchen und rannte zurück. Rüttelte nochmals an der Tür. Immer noch versperrt. Dann erst steckte ich den Schlüssel hinein und sperrte auf.

Wie unheimlich der Raum wirkte! Ich hob die Kerze, und meine Hand zitterte so, daß die Schatten an der Wand tanzten. Das Kerzenlicht fiel auf die altvertrauten Dinge. Da war der Buddha, die Augen halb geschlossen, der bösartige Gesichtsausdruck – dazu die mühelose Pose im Lotossitz, die ihn so hochmütig und verächtlich erscheinen ließ.

Mein Herz klopfte wild, die Kehle war wie ausgedörrt. Ich erwartete das Schlimmste. Trotzdem ging ich weiter hinein. Es war ja doch möglich, daß das Licht von einem Menschen stammte, der sich irgendwie Zutritt verschafft und etwas gestohlen hatte.

Die wertvolle Ming-Vase war noch da. Das Jadekästchen auch intakt. Und dann erstarrte ich. Aus der Glasvitrine lächelte mich gütig die neue Kuan Yin an, die heute vormittag nicht dagewesen war.

Es mußte ein Trugbild sein. Ich öffnete die Vitrine, befühlte die Statue. Sie war wirklich dort. Aber heute vormittag war sie nicht dagewesen. Hier tat sich Merkwürdiges. Ich sah mich um. Unheimlich war es. Diese Dinge gab es schon seit Jahrhunderten. Sie waren durch so viele Hände gegangen. Ob es stimmte, daß scheinbar leblose Dinge die Tragödien und Komödien derer, denen sie gehört hatten, in sich aufnahmen?

Und dann hörte ich zu meinem Schrecken ein Geräusch. Leise Fußtritte. Irgendwer stellte mir eine Falle. Ich trat nach vorn, versteckte mich hinter dem bronzenen Buddha. Ein Lichtschein tauchte an der Tür auf. Eine dunkle Gestalt dahinter. Ich hielt den Atem an. »Wer ist da?« fragte die Gestalt.

Wie erleichtert ich war! Joliffe hatte die Frage gestellt.

»Sie sind’s, Joliffe!«

»Jane!«

Ich trat vor. Wir standen einander gegenüber, jeder mit der Kerze in der Hand.

»Was tun Sie denn hier?« flüsterte ich.

»Und Sie?«

»Ich meinte, ein Licht zu sehen, deswegen bin ich heraufgekommen.«

»Und ich hörte Schritte. Wollte auch nachsehen.«

»Wer mag es gewesen sein?«

»Ich habe Sie gehört.«

»Ich sah aber ein Licht hier drinnen.«

»Meinen Sie, es ist ein Einbrecher im Haus? Die Tür war zu, wie hätte er hinein gekonnt?«

»Sie haben es sich bestimmt nur eingebildet.«

»Bestimmt nicht.«

»Doch. Wie hübsch Sie aussehen, Jane, mit den offenen Haaren.«

In seiner Gegenwart war ich immer wie verzaubert. Ich dachte jetzt nur daran, daß wir jetzt hier allein zusammen waren. Die merkwürdigen Umstände berührten mich gar nicht mehr.

Er kam näher. »Wie schön, Sie hier zu finden.«

»Unsinn. Wir können uns doch tagsüber genug sehen.«

»Ich finde es aber aufregend.« Er stellte seine Kerze zu Boden und nahm mir meine ab. Und dann umarmte er mich plötzlich ganz fest.

»Ich liebe dich«, sagte er.

Ich wollte nichts weiter, als mich so an ihn lehnen, denn ich liebte ihn auch.

Er nahm mein Gesicht zwischen seine Hände und sagte:

»Jane, du bist einmalig.«

»Du auch.«

»Wir konnten gar nicht anders. Hast du es auch schon vom ersten Tag an gewußt – bei dem Unwetter?«

»Ich glaube schon.«

»Ach, Jane! Unser Leben wird so schön sein, meinst du nicht? Du willst es doch auch, oder?«

»Ich will nur bei dir sein«, sagte ich.

