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Der Bronzeschild

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Mein vierzehnter Geburtstag war eines der denkwürdigsten Daten meines Lebens, nicht nur wegen meines ersten archäologischen Fundes, sondern weil ich erstmals etwas über meine eigene Herkunft erfuhr.

Doch ich will der Reihe nach erzählen. Der Schild kam zuerst. Es war ein früher, heißer Julinachmittag, und das Pfarrhaus schien menschenleer, weil weder meine »Tanten« Dorcas und Alison (unser Verwandtschaftsgrad war nicht ganz klar) noch ihr Vater, Reverend James Osmond, noch die beiden Hausmädchen zu sehen oder zu hören waren. Ich nahm an, daß die Mädchen sich in der mittäglichen Freizeit zwecks vertraulicher Herzensergießungen in ihre Dachkammer zurückgezogen hatten, Dorcas im Garten arbeitete, Alison nähte oder stickte, und daß der ehrwürdige Reverend im Studierzimmer über seiner nächsten Predigt eingeduselt war.

Ich irrte mich, zumindest in bezug auf Dorcas und Alison, die aufgeregt in einem ihrer Schlafzimmer zusammensaßen und beratschlagten, wie sie’s »dem Kinde sagen« sollten. Mit vierzehn Jahren, meinten sie, dürfe ich nicht länger im dunkeln gelassen werden …

Inzwischen war ich schon auf dem Friedhof und sah zu, wie Pegger, unser alter Totengräber, ein Grab aushob. Der Friedhof hatte von jeher eine magische Anziehungskraft auf mich ausgeübt. Manchmal, wenn ich mitten in der Nacht aufwachte, hockte ich mich aufs Fensterbrett und schaute mit wohligem Gruseln auf die Grabsteine hinunter. Bei Nebel konnte ich mir einbilden, sie regten sich, und gleich würde ich hier oder da ein emporsteigendes Totengerippe erblicken. Aber auch bei hellem Mondschein oder Stockdunkelheit und Regen arbeitete meine Phantasie; ich kam immer auf meine Kosten.

Pegger hielt im Graben inne, um sich mit seinem großen roten Taschentuch den Schweiß von der Stirn zu wischen und mich, wie es seine Art war, sehr streng anzusehen.

»Für Ihr Alter, Miß Judith«, sagte er, »haben Sie viel Sinn für die letzten Dinge. Darin gleichen wir uns wohl. Wenn ich hier in der Grube stehe und die Erde hochschaufle, denke ich stets an denjenigen, der hinein soll – ich kenne ja alle mein Leben lang.«

Pegger sprach mit Grabesstimme, was natürlich mit seinem Beruf zusammenhing. Er hatte das Amt des Totengräbers von seinem Vater und Großvater geerbt und wirkte mit der silberweißen Mähne und dem langen Bart schon rein äußerlich wie eine Prophetenfigur aus dem Alten Testament.

»Dies wird die letzte Ruhestätte von Josiah Polgrey«, fuhr er fort. »Siebzig Jahre währte sein Leben, und nun tritt er vor das Angesicht seines Schöpfers.« Pegger schüttelte bekümmert den Kopf. Offenbar schätzte er Josiahs Chancen in der Ewigkeit nicht sehr hoch ein.

»Gott urteilt vielleicht nicht so streng wie Sie, Mr. Pegger«, meinte ich.

»Hüten Sie Ihre Zunge, Miß Judith!« mahnte er. »Das grenzt ja an Gotteslästerung!«

»Ach was. Der buchführende Engel weiß, wie ich’s gemeint habe.« Und da Mr. Pegger die Augen gen Himmel verdrehte, fügte ich besänftigend hinzu: »Haben Sie überhaupt schon zu Mittag gegessen? Es muß doch ungefähr halb drei sein!«

Ich hatte das unberührte rote Baumwollbündel auf dem Nachbargrab bemerkt, das, wie ich aus Erfahrung wußte, den kalten Imbiß enthielt, den Mrs. Pegger ihrem Mann an arbeitsreichen Tagen mitzugeben pflegte.

Er folgte meinem Blick, stieg aus der Grube, setzte sich auf den Nebenhügel und knüpfte das Bündel auf.

»Wie viele Gräber mögen Sie wohl schon in Ihrem Leben gegraben haben?« fragte ich.

»Ich habe das Zählen aufgegeben, Miß Judith.«

»Und nach Ihnen wird Ihr Sohn Totengräber sein, nicht wahr?«

»Wenn es Gott gefällt«, erwiderte Pegger indigniert, »werde ich selbst noch ein paar Gräber schaufeln, ehe ich den Spaten an meinen Ältesten weiterreiche.«

»Sicher gehört auch viel Augenmaß dazu«, sinnierte ich. »Für die kleine Mrs. Edney müßten Sie wahrscheinlich keine so große Grube ausheben wie zum Beispiel für … na ja, sagen wir Sir Ralph Bodrean.«

Auf diese raffiniert-beiläufige Art brachte ich die Rede endlich auf Sir Ralph, von dem ich nie genug hören konnte. Und da die Sünden der Mitmenschen Mr. Peggers Lieblingsthema waren, hoffte ich einige mir noch unbekannte Details zu erfahren. Sir Ralph war in jeder Hinsicht überlebensgroß, auch als »Sünder«.

Ich hatte unseren Gutsherrn von frühester Kindheit an ehrfurchtsvoll angestaunt. Wenn er mit seinen Vollblutpferden auf der Dorfstraße an mir vorbeifuhr oder -ritt, klopfte mir das Herz. Ich knickste, wie Dorcas es mir beigebracht hatte, und meistens hob er die schweren Lider, sah mich einen Moment mit halbem Lächeln an und grüßte herablassend zurück. Irgendwer hatte den alten lateinischen Spruch auf ihn übertragen; »Hütet eure Töchter, wenn Caesar in Sicht ist!« Nun, und der Caesar unserer Gegend hieß Sir Ralph Bodrean. Ihm gehörte fast das ganze Dorf mitsamt den ausgedehnten Ländereien weit und breit. Seine Pächter betrachteten ihn als guten Herrn und sahen vor lauter Respekt gern durch die Finger, wenn ihre Töchter sich mit ihm über Sitte und Anstand hinwegsetzten. Diese Großherzigkeit sicherte ihnen Arbeit und Brot, und die zahlreichen illegitimen Sprößlinge wurden besser versorgt als die meisten ehelich geborenen Bauern- und Tagelöhnerkinder unserer Zeit.

In den Augen des frommen Totengräbers war Sir Ralph natürlich der Inbegriff des Lasters. Da er in Anbetracht meiner Jugend nicht von fleischlichen Sünden zu reden wagte, begnügte er sich mit einer Aufzählung der läßlicheren, die jedoch nach Mr. Peggers Meinung in ihrer Gesamtheit auch schon genügten, diesen Sünder zum ewigen Höllenfeuer zu verdammen. Zum Beispiel die vielen Gesellschaften! Die Jagden! Seine allgemeine Prunk- und Verschwendungssucht! Seine reichen, eleganten und oft lautstarken Freunde, die aus Plymouth und sogar aus London kamen und die schlichten Altvätersitten auf dem Lande zu verderben drohten!

Was mich betraf, so sah ich diese glänzenden Zugvögel stets gern, und besonders glücklich schätzte ich mich, täglich – außer samstags und sonntags – ins Herrenhaus zu dürfen, um am Unterricht der einzigen ehelichen Tochter Sir Ralphs, Theodosia, und seines Neffen Hadrian teilzunehmen. Dies war eine sehr große Vergünstigung für die Enkelin Reverend Osmonds, die sonst kaum zu einer soliden Schulbildung gekommen wäre. Die kleinen Bodreans hatten eine Gouvernante, und für einige Fächer war Oliver Shrimpton, unser junger Pfarramtsgehilfe, zuständig.

Doch an diesem Julinachmittag behielt ich die Freude über meine bevorzugte Stellung für mich, um Mr. Peggers interessanten Redefluß nicht zu dämmen. Er beklagte Sir Ralphs Unsitte, »seine Nase in Dinge zu stecken, die Gott der Herr wohlweislich verborgen hält«.

»Was meinen Sie denn damit, Mr. Pegger?«

»Wissen Sie nicht, Miß Judith, daß er hier auf Carters Wiese Ausgrabungen vornehmen will? Ich nenne das Gottes Erde aufwühlen, nach heidnischem Zeug buddeln, er und seine feinen Freunde aus der Großstadt … Kein gottesfürchtiger Mensch brächte das über sich!«

»Aber Mr. Pegger, es handelt sich um eine sehr ehrbare Wissenschaft: Archäologie, Altertumsforschung.«

»Ganz gleich, wie sie’s nennen. Wäre es Gottes Wille, diese Dinge ans Tageslicht zu bringen, so hätte er sie nicht mit Erde zugedeckt.«

»Ich glaube nicht, daß Gott persönlich sie zugedeckt hat.«

»Wer sonst?«

»Die Zeit«, erwiderte ich naseweis.

Mr. Pegger seufzte, stieg in das halbfertige Grab zurück und grub weiter.

»Stellen Sie sich doch vor«, spann ich meinen Faden fort, »wir fänden hier Überreste einer römischen Siedlung! Das würde uns weltberühmt machen!«

»Wir brauchen keine Weltberühmtheit, Miß Judith. Uns ziemt allein …«

»Gottesfurcht«, nahm ich ihm das Wort aus dem Munde. »Nehmen Sie’s mir nicht übel, aber ich finde Sir Ralphs Vorhaben großartig. Es ist ja kein plötzlicher Spleen. Er hat sich immer für Altertumsforschung interessiert, und berühmte Wissenschaftler zählen zu seinen Freunden. Vielleicht heißt seine Tochter deswegen Theodosia und sein Neffe Hadrian.«

»Heidnische Namen!« donnerte Mr. Pegger aus der Grube.

»Sachte, sachte … Wissen Sie nicht, daß Theodosia ›Gottesgeschenk‹ bedeutet? Und Hadrian … So hieß, glaube ich, ein römischer Kaiser.«

»Ordentliche Christenmenschen taufen ihre Kinder nicht so«, beharrte er.

»Na, ich heiße wenigstens Judith. Die steht schon in der Bibel. Aber Dorcas, Alison, Lavinia … Was mag Lavinia bedeuten?«

»Ach, Miß Lavinia«, murmelte Pegger. »Wie traurig, daß sie so jung und in Sünden sterben mußte.«

»So schrecklich sündhaft kann sie nicht gewesen sein. Alison und Dorcas sprechen stets sehr liebevoll von ihr.«

Auf dem Treppenabsatz des Pfarrhauses hing ein Bildnis der jüngsten Pfarrerstochter, das meine Phantasie von klein auf ebenso beschäftigt hatte wie der Friedhof. Ich malte mir gern aus, daß Lavinia zuweilen um Mitternacht herumspukte und wir am nächsten Morgen den Rahmen leer finden würden, weil sie versäumt hatte, rechtzeitig mit dem Schlage eins wieder hineinzukommen.

»Wir sind allzumal Sünder«, behauptete Mr. Pegger störrisch, »besonders die Weiber.«

»Na, hören Sie mal! Lavinia bestimmt nicht.«

Er lehnte sich einen Moment auf den Spatengriff und kratzte in seiner weißen Prophetenmähne. »Sie war die Hübscheste von den Dreien.«

Wenn mir Lavinias Porträt nicht bekannt gewesen wäre, hätte das nicht viel besagt, denn Dorcas und Alison waren zwar sympathisch und bieder, aber durchaus keine Schönheiten. Außerdem zogen sie sich so spießig an, wie man es von Pfarrerstöchtern erwartete – oder wie es auf dem Lande einzig vernünftig und praktisch war. Lavinia hingegen trug auf dem Bild ein Samtkleid und einen Federhut. Aber vielleicht war das nur für die Porträtsitzungen ausgeliehen.

