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Kapitel 1

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Als der Bummelzug in die Bahnstation einfuhr, sagte ich mir: Es ist noch nicht zu spät. Du kannst noch umkehren.

Während der langen Reise durch England und der nächtlichen Fahrt über den Ärmelkanal hatte ich mir Mut gemacht, indem ich mir versicherte, daß ich kein törichtes Mädchen war, sondern eine vernünftige junge Frau, die sich zu einem Schritt entschlossen hatte und diesen nun auch ausführen würde.

Was allerdings mit mir geschehen würde, wenn ich im Schloß ankam, hing von den anderen ab. Ich gelobte mir jedoch, würdevoll aufzutreten, meinen verzweifelten Übereifer nicht zu verraten und die Tatsache zu verbergen, daß mich bei dem Gedanken an meine Zukunft, falls man mich abwies, Angst beschlich. Mein Äußeres sprach – zum erstenmal in meinem Leben – zu meinen Gunsten. Ich war achtundzwanzig und wollte in meinem grauen Reisemantel und mit dem gleichfarbigen Filzhut tüchtig aussehen.

Der Zug hielt. Außer mir stieg nur eine Bäuerin aus, einen Korb mit Eiern unter dem einen Arm, ein lebendes Huhn unter dem anderen. Ich zerrte meine Koffer heraus. Sie enthielten alles, was ich besaß.

Der einzige Bahnbeamte stand an der Sperre.

»Guten Tag, Madame«, sagte er zu der Bäuerin. »Wenn Sie sich nicht beeilen, wird das Baby geboren, bevor Sie ankommen. Wie ich höre, hat eure Marie seit drei Stunden Wehen. Die Hebamme ist schon da.«

»Betet, daß es diesmal ein Junge wird ...«

Der Mann interessierte sich jedoch mehr für mich als für das Geschlecht des erwarteten Babys. Ich merkte, wie er mich betrachtete, während er sich mit der Bäuerin unterhielt. Als er vortrat, um den Zug mit seiner Trillerpfeife weiter auf die Reise zu schicken, kam ein alter Mann auf den Bahnsteig gehastet.

»He, Joseph!« begrüßte der Bahnbeamte ihn und wies mit einem Kopfnicken auf mich.

Joseph blickte zu mir herüber und schüttelte den Kopf.

»Sind Sie vom Château Gaillard?« fragte ich auf französisch, das ich seit meiner Kindheit fließend spreche. Meine Mutter war Französin gewesen, und wir hatten uns immer in ihrer Sprache unterhalten, obgleich in Gegenwart meines Vaters englisch gesprochen wurde.

Joseph kam auf mich zu, den Mund leicht geöffnet, die Augen ungläubig aufgerissen. »Ja, Mademoiselle, aber ...«

»Sie sind also gekommen, um mich abzuholen.«

»Ich sollte einen Monsieur Lawson abholen, Mademoiselle.«

Ich lächelte und wies auf die Schilder auf meinem Gepäck. »Ich bin Mademoiselle Lawson.«

»Aus England?« fragte er.

Ich bestätigte das.

»Mir wurde gesagt, ein Herr

»Das war ein Mißverständnis.«

Joseph und der Bahnbeamte trugen meine Koffer zu der wartenden zweirädrigen Kutsche. Ich folgte, und nach wenigen Augenblicken fuhren wir los.

»Ist es weit zum Schloß?« fragte ich.

»Ungefähr zwei Kilometer, Mademoiselle. Sie werden es bald sehen.«

Ich betrachtete die fruchtbare Weingegend um mich herum. Es war Ende Oktober. Die Ernte war vorbei. Vermutlich bereiteten sie jetzt den Anbau fürs nächste Jahr vor. Wir kamen auch an dem kleinen Ort mit dem Marktplatz vorbei, der von der Kirche und dem Rathaus beherrscht wurde und von dem die engen Straßen mit den kleinen Läden und Häusern abzweigten.

