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Das Drama nahm mit dem folgenden Tag seinen Lauf. Es begann damit, daß Sir John zum Schulhaus geritten kam.

»Miss Maddox«, rief er, und sein verstörter Blick versetzte mich in Erstaunen, »ist sie hier? Ist Margot hier?«

»Margot?« fragte ich. »Nein! Ich habe sie schon seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen.«

»O mein Gott, was mag mit ihr geschehen sein?«

Ich starrte ihn fragend an, und er fuhr fort: »Seit gestern abend hat sie niemand mehr gesehen. Ihr Bett ist unberührt. Sie hatte den Mädchen gesagt, sie ginge früh schlafen, da sie Kopfweh hätte. Das war das letzte Mal, daß sie gesehen wurde. Haben Sie eine Ahnung, wohin sie gegangen sein könnte?«

Ich schüttelte den Kopf und versuchte, mir meine letzte Unterhaltung mit Margot ins Gedächtnis zurückzurufen. Nichts hatte auf eine Fluchtabsicht hingedeutet.

Als Sir John zum Gutshaus zurückkehrte, hatte ich ein sehr unbehagliches Gefühl. Ich redete mir ein, es handele sich um einen Streich. Margot würde wieder zum Vorschein kommen und uns alle auslachen. Doch zuweilen war etwas Geheimnisvolles um Margot gewesen. Ich hätte dem mehr Beachtung schenken sollen, doch ich war zu sehr in meine eigenen Angelegenheiten vertieft gewesen.

Ich war zu abgelenkt, um mich mit irgend etwas zu beschäftigen, und am frühen Nachmittag gab ich meinem inneren Drang nach und ging zum Gutshaus, um zu erfahren, ob es Neuigkeiten gab. Ich wartete in der Halle, und als Maria und Sybil mit vor Aufregung gespannten Gesichtern zu mir herunterkamen, spürte ich, daß die allgemeine Verwirrung sie ergötzte.

»Ich glaube, sie ist mit jemandem durchgebrannt«, sagte Maria in aller Offenheit.

»Durchgebrannt? Mit wem?«

»Das müssen wir eben herausfinden. Joel ist ganz geknickt.« Maria blickte mich an. »Sie sollten nämlich heiraten.«

»Sie kann gar nicht durchgebrannt sein«, meinte Sybil. »Es gibt doch niemanden, mit dem sie hätte ausreißen können. Außerdem wußte sie, daß Joel sie heiraten würde, sobald sie alt genug war. Deshalb war es doch so wichtig, daß sie Englisch lernte und daß es ihr hier bei uns gefiel.«

»Hat man die Dienerschaft gefragt?« wollte ich wissen. »Jedermann ist befragt worden«, erwiderte Maria, »aber niemand weiß etwas. Papa ist außer sich, und Mama natürlich auch. Er sagt, er wird den Comte und die Comtesse benachrichtigen müssen, wenn Margot bis morgen nicht gefunden wird.«

»Sie stand unter Papas Obhut«, sagte Sybil. »Es ist entsetzlich für ihn. Wir dachten, sie hätte sich vielleicht dir anvertraut. Sie war ja mehr mit dir als mit uns befreundet.«

»Sie hat mir nichts anvertraut«, gab ich zurück, und dabei überlegte ich, bei wie vielen Gelegenheiten ich sicher gewesen war, ein Geheimnis in ihren Augen entdeckt zu haben. Ich hätte sie fragen sollen, was in ihr vorging. Vielleicht hätte sie es gerne erzählt. Margot gehörte nicht zu den Mädchen, die ein Geheimnis für sich behalten.

»Können wir irgend etwas ...«, begann ich.

»Wir können nur abwarten«, unterbrach mich Sybil.

Als ich gerade gehen wollte, kam ein Reitknecht in die Halle und zog einen jungen Stallburschen hinein, der so erschrocken aussah, daß er schier den Verstand zu verlieren schien. »Fräulein Maria«, sagte der Reitknecht, »ich denke, ich muß auf der Stelle ein Wort mit Sir John reden.«

»Handelt es sich um Mademoiselle Fontaine Delibes?« fragte Maria.

»Um die junge Dame aus Frankreich, jawohl, Fräulein Maria.«

Sybil rannte sogleich los, um ihren Vater zu suchen, während Maria die Glocke zog, um einen Diener nach ihm auszuschicken. Glücklicherweise fand man ihn bald, und er kam eilends in die Halle. Ich wußte, daß es sich für mich nicht schickte, noch länger zu bleiben, doch ich war so um Margot besorgt, daß ich hartnäckig blieb.

Der Reitknecht platzte heraus: »Tim hat Ihnen etwas zu sagen, Sir John. Komm, Tim, sag, was du weißt.«

»Unser James, Sir«, sagte Tim. »Er ist nicht nach Hause gekommen. Er ist mit der jungen Französin auf und davon, Sir. Er hat uns erzählt, daß er weggehen wolle, aber wir haben ihm nicht geglaubt.«

»O mein Gott«, stöhnte Sir John leise. Er kniff die Augen zusammen, als wollte er sich davon überzeugen, daß dies alles nicht wirklich geschah. Ich kannte James. Er gehörte zu der Sorte junger Männer, an die man sich einfach erinnern mußte: groß, auffallend gutaussehend – ein prahlerischer, arroganter Bursche, dessen außergewöhnliche Erscheinung ihm zu einem ungeheuren Selbstbewußtsein verholfen haben mußte.

Sir John lebte sichtlich auf. Er blickte den Stallburschen streng an und forderte ihn auf: »Berichte mir alles, was du weißt.«

»Ich weiß nichts, bloß daß er fort ist, Sir. Ich weiß nur, daß er gesagt hat, er würde in die Gesellschaft einheiraten und ...«

»Was!« rief Sir John aus.

»Jawohl, Sir, er sprach davon, daß er zu irgendeinem Ort in Schottland fliehen wollte. Dort würden sie heiraten, und danach würde er zum Landadel gehören.«

Sir John sagte: »Wir dürfen keine Zeit verlieren. Ich muß ihnen nach. Ich muß Margot zurückbringen, bevor es zu spät ist.«

Ich kehrte zum Schulhaus zurück, denn es gab nun keinen Grund mehr, aus dem ich hätte bleiben sollen. Ich bildete mir ein, daß sowohl Maria wie auch Sybil annahmen, ich hätte bei Margots boshaftem Tun eine Rolle gespielt; denn sie waren überzeugt, daß sie sich mir anvertraut hatte. Ich hätte ihnen versichern können, daß dies nicht der Fall war – doch das würde Margot schon selbst tun, wenn sie zurückgebracht würde.

Ich saß im Wohnzimmer und dachte über Margot nach, die sich auf ein solch törichtes Abenteuer eingelassen hatte. Wenn sie den Stallknecht nun wirklich heiratete? Wie würde der Comte darauf reagieren? Er würde es uns nie verzeihen, daß wir es dazu kommen ließen. Margot würde ganz gewiß verstoßen werden; denn könnte der stolze Comte einen Stallknecht etwa als Schwiegersohn anerkennen? Wie konnte Margot nur so etwas tun? Sie war erst sechzehn Jahre alt, und sie vergaffte sich in einen Stallknecht! Das sah ihr so ähnlich! Zweifellos fand sie das anfangs amüsant. Sie war wirklich kindisch. Aber wie würde eine solche Affäre enden?

Mrs. Manser kam herüber. Sie brachte mir ein paar Eier, doch der wahre Anlaß für ihren Besuch war das Bedürfnis, ein wenig zu klatschen. Sie saß am Tisch, die Augen vor Aufregung weit aufgerissen.