»Schlimm, daß sie gerade an jenem Tag mit der Eisenbahn fahren mußte«, sagte ich aus meinen Gedanken heraus.

»So geht es, Miß Judith. Keiner denkt daran, daß er im nächsten Moment vor Gottes Richterstuhl stehen kann. Tuet Buße, auf daß ihr nicht in euren Sünden dahinfahrt …«

»Herrje, Mr. Pegger, hören Sie doch endlich mit Ihren Sünden auf. Lavinias Vater und ihre älteren Schwestern haben sie innig geliebt. Das spricht doch wohl für sie.«

Merkwürdigerweise ließ Mr. Pegger das Thema fallen. Er wischte sich die Stirn, murmelte etwas über die Hitze und stieg aus dem Grab, denn er war fertig. Ich beugte mich über die gähnende schwarze Höhle, und plötzlich ergriff ich den Spaten und sprang hinunter.

»Was soll denn das?« stieß Mr. Pegger erschrocken hervor.

»Nichts weiter … Ich möchte nur mal wissen, wie man sich in Ihrem Beruf vorkommt.« Ich grub schon hastig. »Wie modrig das riecht!«

»Kommen Sie heraus! Sie machen sich doch nur schmutzig!«

»Bin ich schon. Puh, wie man in die lockere Erde einsinkt … Wenn die Seitenwände nun zusammenrutschen? Haben Sie nie Angst, lebendig verschüttet zu werden?«

»Mein Leben ist in Gottes Hand. Kommen Sie heraus.«

Ich beachtete ihn nicht, denn soeben war der Spaten auf etwas Hartes gestoßen. Ich ging in die Knie, wühlte mit den Händen nach und beförderte schließlich ein arg patiniertes, seltsam geformtes Stück Metall zutage. »Sehen Sie mal, Mr. Pegger«, schrie ich aufgeregt. »Was mag das sein?«

Er bückte sich zu mir hinunter. »Irgendein alter Sargbeschlag«, knurrte er. »Jetzt kommen Sie aber raus, Miß Judith.« Er streckte mir die Hand hin, und diesmal ließ ich mir willig hinaufhelfen, freilich nicht ohne meinen Fund.

»Aber schauen Sie doch genau hin, Mr. Pegger. Sind da nicht irgendwelche Gravierungen drauf – oder wie das heißt?«

»Werfen Sie’s lieber weg. Sie könnten sich an den dreckigen Zacken verletzen«, riet Mr. Pegger.

Ich dachte nicht daran. Ich nahm es mit nach Hause und reinigte es vorsichtig. Das Bruchstück schien aus Bronze zu sein, war leicht gewölbt und zeigte tatsächlich einige tief eingeritzte Zeichen oder Ornamente. Dennoch war ich nicht ganz bei der Sache, denn das Gespräch mit dem Totengräber hatte meine Gedanken auch sehr stark auf Lavinia zurückgeführt, die jüngste Tochter des Reverend Osmond, die bei einem Zugunglück auf der Strecke Plymouth-London ums Leben gekommen war.

»Sie war auf der Stelle tot«, hatte Dorcas mir oft versichert, wenn wir die Blumen auf ihrem Grab in Ordnung brachten, »und das ist noch ein Segen … Besser tot als ein Krüppel fürs Leben wie manche der anderen Opfer damals. Sie war gerade erst einundzwanzig geworden. Eine Tragödie.«

»Was suchte sie denn in London, Dorcas?« hatte ich gefragt, als ich zum erstenmal davon hörte.

»Eine Stellung.«

»Als was?«

»Oh … als Gouvernante oder so etwas Ähnliches.«

»Nanu, weißt du’s denn nicht genau?«

»Ich nehme es an … Sie wohnte damals bei einer entfernten Verwandten.«

»Bei welcher?«

»Himmel, Kind, deine ewigen Fragen! Ich sag’ dir ja, eine entfernte Verwandte. Wir kannten sie kaum und hören nichts von ihr. Lavinia hatte sie wegen … wegen ihrer Stellungssuche um Rat gebeten, und so ergab es sich, daß sie später ausgerechnet in Plymouth in den Unglückszug stieg. Die Nachricht von ihrem Tod hat uns fast das Herz gebrochen.«

»Ach so, darum habt ihr mich ins Haus genommen. Als Ersatz für Lavinia.«

»Liebling, niemand ist ›Ersatz‹ für jemand anderen und schon gar nicht für Lavinia. Du bist du selbst, und wir haben dich um deinetwillen lieb.«

»Aber nicht so wie Lavinia. Ich ähnele ihr kein bißchen, oder?«

»Nein, kein bißchen.«

»Sie war bestimmt immer artig und sanft, nie vorlaut, frech oder rechthaberisch und so weiter … Alles, was ich bin.«

»Übertreibe nicht, Judith. Nein, sie war nicht wie du, aber auch sie konnte bei aller Sanftmut manchmal recht … eigensinnig sein.«

»Nun gut, jedenfalls habt ihr mich nur ins Haus genommen, weil sie tot war. Und ich war ein Waisenkind und irgendwie mit euch verwandt.«

»Ja … in gewisser Weise.«

»Komisch, ihr scheint nur ›entfernte Verwandte‹ zu haben, so um sechzehn Ecken herum. Wer waren denn meine nächsten Verwandten? Meine Eltern zum Beispiel?«

»Das wirst du schon alles zu seiner Zeit erfahren«, hatte Dorcas mit einer gewissen Hast geantwortet. »Warte doch, bis du größer bist. Wir wissen ja selbst nicht so genau Bescheid.«

An dieses Gespräch dachte ich, während ich in meinem Zimmer am Waschtisch stand und das gefundene Bronzestück putzte. Ich trocknete es gerade, als es an die Tür klopfte.

»Herein!« rief ich erstaunt, weil innerhalb der Familie selten geklopft wurde. Dennoch waren es Dorcas und Alison, die auf der Schwelle erschienen, und zwar mit so feierlichen Gesichtern, daß mir angst und bange wurde. Ich vergaß meinen Fund und fragte beklommen: »Ist etwas passiert?«

»Wir haben dich nach Hause kommen hören«, sagte Alison.

»Oje, war ich wieder so ein Trampel?«

Sie tauschten einen lächelnden Blick. »Nein, nein«, sagte Dorcas dann, »wir haben auf dich gewartet und deshalb die Ohren gespitzt.«

Hierauf entstand eine Pause. Ich spürte, daß etwas Ungewöhnliches in der Luft lag. »Ihr habt doch was«, drängte ich endlich. »Nun sagt’s schon!«

»Ruhig, Kind … nichts Besonderes. Nichts Schlimmes. Wir überlegen schon seit einiger Zeit, wie wir dich aufklären sollen, und da der vierzehnte Geburtstag gewissermaßen ein Meilenstein ist …«

Ich hätte beinahe gelacht. »Macht’s nicht so spannend«, sagte ich.

Alison holte tief Luft, und Dorcas nickte ihr ermutigend zu. »Also, Judith, die Sache ist die … Du bist bei uns aufgewachsen, und wir haben dich immer bei der Meinung gelassen, du seiest eine entfernte Verwandte.«

»Über sechzehn Ecken«, ergänzte ich.

»Aber das stimmt nicht.«

Ich zuckte zusammen und blickte von einer zur andern.

»Wer bin ich denn dann?«

»Unser liebes Pflegetöchterchen.«

»Ja, das weiß ich, aber wer sind oder waren meine Eltern.«

Alison räusperte sich. »Du warst bei dem Eisenbahnunglück dabei … im selben Zug wie Lavinia.«

»Was? Ihr sagtet immer, damals sind so viele Menschen ums Leben gekommen. Waren meine Eltern dabei?«

»Ähem … ja, wahrscheinlich.«

»Himmel, wißt ihr denn nicht, wie das alles ablief und wer sie waren?« schrie ich ungeduldig.

»Schsch, Liebling, reg dich nicht auf! Nein, leider war die Identität deiner Eltern trotz aller Nachforschungen nicht festzustellen. Sie … waren sehr entstellt und hatten keine Papiere bei sich. Du, das Baby, warst wie durch ein Wunder unverletzt geblieben; und um in unserer Trauer um Lavinia irgend etwas zu tun, haben wir dich adoptiert.«

»Was wäre aus mir geworden, wenn ihr das nicht getan hättet?«

»Oh, dann hätte sich bestimmt ein anderer gefunden.«

Ich bekam feuchte Augen, als ich an all ihre Güte und all meine Ungezogenheit dachte. Herrgott, wie hatten sie sich aufgeopfert, und wie hatte ich sie fast vierzehn Jahre lang geplagt!

Impulsiv stürzte ich auf sie zu und versuchte beide gleichzeitig in die Arme zu schließen.

»Judith, Judith, nicht so stürmisch!« lächelte Dorcas, obwohl ihre Augen naß waren. Freilich hatte sie sowieso ein bißchen »dicht am Wasser gebaut«, wie es bei uns hieß.

Alison sagte gefaßter: »Du warst uns ein Trost, Kleine. Wir brauchten etwas zum Liebhaben, nachdem Lavinia nicht mehr war.«

»Danke für die Aufklärung«, sagte ich. »Kein Grund zum Heulen. Vielleicht bin ich eine verschollene Prinzessin oder die Erbin eines Großgrundbesitzers, und meine Familie hat sich seit über dreizehn Jahren halb kaputt gesucht …«

Alison und Dorcas zwangen sich wieder zum Lächeln. »Wie schon gesagt, leider war nichts Genaues festzustellen. Viele der Katastrophenopfer damals waren bis zur Unkenntlichkeit … verletzt. Papa konnte unsere arme Lavinia zwar noch identifizieren, aber er kam furchtbar erschüttert zurück.«

»Warum habt ihr mir immer erzählt, ich wäre mit euch verwandt?«

»Weil wir deine kindliche Unbefangenheit so lange wie möglich erhalten wollten. Vielleicht hattest du außer deinen Eltern gar keine Familie mehr. Jedenfalls ist nie eine Suchanzeige aufgegeben worden. Wir haben uns jahrelang darum gekümmert.«

»Wie aufregend! Dann bin ich womöglich ein königlicher Bastard oder ein Zigeunerkind« – Dorcas und Alison zuckten zusammen – »oder eine Spanierin. Sehe ich mit dem schwarzen Haar und den braunen Augen nicht ziemlich spanisch aus? Na ja, ich gebe zu, hier in Cornwall ist das nichts Apartes. Seit die Spanier mit ihrer Armada bei uns notlandeten, herrscht eine beträchtliche Rassenmischung.«

»Judith, du phantasierst zuviel«, begann Dorcas.

»Ich bin froh, daß sie es so sachlich aufnimmt«, unterbrach Alison.