Und dann erblickte ich das Schloß, jenes großartige Bauwerk aus dem fünfzehnten Jahrhundert, das sich inmitten von Weinbergen erhob. Rundtürme flankierten das Hauptgebäude. Die Haupttreppe würde wohl in dem polygonen Turm sein. Die mächtigen Strebepfeiler und Türme schienen zur besseren Verteidigung gebaut. Ich schätzte ab, wie dick die Wände mit den schmalen Fensterschlitzen wohl sein mochten. Die Zugbrücke, der Burggraben – jetzt natürlich ausgetrocknet –, die mit Kragsteinen versehene Brustwehr, die von vielen Pechnasen gestützt wurde, all das erinnerte wahrlich an eine Festung. Durch meinen Vater wußte ich ziemlich gut Bescheid über alte Bauwerke. Der alte Joseph sagte: »Am Schloß ändert sich nichts. Monsieur le Comte sorgt dafür.«

Monsieur le Comte. Er war der Mann, dem ich gegenübertreten mußte. Ich versuchte, ihn mir vorzustellen, den reservierten Aristokraten, der mit hochmütiger Gleichgültigkeit auf dem Leiterwagen durch die Straßen von Paris zur Guillotine gefahren wäre. Genauso würde er mich verbannen.

Lächerlich, würde er sagen, meine Aufforderung war eindeutig an Ihren Vater gerichtet. Sie werden unverzüglich wieder abreisen. Es würde sinnlos sein zu versichern, daß ich genauso kompetent wie mein Vater war. Ich arbeitete mit ihm zusammen. Tatsächlich verstehe ich mehr von alten Gemälden als er; es war das Arbeitsgebiet, das er immer mir überließ.

Joseph musterte mich scharf. Er fand es, wie ich sehen konnte, sehr sonderbar, daß der Graf nach einer Frau geschickt hatte.

In meiner Tasche steckte die Aufforderung des Grafen. Nein, das war nicht die richtige Bezeichnung. Monsieur le Comte würde niemals auffordern; er befahl wie ein König seinem Untertan.

Monsieur le Comte de la Talle beorderte D. Lawson nach Château Gaillard.

Nun, ich war Dallas Lawson. Ich würde eben erklären, daß Daniel Lawson seit zehn Monaten tot war und ich, seine Tochter, die ihm seit vielen Jahren bei seiner Arbeit geholfen hatte, jetzt seine Aufträge übernahm.

Etwa drei Jahre lag die Korrespondenz meines Vaters mit dem Grafen zurück. Vater war ein bekannter Experte für alte Bauwerke und Gemälde gewesen. Daher war es nur natürlich, daß ich mit ehrfürchtiger Bewunderung für diese Dinge aufwuchs. Vater und ich verbrachten viele Wochen in Florenz, Rom und Paris. Und auch in London hielt ich mich jeden freien Augenblick in Kunstgalerien auf.

Ich war von klein auf viel mir selbst überlassen gewesen. Mutter war kränklich, Vater wurde von seiner Arbeit absorbiert. Wir sahen nur wenige Menschen, und ich hatte nie gelernt, schnell Freundschaften zu schließen. Da ich nicht hübsch war, fühlte ich mich im Nachteil. Ich sehnte mich jedoch danach, Erlebnisse mit anderen Menschen zu teilen, sehnte mich danach, Freunde zu haben. Hingerissen pflegte ich Unterhaltungen zu lauschen, die nicht für meine Ohren bestimmt waren. Still saß ich in der Küche, während unsere beiden Dienstmädchen ihre Leiden und Liebesgeschichten erörterten, und still pflegte ich bei Einkäufen mit Mutter in den Läden dazustehen, um den Gesprächen der anderen Leute zuzuhören. Kam jemand zu uns nach Hause, so wurde ich oft beim Lauschen ertappt, was mein Vater ganz und gar nicht billigte.