»So eine Bescherung! Diese kleine Madam ... Läuft mit James Wedder auf und davon! Ach du meine Güte! Das werden sie im Gutshaus nie verwinden.«

»Sir John wird sie zurückbringen.«

»Wenn er es rechtzeitig schafft. James Wedder war schon immer hinter den Mädchen her. Der ist regelrecht in sich selbst vernarrt, so einer ist das. Wie dem auch sei, er ist ein ansehnliches Mannsbild. Man sagt, daß er ganz weitläufig mit den Derringhams verwandt sei. Sir Johns Großvater war, glaube ich, ein rechter Taugenichts. Ob Damen oder Dienstmädchen ..., er machte da kaum einen Unterschied, und deswegen gab es hier in der Gegend eine Menge Derringhamsches Blut ..., auch wenn es andere Namen trug. Es heißt, eines der Wedder-Mädchen hatte zwei Bastarde von ihm, und von einem davon stammt James. Er hat schon immer so ein vornehmes Getue gehabt. Und dann läuft er einfach davon!«

»Sie können nicht weit gekommen sein.«

»Sie haben einen Vorsprung, wissen Sie. Es kann sein, daß man sie zurückbringt ..., und was dann?« Sie blickte mich bedeutsam an. »Ich habe gehört, daß sie Joel heiraten sollte. Deshalb sei sie hierhergebracht worden ... – das erzählt man sich jedenfalls. Was wird aber nun geschehen ..., wer weiß?«

»Sie ist noch sehr jung«, sagte ich. »Ich kenne sie gut ... durch die Schule. Ich glaube, sie neigt zu unbesonnenem Handeln, und hinterher bereut sie es. Ich hoffe sehr, daß Sir John sie rechtzeitig einholt.«

»Man erzählt sich, der junge Herr Joel ist entschlossen, diese Heirat zu verhindern. Er ist mit seinem Vater zusammen aufgebrochen. Die beiden werden der Sache ein Ende bereiten, darauf können Sie sich verlassen. Aber ach, welch ein Skandal für das Gutshaus.«

So begierig ich auch nach jeder Auskunft war, die ich erhaschen konnte, war ich doch froh, als Mrs. Manser mich verließ. Ich glaube, sie versuchte mich versteckt zu warnen, denn es war nicht unbemerkt geblieben, daß ich ab und zu mit Joel ausritt. Obgleich die Kluft zwischen uns nicht so tief war wie zwischen Margot und ihrem Stallburschen, so war die Kluft doch immerhin vorhanden.

Mrs. Manser hielt es für klug, wenn ich dem Werben ihres Sohnes Jim nachgeben würde und mich darauf vorbereitete, die Frau eines Bauern zu werden.

Ein ganzer Tag und eine Nacht vergingen mit bangen Vermutungen, und dann kehrten Sir John und Joel mit Margot zurück. Ich bekam sie nicht zu sehen. Sie war erschöpft und überaus erregt und wurde sogleich zu Bett gebracht. Niemand kam vom Gutshaus herüber, um mir Bescheid zu geben, und wieder einmal war es Mrs. Manser, von der ich die Neuigkeiten erfuhr. »Sie haben sie rechtzeitig aufgespürt. Sie haben sie regelrecht verfolgt. Sie hatten schon mehr als siebzig Meilen zurückgelegt. Das weiß ich von Tom Harris, dem Reitknecht, der Sir John begleitet hat. Tom trinkt gerne hin und wieder einen Krug unseres Selbstgebrauten bei uns in der Stube. Er sagt, die beiden waren zu Tode erschrocken, und der junge Herr James war gar nicht mehr so tollkühn, als er Sir John gegenüberstand. Er wurde auf der Stelle verbannt. Es würde mich nicht wundern, wenn wir nie wieder etwas von James Wedder zu hören bekämen. Es sieht Sir John gar nicht ähnlich, einen Mann davonzujagen, der nicht weiß, wohin er gehen soll, aber dieses Mal war es etwas anderes, glaube ich. Das wird James eine Lehre sein.«

»Haben Sie etwas von Mademoiselle gehört?«

»Tom Harris sagte, sie habe geweint, als hätte es ihr das Herz gebrochen, aber man hat sie zurückgebracht ..., und jetzt ist es für sie aus mit James Wedder.«

»Wie konnte sie nur so töricht sein!« rief ich. »Das hätte sie sich doch denken können.«

»Oh, er ist ein forscher junger Bursche, und verliebte junge Mädchen denken nicht viel über die Folgen nach.«

Wieder spürte ich, daß sie mich warnen wollte.

Das Leben veränderte sich so rasch. Meine Mutter war für immer von mir gegangen, und neue Pflichten brachen über mich herein. Auch die Schule war nicht mehr dieselbe; sie hatte die Würde eingebüßt, die meine Mutter ihr verliehen hatte. Ich hatte die beste Ausbildung genossen und war fähig, Unterricht zu erteilen, aber ich schien wohl zu jung und erweckte nicht das gleiche Vertrauen, das man in meine Mutter gesetzt hatte. Ich war erst neunzehn Jahre alt, das vergaßen die Leute nicht. Es war schwieriger als früher für mich, die Stunden abzuhalten: ich spürte eine gewisse Aufsässigkeit. Margot war nicht wieder erschienen, obschon Maria und Sybil weiterhin zur Schule kamen. Maria eröffnete mir jedoch, daß sie und ihre Schwester zu Beginn des Sommers eine abschließende Schule in der Schweiz besuchen würden.

Es wurde mir bange ums Herz. Ohne die Derringham-Mädchen würde die Schule sämtliche Schülerinnen verlieren, die vom Gutshaus kamen – den Belag auf unserem Brot, wie meine Mutter sie genannt hatte. Aber es war weniger der Belag, um den ich mich sorgte, als das Brot selbst.

»Man spricht davon, daß unser Bruder eine Europareise machen soll«, erzählte mir Maria hämisch. »Papa meint, daß ihn das sehr bilden wird, und alle jungen Männer seines Standes machen eine solche Reise. Er soll bald aufbrechen.«

Es war, als hätte Margots Abenteuer mit dem Stallburschen etwas in Gang gesetzt, dessen Ziel es war, alles zu verändern. Ich sehnte mich plötzlich nach Joels Gesellschaft – seine stete Ausgeglichenheit wirkte so beruhigend. Wenn er eine Europareise unternahm, so bedeutete dies, daß er möglicherweise zwei Jahre lang fortbleiben würde. Was konnte sich nicht alles in zwei Jahren ereignen! Die einst so blühende kleine Schule konnte bis dahin bankrott gehen. Ohne die Derringhams ..., was sollte ich nur tun? Ich spürte, daß man mir die Schuld an Margots Unbesonnenheit gab. Wie oft hatte man hervorgehoben, daß Margot und ich gute Freundinnen seien. Vielleicht hieß es auch, ich hätte mich erkühnt, mich zu eng mit Joel Derringham anzufreunden – eine Liaison, die freilich kein ehrenhaftes Ende finden könnte und die einen schlechten Einfluß auf Margot ausgeübt hätte.

Die Ankündigung zweier Mädchen von einem der großen Landhäuser in der Nachbarschaft, daß auch sie abreisen würden, um eine abschließende Schule zu besuchen, erschien mir wie ein flackerndes Warnlicht am Ende eines Tunnels.

Ich unternahm einen langen Ritt auf Dower, in der Hoffnung, Joel zu begegnen und aus seinem eigenen Munde zu hören, daß er fortginge. Doch ich traf ihn nicht, und das war wie ein Vorzeichen.

An einem Sonntagmorgen besuchte er mich. Mein Herz klopfte schneller, als ich beobachtete, wie er sein Pferd anband. Als er ins Wohnzimmer trat, machte er ein sehr ernstes Gesicht.