»Ja, wie sollte ich’s denn sonst aufnehmen? Ich hab’ oft genug nach meinen Eltern gefragt. Nun weiß ich endlich, daß sie mich nicht böswillig verlassen oder ausgesetzt haben, sondern daß sie die Bedauernswerten sind. Ich werde nie mehr einen Groll gegen Unbekannt hegen.«

»Da wir deinen Namen nicht wußten, hat Vater dich Judith getauft.«

»Danke, ich bin mit meinem Namen zufrieden. Und Dank für die nette Geburtstagsüberraschung. Ich finde alles wunderbar romantisch. Aber nun guckt euch mal an, was ich heute gefunden habe. Sieht aus wie ein Museumsstück, nicht?«

»Was ist es?«

»Keine Ahnung. Diese eingekerbten Linien sind vielleicht Runen. Was meinst du, Dorcas?«

»Wo und wie hast du das gefunden?«

»In dem frischen Grab, das Mr. Pegger gerade für Josiah Polgrey ausgehoben hat. Ich hab’ ein bißchen mitgebuddelt und bin dabei auf dieses Ding gestoßen. Mal sehen, was es wert ist. Auf jeden Fall ist es ein Geburtstagsgeschenk von Josiah Polgrey und irgendeinem Toten, der vielleicht vor Tausenden von Jahren hier gelebt hat.«

»Kind, was für Ideen!« Alison drehte mein kostbares Fundstück nachdenklich hin und her. »Ja, ich glaube, ich habe so was schon in Museen gesehen. Sir Ralph würde dir auf Anhieb sagen können, ob es von Bedeutung ist.«

»Ihr glaubt also auch, daß es etwas bedeutet?«

Wieder tauschten meine beiden Nenntanten Blicke. Dann sagte Alison langsam:

»Möglich. Nimm es auf alle Fälle mit nach Keverall Court, Judith, und frage, ob Sir Ralph es sehen möchte. Er interessiert sich ja für solche alten Sachen.« Ich strahlte.

Da Sir Ralph sowieso Ausgrabungen auf Carters Wiese plante, war es bestimmt ein großes Plus für mich, daß ich als allererste etwas gefunden hatte.

»Ich gehe gleich hin!« rief ich begeistert.

»Ja, aber wasche dich vorher, zieh dich um und kämme dich.«

Ich lachte, und mein Herz quoll vor Liebe über. Dorcas und Alison waren so rührend gut – und so herrlich normal!

Außerdem war es immer noch mein Geburtstag; ich hatte eben erfahren, daß ich ein geheimnisvolles Findelkind war und daher Gott weiß was sein konnte, und zu alledem hatte ich wahrscheinlich einen ganz ungewöhnlichen Fund aus der Bronzezeit gemacht. Aber ihre größte Sorge war, daß ich ordentlich gewaschen, gekleidet und gekämmt vor das Angesicht des Herrn trat!

Ich ging durch einen der Torbögen in den Hof, schnupperte in Richtung des Pferdestalls und tippte auf den altertümlichen Prellstein, was bekanntlich Glück bringt. Die schwere, eisenbeschlagene Tür zur Halle des Herrenhauses knarrte beim Öffnen. Wie still es heute war! Ich schaute auf die Ritterrüstungen und Waffen zu beiden Seiten der breiten, geschwungenen Treppe und auf das schöne alte Zinngeschirr, das, solange ich mich erinnern konnte, den musealen Refektoriumstisch schmückte. Heute stand auch eine große Vase mit frischen Blumen darauf.

Wo mochten Hadrian und Theodosia wohl gerade sein? Ich malte mir aus, wie ich ihnen morgen von meinem Fund erzählen würde, der in meinen Augen schon zu etwas Unerhörtem und Einzigartigem angewachsen war. Die berühmtesten Archäologen der Welt würden sich vor mir verbeugen, die Ehrendoktorate würden mir förmlich nachgeworfen, und … und …

Hinter mir wurde ein Stuhl gerückt. Ich hatte den Diener Derwent, der den Eingang zu bewachen hatte, aus seinem wohligen Dösen aufgeschreckt.

»Ach, Sie sind’s nur, Judith«, murmelte er erleichtert.

»Bitte melden Sie mich Sir Ralph. Es handelt sich um eine Angelegenheit von äußerster Tragweite«, erklärte ich hochtrabend.

Derwent hob halb amüsiert die Brauen. »Geben Sie nicht so an, Miß. Ich kenne Ihre Tricks.«

»Es ist kein Trick. Ich habe etwas Einmaliges gefunden. Meine Tanten meinten, ich müsse es sofort Sir Ralph zeigen, und weh dem, der es ihm vorenthält!«

»Sir Ralph und Lady Bodrean sitzen gerade beim Tee.«

»Egal – sagen Sie ihm wenigstens, daß ich hier bin und warum!«

Immerhin war Sir Ralphs Steckenpferd allgemein so bekannt und geachtet, daß ich binnen fünf Minuten wirklich in die Bibliothek geführt wurde, wo er mich inmitten seiner exotischen Souvenirs erwartete. Ich legte einfach mein Bronzestück vor ihm auf den Tisch und merkte gleich, daß es den gewünschten Eindruck auf ihn machte.

»Mich laust der Affe«, sagte er. »Wo hast du denn das her?«

Ich erzählte ihm von meinem Friedhofserlebnis. Seine buschigen Brauen ruckten in die Höhe. »Was hast du denn auf dem Friedhof zu schaffen?«

»Ich wollte mal wissen, wie man sich als Totengräber fühlt.«

Sir Ralph konnte auf zweierlei Arten lachen: Die eine war ein brüllendes Röhren, die andere ein kaum hörbares Glucksen tief unten in der Kehle, und die zeigte meist an, daß er sich wirklich amüsierte. Heute gluckste er. »Bronzezeit«, sagte er sachlich, als er sich endlich ausgegluckst hatte.

»Ja, das dachte ich mir auch schon. Interessant, ja?«

»Sicher. Bist ein braves Kind. Falls du noch was findest, bring es nur immer gleich zu mir.« Damit wies er mit dem Kinn zur Tür, aber ich war nicht gesonnen, mich so kurz abfertigen zu lassen.

»Sie wünschen mein Fundstück zu behalten, Sir, wenn ich Sie recht verstanden habe?« fragte ich.

Er verengte die Augen und mahlte kurz mit den Kiefern.

»Was heißt ›mein‹ Fundstück!« blaffte er mich an. »Es ist nicht deins.«

»Wieso? Ich habe es doch gefunden.«

»Finden heißt nicht Behalten. Zumindest nicht bei Gegenständen dieser Art, mein Kind. Die gehören nämlich der Nation.«

»Komisch!«

»Du wirst im Lauf der nächsten Jahre noch vieles komisch finden.«

»Es ist also wirklich von archäologischem Wert?«

»Was weißt du von Archäologie?«

»Oh, allerhand. Da wird in großem Stil gebuddelt, und man findet herrliche Sachen: römische Bäder und Mosaiken und kaputte Statuen und so weiter.«

»Das klingt ja fast, als würdest du gern mal ›in großem Stil‹ mitmachen?«

»Und ob! Ich würde mich dazu eignen. Ich würde sicher Sachen finden, von denen die anderen bisher nicht mal etwas geahnt haben.«

Jetzt lachte er sein röhrendes Gelächter. »An Selbstbewußtsein fehlt es dir jedenfalls nicht! Aber wenn du dir unter Archäologie vorstellst, daß man nur fortlaufend römische Villen und trojanische Schätze entdeckt, bist du auf dem Holzweg. In den meisten Fällen geht ein ungeheurer Kraft-, Geld- und Zeitaufwand drauf, und alles, was man findet, ist ein kleiner Dreck – wie dein Bronzeschildstückchen. Von der Sorte haben wir mehr als genug. Und die meisten Fachkollegen finden ihr Leben lang nichts Besseres.«

»Ich würde große Entdeckungen machen«, behauptete ich zuversichtlich.

Er legte mir die Hand auf die Schulter und drängte mich sanft zur Tür. Aber da ich ihn kannte und bewunderte, war ich ob dieser milden Art des Abschiebens nicht weiter beleidigt. Schließlich hatte er zugegeben, daß mein Fund das Bruchstück eines Schildes aus der Bronzezeit war, und ich war stolz darauf, meinen ersten Beitrag zur internationalen Wissenschaft geleistet zu haben.

Nicht nur bei mir selbst, sondern auch bei meinen adligen Mitschülern Hadrian und Theodosia hatte ich merklich an Prestige gewonnen, wie ich vor Beginn des nächsten Unterrichts in Keverall Court erfreut feststellte. Ich hatte die beiden, besonders Theodosia, immer ein bißchen minderbegabt gefunden, obwohl sie etwas älter waren als ich. Seit ich aus den engen Pfarrhausverhältnissen auf Hadrian und Theodosia losgelassen war, hatte ich im Handumdrehen die Führung im Schulzimmer an mich gerissen, und die beiden Sanften, Blonden, Blauäugigen hörten widerspruchslos auf mein Kommando.

Sir Ralph hatte seiner Tochter und seinem Neffen offenbar von meiner »Ausgrabung« erzählt und mich gelobt, weil ich so gescheit gewesen war, sie ihm zu bringen. Das stärkte mein Ansehen ungemein, und ich nützte die Situation nach Kräften aus. Im Laufe meiner dramatischen Erzählungen wurde das kümmerliche Bronzestück zu reinem Gold, das ein prähistorischer König extra für mich im Boden vergraben hatte.

Nachmittags stiftete ich Theodosia und Hadrian an, sich Spaten zu besorgen und unter meiner Leitung auf Carters Wiese zu graben, um den Forschern die dort vermuteten Schätze vor der Nase wegzuschnappen. Wir wurden entdeckt und tüchtig ausgescholten; aber Sir Ralph hielt es nach diesem Beweis unseres Eifers für richtig, uns in die Grundbegriffe der Archäologie einführen zu lassen. Miß Graham, die vielgeprüfte Gouvernante, mußte sich deshalb durch Stöße von Fachliteratur hindurcharbeiten und uns das Wichtigste in leicht faßlicher Form beibringen. Hierbei war ich weitaus begeisterter bei der Sache als die anderen, und Sir Ralph, der sich Bericht erstatten ließ, schien sich allmählich wirklich für mich zu interessieren.

Um diese Zeit zog sein Freund Sir Edward Travers nebst Familie in den ehemaligen Witwensitz des Bodrean-Gutes. Das Gerücht von vielversprechenden Ausgrabungsstätten hatte ihn angezogen, zumal er schon lange ein ruhiges Landhaus in der Nähe seines Freundes suchte. Er gab gelegentlich Gastvorlesungen in Oxford, befand sich aber meistens auf Forschungsreisen. Seine Zeitungsberichte und Bücher waren in Fachkreisen wohlbekannt.

In unserem stillen Dörfchen herrschte nicht geringe Aufregung, als die Kunde von dem neuen glanzvollen Zuwachs ruchbar wurde. Am meisten freute sich natürlich Sir Ralph, wie mir Tochter und Neffe erzählten, besonders im Hinblick auf seine Ausgrabungspläne.

Das neue Heim der Familie Travers wurde in »Villa Gizeh« umbenannt, nach den ägyptischen Pyramiden, wie Dorcas vermutete. Anhand des Konversationslexikons stellten wir fest, daß sie recht hatte.

Nun war das düstere alte Haus mit dem verwilderten Garten also wieder bewohnt, was mich um das Vergnügen brachte, Theodosia mit Spukgeschichten zu ängstigen. Allerdings gab ich mich nicht so ohne weiteres geschlagen. »Wenn ein Haus mal verhext ist«, raunte ich mit gekonntem Schaudern, »bleibt es für immer und ewig verhext. Ihr werdet ja merken, daß es da nicht mit rechten Dingen zugeht!«

Und wirklich verbreiteten sich bald sonderbare Gerüchte: Das Haus sei voll von so merkwürdigen Mitbringseln aus aller Welt, daß es der Dienerschaft vor dem Betreten einiger Zimmer gruselte. Wäre Sir Edward nicht ein so berühmter Gelehrter gewesen, dessen Glanz auf sie zurückstrahlte, so hätten die meisten nach wenigen Wochen gekündigt.