Als ich auf die Kunstschule ging, begann ich selbst zu leben, nicht mehr nur durch Erlebnisse anderer. Doch das gefiel meinem Vater ebenfalls nicht, denn ich verliebte mich in einen jungen Studenten. In romantischen Augenblicken dachte ich seitdem immer sehnsüchtig an jene Frühlingstage. Vater war dagegen gewesen, weil Charles kein Geld hatte; außerdem hatte Mutter, die zu dem Zeitpunkt bettlägerig geworden war, mich gebraucht. Es hatte keine große entsagungsvolle Szene gegeben. Die Romanze war einfach dem Frühling entwachsen und mit dem Herbst zu Ende gegangen. Vielleicht hatte Vater es für besser gehalten, mir nicht wieder Gelegenheit zu geben, mich in jemand anderen zu verlieben. Er schlug mir vor, die Kunstschule zu verlassen und enger mit ihm zusammenzuarbeiten. Er sagte, ich könnte bei ihm viel mehr lernen als jemals in irgendeiner Schule.

Meine Zeit teilte sich auf in die Arbeit mit meinem Vater und die Pflege meiner Mutter. Als sie starb, war ich lange Zeit vor Schmerz wie betäubt gewesen, und als ich es ein wenig verwunden hatte, war meine Jugend vorbei. Da ich im übrigen seit langem überzeugt war, für Männer nicht anziehend zu sein, konzentrierte ich mich ganz auf meine Bilder.

Ich erinnere mich noch deutlich an den Tag, als der erste Brief von Château Gaillard ankam. Der Comte de la Talle hatte eine Gemäldegalerie, in der Restaurierungsarbeiten nötig waren. Er wollte außerdem gern meinen Vater wegen gewisser Arbeiten am Schloß konsultieren. Könnte Monsieur Lawson nach Château Gaillard kommen und so lange wie nötig bleiben?

Vater war begeistert gewesen.

»Wenn es irgend geht, lasse ich dich nachkommen«, hatte er gesagt. »Ich werde deine Hilfe bei den Bildern brauchen. Und dir wird das Schloß Spaß machen. Es ist fünfzehntes Jahrhundert, und ich glaube, es sind viele Kunstwerke aus der Epoche vorhanden. Es wird hochinteressant werden.«

Ich war ganz aufgeregt gewesen; erstens, weil ich darauf brannte, einige Monate auf einem französischen Schloß zu verbringen, und zweitens, weil mein Vater meine größere Sachkenntnis zu akzeptieren begann.

Dann jedoch war ein Brief vom Grafen gekommen, in dem der Termin verschoben wurde. Gewisse Umstände würden den Besuch im Augenblick unmöglich machen, schrieb er, ohne eine genauere Erklärung hinzuzufügen. Er wollte wieder von sich hören lassen.

Ungefähr zwei Jahre später war Vater völlig unerwartet an einem Schlaganfall gestorben. Es war ein furchtbarer Schock für mich gewesen, da ich nun ganz allein stand. Ich fühlte mich verwaist, einsam und ratlos – um so mehr, als ich nur sehr wenig Geld besaß. Ich hatte mich daran gewöhnt, Vater bei seiner Arbeit zu helfen, und ich fragte mich, was wohl jetzt geschehen sollte. Wenn die Leute auch akzeptiert hatten, daß ich seine Assistentin war, so ließen sie mich sicher nicht allein ihre Bilder restaurieren.

Ich sprach mit Annie, unserem alten Mädchen, das seit Jahren bei uns gewesen war und nun fortging, um zu einer verheirateten Schwester zu ziehen, über meine Zukunft. Sie meinte, es gäbe nur die Wahl zwischen zwei Dingen: Gouvernante oder Gesellschafterin.

»Ich hasse beides«, erklärte ich.