»Ich gehe in Kürze fort«, eröffnete er mir.

Das Schweigen wurde nur durch das Ticken der Uhr unterbrochen.

»Maria hat es bereits erwähnt«, hörte ich mich sagen.

»Nun, das gehört selbstverständlich zur Bildung.«

»Wohin werden Sie reisen?«

»Europa ... Italien, Frankreich, Spanien: die große Rundreise.«

»Das wird gewiß höchst interessant.«

»Ich würde lieber hier bleiben.«

»Und warum gehen Sie dann fort?«

»Mein Vater besteht darauf.«

»Aha, und Sie müssen gehorchen.«

»Das habe ich stets getan.«

»Und Sie können natürlich jetzt den Gehorsam nicht verweigern. Doch warum möchten Sie das überhaupt?«

»Weil ..., ich habe einen Grund, aus dem ich nicht fortgehen möchte.« Er blickte mich ernsthaft an. »Ich habe unsere Freundschaft sehr geschätzt.«

»Sie war schön.«

»Sie ist schön. Ich komme wieder, Minella.«

»In ferner Zukunft.«

»Aber ich werde zurückkommen. Dann werde ich mit Ihnen sprechen ... über etwas sehr Ernstes.«

»Wenn Sie zurückkommen, und ich bin noch hier, dann werde ich mit Interesse anhören, was Sie mir zu sagen haben.«

Er lächelte, und ich fragte ruhig: »Wann brechen Sie auf?«

»In zwei Wochen.«

Ich nickte. »Darf ich Ihnen ein Glas Wein anbieten? Die Spezialität meiner Mutter. Sie war stolz auf ihren Wein. Ich habe auch Schlehenlikör, der schmeckt sehr gut.«

»Das glaube ich gern, aber ich möchte jetzt nichts. Ich bin nur gekommen, um mich mit Ihnen zu unterhalten.«

»Sie werden großartige Kunst und Bauwerke zu sehen bekommen. Sie werden den nächtlichen Himmel über Italien erleben können. Sie werden alles über die Politik jener Länder erfahren, durch die Sie reisen werden. Sie werden sich wahrhaft bilden.« Der Blick, mit dem er mich ansah, war beinahe mitleiderregend. Ich hatte das Gefühl, wenn ich jetzt eine bestimmte Bewegung machte, so würde er ohne zu zögern zu mir kommen, seine Arme um mich legen und mich bedrängen, ebenso töricht und unbesonnen zu handeln wie Margot und ihr Stallknecht. Ich dachte: Nein, es ist nicht an mir, den ersten Schritt zu tun. Wenn er es ehrlich wünscht, so muß er den Anfang machen. Ich fragte mich, was die Derringhams wohl tun würden, wenn Joel ihnen mitteilte, daß er mich heiraten wollte.

Noch eine Katastrophe, und dazu der ersten so ähnlich! Eine Mesalliance würden sie das nennen.

O meine liebe Mutter, wie sehr hast du dich geirrt!

»Ich muß Sie noch einmal sehen, bevor ich abreise«, sagte Joel. »Lassen Sie uns zusammen ausreiten. Es gibt noch vieles, worüber ich mit Ihnen sprechen möchte.«

Nachdem er gegangen war, blieb ich am Tisch sitzen und dachte über Joel nach. Ich wußte, was er mir sagen wollte. Seine Familie, auf sein Interesse an mir aufmerksam geworden, schickte ihn fort. Margots Episode hatte ihnen die Gefahr verdeutlicht.

Über dem Kaminsims hing das Bild meiner Mutter, das mein Vater im ersten Jahr ihrer Ehe hatte malen lassen. Es war ihr auf wundervolle Weise ähnlich. Ich blickte auf diese ernsten Augen, den resoluten Mund. »Du hast zuviel geträumt«, sagte ich. »Es hat von vornherein nichts daraus werden sollen.«

Und ich war nicht sicher, ob ich es überhaupt wollte. Ich wußte nur, daß die Welt um mich herum zusammenbrach. Ich sah, wie die Schülerinnen von dannen zogen. Ich fühlte mich einsam, und ein leichtes Angstgefühl befiel mich.

Joel reiste ab, und die Tage kamen mir lang vor. Ich war froh, wenn die Schule vorüber war, obgleich ich die langen Abende fürchtete, wenn ich die Lampen anzündete und versuchte, mich auf den Unterricht des folgenden Tages vorzubereiten. Zwar war ich dankbar für die häufige Gesellschaft der Mansers, doch war ich mir stets der Erwartungen bewußt, die sie in Jim und mich setzten. Ich stellte mir Mrs. Manser vor, wie sie ihrem Gatten erzählte, ich sei zur Vernunft gekommen und denke nicht mehr an Joel Derringham.

Ich empfand tiefes Bedauern über den Verlust unserer Ersparnisse. Im Schlafzimmer meiner Mutter befanden sich mehrere Bahnen kostspieliger Stoffe. Ich aber mußte an die Kosten für Dowers Unterhalt denken. Da ich mich der guten Jenny, die uns so treu gedient hatte, nicht entledigen konnte, hatte ich zwei Tiere zu versorgen.

Maria und Sybil sprachen ständig über ihre bevorstehende Abreise in die Schweiz, und ich war von der Furcht gequält, daß ich nicht in der Lage sein würde, die Schule in Gang zu halten. Nachts, wenn ich allein war, stellte ich mir vor, meine Mutter sei bei mir, und ich sprach mit ihr. Ich bildete mir ein, ihre Stimme zu hören, die aus dem Nichts, das die Toten von den Lebenden scheidet, zu mir herüberdrang und mich tröstete.

»Wenn eine Tür zufällt, geht eine andere auf.« Sie hatte einen ganzen Vorrat solcher abgedroschenen Binsenwahrheiten, die sie bei jeder passenden Gelegenheit anzubringen wußte, und ich hatte sie deswegen oft geneckt. Jetzt fielen sie mir wieder ein, und ich hatte meine Freude daran.

Was mich am allermeisten verunsicherte war die kühle Gleichgültigkeit, die Sir John und Lady Derringham mir neuerdings entgegenbrachten. Sie fanden es höchst ungehörig von mir, daß ich ihrem Sohn gestattet hatte, sich zu mir hingezogen zu fühlen. Ich hätte es mir denken können, daß sie mir die Schuld geben würden. Ich war sicher, daß sie mich für eine intrigante Abenteurerin hielten. Obschon sie Joel auf seine Europareise geschickt hatten, waren sie entschlossen, mir nicht mehr die geringste Chance zur Durchführung meines Ränkespiels zu bieten, und das bedeutete natürlich den Entzug ihres Wohlwollens. Dies war die besorgniserregendste Seite an meiner Situation. Meine Mutter hatte ständig darauf hingewiesen, wieviel Gutes uns durch die Derringhams widerfahren war, und ich fragte mich, wie lange ich die Schule würde halten können, wenn sie keinen Gewinn mehr einbrachte.

An einem stürmischen Märztag kam Margot, um mir Lebewohl zu sagen. Sie sah blaß aus, und in ihren Augen entdeckte ich ein unheilverkündendes Funkeln.

Es war Sonntag – ein Tag also, an dem kein Unterricht stattfand, und ich vermutete, daß sie den Tag aus eben diesem Grunde für ihren Besuch gewählt hatte.

»Guten Tag, Minelle«, sagte sie. »Ich reise nächste Woche nach Hause. Ich bin gekommen, um dir Lebewohl zu sagen.«

Ich fühlte mich plötzlich ganz elend. Ich war in Margot vernarrt gewesen, und ihr Abschied bedeutete, daß mir alle Dinge und alle Menschen, an denen ich hing, nach und nach entglitten.