Sir Edward war Witwer. Sein Sohn Tybalt war schon erwachsen und studierte; seine Tochter Sabina hingegen war ungefähr gleichaltrig mit Theodosia, Hadrian und mir und nahm deshalb bald an unserem Hausunterricht teil.

Tybalt war mir zuwider, lange bevor ich ihn persönlich kennenlernte – nur weil seine Schwester so hemmungslos für ihn schwärmte. Ihren Reden zufolge war er allwissend, allmächtig, herrlich von außen und innen, kurzum gottähnlich. Sabina redete fast ununterbrochen, ohne sich um die Reaktion ihrer Zuhörer zu kümmern, falls man ihr überhaupt zuhörte. Gegen ironische Randbemerkungen war sie immun. Ich sagte Hadrian unter vier Augen, das käme von dem unnatürlichen Leben in dem alten Spukhaus mit einem stets zerstreuten Gelehrten-Vater und teils verängstigten, teils angsteinflößenden Dienstboten. Zwei davon waren nämlich Ägypter namens Mustapha und Absalam. Sie trugen lange weiße Burnusse und glitten auf ihren Sandalen so lautlos durchs Haus, daß sie beständig gerade da auftauchten, wo man nicht auf sie gefaßt war, und das brave einheimische Personal erschreckten. Waren sie nun Spitzel oder nicht?

Im übrigen war Sabina hübsch; das mußte ihr der Neid lassen. Sie hatte ein kleines, herzförmiges Gesicht, seidige blonde Locken und große graue Augen mit langen Wimpern. Theodosia, die selbst wenig Reize aufwies, bewunderte sie selbstlos. Die Freundschaft der beiden Mädchen bewirkte, daß Hadrian und ich sich notgedrungen enger zusammenschlossen als zuvor. Manchmal trauerte ich der Zeit nach, als die Familie Travers noch nichat dagewesen war und wir ein so vertrautes kleines Trio gebildet hatten – das heißt im Klartext: Ich sah meine Hauptrolle bedroht. Dorcas hatte mich immer ermahnt, die andern nicht so herumzukommandieren und zu verlangen, daß jedermann meine Ansichten teilte. Schließlich kamen Hadrian und Theodosia aus einem großen Hause und ich nur aus einer armseligen Pfarre. Daß ich am Unterricht der vornehmen Kinder teilnehmen durfte, war eine große Gunst, aber ich benahm mich, als sei ich die Tochter des Hauses und die andern die Almosenempfänger. Ich hatte Dorcas oft zu erklären versucht, das käme nur von Hadrians Energielosigkeit, und Theodosia sei ohnehin zu dumm, um je eine eigene Meinung zu haben.

Doch nun war Sabina auf der Bildfläche erschienen – nicht nur hübsch, sondern stets freundlich und gutgelaunt, nie ausfallend und somit ein ziemliches Gegenstück zu mir. Ihre blonden Locken fielen von Natur immer auf die gepflegteste Weise, während ich meine dichte schwarze Mähne kaum bändigen konnte, ganz egal, wie ich sie zu binden oder zu stecken versuchte. Ihre grauen Augen funkelten, wenn sie Spaßiges erzählte, und leuchteten, wenn sie von dem angebeteten Bruder Tybalt sprach. Sie war eine Art Fee, deren Gegenwart die Atmosphäre unseres Schulzimmers vollkommen veränderte.

Von ihr erfuhren wir natürlich auch genau, wie es in der Villa Gizeh zuging. Ihr Vater vergrub sich oft tagelang in seinem Studierzimmer und ließ sich nur von den katzenpfötigen ägyptischen Dienern Mustapha und Absalam bedienen. Dann speiste Sabina allein mit der Hausdame Tabitha Grey, die nebenbei ihre Klavierlehrerin war. Sabina nannte sie »Tabby«. Ehe ich sie kannte, stellte ich mir unter ihr ein mausgraues mittelalterliches Wesen vor. Als ich sie dann zum erstenmal sah – eine aparte, interessante jüngere Dame –, war ich sehr verblüfft.

Ich sagte Sabina, wenn sie Personen so schlecht beschreiben könnte, würde es mich gar nicht wundern, wenn sich ihr vergötterter großer Bruder als mickriger, kurzsichtiger Student entpuppte, der für nichts als verstaubte Papyri und Mumien Sinn hätte und vor allem Lebendigen kläglich versagte.

Sabina lachte nur. »Warte, bis du ihn siehst.«

Wir alle (offen gestanden, auch ich) konnten kaum erwarten, daß er zu den Semesterferien von Oxford nach Hause kam. Aber kurz vor dem ersehnten Termin berichtete Sabina mit Tränen in den Augen, er käme nun doch nicht. In Northumberland waren Ausgrabungen begonnen worden, an denen er während der ganzen Ferien teilnehmen wollte. Und ihr Vater, Sir Edward, hatte die Absicht, zu ihm zu stoßen.

Glücklicherweise kam während der Semesterferien ein Stellvertreter, Tybalts Studiengenosse Evan Callum. Um sich ein bißchen Geld zu verdienen, hatte er es übernommen, uns in die Anfangsgründe der Archäologie einzuführen.

Er machte seine Sache so gut, daß ich bald nicht mehr an Tybalt dachte und mich mit Feuereifer auf den neuen Lehrstoff warf, während die anderen nur mäßig interessiert waren. Manchmal spazierte ich nachmittags mit Evan Callum zu Carters Wiese, und er erläuterte mir die praktischen Seiten des dortigen Vorhabens. Einmal trafen wir dabei zufällig Sir Ralph Bodrean.

»Na, immer noch neugierig auf Altertümer?« erkundigte er sich jovial.

Ich sagte, mehr denn je.

»Hast du inzwischen noch was gefunden?«

»Leider nein, aber ich hab’ ja auch nicht viel Gelegenheit.«

Er knuffte mich spaßhaft in die Rippen. »Bilde dir bloß nicht ein, daß man dauernd was findet, auch wenn man Gelegenheit hat. Du kannst mit deinem Erstling schon ganz zufrieden sein.« Sein innerliches Glucksen deutete an, daß er sich freute, mich weiter so eifrig bei der Sache zu sehen.

Etwas später zeigte mir einer der Arbeiter, die für die Ausgrabungen angeheuert waren, wie man zerbrochene Tongefäße provisorisch zusammensetzte (»Erste Hilfe« nannte er es), bis sie fachgerecht restauriert werden konnten und eventuell von einem Museum angekauft wurden.

Zunächst war ich etwas ernüchtert von dem vielen Kleinkram, der beachtet werden mußte und sich mit meinen hochfliegenden Träumen nicht vertrug, aber dann sah ich die Notwendigkeit ein und begeisterte mich für alles, auch das scheinbar Nebensächliche.

Außerdem übernahm jetzt Tabitha Grey unsere Musikstunden, die bisher von der armen, überforderten Miß Graham mehr schlecht als recht mit abgehalten worden waren, so daß wir jetzt auf mehreren Gebieten eine ungewöhnlich gründliche und umfassende Bildung genossen. Dorcas und Alison waren entzückt und betonten unermüdlich, daß wohl kein anderes armes Mädchen hierzulande je so ein Glück gehabt hätte und daß ich guten Gebrauch davon machen sollte.

Das tat ich schon aus eigenem Antrieb, außer in Miß Grahams Handarbeitsstunden. Häkeldeckchen und Kreuzstichmuster machten mich geradezu rebellisch – solch eine sinnlose Zeitvergeudung! Aber von den Stunden bei Evan Callum konnte ich nie genug haben. Tagtäglich lag ich ihm in den Ohren, was ich noch tun könnte, um später auf möglichst große und weite Expeditionen mitgenommen zu werden, und er meinte lachend, für eine Frau sei das heutzutage schwierig, es sei denn, sie heirate beizeiten einen Archäologen. Sonst dämpfte er meinen Enthusiasmus nicht, denn es machte ihm selbst Spaß, eine so gelehrige Schülerin zu haben.

Die alten Ägypter hatten es mir besonders angetan, weil sie laut Evan noch unheimlich viele Rätsel aufgaben. »Im Tal der Könige sind noch ungeahnte Schätze verborgen, Judith«, pflegte er zu sagen, und selbstverständlich träumte ich davon, daß ich sie entdecken und die Hochachtung solcher Koryphäen wie Sir Edward Travers erringen würde.

Ich muß gestehen, daß er mich bisher enttäuscht hatte. Wenn man ihn überhaupt einmal traf, war er in Gedanken so weit weg, daß er uns junges Gemüse völlig übersah. Seine Augen waren stets mit seltsamem Ausdruck in weite Fernen gerichtet – wahrscheinlich in die Tiefen der Vergangenheit.

»Sein gräßlicher Sohn Tybalt ist sicher genauso«, sagte ich zu Hadrian.

Tybald war für mich inzwischen ein Inbegriff pedantischen, verknöcherten Strebertums geworden, gerade weil Sabina so von ihm schwärmte. Hadrian und ich zogen sie oft ziemlich taktlos damit auf, aber sie war so gutartig, daß sie nur lachte und sagte:

»Denkt, was ihr wollt. Was kümmert es Tybalt? Er ist über dummes Geschwätz doch haushoch erhaben!«

Trotz allem zog mich die Villa Gizeh magisch an, und ich freute mich auf die neueingeführten Klavierstunden bei Tabitha Grey, obwohl ich beklagenswert unmusikalisch war. Aber meine Phantasie geriet in Wallung, sooft ich das »verwunschene« alte Haus betrat. »Es hat was Bedrohliches«, sagte ich zu Hadrian, der mir wie üblich zustimmte.

Düster war die Villa auf jeden Fall. Zum Teil waren die wildwuchernden Büsche und Bäume, die sie umgaben, daran schuld, aber auch drinnen war alles mit dicken Vorhängen und prunkvoll gemusterten Wandteppichen verhängt. Jeder Laut war so gedämpft, daß man selten jemanden kommen oder gehen hörte. Infolgedessen hatte ich in diesem Hause dauernd das Gefühl, heimlich beobachtet zu werden. Außerdem wohnte eine hexenartige alte Frau unter dem Dach, offenbar in einer für sie reservierten, abgeschlossenen Wohnung. Nachdem ich sie einmal am Fenster gesehen hatte, fragte ich Sabina nach ihr.

»Das ist Nanny Tester. Sie war schon Mutters Kinderfrau und dann Tybalts und meine.«

»Was macht sie da oben?«

»Nichts. Sie wohnt eben dort.«

»Aber ihr braucht doch keine Kinderfrau mehr!«

»Denkst du vielleicht, wir werfen alte Dienstboten hinaus, nachdem sie uns jahrzehntelang treu ergeben waren?« erwiderte Sabina, ausnahmsweise etwas indigniert.

»Ich halte sie für eine Hexe.«

»Halte sie für was du willst, Judith Osmond. Für uns ist und bleibt sie die gute alte Nanny Tester.«

»Sie hat bestimmt den Bösen Blick. Immer klebt sie am Fenster, wenn wir kommen, und weicht nur zurück, wenn wir hinaufblicken und damit zeigen, daß wir ihr ewiges Spionieren bemerkt haben.«

»Was brauchst du dich um unsere Nanny zu kümmern?« meinte Sabina achselzuckend, und darauf wußte ich ausnahmsweise keine Antwort.

Das große Musikzimmer war noch das hellste und normalste im ganzen Haus, obwohl auch dort reichlich chinesische Vasen, Drachen und Figuren verteilt waren – fette, schläfrig lächelnde Buddhas in einer Sitzhaltung, die ich erfolglos nachzuahmen versuchte, zerbrechliche Damen mit undurchdringlichen und Mandarine mit grausamen Gesichtern. Und wenn ich unter »Tabbys« Anleitung meine Tonleitern und Etüden klimperte, fand ich sie nicht minder rätselhaft als die gemalten oder geschnitzten chinesischen Damen ringsumher.