Wir küßten uns. Von solchen Küssen hatte ich noch nie geträumt. So voller Glückseligkeit. Der furchtbare Schrecken war vergessen. Alles schien irgendwie unwirklich zu sein. Ich liebte einen Mann, den ich noch kaum kannte, wir waren beide halb bekleidet in diesem Raum, der für mich immer etwas Phantastisches hatte.

Jeden Augenblick erwartete ich, aus diesem Traum aufzuwachen, mich an meinem Fenster zu finden, wo ich eingeschlafen sein mußte.

Nein, ich war wirklich in Joliffes Armen, er sagte mir, daß er mich liebe, und bat mich um meine ganze, ausschließliche Liebe.

Ich war sehr jung und unerfahren. Liebe war für mich eine sehr schöne, romantische Sache, wie sie meine Mutter mir immer dargestellt hatte. Mein Vater und sie hatten sich auf romantische Art und Weise kennengelernt und geliebt. Waren binnen drei Wochen verheiratet gewesen, er hatte für sie sein schönes Leben aufgegeben. Das war wirkliche Liebe!

Plötzlich schien mich der bronzene Buddha wieder kalt und verächtlich anzustarren.

»Merkwürdiger Ort für ein verliebtes Paar«, sagte Joliffe.

»Gehen wir lieber hinaus.«

»Ich muß in mein Zimmer zurück«, sagte ich.

»Noch nicht«, flüsterte er und nahm mich wieder in die Arme. Ich konnte aber die Augen des Buddha nicht vergessen. Zu dumm! War doch nur ein Stück Bronze ...

»Ich muß hier raus«, sagte ich und nahm meine Kerze auf. Auch Joliffe nahm seine wieder, und wir gingen gemeinsam hinaus. Ich sperrte die Tür zu.

Draußen sahen wir einander an. Er nahm mich fest bei der Hand. »Ich kann dich einfach nicht gehen lassen«, sagte er.

»Wir wecken noch jemanden auf.«

»Komm in mein Zimmer, oder ich komme in deins ...«

Ich wich zurück. »Nein, das können wir nicht tun!«

»Verzeih mir, Jane. Das hat mich alles so ... überwältigt.«

»Wir reden morgen darüber«, sagte ich.

Er umarmte mich nochmals, dann zog ich mich hastig zurück und floh in mein Zimmer.

Ich stellte die Kerze auf den Ankleidetisch und betrachtete mein Spiegelbild. Ich konnte mich selbst kaum erkennen. Das Haar hing mir um die Schultern, die Augen strahlten, die sonst so blassen Wangen waren rosa überhaucht, ich sah ein ganz neues Mädchen vor mir. Eine verliebte Jane.

Merkwürdige Nacht! Zwei überraschende Entdeckungen hatte ich gemacht und die eine hatte die andere fast verdrängt. Joliffe liebte mich, das war wichtig. Die Tatsache, daß Kuan Yin wieder an ihrem Platz stand, obwohl sie vormittags verschwunden war und niemand außer mir einen Schlüssel besaß, erschien mir jetzt gering neben der überwältigenden Tatsache, daß ich liebte und geliebt wurde. Ich überredete mich selbst, daß ich mich eben vormittags geirrt haben mußte. Die Statue war wieder da. Was wollte ich noch? Mir ging nur ein Satz im Kopf herum: Joliffe liebt mich.

Und dann saß ich wieder beim Fenster und sah in den Hof hinaus. Blickte lange zu dem Gitter hinauf, hinter dem jetzt kein Lichtschein mehr flackerte. Ließ mir noch einmal alle Details der Szene im Schauraum durch den Kopf gehen, von dem Augenblick an, wo ich plötzlich seine Kerze erblickt hatte.

Fühlte seine Arme um mich.

Am nächsten Morgen würden wir unsere Hochzeit planen; ich wußte, daß Joliffe keine Geduld zu langem Warten hatte.

Erst gegen vier Uhr früh ging ich ins Bett und konnte noch immer nicht schlafen. Döste nur so vor mich hin, träumte im Halbschlaf von Joliffe. Schlief dann bis in den Vormittag hinein und sah plötzlich meine Mutter am Bett stehen. »Jane, wach auf! Was ist denn los mit dir?«

Ich setzte mich auf, und dann fiel mir alles wieder ein.