»Diese kleine Episode« – sie breitete die Arme aus, als wolle sie das Schulhaus, mich und ganz England umfangen – »ist vorüber.«

»Nun, es war gewiß ein Erlebnis für dich.«

»Ja. Traurig, glücklich und ... amüsant. Nichts auf der Welt ist nur eines auf einmal, nicht wahr? In allem steckt ein wenig von allem. Der arme James. Ich frage mich oft, wo er wohl sein mag. In Ungnade gefallen und verstoßen. Doch er wird eine neue Heimat finden ... und andere Mädchen lieben.«

»Und du?«

»Ich werde darüber hinwegkommen.«

»Es war sehr töricht von dir, Margot.«

»Ja, nicht wahr? Wie bei den meisten Abenteuern machte es auch diesmal mehr Spaß, es zu planen als es auszuführen. Wir lagen immer im Gebüsch unter der Hecke und schmiedeten Pläne. Das war das beste von allem. Es war so schön gefährlich. Ich rannte in jedem nur möglichen Augenblick davon, um James zu treffen.«

»Selbst dann, wenn du Verstecken spieltest«, bemerkte ich. Sie nickte und lachte mich an. »Wir hätten jederzeit von jedermann entdeckt werden können. Aber das war uns einerlei.«

»Du hast dich doch sicher gefürchtet vor dem, was geschehen könnte.«

»O ja. Aber es gefällt mir, mich zu fürchten. Dir etwa nicht? Aber nein, du bist viel zu rechtschaffen. Doch wie steht es um dich und Joel, hm? In gewisser Hinsicht befinden wir uns in derselben Lage ..., zwei von der gleichen Sorte, so sagt man doch, nicht wahr? Wir haben beide unseren Geliebten verloren.«

»Joel war nicht mein Geliebter.«

»Aber er hoffte es zu werden. Und du hofftest es auch. Ich mußte so lachen: Du ..., die Lehrerin. Ich ... und der Stallbursche. Es war ein Reigen ..., der Reigen der Klassen. Komisch, findest du nicht?«

»Nein, nicht im geringsten.«

»Du bist eine echte Schulmeisterin geworden, Minelle. Aber wir hatten viel Spaß zusammen – und jetzt kehre ich nach Frankreich zurück. Sir John und Lady Derringham konnten es kaum noch erwarten, mich loszuwerden, und nun gehe ich.«

»Ich finde es schade. Ich werde dich sehr vermissen.«

»Ich werde dich auch vermissen, Minelle. Dich habe ich stets von allen hier am liebsten gemocht. Mit Maria und Sybil kann ich mich nicht unterhalten. Sie rümpfen ihre albernen Nasen, als hätte ich die Pest ... – nur, weil ich ihnen eine Erfahrung voraus habe, die sie höchstwahrscheinlich niemals machen werden. Vielleicht kommst du mich mal in Frankreich besuchen.«

»Ich wüßte nicht, wie sich das ermöglichen ließe.«

»Ich könnte dich doch einladen.«

»Das ist lieb von dir, Margot.«

»Minelle, ich habe Sorgen.«

»Sorgen? Weswegen?«

»Ich weiß nicht, was ich tun soll.«

»Vielleicht erklärst du das erst einmal genauer.«

»Als James und ich unter der Hecke im Gebüsch lagen, haben wir nicht nur Pläne geschmiedet.«

»Wie meinst du das?«

»Ich bekomme ein Kind, Minelle.«

»Margot!«

»Die allergrößte Schande!« rief sie aus. »Nicht was man tut ist schlimm, sondern dabei ertappt zu werden. Schau, James hätte ruhig mein Liebhaber sein können – ein bedauernswerter Vorfall, den man vertuschen und vergessen kann. Aber wenn es einen lebenden Beweis für unsere Liaison gibt, was dann? Schmach und Schande. Ja, so weit ist es mit mir gekommen, Minelle. Was soll ich nur tun?«

»Wissen Sir John und Lady Derringham schon davon?«

»Niemand weiß es, außer dir ... und mir.«

»Margot, was kannst du tun?«

»Das ist es ja, was du mir raten sollst.«

»Wozu kann man da schon raten? Du wirst ein Kind bekommen, und das wirst du nicht verbergen können.«

»Wir werden es verheimlichen. Früher haben die Menschen auch illegitime Kinder bekommen und es verheimlicht.«

»Wie willst du das bewerkstelligen?«

»Das muß ich mir eben überlegen.«

»Margot, wie kann ich dir dabei helfen?«

»Deswegen bin ich ja gekommen, um mit dir darüber zu reden.« Jetzt entdeckte ich die Furcht in ihren Augen. »Ich habe Angst, nach Hause zu kommen ... in diesem Zustand. Bald werden es alle sehen, nicht wahr? Und mein Vater ...«

Vor meinem inneren Auge erstand er so deutlich, wie ich ihn beim ersten Mal auf Gut Derringham erblickt hatte. Wieder spürte ich seine Lippen, die sich fest auf die meinen preßten. »Vielleicht wird er es verstehen«, meinte ich.

Margot lachte bitter auf. »Er hat seine Bastarde, daran zweifle ich nicht. Das ist gar nichts ..., eine Bagatelle. Aber was für einen Mann wie meinen Vater akzeptabel ist, das ist für seine Tochter die allergrößte Schmach.«

»Das ist so ungerecht.«

»Natürlich ist es ungerecht, Minelle, aber was soll ich machen? Wenn ich daran denke, daß ich meinem Vater gegenübertreten soll, dann ist mir, als stiege ich auf einen hohen Turm, um mich hinabzustürzen.«

»Sag so etwas nicht.«

»Ich würde es natürlich nie tun. Ich bin immer so neugierig, was als nächstes folgt. Minelle, laß uns fliehen ..., du und ich! Die Schule geht nicht besonders gut, nicht wahr? Ich habe darüber reden hören. Joel ist fort. Der Freier, der seinen Eltern gehorchen mußte, anstatt sich zu seiner Liebe zu bekennen! Pouf!« Sie schnippte mit den Fingern. »James ..., der hatte Mut. ›Wir werden leben wie die Zigeuner‹, hat er gesagt. ›Ich werde mein Glück machen, und dann wohnen wir in einem Schloß, so groß wie das Schloß deines Vaters..‹ Und dann kommt Sir John, und James wird ganz winzig und ist nur mehr ein eingeschüchterter kleiner Junge. Ich bin nicht so ein Schwächling wie er. Und du auch nicht. Wir gehören nicht zu den Menschen, die etwas nur deshalb tun, weil man es aus Tradition tut. Wir können zu unseren Entschlüssen stehen. Wir können kämpfen.«

»Du redest dummes Zeug, Margot.«

»Was soll ich aber tun?«

»Da gibt es nur eines: Du mußt Sir John sagen, daß du ein Kind erwartest. Er ist gütig. Er wird dir helfen. Er wird wissen, was zu tun ist.«

»Ich würde es lieber ihm erzählen als meinem Vater.«

»Vielleicht kann deine Mutter dir helfen.«

Margot lachte. »Meine Mutter würde es nicht wagen, irgend etwas zu unternehmen. Sie würde es nur ihm berichten, und das könnte ich dann auch ebensogut selbst besorgen.«

»Was glaubst du, was er tun wird?«

»Er wird außer sich vor Zorn sein. Ich bin das einzige eheliche Kind. Das allein macht ihn schon wütend. Kein Sohn, der den großen Namen weiterträgt. Meine Mutter ist zu schwach und so leidend, daß die Ärzte darauf bestehen, daß sie keine Kinder mehr haben darf. So ruht denn alle Hoffnung der Familie auf mir. Ich muß eine erstklassige Ehe eingehen. Wenn auch von Joel und mir die Rede war, ich glaube nicht, daß mein Vater diese Verbindung für ideal hält. Er hat sie nur wegen der Unruhen in Frankreich in Betracht gezogen, und er glaubt, daß Besitztümer in England sich in der Zukunft als nützlich erweisen könnten. Und nun wird die Hoffnung der Familie einen Bastard zur Welt bringen, dessen Vater ein Stallknecht ist!«

Sie brach in schallendes Gelächter aus, das mich erschreckte; denn ich erkannte, daß Margot sich trotz ihres leichtfertigen Geredes an der Grenze zur Hysterie befand. Die arme Margot! Sie war weiß Gott in einer unglücklichen Lage, und nach meiner Ansicht gab es nur einen Ausweg. Sie mußte sich Sir John anvertrauen und ihn um Hilfe bitten.