Sooft sich die Gelegenheit bot, stahl ich mich vor oder nach dem Unterricht auch in die anderen Zimmer, wobei ich den armen Hadrian zum Mittun zwang. Er fand dieses Herumstöbern mit Recht unverschämt, aber er wagte nicht, sich zu sträuben, weil ich ihn sonst der Feigheit bezichtigt hätte.

Von Evan Callum wußten wir, daß Sir Edward nicht nur an altchinesischen, sondern auch an altägyptischen Entdeckungen maßgeblich beteiligt war, und die Geschichte der Pharaonenzeit faszinierte mich am allermeisten. Evan zeigte uns sehr gute Abbildungen und erklärte die dargestellten Szenen und Götterkulte. Ich lauschte hingerissen, wenn von Amon Ra, Isis, Osiris und Horus die Rede war, und begriff vollkommen, warum sie manchmal Falken-, Ibis- oder Schakalköpfe trugen: nämlich zum Zeichen ihrer über alles Menschliche hinausgehenden Macht.

Der Horusfalke zum Beispiel war ein Symbol des durchdringenden, untrüglichen Blickes … Das mußte doch jedem einleuchten.

Aber noch mehr beschäftigten mich die eigentümlichen Begräbnisriten der alten Ägypter, die ihre Könige und Großen einbalsamierten, so daß die sterbliche Hülle Jahrtausende überdauerte, während die Seele mit allem gewohnten Prunk für das Leben im Jenseits versehen wurde, sogar mit Sklaven, die sich mit ihren toten Herren oder Herrinnen einmauern lassen mußten, um ihnen auch in der Ewigkeit weiterzudienen.

»Diese Sitte, den Vornehmen oft die erlesensten Kostbarkeiten ins Grab mitzugeben, hat natürlich von jeher die Räuber angelockt«, erklärte Evan. »Manche Grabkammern sind schon vor Jahrhunderten ausgeplündert worden, ungeachtet der Legende vom Fluch der Pharaonen, der jeden treffen soll, der frevelhaft ihren Frieden stört.«

Ich war von alledem so fasziniert, daß ich am liebsten viele andere Stunden geschwänzt hätte, um sie mit Evan zu verbringen und ihn nach weiteren Einzelheiten über die alten Ägypter auszufragen. Als Sabina beiläufig erwähnte, sie hätte schon einmal eine echte Mumie gesehen, wurde ich fast neidisch.

»Wo?« fragte ich.

»Vater hat sie in einer Art Sarg mitgebracht, und …«

»Es heißt ›Sarkophag‹«, verbesserte Evan.

»Aha, danke. Der Sarkophag steht noch in einer Kammer bei uns in der Villa, aber die Mumie ist jetzt im Britischen Museum, glaube ich. Sie sah gräßlich aus«, fügte Sabina schaudernd hinzu. »Ich bin froh, daß sie weg ist.«

»Wie schade!« rief ich. »So etwas Interessantes – stell dir doch nur vor, jemanden im Haus zu haben, der vor Jahrtausenden so lebendig war wie wir!«

Im Laufe der nächsten Tage beschloß ich, mir wenigstens den Sarkophag zeigen zu lassen, ob es Sabina nun paßte oder nicht, und als Theodosia das nächste Mal Einzelunterricht bei Tabby hatte (sie war uns im Klavierspiel weit voraus), nötigte ich Sabina, Hadrian und mich zu der bewußten Kammer zu führen. Ich wußte schon vom Hörensagen, daß die Dienstboten aus abergläubischer Furcht stets einen weiten Bogen darum schlugen.

Die Kammer enthielt nur deckenhohe Bücherregale und den Sarkophag, der in eine Ecke gerückt war. Er ähnelte einem steinernen Wassertrog, aber um seinen oberen Rand zogen sich mehrere Reihen von eingeritzten Hieroglyphen.

Ich ging in die Hocke, um sie von nahem zu sehen.

»Mein Vater ist noch mit der Entzifferung beschäftigt«, erklärte Sabina. »Wenn er fertig ist, kommt auch der Sarkophag ins Britische Museum.«

»Ich wünschte, die Mumie wäre noch drin«, seufzte ich, indem ich einige Hieroglyphen vorsichtig mit dem Finger nachzog.

»Ach was, so sehenswert sind Mumien wirklich nicht. Du kannst dich in jedem größeren Museum davon überzeugen. Nichts weiter als stocksteife Figuren, die von oben bis unten in einem dicken Wickelverband Stecken.«

Ich richtete mich aus der Hocke auf und ließ meinen Blick über die dichtgedrängten Bücherrücken streifen. Viele der Titel waren in Sprachen oder Schriftzeichen gedruckt, die ich nicht kannte.

»Dieser Raum hat wirklich eine seltsame Atmosphäre«, sagte ich. »Kein Wunder, daß die Dienstboten sich graulen. Merkt ihr es nicht auch?«

»Ach Unsinn, du willst uns ja nur wieder einschüchtern«, antwortete Hadrian. »Es ist nur ein bißchen düster – das macht der Baum vor dem Fenster.«

»Aber ich höre auch was: so ein geisterhaftes Stöhnen …«

»Das ist der Wind im Kamin«, sagte Sabina abwehrend. »Nun kommt wieder raus; wir dürfen uns hier nicht erwischen lassen.«

Sie und Hadrian waren sichtlich erleichtert, als sich die Tür hinter uns schloß, aber mir ging das kurze Erlebnis nicht mehr aus dem Sinn. In den nächsten Tagen borgte ich mir von Evan alles Erreichbare über Mumien und Begräbnisriten. Da ich wie immer, wenn ich von einer Idee besessen war, von nichts anderem reden konnte, fiel ich meiner Umgebung beträchtlich auf die Nerven.

»Nun hör endlich auf mit deinen langweiligen Mumien!« schalt Sabina einmal, und Theodosia nickte dazu. »Schließlich sind es nur verdorrte uralte Leichen. Wenn man sie auswickelt und der frischen Luft aussetzt, zerfallen sie zu Staub. Findest du einen Haufen Staub so begeisternd?«

»Ja, denn ich stelle mir immer vor, wie sie einst ausgesehen und gelebt haben mögen.«

»Schön, meinetwegen, aber laß uns endlich damit in Ruhe.«

Ich ließ die Mädchen tatsächlich etwas mehr in Ruhe, aber nur, weil es mir gelungen war, Hadrian auf meine Seite zu ziehen und einen absonderlichen Streich mit ihm auszuhecken. Ich wollte nämlich durchaus wissen, wie man sich als Mumie in einem Sarkophag fühlte, und zugleich den verständnislosen Mädchen einen heiligen Schrecken einjagen. Hadrian stibitzte ein paar alte Bettlaken, die wir in Streifen rissen und in unseren Notentaschen versteckten, als die nächste Klavierstunde nahte. Theodosia kam zuerst dran, und während sie spielte, schlichen Hadrian und ich in die Kammer. Ich umhüllte Kopf und Hals mit einem Leinenstück, in das ich vorsorglich drei kleine Löcher für Augen und Nase geschnitten hatte, und Hadrian mußte mich kunstgerecht mit den langen Bettuchstreifen umwickeln. Dann krabbelte ich einigermaßen mühselig in den Sarkophag, rückte mich zurecht und schickte Hadrian wieder zu den andern, nachdem ich ihm nochmals eingeschärft hatte, wie er sie in die Kammer locken sollte.

Meine einzige Entschuldigung ist meine kindische Gedankenlosigkeit. Damals fand ich meinen Einfall ungeheuer witzig und mich sehr tapfer, denn als ich so in der kalten Steinmulde lag, wandelten mich doch leise Zweifel an, ob diese Keckheit nicht den Zorn der alten Götter auf mich herabbeschwören würde.

Die Zeit wurde mir lang, bis endlich die Tür aufging. Ich hörte Sabina ungehalten sagen: »Was ist da schon groß zu sehen … Judith scheint dich mit ihrer Verrücktheit angesteckt zu haben!« Dann trat sie mit Hadrian und Theodosia ein, und im nächsten Moment ertönte ein gellender Schrei. Ich fuhr unwillkürlich in meinen behindernden Wickeln in die Höhe. Etwas Schlimmeres hätte ich nicht tun können. Theodosia wankte, als die gespenstische Gestalt so plötzlich von den Toten auferstand, und sank ohnmächtig zu Boden.

»Es ist doch nur Judith!« und »Keine Angst, ich bin’s bloß!« schrien Hadrian und ich gleichzeitig, aber es war zu spät – Theodosia rührte sich nicht mehr.

»Ich glaube, sie ist tot«, sagte Sabina, deren Gesicht so weiß war wie meine Vermummung. »Du hast sie umgebracht.«

»Theodosia, nein!« jammerte ich, so rasch wie möglich aus dem Sarg kletternd. »Du kannst nicht tot sein! Deswegen stirbt man doch nicht gleich!«

Ich zuckte zusammen. Auf der Schwelle stand ein hochgewachsener fremder Mann, der allen mir bekannten Leuten so wenig glich, daß ich ihn in der allgemeinen Verwirrung sekundenlang wirklich für eine rächende Gottheit hielt. Wütend genug sah er aus.

Er starrte mich an, die mit teilweise herabhängenden Bandagen beschämt dastand, und dann fiel sein Blick auf Theodosia.

»Großer Gott!« stieß er hervor und kam rasch vollends herein, um sie aufzuheben.

»Sie ist vor Schreck ohnmächtig geworden«, stammelte Sabina. »Judith hat sich heimlich als Mumie verkleidet.«

»Was für ein Blödsinn!« Er warf mir einen so verächtlichen Blick zu, daß ich froh war, mein knallrotes Gesicht noch hinter dem weißen Fetzen verborgen zu wissen.

»Ist sie tot, Tybalt?« fragte Sabina drängend.

Er antwortete nicht, sondern kehrte uns den Rücken und trug Theodosia auf seinen Armen hinaus. Sabina folgte ihm.

Während ich mich mit Hilfe des stummen und bestürzten Hadrian aus den Binden wickelte und sie zu einem Bündel zusammenrollte, kam Sabina zurückgelaufen.

»Die Erwachsenen sind sehr besorgt um Theodosia«, berichtete sie und fügte mit einem Anflug von Schadenfreude hinzu: »Und auf euch beide haben sie alle eine Riesenwut.«

»Hadrian kann nichts dafür«, sagte ich edel. »Es war meine Idee, nicht wahr, Hadrian?«

Er bestätigte es.

»An deiner Stelle würde ich nicht weiter stolz darauf sein«, meinte Sabina streng. »Du hättest Theodosia zu Tode erschrecken können.«

»Ist sie wieder bei Besinnung?« fragte ich ängstlich.

»Das schon, aber sie ist noch kreidebleich und zittrig und schnappt nach Luft.«

»Na, Hauptsache, sie erholt sich.«

Tybalt, Sabinas sagenhafter großer Bruder, kam mit finsterer Miene herein, maß Hadrian und mich von oben bis unten mit einem vernichtenden Blick und fragte, was wir beiden uns eigentlich bei diesem blödsinnigen Streich gedacht hätten.

Hadrian sah mich an und überließ mir die Antwort wie gewöhnlich.

»Ich wollte doch nur mal eine Mumie spielen«, murmelte ich.

»Sind Sie nicht schon ein bißchen zu groß für solche Kindereien?«

Ich fühlte mich ganz klein und häßlich und gedemütigt.