»Bettler dürfen nicht wählerisch sein, Miß Dallas. Es gibt eine Menge junger Damen mit Ihrer Erziehung, denen auch nichts anderes übrigblieb.«

»Aber ich habe meine Arbeit.«

Sie nickte. Doch ich wußte, sie dachte, keiner würde eine junge Frau mit Arbeiten beauftragen, wie mein Vater sie ausgeführt hatte.

Annie war noch bei mir, als die Aufforderung von Comte de la Talle kam.

»Schließlich bin ich D. Lawson«, erklärte ich. »Und ich kann Bilder ebensogut restaurieren, wie mein Vater es konnte. Ich sehe nicht ein, warum ich es nicht tun sollte.«

»Aber ich«, erwiderte Annie finster. »Man wird es nicht billigen. Es war gut und schön, als Sie mit Ihrem Vater reisten und mit ihm zusammenarbeiteten, aber Sie können nicht allein losziehen.«

»Ich habe auch seine Arbeiten beendet, als er starb, in Mornington Towers.«

»Tja, das war eine Sache, die er angefangen hatte. Aber nach Frankreich zu fahren – in ein fremdes Land – eine junge Dame – allein ...«

»Du mußt mich nicht als eine junge Dame sehen, Annie. Ich bin ein Restaurator alter Bilder.«

»Na, ich hoffe, Sie werden trotzdem nicht vergessen, daß Sie eine junge Dame sind. Sie können nicht hinfahren, Miß Dallas. Es wäre – nicht richtig. Es wäre schlecht für Sie.«

»Schlecht? Wieso?«

»Nicht – ganz schicklich. Welcher Mann würde eine junge Dame heiraten wollen, die ganz allein im Ausland war!«

»Ich bin nicht auf der Suche nach einem Mann, Annie, sondern auf der Suche nach Arbeit. Meine Mutter war übrigens genauso alt wie ich, als sie und ihre Schwester nach England kamen. Die beiden jungen Mädchen gingen sogar allein ins Theater. Mutter erzählte mir, sie hätten sogar etwas noch Gewagteres gemacht: Sie gingen einmal zu einer politischen Versammlung – in einem Keller in der Chancery Lane. Und dort lernte sie meinen Vater kennen. Wenn sie also nicht so selbständig und unternehmungslustig gewesen wäre, hätte sie keinen Mann gefunden – zumindest nicht ihren Mann.«

»Sie hatten schon immer Gründe für alles, was Sie wollten. Ich kenne Sie von klein auf. Ich sage, es ist nicht richtig. Und dabei bleibe ich.«

Es mußte jedoch richtig sein. Und so hatte ich mich nach langem Überlegen und Zögern entschlossen, die Herausforderung anzunehmen und nach Château Gaillard zu fahren.

Wir fuhren jetzt über die Zugbrücke. Als ich jene alten, mit Moos und Efeu bewachsenen Mauern betrachtete, die von den mächtigen Wällen gestützt wurden, als ich die Türme bestaunte, die in konischen Spitzen auslaufenden runden Dächer, betete ich, dableiben zu dürfen. Wir fuhren unter dem Torbogen hindurch und kamen in einen Hof, auf dem das Gras zwischen dem Kopfsteinpflaster wuchs.

Joseph hob meine Koffer heraus, stellte sie neben die Tür und rief: »Jeanne!«

Ein Mädchen erschien, und ich bemerkte den erstaunten Ausdruck in den Augen, als sie mich erblickte. Joseph sagte ihr, ich wäre Mademoiselle Lawson und sie sollte mich in die Bibliothek führen und meine Ankunft ansagen.

Ich war so aufgeregt bei der Aussicht, das Schloß zu betreten, daß mir ganz unbekümmert zumute war. Ich folgte Jeanne durch die Tür mit den schweren Eisenbeschlägen in eine große Halle, an deren nackten Steinwänden großartige Tapisserien und Waffen hingen. Ich vermerkte schnell einige Möbel im Régencestil, Tapisserien, hervorragend und aus derselben Zeit wie die Möbel, im Beauvais-Stil und mit Boucherschen Gestalten.