Sie war ganz und gar dagegen und fuhr fort, mir ihre irrsinnigen Pläne für unsere gemeinsame Flucht auseinanderzusetzen, aber letzten Endes konnte ich sie davon überzeugen, daß diese ebensowenig gelingen würde wie ihr Davonlaufen zuvor. Als sie mich verließ, erschien sie mir ein wenig ruhiger. Ich glaubte, sie hatte eingesehen, daß ihr nichts anderes übrigblieb, als ihre mißliche Lage zu bekennen.

Als ich am folgenden Tag nach dem Unterricht die Bücher wegräumte und versuchte, gegen die Depression anzukämpfen, die mich befiel, weil zwei weitere Schülerinnen mir an diesem Morgen ihren Abgang zum Ende des Halbjahres angekündigt hatten, kam Margot vorbei.

Sie war den ganzen Weg vom Gutshaus gelaufen und war völlig außer Atem. Ich hieß sie sich niedersetzen und reichte ihr ein Glas von dem Stärkungsmittel meiner Mutter; erst wenn sie getrunken hätte, sei ich bereit, sie anzuhören.

Sie sei zu Sir John gegangen und habe es ihm erzählt, sagte sie. »Ich dachte, er würde vor Schreck sterben. Obwohl wir uns liebten und heiraten wollten, sei es ganz unmöglich, daß wir uns auf ›diese unverantwortliche Art‹, wie er sich ausdrückte, betragen haben. Anfangs wollte er es nicht wahrhaben. Er denkt wohl, ich bin ein Unschuldsengel und glaube an den Klapperstorch. Ständig wiederholte er: ›Das kann nicht wahr sein! Es ist ein Irrtum!‹ Ich habe ihm gesagt, ich wäre alt genug, um ein Baby zu bekommen und vorher das zu tun, was nötig ist, um es zu zeugen. Wie er mich angeguckt hat! Ich hätte lachen können, wenn ich nicht ein wenig Angst gehabt hätte. Ich wußte, was dann kommen würde: ›Ich muß sofort Ihre Eltern benachrichtigen.‹ Da siehst du, was du angerichtet hast, Minelle. Durch deinen Rat ist genau das eingetreten, was wir vermeiden wollten.«

»Es wäre doch unmöglich zu vermeiden gewesen, Margot. Wie wolltest du so etwas vor deinen Eltern geheimhalten? Es geht ja nicht nur darum, ein Baby zu bekommen. Nach der Geburt ist das Kind ja schließlich da. Wie wolltest du damit fertig werden, ohne daß deine Eltern es wissen?« Margot schüttelte den Kopf. Dann blickte sie mich ernst an, ihre riesigen dunklen Augen funkelten wie grelle Lampen in ihrem blassen Gesicht: »Ich habe Angst, ihm gegenüberzutreten«, sagte sie.

Das glaubte ich gern, und ich tat mein Bestes, um sie zu trösten. Es lag in ihrer Natur, daß sie sich tiefster Verzweiflung hingeben konnte, um kurz darauf vor joie de vivre zu sprühen. Sie lachte viel, doch oft lag Hysterie in ihrem Lachen, und ich wußte, daß sie sich vor ihrem Vater fürchtete. Sie trat ihre Heimreise nach Frankreich nicht zum ursprünglich vorgesehenen Zeitpunkt an und kam zum Schulhaus, um mir zu berichten, daß ihr Vater auf dem Wege nach England sei und sie auf dem Gut bleiben solle, bis er dort eintreffe. Sie umhüllte sich mit prahlerischem Maulheldentum, doch ich fragte mich, wie dick diese Kruste sein mochte. Arme Margot! Sie war in einer wirklich üblen Lage. Von Mrs. Manser erfuhr ich, daß der Comte auf dem Gutshof angekommen war.

»Ich schätze«, sagte sie, »er ist gekommen, um Mademoiselle nach Hause zu holen. Er wird ihr eine gehörige Standpauke halten. Man stelle sich die Empörung des Comte vor: Seine Tochter geht mit einem Stallknecht auf und davon!«

»Das kann ich mir allerdings gut vorstellen.«

»Meiner Treu! Dieser Herr hat einen unbeugsamen Stolz. Man brauchte ja nur zu sehen, wie er dahergeritten kam. Und seine Tochter will James Wedder heiraten! So etwas habe ich noch nie erlebt. Das kann nicht gutgehen, müssen Sie wissen. Gott stellt einen an seinen Platz, und dort sollte man auch bleiben, finde ich.«

Ich war nicht in der Stimmung, mir ihre Moralpredigten anzuhören, und als sie mich zum Abendessen einlud, gab ich vor, daß ich zuviel Arbeit für die Schule hätte.

»Wie geht es mit der Schule, Minella?« Ihre Stirn runzelte sich in besorgte Falten, doch ihr Mund verriet eine gewisse Genugtuung. Ihrer Meinung nach schickte es sich nicht für eine Frau, etwas anderes als Ehefrau zu sein, und je weniger die Schule einbrachte, um so eher würde ich zur Besinnung kommen. Sie wollte ihren Jim mit einer Frau ihrer Wahl versorgt sehen (und seltsamerweise hatte sie mich dazu auserkoren) und wünschte sich Enkel, die auf dem Hof herumliefen und lernten, die Kühe zu melken und die Hühner zu füttern. Ich lächelte, als ich mir die Mißbilligung meiner Mutter vorstellte.

Bald nachdem Mrs. Manser gegangen war, kam ein Bote vom Gutshaus. Meine Anwesenheit sei dort erwünscht, und Sir John und Lady Derringham würden sich freuen, wenn ich unverzüglich kommen könnte. Es war beinahe eine Vorladung.

Ich dachte mir, es müsse damit zusammenhängen, daß Maria und Sybil die Schule verlassen wollten und daß sie damit vielleicht nicht mehr bis zum Ende des Halbjahres warten würden.

Bei dem Gedanken, daß der Comte dort sein würde, zitterte ich ein wenig, doch hielt ich eine Begegnung für unwahrscheinlich. Ich überquerte den Rasen, kam an der Sonnenuhr vorbei und trat in die Halle. Ein Diener teilte mir mit, Sir John erwarte mich im blauen Malzimmer, und er werde mich sogleich dorthin führen. Er öffnete die Tür und meldete mich an, und ich sah Sir John mit dem Rücken zum Kaminfeuer stehen. Mein Herz zuckte zusammen und begann heftig zu klopfen, denn am Fenster stand der Comte und blickte hinaus.

»Ah, Fräulein Maddox«, sagte Sir John. Der Comte fuhr herum und verbeugte sich.

»Gewiß wundert es Sie, warum wir Sie hergebeten haben«, sprach Sir John. »Es betrifft diese peinliche Angelegenheit, in welche Marguerite verstrickt ist. Der Comte hat Ihnen einen Vorschlag zu machen, und ich lasse Sie jetzt mit ihm allein, damit er es Ihnen erklären kann.«

Er wies auf einen hochlehnigen Stuhl gegenüber dem Fenster, und ich setzte mich.