»Haben Sie nicht mal daran gedacht, welche Wirkung Ihr sogenannter Spaß auf Uneingeweihte ausüben könnte?«

»Nein, so schlimm habe ich’s mir nicht vorgestellt.«

»Nächstes Mal überlegen Sie sich gefälligst vorher, was Sie tun. Das menschliche Gehirn ist nämlich zum Denken da, falls Ihnen das noch nicht aufgegangen sein sollte.«

Hätte jemand anderer mich so zurechtgewiesen, so wäre ich um eine schnippische Antwort nicht verlegen gewesen. Aber Tybalt war eine Ausnahmepersönlichkeit. Das war mir vom ersten Moment an klar geworden.

Er wandte sich zu Hadrian. »Und was hast du zu sagen?«

»Nur dasselbe wie Judith. Wir haben es nicht böse gemeint.«

»Also dann laßt solche Dummheiten künftig bleiben.« Er schritt hocherhobenen Hauptes hinaus.

»Nun kennen wir den großen Tybalt!« sagte Hadrian mit einer Grimasse, als er außer Hörweite war.

»Das kann man wohl sagen«, stimmte ich ungewöhnlich wortkarg zu.

»Dabei hast du immer behauptet, er sei bestimmt ein mickriger, kurzsichtiger Stubenhockertyp.«

»Na, da hab’ ich mich eben geirrt. Gehen wir jetzt lieber.«

Von der Treppe aus hörten wir Tybalts Stimme aus einer halb offenen Tür: »Wer ist eigentlich diese freche Göre?«, womit selbstverständlich ich gemeint war.

Sabina kam uns in der Halle entgegen. »Ihr sollt jetzt nach Hause gehen – ich meine, zu euch, Hadrian. Theodosia wird mit dem Wagen hingebracht. Ihr werdet schon noch eure Abreibung kriegen.«

Und die schien sie uns diesmal von Herzen zu gönnen.

Miß Graham, die Gouvernante, erwartete uns mit bekümmerter Miene – aber so sah sie meistens aus. Erst viel später begriff ich, daß die Arme in der dauernden Angst lebte, wegen unserer Untaten zur Verantwortung gezogen oder gar entlassen zu werden.

»Mr. Tybalt Travers hat Theodosia hergefahren und sich bei Sir Ralph über eure Ungezogenheit beschwert. Ihr müßt beide mit einer strengen Strafe rechnen. Theodosia liegt schon im Bett. Lady Bodrean ist sehr besorgt und hat nach dem Arzt geschickt. Ihr wißt doch, daß Theodosia etwas anfällig ist.«

Ich fand im stillen, daß Theodosia sich furchtbar anstellte. Sie wußte doch nun, daß die »Mumie« niemand anderes als ich gewesen war, und sollte mittlerweile über den Schreck hinweggekommen sein!

Doch half alles nichts; wir wurden in die riesige Bibliothek zitiert, die mit Kunstschätzen und Altertümern aus aller Welt vollgestopft war wie ein Museum und mich normalerweise brennend interessiert hätte. Aber jetzt sah ich nur die beiden gebieterischen Gestalten, die uns bedrohlich entgegenstarrten.

»Was hat dieser Blödsinn zu bedeuten, he?« polterte Sir Ralph.

Hadrian war in Gegenwart seines Onkels sowieso immer wie mit Stummheit geschlagen, so daß es mir überlassen blieb, abermals eine Entschuldigung zu stottern.

»Erstens ist es euch verboten, Sir Edwards Arbeitsräume zu betreten, und zweitens, mit wissenschaftlichen Objekten derart groben Unfug zu treiben. Ich werde euch den gebührenden Denkzettel verpassen. Strafe muß sein.«

Ich wollte Tybalt nicht zeigen, daß ich Angst hatte. Die schlimmste Strafe, die ich mir ausmalen konnte, war Ausschluß von den Lektionen bei Evan Callum.

»Und was hast du zu sagen?« Sir Ralph funkelte jetzt den armen Hadrian an.

»Es … es sollte … nur ein Ulk sein …«

»Ein schöner Ulk!«

»Es war meine Idee«, verteidigte ich ihn.

»Natürlich.« Sir Ralph wandte sich wieder mir zu. ›Judith, die Rädelsführerin.« Ich merkte mit Erleichterung, daß er innerlich gluckste, wenn auch nur sekundenlang. »Ab ins Pfarrhaus, junge Dame. Du wirst schon sehen, was bei solchen Streichen herauskommt. – Und du, teurer Neffe, verzieh dich auf dein Zimmer! Ich werde dir eine Tracht Prügel verabreichen, an die du dein Leben lang denken wirst. Marsch!«

Armer Hadrian! Mit sechzehn Jahren noch so gedemütigt zu werden – und das obendrein im Beisein Tybalts!

Im Pfarrhaus empfingen mich Dorcas und Alison sehr aufgeregt. Mein sündhafter Schabernack hatte sich offenbar herumgesprochen wie ein Lauffeuer.

»Aber Judith, wenn Sir Ralph dir nun das Haus verbietet?«

»Hat er das vor?« fragte ich entsetzt.

»Nein, aber er hat dir eine Strafarbeit geschickt, und wir sollen aufpassen, daß du sie gewissenhaft ausführst. Natürlich können wir unter diesen Umständen keinen Widerspruch riskieren.«

»Schon recht. Was ist das für eine Strafarbeit?«

»Du bekommst Stubenarrest, um ein Buch zu lesen, das Mr. Callum für dich ausgesucht hat, und einen ausführlichen Aufsatz darüber zu schreiben … Bei Wasser und Brot, und wenn es eine Woche dauert.«

Lieber, guter Evan! Als ob das eine Strafe für mich wäre! Das Buch handelte von den Dynastien Altägyptens und war ungemein fesselnd geschrieben, so daß ich schöne Stunden darüber verbrachte, zumal unsere Köchin sich weigerte, Sir Ralphs Befehl zu befolgen. Sie sei nicht seine Angestellte, sagte sie, und sie denke nicht daran, die liebe Kleine verhungern zu lassen. Es machte mir Spaß, daß ich plötzlich für sie, die mich sonst oft »Teufelsbraten« titulierte, »die liebe Kleine« war. Jedenfalls schmuggelte sie mir gerade jetzt einige meiner Leibgerichte in die Klausur.

Trotzdem erledigte ich meine Arbeit in Rekordzeit, und Evan erzählte mir später im Vertrauen, daß Sir Ralph sie mit großem Wohlgefallen gelesen hätte.

Wir wuchsen heran, und manches änderte sich, jedoch so allmählich, daß wir es kaum gewahr wurden.

Tybalt war jetzt öfter in der Villa Gizeh. Einer meiner Lieblingsträume war um diese Zeit, daß ich eine unerhörte Entdeckung machte oder Hieroglyphen von so ungeahnter Bedeutsamkeit entzifferte, daß ich die wissenschaftliche Welt erschütterte und Tybalt mir vor Bewunderung unverzüglich Herz und Hand antrug. Dann würden wir nach Ägypten gehen, weitere Ruhmestaten vollbringen und weltberühmt werden. »Dir verdanke ich alles«, pflegte Tybalt am Ende des Traumes zu sagen.

Leider schenkte er mir in Wirklichkeit kaum Beachtung, und wenn er überhaupt je an mich dachte, so wahrscheinlich nur an die nichtsnutzige Göre, die sich als Mumie herausstaffierte, um andere harmlose Mädchen zu erschrecken.

Theodosia stand ihm viel näher als ich. Ungeachtet ihrer Zimperlichkeit schien er sie zu mögen. Außerdem sahen sie sich oft bei Tisch, denn die Bodreans luden Vater und Sohn Travers regelmäßig ein, während ich nach beendetem Unterricht ins Pfarrhaus zurückmußte.

Hadrian wurde mit achtzehn auf die Universität geschickt, um Archäologie zu studieren, was mehr dem Wunsch seines Onkels als seinem eigenen entsprach, aber als »armer Verwandter« hatte er keine andere Wahl. Onkel Ralph hatte ihn einst aus Gnade und Barmherzigkeit in Keverall Court aufgenommen; folglich hatte Onkel Ralph zu bestimmen, was aus ihm werden sollte.

»Du Glücklicher!« seufzte ich neidvoll, als er sich verabschiedete. »Was gäbe ich darum, wenn ich an deiner Stelle Archäologie studieren dürfte!«

»Kann ich mir denken«, erwiderte er trocken. »Du warst ja immer die Aktivere von uns beiden.« Womit er zart die Tatsache umschrieb, wie sehr ich ihn während der gemeinsamen Schuljahre herumkommandiert hatte.

Er fehlte mir. Wenig später verließ uns auch Evan Callum, der inzwischen promoviert hatte und eine Assistentenstelle an einer anderen Universität bekam. Wir Mädchen wurden zwar noch weiter von Miß Graham, Oliver Shrimpton und Tabitha Grey unterrichtet, aber man merkte, daß das Schwergewicht sich allmählich auf andere Gebiete verlagerte.

Dorcas versuchte, mir einiges von dem beizubringen, was sie »Hausfrauenkünste« nannte, also Kochen, Backen, Einmachen und so weiter. Ich hatte dazu weder viel Lust noch Talent, wenn ich mir auch ihr zuliebe Mühe gab. »Du wirst es brauchen, wenn du deinen eigenen Haushalt führst«, meinte sie sorgenvoll. »Denke daran, daß du demnächst achtzehn wirst, Judith. Viele Mädchen sind in dem Alter schon verheiratet.«

Ich wußte, daß sie und Alison sich um meine Zukunft Sorgen machten und mich gern recht bald unter die Haube gebracht hätten, und ich wußte auch mit wem, nämlich mit unserem jungen Pfarramtsgehilfen Oliver Shrimpton.

Oliver war allgemein beliebt. Er war nicht gerade ehrgeizig, aber mit vollem Herzen bei seinem Beruf und versprach ein Seelsorger im wahrsten Sinne des Wortes zu werden. In den letzten zwei oder drei Jahren, als Reverend James Osmond immer klappriger wurde, hatte Oliver ihm schon den größten Teil der Gemeindearbeit abgenommen. Er kam gut mit den alten Damen zurecht, und die nicht ganz so alten himmelten ihn an. Ein paar späte Mädchen konnten sich gar nicht genug für unsere kirchlichen Angelegenheiten betätigen. Ob sie ebensoviel frommen Eifer entfaltet hätten, wenn Oliver nicht noch zu haben gewesen wäre?

Er und ich hatten uns immer gut vertragen. Zwar hatte ich in seinen Fächern nicht besonders geglänzt, aber da wir nun schon so lange unter einem Dach lebten, war er in meinen Augen so etwas wie ein großer Bruder geworden. Manchmal gab ich im stillen vor mir selber zu, daß ich mich wahrscheinlich an den Gedanken gewöhnt hätte, seine Frau zu werden und den Rest meines Lebens im Pfarrhaus zu verbringen, wenn Tybalt mir nie in den Weg gekommen wäre. Natürlich war es beschlossene Sache, daß Oliver Reverend Osmonds Amtsnachfolger werden würde, falls dieser starb oder sich zur Ruhe setzte.

Niemand wußte von meinen Gefühlen für Tybalt. Darüber konnte ich nicht sprechen, zumal es mir selbst lächerlich vorkam, in jemanden verliebt zu sein, der kaum von meiner Existenz Notiz nahm.