Wir stiegen eine Steintreppe hinauf. Jeanne hielt einen schweren Vorhang zur Seite. Ich trat auf einen dicken Teppich und stand in einem kurzen dunklen Flur, an dessen Ende sich eine Tür befand. Als diese aufgestoßen wurde, lag die Bibliothek vor uns.

»Wenn Mademoiselle hier warten würden ...«

Ich nickte. Die Tür schloß sich hinter mir. Ich war allein, in einem luftigen Raum mit wunderschönen Deckenfresken. Die Wände waren mit in Leder gebundenen Büchern bedeckt; dazwischen hingen mehrere ausgestopfte Jagdtrophäen.

Auf dem Kamin stand eine Uhr mit einem kleinen Cupido über dem Zifferblatt, rechts und links davon eine zart bemalte Sèvresvase. Die Stühle waren mit Tapisserien bezogen und die hölzernen Rahmen mit Blumen und Schnörkeln verziert.

Doch wie sehr mich auch diese Kunstschätze beeindruckten, ich war zu nervös. Ich dachte an die mir bevorstehende Unterredung mit dem Grafen und probte noch einmal, was ich zu ihm sagen wollte. Ich durfte nichts von meiner Würde verlieren, mußte ruhig und gelassen bleiben, durfte nicht zu übereifrig erscheinen, mußte verbergen, wie sehr ich mir wünschte, hier arbeiten zu dürfen. Ich war überzeugt, daß meine Zukunft von den nächsten paar Minuten abhing.

Ich vernahm Josephs Stimme: »In der Bibliothek, Monsieur.«

Schritte. Jeden Augenblick würde ich ihm gegenüberstehen. Ich ging zum Kamin, in dem Holzscheite aufgeschichtet lagen, wenn auch kein Feuer brannte. Mein Herz klopfte wie rasend.

Die Tür ging auf. Ich tat, als bemerkte ich es nicht, um einige Sekunden Aufschub zu gewinnen.

Nach kurzem Schweigen sagte eine kühle Stimme: »Dies ist höchst merkwürdig.«

Er war ungefähr drei Zentimeter größer als ich, doch ich bin selbst recht groß. Die dunklen Augen blickten einen Moment verblüfft, sahen jedoch so aus, als könnten sie auch Wärme und Herzlichkeit ausstrahlen. Die lange Adlernase verriet Arroganz, doch die vollen Lippen waren sympathisch. Er trug sehr elegantes Reitzeug – eine Spur zu elegant. Und auf jedem kleinen Finger steckte ein goldener Ring. Alles an ihm war von erlesenem Geschmack. Seine Erscheinung war nicht so furchteinflößend, wie ich sie mir vorgestellt hatte.

»Guten Tag«, sagte ich.

Er kam einige Schritte näher. Er war jünger, als ich angenommen hatte, vielleicht ein Jahr älter als ich, vielleicht sogar gleichaltrig mit mir.

»Zweifellos werden Sie die Güte haben, dies zu erklären«, sagte er.

»Gewiß. Ich bin gekommen, um die Restaurierungsarbeiten an den Bildern vorzunehmen.«

»Wir verstanden, Monsieur Lawson würde heute ankommen.«

»Das wäre ganz unmöglich gewesen.«

»Sie meinen, er kommt nach?«

»Er starb vor einigen Monaten. Ich bin seine Tochter, und ich übernehme seine Verpflichtungen.«

Er machte ein bestürztes Gesicht. »Mademoiselle Lawson, diese Bilder sind sehr wertvoll ...«

»Wenn sie das nicht wären, wäre es kaum nötig, sie zu restaurieren.«

»Wir können nur einem Experten gestatten, sie anzufassen«, erklärte er.