Als die Tür sich hinter Sir John schloß, nahm der Comte auf der Bank am Fenster Platz, verschränkte die Arme und blickte mich ernst an.

»Da Sie, Mademoiselle Maddox, meine Sprache ein wenig besser beherrschen als ich die Ihre, halte ich es für angebracht, diese Unterhaltung auf französisch zu führen. Ich wünsche, daß Sie meinen Vorschlag genau verstehen.«

»Falls mir etwas unklar sein sollte, werde ich es sagen«, erwiderte ich.

Ein schwaches Lächeln erschien auf seinen Lippen. »Sie werden alles verstehen, Mademoiselle, denn Sie sind sehr vernünftig. Diese betrübliche Affäre meiner Tochter, welch eine Schmach! Welch eine Schande für unser edles Geschlecht!«

»Es ist gewiß bedauerlich.«

Er spreizte die Finger, und wieder bemerkte ich den kunstvollen Siegelring und die erlesenen weißen Spitzen an den Ärmelkanten.

»Ich beabsichtige nicht, das Mißgeschick mit mehr Bedauern zu betrachten als unbedingt nötig. Sie müssen wissen, daß ich keinen Sohn habe. Meine Tochter wird unseren edlen Namen fortpflanzen müssen. Das darf durch nichts verhindert werden. Doch zuerst muß sie diesen ... Bastard zur Welt bringen ..., diesen Sohn eines Stallknechtes. Der wird unseren edlen Namen nicht tragen.«

Ich hielt ihm entgegen, daß das Kind ein Mädchen sein könnte. »Das wollen wir inständig hoffen. Eine Tochter würde weniger Schwierigkeiten bereiten. Doch zunächst müssen wir überlegen, was zu tun sei. Das Kind muß in aller Heimlichkeit zur Welt gebracht werden. Das kann ich arrangieren. Marguerite wird an einen Ort gehen, den ich für sie aussuchen werde. Sie wird als Madame ... Soundso ... auftreten, und sie wird eine Gesellschafterin bei sich haben. Marguerite wird eine Witwe in einer bedauernswerten Lage sein, da ihr junger Gemahl bei einem Unfall ums Leben kam. Ihre liebe Cousine wird sich um sie kümmern. Das Kind wird geboren und zu Pflegeeltern gegeben, Marguerite wird nach Hause zurückkehren, und es wird sein, als hätte es diese unglückselige Affäre nie gegeben.«

»Das scheint eine einfache Lösung zu sein.«

»Ganz so einfach nicht. Sie erfordert wohlüberlegtes Planen. Ich liebe derartige Familiengeheimnisse nicht. Dies ist ja nicht das Ende der Geschichte ..., schließlich wird es ein Kind geben, das irgendwo leben wird. Wie Sie sehen, Mademoiselle, ist mir gar nicht wohl zumute.«

»Das verstehe ich natürlich.«

»Sie sind eine sehr verständige junge Dame. Das wußte ich schon bei unserer ersten Begegnung.« Ein Lächeln umspielte seine Lippen, und er schwieg ein paar Augenblicke. Dann fuhr er fort: »Ich sehe, Sie sind verwirrt. Sie fragen sich, was Sie damit zu tun haben. Das will ich Ihnen sagen. Sie werden die Cousine sein.«

»Welche Cousine?«

»Marguerites Cousine natürlich. Sie werden sie zu dem Ort begleiten, den ich auswählen werde. Sie werden sich um sie kümmern. Sie werden bei ihr sein und darauf achten, daß sie keine neuen Dummheiten begeht. Ich weiß, daß sie bei Ihnen in guten Händen ist.«

Ich war so verblüfft, daß ich stammelte: »Das ... das ist unmöglich.«

»Unmöglich! Das ist ein Wort, das ich nicht leiden kann. Wenn die Leute ›unmöglich‹ sagen, dann pflege ich ihnen zu beweisen, daß es doch möglich ist.«

»Ich habe meine Schule.«

»Ach, Ihre Schule macht mich ganz traurig. Ich höre, sie geht nicht so gut, wie sie es sollte.«

»Wie meinen Sie das?«

Er breitete die Arme aus, und irgendwie bewerkstelligte er es, mich wissen zu lassen, daß mein Mißgeschick ihn betrübte, während das Kräuseln seiner Lippen mir gleichzeitig zeigte, daß meine Zwangslage ihn amüsierte ..., daß er sogar ein wenig Genugtuung darüber empfand. »Lassen Sie uns offen miteinander reden«, sagte er. »Mademoiselle Maddox, ich habe Sorgen, und Sie haben Sorgen. Was wollen Sie tun, wenn die Schule zu einer Belastung wird, statt Gewinn abzuwerfen, hm?«

»So weit wird es nicht kommen.«

»Aber, aber, wir wollten doch aufrichtig miteinander reden. Verzeihen Sie mir meine Offenheit, aber Sie sind nicht die ausgereifte Persönlichkeit, die Ihre Mutter war. Die Leute zaudern. Soll ich meine Tochter auf eine Schule schicken, deren Vorsteherin – und die einzige Lehrerin – fast selbst noch ein Kind ist? Sie sehen doch, was geschieht. Eine Ihrer Schülerinnen brennt mit einem Stallburschen durch. Wäre das auch vorgekommen, wenn Ihre Mutter die Aufsicht gehabt hätte?«

»Die Flucht Ihrer Tochter hat mit der Schule nichts zu tun.«

»Meine Tochter hat während der Schulzeit viele Stunden mit Ihnen verbracht. Sie hat zweifellos geplaudert und über ihre Liebesgeheimnisse geschwätzt. Dann reißt sie mit einem Stallknecht aus. Eine Schande für sie ..., für uns ..., für Sie und die Schule. Zumal mir auch noch zu Ohren gekommen ist, daß der Sohn der Derringhams Ihretwegen so überstürzt zu seiner Europareise aufbrechen mußte.«

»Sie sind ... unverschämt.«

»Ich weiß. Um die Wahrheit zu sagen, das gehört zu meinem Charme. Ich kultiviere es. Es ist um vieles attraktiver als Schmeichelei. Vor allem, da ich die Wahrheit spreche, und das heißt, daß Sie, meine liebe Mademoiselle, in einer unangenehmen Situation sind ..., genau wie ich. Lassen Sie uns Freunde sein und uns gegenseitig helfen. Was wollen Sie anfangen, wenn die Schule Ihnen Ihren Unterhalt nicht mehr verschaffen kann? Ich möchte schwören, Sie werden Gouvernante, und ein paar verhaßte Kinder machen Ihnen das Leben zur Hölle. Sie könnten allerdings auch heiraten. Vielleicht werden Sie die Frau eines Bauern ..., und gestatten Sie mir, daß ich Ihnen sage: Dies wäre die allergrößte Tragödie.«

»Sie scheinen eine ganze Menge über meine Privatangelegenheiten zu wissen.«

»Es ist mein Prinzip, alles zu erfahren, was mich interessiert.«

»Aber ich kann Ihren Vorschlag nicht annehmen.«

»Für eine so kluge junge Dame sagen Sie manchmal recht närrische Dinge. Doch da ich weiß, daß Sie es so nicht meinen, ändert das nichts an meiner Ansicht über Sie. Sie interessieren mich, Mademoiselle. Sie haben die Verantwortung für meine Tochter und werden noch mehr Einfluß auf sie gewinnen, ist es nicht so? Ich wünsche, daß Sie so bald wie möglich aufbrechen; aber ich weiß, daß Sie zuvor Ihre Angelegenheiten regeln müssen. Ich habe Verständnis dafür. Ich möchte Sie nicht zu allzu großer Eile antreiben. Glücklicherweise bleibt uns ein wenig Zeit.«