Aber auch das änderte sich ein wenig, was ich in erster Linie Tabitha Grey verdankte. Sie hatte bemerkt, wie sehr es mich betrübte, daß die Stunden bei Evan Callum aufgehört hatten. Übrigens kam mir Tabitha jetzt viel jünger vor als früher. Es ist wohl immer so, daß einem mit vierzehn Leute von vierundzwanzig schon ziemlich alt scheinen, während man mit achtzehn durchaus einen Blick für den reiferen Charme einer Achtundzwanzigjährigen bekommt. Und Tabitha hatte einen ganz eigenen Charme. Sie wurde von Fernerstehenden mit »Mrs. Grey« angeredet und mußte folglich einmal verheiratet gewesen sein. Vielleicht war sie sehr jung Witwe geworden – das hätte die sanfte Melancholie erklärt, die ich manchmal in ihren Zügen zu lesen glaubte. Meist gab sie sich liebenswürdig und heiter, aber in jeder Weise zurückhaltend. Daß sie mit ihrer schlanken Gestalt, ihrem gewellten, dunklen Haar und den lichtbraunen Augen sehr schön sein konnte, besonders am Klavier, wenn ihr Ausdruck sich zauberhaft vergeistigte, habe ich wohl schon irgendwo erwähnt.

»Wieso ist sie eigentlich Hausdame bei euch?« fragte ich Sabina einmal. »Sie wirkt doch wie eine Lady – als ob sie es gar nicht nötig hätte!«

»Auch vornehme Damen müssen sich manchmal ihr Brot selber verdienen«, erwiderte Sabina. »Für uns ist sie ein Geschenk des Himmels. Sie sorgt für alles und alle, sogar für Nanny Tester, obwohl die es nicht zugeben will – sie hält den Haushalt in Schwung und die Dienstboten auf Trab. Sie versteht eine Menge von Vaters und Tybalts Arbeit; beide fachsimpeln stundenlang mit ihr über Ausgrabungen und all den Kram.«

Das gab Tabitha und mir etwas Gemeinsames, und eines Tages nach der Klavierstunde wagte ich, sie darauf anzusprechen. Erfreulicherweise ging sie lebhafter als sonst auf das Thema ein. Sie erzählte mir sogar, daß sie mit Sir Edward und einer Gruppe anderer Forscher einmal bei der Ausgrabung einer römischen Niederlassung in Kent gewesen sei.

»Wenn Sabina heiratet und aus dem Hause ist, kann ich wieder mit«, fügte sie hinzu. »Ein Jammer, Judith, daß Sie ein Mädchen sind. Als Junge hätten Sie bei Ihrem Interesse Archäologie zum Beruf machen können.«

»Leider hätten wir in der Pfarre sowieso nicht genug Geld für das Studium gehabt. Ich kann von Glück sagen, daß die Bodreans mich so lange hier am Privatunterricht teilnehmen ließen. Nun muß ich bald selbst ans Geldverdienen denken, obwohl ich nicht weiß, was für eine Stellung für mich in Frage käme. Wahrscheinlich bestenfalls Kindermädchen oder Gouvernante.«

»Wer weiß, was das Schicksal noch mit Ihnen vorhat«, sagte Tabitha lächelnd und lieh mir einige Bücher. »Einstweilen lesen und lernen Sie nur weiter, soviel Sie können.«

Etwa vierzehn Tage später, als ich einen Abendspaziergang zur Villa Gizeh machte, um die Bücher zurückzugeben, hörte ich schon beim Herankommen Klavierspiel und sah vorsichtig durch die Fenstertür in den großen Salon. Aber Tabitha saß nicht allein am Flügel, wie ich gedacht hatte, sondern spielte vierhändig mit Tybald.

Als das Stück zu Ende war, lächelte er ihr zu, und ich dachte: Ach, wenn er mich doch auch mal so anlächelte!

Wie es meistens geht, spürten die beiden, daß sie beobachtet wurden, und wandten die Köpfe gleichzeitig der Glastür zu. Ich fühlte mich wie ertappt und schämte mich; aber sie schienen zu meiner Ehre anzunehmen, ich hätte nur nicht stören wollen, solange das Musikstück dauerte.

»Kommen Sie doch herein, Judith«, rief Tabitha freundlich. »Ah, Sie bringen die Bücher zurück, danke. Ich habe sie ihr geborgt, Tybalt, weil sie schon seit Jahren echtes Interesse für diese Dinge zeigt.«

Tybalt las die Titel und sah mich zum erstenmal mit warm aufleuchtenden Augen an.

»Haben Sie sie wirklich von Anfang bis Ende gelesen?«

»Natürlich. Für mich ist das spannender als jeder Roman.«

»Dann müssen wir noch mehr für sie heraussuchen, Tabitha.«

»Das war ohnehin meine Absicht.«

Wir plauderten noch eine Viertelstunde angeregt zu dritt. Nie, seit Evan Callum weg war, hatte mich ein Gespräch so mitgerissen. Und dann begleitete Tybalt mich sogar zur Pfarre zurück, trug die neugeborgten Bücher und erzählte so unbefangen von seinen bisherigen Forschungsabenteuern, als wäre ich seinesgleichen.

Ich lauschte beseligt.

An der Tür des Pfarrhauses fragte er mich ganz ernsthaft, ob er mich wirklich nicht gelangweilt hätte.

»Aber Sie wissen nun doch, wie sehr mich das alles interessiert!« erwiderte ich ebenso ernst. »Ach ja, richtig, Sie sind ja schon mal selber als Mumie aufgetreten, wenn ich mich recht erinnere.«

Wir lachten und schüttelten uns die Hände, und er meinte, wir müßten uns bald wieder einmal unterhalten. Inzwischen sollte ich fleißig lesen. Er würde Tabitha noch ein paar Bücher geben, die für meine Altersstufe geeignet wären. »Oh – danke!« hauchte ich überwältigt, und damit trennten wir uns.

Dorcas mußte uns aus dem Fenster gesehen haben, denn als ich hereinkam, fragte sie:

»War das nicht Tybalt Travers?«

»Ja. Er war zufällig dabei, als ich Mrs. Grey die Bücher zurückgab, und hat mich dann netterweise nach Hause gebracht.«

»Oh!« war alles, was Dorcas im Moment äußerte. Aber tags darauf sagte sie: »Wie ich höre, erwartet man allgemein die baldige Verlobung von Tybalt Travers und Theodosia Bodrean.«

Jetzt war die Reihe an mir, »oh« zu sagen. Hoffentlich waren mir meine inneren Gefühle nicht anzusehen.

»Nun ja«, fuhr Dorcas zögernd fort, »schließlich ist es ein naheliegender Gedanke. Die alten Herren sind seit Jahrzehnten befreundet und würden sicher gerne sehen, daß die Familien sich durch Heirat vereinigten.«

Nein, dachte ich, bloß das nicht. Tybalt und die dumme kleine Theodosia … das ist doch einfach unmöglich.

Aber natürlich wußte ich, daß es in hohem Grade wahrscheinlich war.

Oliver Shrimpton wurde ganz unerwartet zu einer Audienz beim Bischof von Dorsetshire aufgefordert. Wie es schien, sollte ihm eine vakant gewordene Pfarre in der Stadt angeboten werden. Dorcas und Alison waren ganz verstört.

»Was sollen wir nur ohne Oliver anfangen«, klagte Dorcas. »Selbstverständlich hat er die Ehre verdient, aber …«

Oliver fuhr zum Bischof, und nie habe ich meine Nenntanten so glücklich gesehen wie bei seiner Rückkunft. Ich saß lesend in meinem Zimmer, als sie hereinplatzten.

»Er hat abgelehnt!« riefen sie strahlend.

»Wer?« fragte ich, ohne aufzublicken.

»Oliver natürlich!«

»Warum?«

»Hörst du eigentlich zu, Judith?«

Ich hob endlich den Kopf und lächelte entschuldigend. »Ich brauche immer ein bißchen Zeit, um aus dem alten Ägypten in unser Pfarrhaus zurückzufinden.«

»Du vergräbst dich viel zu tief in diese Schwarten. Meiner Meinung nach ist das gar nicht gut für dich. Also, Oliver hat mit dem Bischof gesprochen und die angebotene Lebensstellung mit der Begründung ausgeschlagen, er habe Vater schon versprochen, sein Nachfolger zu werden, und fühle sich an sein Versprechen gebunden.«

»Wie anständig von ihm«, sagte ich. »Echt Oliver. Nun brauchen wir keine Angst mehr zu haben, ihn zu verlieren.«

»Er muß uns alle hier wirklich gern haben«, meinte Dorcas gerührt.

»Sagen wir: eine von uns besonders«, ergänzte Alison vielsagend.

In den Semesterferien kam Evan Callum für einige Wochen in die Villa Gizeh zurück. Natürlich wurde er mitsamt seinen Gastgebern auch sehr oft nach Keverall Court eingeladen, und mir stattete er mehrere Besuche im Pfarrhaus ab. Er sagte, ich sei seine begabteste Schülerin gewesen, und es sei eine Schande, daß man Mädchen keine besseren Studien- und Berufschancen einräumte.

Miß Graham fand eine andere Stellung und verließ uns, und damit war der Unterricht vorbei. Auch die Klavierstunden hörten auf – ich hatte nun einmal nicht das Zeug zu einer auch nur leidlichen Pianistin –, aber zum Glück brauchte ich nun keinen Vorwand mehr, um zur Villa Gizeh zu pilgern und in der Bibliothek zu kramen. Alle Bücher, die nicht gerade zu Sir Edwards kostbarsten Erstausgaben gehörten, wurden mir gern geliehen.

Von Sabina und Theodosia sah ich in dieser Zeit nur wenig. Als erwachsene junge Damen waren sie offenbar ganz von den Gesellschaften in Anspruch genommen, die jetzt in den beiden befreundeten Häusern stattfanden und zu denen ich natürlich nicht eingeladen wurde.

Für mich schickte es sich, Dorcas und Alison bei der Gemeindearbeit zu helfen, also den Bettlägrigen Blumen und Essen zu bringen, schwachsichtigen alten Leuten vorzulesen und mit unserem klapprigen kleinen Einspänner zum Einkaufen ins Städtchen zu fahren. Äußerlich verwandelte ich mich schon halb und halb in die typische Pfarrerstochter. Was blieb mir auch anderes übrig, als mich mit meinem Los abzufinden?

Weihnachten sorgte ich mit Oliver für das Julfeuer und den Weihnachtsbusch – ein Gebilde aus zwei rechtwinklig ineinandergesteckten Holzreifen, das mit Immergrün geschmückt wurde. Dieser uralte keltische und somit heidnische Brauch wurde bei uns in Cornwall noch allerorten geübt, und obwohl er in einem christlichen Pfarrhaus eigentlich fehl am Platze war, fanden wir ihn schöner als den Christbaum, der eine ausländische Erfindung war. Ich zog mit dem Kirchenchor zum traditionellen Weihnachtsliedersingen herum, und wir wurden in Keverall Court mit Kuchen und heißem Teepunsch bewirtet. Bei dieser Gelegenheit sah ich auch Theodosia und Hadrian und gedachte sehnsüchtig der schönen alten Zeiten.

Neujahr brachte eine Kältewelle – eine Seltenheit bei uns. Alle Bäume glitzerten im Rauhreif, und die Kinder konnten sogar auf den zugefrorenen Teichen Schlittschuh laufen. Aber unser lieber Reverend James zog sich eine schwere Erkältung zu, und dem Husten folgte ein Herzanfall. Binnen einer Woche war er tot.

Seine alternden Töchter, Dorcas und Alison, waren tief erschüttert. In ihre Trauer mischte sich Angst vor der ungewissen Zukunft. Wie sollte es nun weitergehen? Ich wußte, daß Oliver und ich jetzt ihre einzige Hoffnung waren. Er war ja Reverend Osmonds Nachfolger, und wenn ich ihn heiratete, konnten wir alle miteinander in der Pfarre weiterleben, wie wir es gewohnt waren.