»Ach, Mutter!« sagte ich, »ich bin ja so glücklich.«

Sie setzte sich auf den Bettrand.

»Joliffe?«

»Woher weißt du denn?«

Sie lachte nur.

»Wir lieben uns.«

»Da wird es ja bald eine Hochzeit geben.«

»Ja, bestimmt.«

»Wann hat er dich denn gefragt?«

»Gestern abend.« Ich sagte ihr nicht, wo und wann. Daß wir nachts in unseren Morgenmänteln im Haus herumspaziert waren, würde ihr kaum gefallen.

»Da bist du wohl noch bis in die Morgenstunden wach gelegen und dann erst eingeschlafen.«

»Ja, so war es.«

Ich sah, wie froh sie war. »Etwas Besseres hätte ich mir gar nicht wünschen können. Ich wollte dich versorgt sehen. Der Posten bei Mr. Milner ist ja sehr nett, aber ich wollte, daß du einen Mann hast, der sich um dich kümmert.«

Die körperliche Veränderung, die ich früher an ihr festgestellt hatte, schien verschwunden zu sein. Sie war wieder ganz wie früher. Mit rosigen Wangen und voller Energie.

Sie drückte mich an sich. »Das habe ich mir gewünscht. Ich sah gleich, was du für ihn empfandest. Er ist zauberhaft, so voller Leben! Genau das Gegenteil deines Vaters; er war immer so ernst. Das soll natürlich keine Klage sein. Ich kann dir gar nicht sagen, was es mir bedeutet. Ich habe das Gefühl, daß dein Vater auch jetzt noch über dich wacht. Ich habe darum gebetet. Zieh dich an, Janie. Wir sprechen dann noch miteinander.«

Ich wußte nicht, daß sie gleich darauf zu Joliffe ging, und wußte auch nicht, was er ihr sagte.

Ich glaube, wir waren beide damals recht unschuldig, Mutter und ich.

Als ich mich angezogen hatte und hinunterging, unterhielt sich meine Mutter mit Joliffe.

Er erhob sich und nahm meine Hände.

»Joliffe findet auch, daß langes Warten sinnlos wäre«, sagte meine Mutter.

»Ihr habt also alles schon arrangiert?«

Sie lachte. Joliffe sah mich begeistert an.

Das ist das vollkommene Glück, dachte ich.

Joliffe fuhr weg und sagte, daß er bald wieder dasein würde.

Er müsse noch einiges regeln.

Inzwischen kam Mr. Sylvester Milner zurück.

Ich überlegte, ob ich von dem Verschwinden und Wiederauffinden der Kuan Yin berichten sollte. War aber inzwischen so gut wie überzeugt, daß ich mir das Verschwinden nur eingebildet hatte.

Er zeigte mir ein paar neue Einkäufe. »Nichts Besonderes«, sagte er, »aber doch ganz gute Sachen. Die kriege ich schnell los.«

Da platzte ich damit heraus, daß ich verlobt war und bald heiraten wollte.

Die Wirkung auf ihn hatte ich nicht erwartet. Daß er sich nicht sehr freuen würde, da er mich mit so viel Mühe eingeschult hatte, hatte ich schon erwartet. Aber schließlich mußte er damit ja jederzeit rechnen.

»Heiraten?« sagte er. »Dafür sind Sie doch noch viel zu jung.«

»Im September werde ich neunzehn.«

»Gerade jetzt, wo Sie anfangen, sich mit chinesischer Kunst auszukennen!«

»Es tut mir so leid. Sicher denken Sie, ich sei undankbar, aber Joliffe und ich ...«

»Joliffe? Mein Neffe?« Er wurde rot vor Zorn. »Das geht nicht!« sagte er energisch.

»Er war in Ihrer Abwesenheit hier.«

Seine Augen verengten sich. Das gütige Lächeln war verschwunden. Er sah jetzt seinem bronzenen Buddha sehr ähnlich.

»Sie kennen ihn ja noch gar nicht.«

»Uns hat die Zeit genügt ...«

»Joliffe!« wiederholte er. »Ausgerechnet! Das geht nicht gut.«

»Es tut mir leid, Mr. Milner ...«

»Wenn Sie so weitermachen, wird es Ihnen noch viel mehr leid tun. Ich werde mir Joliffe holen, ich will mit ihm reden.« Wir schwiegen beide. Dann fragte ich ihn, ob er seine Briefe diktieren wolle.