»Sie sind mir zu schnell.«

»So bin ich immer. Auf diese Weise kommt man am besten voran. Sie werden schon noch feststellen, daß es durchaus nicht zu schnell ist. Genau die richtige Geschwindigkeit. Damit wäre die Sache also abgemacht, und wir können zu den Einzelheiten übergehen.«

»Die Sache ist alles andere als abgemacht, Angenommen, ich erkläre mich einverstanden ..., angenommen, ich bleibe bei Margot, bis das Kind geboren ist – was dann?«

»Es ließe sich eine Stellung in meinem Hauswesen für Sie finden.«

»Eine Stellung? Was für eine Stellung?«

»Das können wir später entscheiden. Solange Sie sich in dem Haus aufhalten, in das ich Sie beide schicken werde, treten Sie als Margots Cousine auf. Vielleicht könnten Sie auch später dabei bleiben. Ich war schon immer der Meinung, daß es am besten ist, an einer einmal begangenen Täuschung festzuhalten. Man muß dabei freilich der Wahrheit so nahe wie möglich kommen, um die Täuschung glaubhaft zu machen. Wirklichkeit und Erfindung müssen so geschickt miteinander verwoben sein, daß sie den Eindruck absoluter Wahrheit erwecken, und wenn Sie einmal als Cousine eingeführt sind, wäre es möglicherweise von Vorteil für Sie, diese Rolle auch weiterhin zu spielen. Ihre Herkunft macht noch Schwierigkeiten. Wir müssen es so darstellen: Die Tochter eines Urururgroßvaters hat nach England geheiratet, und Sie stammen aus diesem Zweig der Familie. Infolgedessen sind Sie eine Cousine, wenn auch eine entfernte. Sie werden Marguerites Gesellschafterin sein und sich um sie kümmern. Sie braucht jemanden, der auf sie aufpaßt, das hat diese Episode bewiesen. Ist das nicht ein guter Vorschlag? Er hilft Ihnen aus Ihren Schwierigkeiten und mir aus meinen.«

»Er scheint mir arg überspannt.«

»Das hat er mit den besten Dingen im Leben gemein. Ich werde mich unverzüglich an die Vorbereitungen begeben.«

»Ich habe noch nicht zugestimmt.«

»Aber Sie werden zustimmen, denn Sie sind ein vernünftiges Mädchen. Sie machen Fehler, wie die meisten von uns, aber Sie wiederholen Sie nicht. Das weiß ich, und ich wünsche, daß Sie einen guten Einfluß auf Marguerite ausüben. Sie ist ein eigensinniges Kind, fürchte ich.« Er erhob sich und trat vor meinen Stuhl. Ich stand ebenfalls auf. Er legte seine Hände auf meine Schultern, und das rief eine lebhafte Erinnerung an jene Szene in seinem Schlafzimmer in mir wach. Ich glaube, auch er mußte daran gedacht haben; er spürte, wie ich zusammenzuckte, und das amüsierte ihn.

»Es ist stets ein Fehler, sich vor dem Leben zu fürchten«, bemerkte er.

»Wer sagt, daß ich mich fürchte?«

»Ich kann Ihre Gedanken lesen.«

»Dann müssen Sie aber sehr geschickt sein.«

»Sie werden schon noch entdecken, wie geschickt ... – mit der Zeit, vielleicht. Jetzt aber will ich ebenso nett wie geschickt sein. Dies ist alles zu plötzlich über Sie gekommen. Sie hatten keine Ahnung, was für einen Vorschlag ich Ihnen unterbreiten würde, und ich sehe, wie Sie die Gedanken in Ihrem Kopf hin- und herwälzen. Meine liebe Mademoiselle, blicken Sie den Tatsachen ins Auge. Mit der Schule geht es abwärts; diese Affäre meiner Tochter hat die Mitglieder des Landadels abgeschreckt. Sie mögen zwar sagen, daß Sie damit nichts zu tun hatten, aber Marguerite war schließlich auf Ihrer Schule, und unglücklicherweise fühlte sich auch noch der Erbe von Derringham zu Ihnen hingezogen. Sie können nichts für Ihren Charme, doch nicht alle Leute sind so feinfühlig wie ich. Man wird sagen, Sie hätten Ihre Fänge nach Joel Derringham ausgeworfen, und seine Eltern hätten es beizeiten gemerkt und ihn fortgeschickt. Ungerecht, finden Sie. Es war nicht Ihre Absicht, diesen jungen Mann einzufangen. Aber es kommt nicht immer auf die Wahrheit an. Ich gebe der Schule noch sechs Monate ..., vielleicht acht ..., und was dann? Kommen Sie, seien Sie vernünftig. Spielen Sie Marguerites Cousine. Ich werde dafür sorgen, daß Sie nie wieder in finanzielle Not geraten. Verlassen Sie das Schulhaus mit seinen traurigen Erinnerungen. Ich weiß, wie sehr Sie Ihre Mutter geliebt haben. Was werden Sie hier anderes tun als grübeln? Lassen Sie den Klatsch und das Gerede hinter sich! Mademoiselle, diese unglückseligen Affären können Ihnen zu einem neuen Leben verhelfen.«

Es war so viel Wahres an dem, was er sagte. Ich hörte mich murmeln: »Ich kann mich nicht sofort entschließen.«

Er gab einen Seufzer der Erleichterung von sich.

»Nein, nein. Das wäre zuviel verlangt. Sie haben heute und morgen Zeit, sich zu entscheiden. Sie werden darüber nachdenken und dabei die mißliche Lage meiner Tochter im Auge behalten. Sie ist vernarrt in Sie. Als ich ihr von meinem Vorschlag erzählte, war sie glücklich. Sie hat Sie gern, Mademoiselle. Denken Sie an ihr Mißgeschick. Und denken Sie an Ihre eigene Zukunft.«

Er küßte mir die Hand. Ich schämte mich der Gefühle, die sich dabei in mir regten, und ich verabscheute mich, weil ich mich von einem solchen Schürzenjäger, der er meiner Ansicht nach war, dermaßen beeindrucken ließ.

Dann verbeugte er sich und ließ mich allein.

In Gedanken versunken kehrte ich zum Schulhaus zurück.

In dieser Nacht blieb ich lange auf und sah die Bücher durch. Ich wußte, daß ich ohnehin nicht schlafen konnte. Die Wirkung, welche dieser Mann auf mich ausübte, bestürzte mich. Er stieß mich ab und zog mich gleichzeitig an. Er ging mir nicht aus dem Sinn. In seinem Hause zu sein ..., dort eine Stellung zu bekleiden ... als eine Art Cousine! Ich sollte Margot wohl als »arme Verwandte« Gesellschaft leisten. Und wenn ich ablehnte, was würde dann aus mir werden?

Man brauchte mich nicht darauf hinzuweisen, daß es mit der Schule abwärts ging. Die Leute gaben mir die Schuld an Margots Unbesonnenheit. War es wahr, daß man munkelte, ich hätte versucht, Joel Derringham als Ehemann einzufangen? Die Schneiderin wußte von den Kleidern, die meine Mutter hatte nähen lassen. Vermutlich hatte sie auch die Stoffe im Schrank gesehen. Ich hatte ein neues Pferd, um mit Joel ausreiten zu können. Oh, ich konnte mir vorstellen, was diese Leute redeten. Ich sehnte mich verzweifelt nach dem besonnenen Zuspruch meiner Mutter, und auf einmal wußte ich, daß ich ohne sie in diesem Schulhaus niemals glücklich sein würde. Alles steckte voller Erinnerungen. Wo ich auch hinsah, hatte ich deutlich ihr Bild vor Augen.