Obwohl sie es nicht offen aussprachen, wurde mir bei ihren Seufzern und kläglichen Blicken jedesmal ganz flau zumute. Wie sollte ich ihnen schonend beibringen, daß ich Oliver nicht heiraten konnte, weil ich einen anderen liebte? Konnte ich laut und deutlich sagen: Ich mag Oliver sehr gern. Er ist ein guter Mensch. Aber ihr müßt verstehen, daß das für eine Ehe nicht genügt. Mein Herz gehört Tybalt … Ich weiß, daß er sich nicht viel aus mir macht, jedenfalls nicht auf diese Weise. Sicher wird er Theodosia heiraten; sie ist’ja die passendste Partie für ihn. Aber das hilft alles nichts – ich liebe ihn.

Nein, das konnte ich den armen Tanten nicht sagen. Es war eine bedrückende Situation.

Doch auch Oliver begann sich in seiner neuen Würde zu verwandeln. Zu uns war er so freundlich und hilfsbereit wie immer, aber natürlich geboten es Zucht und Sitte, wie Dorcas betonte, daß wir woanders hinzogen, solange er Junggeselle blieb … falls sich nicht bald eine Lösung fände … Welche Lösung sie meinte, war klar. Und es fand sich auch eine, sogar sehr bald. Arme Dorcas! Arme Alison!

Alison brachte das Problem als erste ins Gespräch. Ich glaube, Oliver hatte es auch schon vorgehabt, aber in seiner Gutherzigkeit gefürchtet, es sähe so aus, als könne er uns nicht schnell genug loswerden.

»Da die Gemeinde nun einen neuen Pfarrer hat, der nicht mit uns verwandt ist«, sagte Alison, »gehört es sich für uns, daß wir umziehen.«

Er machte ein merkwürdig erleichtertes Gesicht. Dann erwiderte er:

»Wie gut, daß Sie davon anfangen. Ich wollte schon ein paar Tage lang mit Ihnen sprechen. Ich möchte nämlich demnächst heiraten.«

Dorcas strahlte, als wäre sie die zukünftige Braut.

»Natürlich wollte ich der jungen Dame keinen Antrag machen«, fuhr Oliver fort, »ehe ich ihr eine sichere Lebensstellung zu bieten hätte. Nun ist das der Fall … und ich habe bei ihr Glück gehabt. Sie hat meinen Antrag angenommen.«

Alison schaute mich vorwurfsvoll an. Warum hast du uns das noch nicht gesagt? stand in ihrem Blick zu lesen. Du kanntest doch unsere Sorgen!

Aber bevor ich meiner eigenen Überraschung Ausdruck verleihen konnte, sagte Oliver:

»Miß Sabina Travers ist bereit, mich zu heiraten.«

Wir gratulierten – ich von ganzem Herzen, Dorcas und Alison wie vor den Kopf geschlagen.

Später kamen sie in mein Zimmer und empörten sich:

»Wer hätte Oliver so etwas zugetraut! Uns alle hinters Licht zu führen!«

»Wieso?« sagte ich. »Hat er je andere Heiratsabsichten geäußert?«

»Nein, aber …«

»Sabina paßt sehr gut zu ihm, finde ich. Sie war zwar kein Kirchenlicht in Latein und Griechisch, genausowenig wie ich, aber sie und Oliver mochten sich von Anfang an. Außerdem ist sie hübsch und echt weiblich und wird bestimmt eine prächtige Pfarrersfrau abgeben.«

»Aber dazu ist sie doch viel zu oberflächlich! Ich habe noch nie ein ernsthaftes Wort von ihr gehört.«

»Um so besser wird sie sich mit der Gemeinde verstehen. Ihre Heiterkeit wirkt ansteckend, und wenn sie für alle Nöte das passende freundliche Wort hat, fragt kein Mensch danach, ob es wirklich tiefempfunden ist oder nicht. Ich halte das für ideal.«

Dorcas bekam feuchte Augen. »Judith, du brauchst vor uns nicht die Tapfere zu spielen …«

Ich unterbrach sie mit hellem Auflachen. »Nun hört mal zu, ihr beide. Ich hätte Oliver nicht genommen, selbst wenn er mir einen Antrag gemacht hätte. Für mich war er viel zu sehr der große Bruder, und Geschwisterehen sind verboten.« Ich ging auf die Betrübten zu und umarmte sie. »Oliver scheint auch so gedacht zu haben, nicht wahr? Jedenfalls liebt er Sabina, und wir haben seine Gefühle zu respektieren.«

Sie waren gerührt wie immer bei meinen nicht allzu häufigen Zärtlichkeitsbeweisen.

»Wir dachten ja nicht an uns«, murmelte Dorcas, »sondern an deine Zukunft.«

»Und die sieht eben anders aus, als ihr dachtet«, sagte ich leichthin. »Oliver und Sabina! Sieh mal an! Da wird Oliver ja Tybalts Schwager!«

Alison und Dorcas tauschten einen konsternierten Blick. Was hatte denn das mit ihren Sorgen zu tun? Dann gab sich Alison einen Ruck und sagte:

»Ja, also nun müssen wir sofort beratschlagen, wo wir bleiben sollen.«

Und wir beratschlagten.

Reverend James Osmond hatte keine irdischen Reichtümer angehäuft. Seine Töchter konnten sich mit der winzigen Rente nur eben so durchschlagen, wenn sie eine billige Wohnung fanden. Was mich betraf, so war ich finanziell noch von ihnen abhängig – ein unhaltbarer Zustand, auch wenn sie mit Freuden das Wenige, das sie hatten, mit mir teilten.

»Es stand ja immer fest, daß ich mir mein Brot einmal selbst verdienen müßte«, sagte ich.

»Na ja«, gab Dorcas zu, »darum waren wir auch so glücklich, daß du wenigstens eine gute Schulbildung bekommen konntest. Vielleicht findet sich bald etwas Passendes.«

Doch während wir drei noch bedrückt in eine unsichere Zukunft sahen, sprang Sir Ralph wieder einmal als Retter ein. Er bot meinen Tanten »für ein Butterbrot« ein leerstehendes Cottage auf seinem Grundbesitz an und mir eine Stelle als Gesellschafterin. Bei wem? Bei niemand Geringerem als seiner Gemahlin, Lady Bodrean. Sie brauchte jemanden zum Vorlesen, zur Hilfe bei Wohltätigkeitsveranstaltungen und Empfängen, zum Erledigen ihrer Korrespondenz. Sir Ralph, offenbar entschlossen, unser Wohltäter zu sein, hatte mich vorgeschlagen, und Lady Bodrean war bereit, mich in die engere Wahl zu ziehen.

Alison und Dorcas waren entzückt.

»Auf Regen folgt Sonne«, jauchzten sie. »Der liebe Gott wendet doch alles zum Guten. Wir haben unser Cottage, und du brauchst nicht in die Fremde hinaus. Du kannst uns oft besuchen. Wie herrlich … Vorausgesetzt – äh –, daß du mit Lady Bodrean einigermaßen auskommst.«

»Ja, da liegt der Hase im Pfeffer«, bestätigte ich lächelnd, aber mit gemischten Gefühlen. Diese waren nicht ohne Grund. Von Kind an hatte ich gewußt, daß Lady Bodrean durchaus dagegen war, daß ich mit ihrer Tochter und ihrem Neffen zusammen erzogen wurde – nur hatte sie gegen den Befehl ihres Gatten nichts ausrichten können. Bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen ich sie sah, hatte sie mich ihre Mißachtung mit eisigen Blicken spüren lassen. Ich meinerseits hatte auch nie versucht, mich bei ihr einzuschmeicheln; die Abneigung war gegenseitig. Aber wenn ich – natürlich wieder nur auf Sir Ralphs Wunsch – eine bezahlte Stellung bei ihr einnehmen sollte, befand ich mich von vornherein in einer ganz anderen und recht heiklen Lage.

Lady Bodrean empfing mich in ihrem Privatsalon, der mit Möbeln und Nippes aller Art vollgestopft war. Die Sesselbezüge waren von ihr selbst gestickt, desgleichen zwei Kaminschirme. Vor ihr stand ein Gobelinrahmen mit einer begonnenen Arbeit, an der sie emsig stichelte, als der Diener mich ins Zimmer wies.

Eine oder zwei Minuten lang würdigte sie mich keines Blickes, wohl um anzudeuten, daß ihre Arbeit ihr wichtiger war als ich. Wäre ich von Natur schüchtern gewesen, so hätte mich schon dies entmutigt.

»Oh, Miß Osmond«, geruhte sie endlich zu sagen. »Sie kommen wegen der Stellung. Sie dürfen sich setzen.«

Ich setzte mich kerzengerade und erhobenen Hauptes, obwohl das Blut mir in den Wangen brannte.

»Trauen Sie sich zu, alle Pflichten einer Gesellschafterin zu erfüllen und sich nützlich zu machen?«

»Jawohl, Lady Bodrean.«

»Sie werden mich an meine gesellschaftlichen und philanthropischen Verpflichtungen erinnern und mir von Fall zu Fall dabei behilflich sein. Sie werden mir täglich die Zeitungen vorlesen. Sie werden sich um meine beiden Lieblinge ›Orange‹ und ›Limone‹ kümmern.«

Die beiden Seidenspitze, die rechts und links von ihrer Herrin auf weichen Kissen ruhten, hoben die Köpfe, als sie ihre Namen hörten, und sahen mich fast so hochnäsig an wie Lady Bodrean. Der eine kläffte kurz, der andere schniefte.

»Ruhig, meine Süßen«, sagte Lady Bodrean zärtlich zu ihnen hinab und wandte sich dann wieder eiskalt zu mir. »Sie werden mir selbstverständlich zur Verfügung stehen, wann immer ich Sie brauche. Über Gehalt und Ausgang reden wir noch. Zunächst lesen Sie mir bitte probeweise einen Zeitungsartikel vor.«

Sie reichte mir die heutige Times und tippte achtlos auf irgendeine Spalte. Ich las die Kommentare zur Entlassung Bismarcks vor und über den Plan unserer Regierung, Helgoland an Deutschland zu verkaufen.

Lady Bodrean musterte mich während des Lesens scharf durch die Lorgnette, die sie an einer Goldkette um den Hals trug. Diese Behandlung mußte sich eine künftige Angestellte vermutlich gefallen lassen.

»So, das genügt«, sagte sie mitten in einen Satz hinein und zeigte mir damit, daß das Schicksal Helgolands sie nicht die Spur interessierte. »Sie können sofort bei mir anfangen. Ich nehme an, es paßt Ihnen so.«

Ich erwiderte heuchlerisch sanft, daß ich ein paar Tage zum Ordnen meiner Angelegenheiten brauche, obwohl es da nichts zu ordnen gab. Nur einen Aufschub wollte ich haben – und dem alten Drachen zeigen, daß ich mich nicht vom ersten Moment an wie eine Sklavin behandeln ließ! Sie gewährte mir denn auch gnädig eine Frist von anderthalb Tagen, aber dann erwartete sie, daß ich pünktlich zum Dienst antrat.

Auf dem Rückweg zu Dorcas und Alison, die bereits ihr gemütliches Cottage bezogen hatten, versuchte ich, nur an die Vorteile meines neuen Lebensabschnitts zu denken. Ich würde im Dienst Lady Bodreans oft die Zähne zusammenbeißen müssen, das war mir klar. Aber – welch holder Trost – ich würde öfter als früher Gelegenheit haben, Tybalt zu sehen!

Die Rache der Pharaonen

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