»Nein«, wehrte er ab. »Das hat mich viel zu sehr aufgeregt. Lassen Sie mich jetzt allein.«

Völlig verwirrt und unglücklich ging ich zu meiner Mutter. Sie bereitete sich gerade Tee in ihrem Zimmer.

»Was ist denn los, Jane?«

»Ich habe Mr. Milner von Joliffe und mir berichtet. Es gefällt ihm nicht.«

»Das wird ihm wenig nützen«, sagte meine Mutter energisch.

»Ich verstehe schon seinen Standpunkt, er hat mich ja ausgebildet.«

»Unsinn! Was heißt Ausbildung, wenn es um die Zukunft eines Mädchens geht! Vermutlich hat er sich für seinen kostbaren Neffen eine Frau mit Geld oder Besitz vorgestellt.«

»So habe ich ihn eigentlich nie eingeschätzt.«

»Aber ich schätze ihn jetzt so ein.«

»Es tut mir leid, daß es ihn so aufgeregt hat. Ich mag ihn. Er war so gut zu uns.«

»Und ich war ihm eine gute Haushälterin, das kann ich in aller Bescheidenheit sagen. Und du eine gute Sekretärin. Aber die Zeiten ändern sich eben, und Mädchen heiraten irgendwann.«

»Und wenn er dich entläßt, weil ich Joliffe heirate?«

»Dann entläßt er mich eben.«

»Aber es ist so schön hier für dich. Und es war so freundlich von ihm, mich auch hier leben zu lassen.«

»Stimmt schon, aber deswegen sind wir nicht sein Eigentum. Nein, er war bestimmt gut zu uns, aber ich möchte dich versorgt sehen. In deinem eigenen Haus, mit einem guten Mann, und später mit deinen Kindern. Darüber geht nichts hinaus. Ich möchte das noch erleben, ehe ich ...«

»Ehe du was?«

»Zu deinem Vater gehe.«

»Red doch nicht solchen Unsinn! Du bist hier bei mir und bleibst noch Jahre und Jahre bei uns ...«

»Ja, sicher, aber trotzdem möchte ich dich versorgt sehen. Schade, daß unser lieber Mr. Milner dich nicht so gut findet für seinen Neffen. Ich bin da anderer Meinung und Joliffe Gott sei Dank auch.«

Mr. Milner ließ meine Mutter zu sich kommen. Ich wartete in ihrem Zimmer auf sie. Als sie zurückkehrte, war sie in richtiger Kampfstimmung. Ihr Gesicht hatte sich stark gerötet. So sah sie immer aus, wenn sie von der Familie meines Vaters sprach, von den Lindsays.

»Was hat er gesagt?«

»Er war sehr höflich und nett, aber er ist einfach dagegen.«

»Er hält mich also für nicht gut genug?«

»Darauf kommt es hinaus, wenn er auch andersherum sagt, Joliffe sei nicht gut genug für dich.«

»Was meint er damit?«

»Er meint, er sei ein Tunichtgut. Hätte noch nie Fuß gefaßt und würde kein guter Ehemann sein.«

»Unsinn! Und jetzt setzt er dich vor die Tür, wenn ich heirate.«

»Das hat er nicht gesagt. Er war sehr zurückhaltend. Zum Schluß sagte er nur: ›Ich kann Ihre Tochter nicht hindern, daß sie meinen Neffen heiratet, aber ich hoffe zutiefst, daß sie es nicht tun wird. Ich achte Ihre Tochter sehr und würde ihr wünschen, daß sie einen würdigeren Partner findet. ‹Ich habe mich aber nicht beirren lassen und habe ihm gesagt, daß du den heiraten wirst, dem dein Herz gehört. So wie es dein Vater tat. Wenn wir uns einmal etwas vorgenommen hätten, dann blieben wir auch dabei. Wir wüßten wohl selbst am besten, was gut für uns sei. Dabei beließen wir es dann.«

»Ist er sehr zornig?«

»Eher traurig. Jedenfalls möchte er diesen Eindruck erwecken. Er schüttelt den Kopf und sieht dabei wie ein alter Prophet aus. Aber wir beachten ihn einfach gar nicht.«

Sie hatte leicht reden. Mir hatte er die Freude schon etwas verdorben.