Ich wollte fort von hier. Ja, der Comte hatte recht, ich mußte der Wahrheit ins Gesicht blicken. Der Gedanke, nach Frankreich zu gehen, bis zur Geburt des Kindes bei Margot zu bleiben und dann im Hause des Comte zu leben, erregte mich und lenkte mich so sehr von meinem Gefühl der Verlassenheit und von meiner Trauer ab, wie ich es nie für möglich gehalten hatte. Kein Wunder, daß ich nicht schlafen konnte.

Den ganzen Tag über, während ich meine Unterrichtsstunden abhielt, war ich wie geistesabwesend. Es war so viel einfacher gewesen, als meine Mutter und ich uns die Schülerinnen geteilt hatten. Sie hatte die älteren unterrichtet, und es hatte mir keine Mühe gemacht, mit den jüngeren fertig zu werden. Bevor ich die Rolle einer Lehrerin übernommen hatte, war meine Mutter ganz gut allein zurechtgekommen, doch sie hatte zugegeben, welch ein Segen es war, daß wir dann zu zweit waren. Sie war die geborene Lehrerin. Ich war alles andere als das.

Den ganzen Tag dachte ich daran, was für eine Gelegenheit sich mir da bot, und allmählich schien sie mir wie ein Abenteuer, das meine Lust am Leben wieder erwecken konnte.

Nach der Schule suchte Margot mich auf. Sie warf sich in meine Arme und umklammerte mich.

»O Minelle, du kommst also mit mir! Alles scheint nur halb so schlimm, wenn du bei mir bist. Papa hat es mir erzählt. Er sagte: ›Mademoiselle Maddox wird sich um dich kümmern. Sie überlegt es sich noch, aber ich bezweifle nicht, daß sie zustimmen wird.‹ So froh bin ich schon lange nicht mehr gewesen.«

»Es steht noch keineswegs fest«, bemerkte ich. »Ich habe mich noch nicht entschieden.«

»Aber du wirst doch mitkommen, nicht wahr? O Minelle, was soll ich nur tun, wenn du nein sagst?«

»Ich bin für den Plan nicht unbedingt vonnöten. Du wirst aufs Land ziehen, um dein Kind zur Welt zu bringen. Dann wird es zu Pflegeeltern gegeben, und du wirst in das Haus deines Vaters zurückkehren und weiterleben, so als ob nichts geschehen wäre. Ich glaube, in solchen Familien wie der euren ist das nichts Ungewöhnliches.«

»Oh, wie kaltblütig! Wie präzise! Du bist genau das, was ich brauche. Ach, liebe, liebe Minelle, ich muß mein Leben lang dieses schlimme, düstere Geheimnis mit mir herumtragen. Ich brauche einen Halt. Ich brauche dich. Papa sagt, du sollst meine Cousine sein. Cousine Minelle! Hört sich das nicht famos an? Und wenn diese schreckliche Geschichte vorüber ist, werden wir zusammenbleiben. Du bist der einzige Grund, weshalb es mir hier gefällt.«

»Und was ist mit James Wedder?«

»Ach, das hat eine Weile Spaß gemacht, aber sieh doch nur, wohin ich dadurch kam. Es ist nicht ganz so schlimm, wie ich anfangs befürchtet habe. Ich meine, Papa ..., zuerst hat er getobt ..., er hat mich verachtet ..., nicht, weil ich eine Affäre hatte, weißt du, sondern weil ich so dumm war, schwanger zu werden. Er sagte, er hätte es sich denken können, daß ich etwas von einer Dirne in mir habe. Aber wenn du nur mit mir kommst, Minelle, dann wird alles gut, das weiß ich. Du kommst mit, nicht wahr? Du mußt mitkommen!«

Sie war auf die Knie gefallen und faltete die Hände wie zum Gebet. »Bitte, bitte, lieber Gott, mach, daß Minelle mit mir kommt.«

»Steh auf, sei nicht so albern!« sagte ich. »Dies ist wahrhaftig nicht die Zeit, um Theater zu spielen.«

Sie brach in schallendes Gelächter aus, das, wie ich anmerkte, einer gefallenen Frau schwerlich anstand.

»Ich brauche dich, Minelle!« rief sie aus. »Du bringst mich zum Lachen. Du bist so seriös ..., und doch auch wieder nicht. Ich kenne dich, Minelle. Du versuchst, die Schulmeisterin hervorzukehren, aber du wirst nie eine richtige Lehrerin werden. Das habe ich schon immer gewußt. Joel war ein Narr. Mein Vater sagt, er ist mit Sägemehl ausgestopft ..., er hat kein richtiges Blut in sich.«

»Wie kommt er dazu, so über Joel zu sprechen?«

»Weil er fortging, als Papa Derringham es verlangte. Für so etwas kann Papa nur Hohn und Spott empfinden.«

»Verspottet er dich auch, weil du dorthin gehst, wohin er dich schickt?«

»Das ist etwas anderes. Joel war nicht schwanger.« Wieder schüttelte sie sich vor Lachen. Ich konnte nicht erkennen, ob dies Hysterie oder pure Hilflosigkeit war. Doch meine Sinne waren durch ihr zusammenhangloses Geschwätz alarmiert. Als sie mich anflehte, mit ihr zu gehen, trat ein Ausdruck echter Panik in ihre Augen.

»Ich kann alles ertragen, wenn du bei mir bist«, sagte sie nun etwas ernsthafter. »Das kann sogar ein Vergnügen werden – beinahe. Ich bin die junge verheiratete Frau, deren Gatte ganz plötzlich gestorben ist. Meine treffliche Cousine – Engländerin, doch aufgrund einer Mesalliance vor vielen Jahren immerhin meine Cousine – nimmt sich meiner an. Sie ist genau die richtige dafür, denn sie ist so ruhig und besonnen und ein klein wenig streng. O Minelle, komm doch mit. Du mußt einfach.«

»Margot, ich muß darüber nachdenken. Dies ist ein schwerwiegendes Unterfangen, und ich habe mich noch nicht entschieden.«

»Papa wird wütend, wenn du ablehnst.«

»Seine Gefühle interessieren mich nicht.«

»Aber mich. Im Augenblick nimmt er die ganze Sache auf die leichte Schulter. Er ist zu einer Lösung gekommen, in die er dich einbezogen hat. Komm doch mit, Minelle! Ich weiß, daß du mitkommst. Wenn du ablehnst, sterbe ich vor Verzweiflung!« Sie plapperte weiter, ihre Augen glitzerten. Sie hätte nicht die Spur von Angst, sagte sie, wenn ich mit ihr käme. Sie sprach, als stünden wir kurz vor dem Aufbruch zu einer wundervollen Ferienreise. Es war verrückt, aber allmählich färbte ihre Erregung auf mich ab.

Ich wußte – hatte es vielleicht die ganze Zeit gewußt –, daß ich diese Herausforderung annehmen würde. Diesem Haus mußte ich entfliehen, da es ohne die sonnige Gegenwart meiner Mutter so düster geworden war. Ich mußte dem Schatten der Armut entrinnen, der hier einzudringen drohte. Doch es war ein Schritt ins Unbekannte.

In jener Nacht träumte ich wieder, daß ich draußen vor dem Schulhaus stand. Aber ich sah nicht die vertraute Szenerie. Vor mir erstreckte sich ein Wald ..., die Bäume standen ganz dicht beieinander. Ich glaubte, der Wald sei verzaubert, und ich schickte mich an, ihn zu durchwandern. Dann erblickte ich den Comte. Er winkte mir zu.

Ich erwachte. Meine Entscheidung war endgültig gefallen.

Der Teufel zu Pferde

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