Bei der Dienerschaft war helle Aufregung. Mrs. Couch schaukelte in ihrem Stuhl, sie blickte ganz wehmütig drein. »Also ist seine Wahl auf dich gefallen! Ich wußte es ja immer, du bist unter einem glücklichen Stern geboren. Die Tochter einer Haushälterin! Geht erst ins Internat und kriegt jetzt unseren Mr. Joliffe. Was für ein herrlicher Mann. Aufpassen mußt du schon auf ihn. Charmeure wie er wachsen nicht auf jedem Baum, und es gibt immer welche, die gerne pflücken, was ihnen nicht gehört. Einen Mann wie Mr. Joliffe muß man hegen und pflegen.«

»Das werde ich bestimmt tun, Mrs. Couch.«

»Das bezweifle ich auch gar nicht. Als ich dich damals zum ersten Mal sah, sagte ich gleich zu Jess: ›Das ist mir eine kleine Dame! Die weiß, was sie will, und kriegt es auch.‹ Hab’ ich doch recht gehabt! Du hast deinen Joliffe, und um den haben sich bisher, glaube ich, viele gerissen.«

Amy sagte nur, daß ich mir ja was sehr Hübsches eingekauft hätte, wirklich sehr hübsch. Ihr Jim, den sie Weihnachten heiraten würde, war ein guter, braver Kerl, gerade richtig für sie, aber für einen Joliffe ließ wohl jedes Mädchen alle anderen stehen. Was ich für Glück hätte, sagte sie noch.

In jenen Tagen ging ich wie im Traum umher. Alles sah anders aus. Das Gras war grüner, die Blumen bunter, der Wald schöner geworden, weil Joliffe ein Teil dieser Welt war.

Außer Mr. Sylvester hatte niemand etwas dagegen. Er beobachtete mich oft heimlich, wenn er meinte, daß ich es nicht bemerkte. Vermutlich tut ihm die Zeit leid, die er auf mich verschwendet hat, dachte ich. Eines Tages sagte er zu mir: »Ich weiß, daß es zwecklos ist, Ihnen die Heirat auszureden. Ich kann nur hoffen, daß Sie weniger unglücklich werden, als ich es befürchte. Mein Neffe hat noch nie Verantwortungsgefühl gehabt. Er ist abenteuerlustig. Manchen Leuten kommt das interessant vor, mir nicht. Ich hoffe nur, daß Sie Ihren Entschluß nie bereuen werden. Als wir uns zum ersten Mal sahen, haben wir die Yarrow-Stäbchen befragt. Ehe Sie gehen, wollen wir es noch einmal tun.«

Der Behälter mit den Stäbchen stand auf seinem Tisch. Er hielt sie mir entgegen, ich mußte ein paar herausnehmen. Als ich sie ihm wieder reichte, sagte er: »Zuerst werden wir fragen, ob die Ehe glücklich werden wird.«

Er legte die Stäbchen auf und betrachtete sie lange.

»Sehen Sie diese gebrochene Linie. Sie bedeutet nein.«

»Tut mir leid«, sagte ich, »aber an diese Wahrsagerei glaube ich nicht.«

»Wie schade«, sagte er traurig und studierte weiter die Stäbchen.

Joliffe und ich wurden im November vor dem Standesbeamten getraut. Es war eine stille Hochzeit. Joliffe hatte sich eine Sondererlaubnis geholt, weil er kein großes Theater haben wollte.

Meine Mutter war außer sich vor Freude. Sie sah selbst wie eine Braut aus.

Nach der Feierlichkeit küßte sie mich zärtlich. »Der glücklichste Tag meines Lebens, seit mein Mann tot ist«, sagte sie zu uns und bat ihn dann eindringlich: »Sei immer gut zu ihr.«

Er schwor es ihr, und dann fuhren wir auf Hochzeitsreise.

Meine Mutter kehrte nach Roland’s Croft zurück.

Das Haus der tausend Laternen

Подняться наверх