»Ich bin Experte. Mein Vater wurde Ihnen empfohlen. Ich arbeitete mit ihm zusammen. Die Restaurierung alter Gebäude war seine Stärke – die alter Bilder jedoch meine.«

»Sie haben nicht erklärt ...«

»Ich dachte, die Sache wäre dringend. Ich hielt es für klüger, Ihrer Aufforderung sofort nachzukommen. Wenn mein Vater diese Arbeit noch hätte ausführen können, wäre ich auch mitgekommen.«

»Bitte, nehmen Sie Platz«, forderte er mich auf.

Ich setzte mich in einen Stuhl mit einer geschnitzten Rückenlehne, die mich zwang, sehr gerade zu sitzen, während er sich auf ein kleines Sofa warf und die Beine weit von sich streckte.

»Dachten Sie, Mademoiselle Lawson«, fragte er, »wir hätten Ihre Dienste abgelehnt, wenn Sie uns mitgeteilt hätten, daß Ihr Vater starb?«

»Ich dachte, es ginge Ihnen darum, Ihre Bilder restauriert zu bekommen, und glaubte, die Arbeit wäre das Entscheidende, nicht das Geschlecht des Restaurators.«

Er runzelte die Stirn, so, als bemühte er sich, zu einer Entscheidung zu kommen. Schließlich meinte er: »Es erscheint trotzdem sonderbar, daß Sie uns nicht schrieben und uns nicht mitteilten ...«

Ich erhob mich. Meine Würde verlangte es.

Er stand ebenfalls auf. Selten in meinem Leben war ich so unglücklich gewesen wie in dem Augenblick, als ich stolz zur Tür schritt.

»Augenblick, bitte, Mademoiselle.«

Ich blickte über die Schulter, ohne mich jedoch umzudrehen.

»Von unserer kleinen Bahnstation geht jeden Tag nur ein Zug ab, und zwar morgens um neun. Sie müßten etwa zehn Kilometer weit fahren, um eine Zugverbindung nach Paris zu bekommen.«

»Oh!« Ich gestattete meinem Gesicht einen bestürzten Ausdruck.

»Sie sehen«, fuhr er fort, »Sie haben sich in eine sehr unangenehme Situation gebracht.«

»Ich dachte nicht, daß meine Empfehlungsschreiben so geringschätzig ignoriert würden. Ich habe noch nie in Frankreich gearbeitet und war auf so einen Empfang nicht gerade vorbereitet.«

Der Hieb saß. Er reagierte sofort: »Ich versichere Ihnen, Mademoiselle, Sie werden in Frankreich ebenso liebenswürdig behandelt werden wie irgendwo anders.«

Ich hob die Schultern. »Vermutlich gibt es einen Gasthof, ein Hotel, in dem ich übernachten könnte?«

»Das können wir nicht zulassen. Wir dürfen Ihnen unsere Gastfreundschaft anbieten.«

»Sehr gütig von Ihnen«, entgegnete ich kühl, »unter diesen Umständen ...«

»Sie erwähnten Empfehlungsschreiben.«

»Ich habe Empfehlungen von Leuten, die mit meiner Arbeit sehr zufrieden waren. In England. Ich habe in einigen unserer berühmtesten Herrenhäuser gearbeitet, wo man mir Meisterwerke anvertraute. Aber das interessiert Sie ja nicht.«

»Das ist nicht wahr, Mademoiselle. Es interessiert mich sehr. Alles, was mit dem Château zusammenhängt, ist von größtem Interesse für mich. Vielleicht zeigen Sie mir mal Ihre Empfehlungen.«

Ich ging zu dem Tisch zurück und zog aus einer Innentasche meines Mantels ein Bündel Briefe. Er bedeutete mir, mich zu setzen, nahm ebenfalls Platz und begann die Briefe zu lesen.

Ich beobachtete ihn heimlich, während ich so tat, als betrachtete ich den Raum.

»Sie sind sehr beeindruckend«, sagte der Comte, als er mir die Briefe zurückgab. Er sah mich einige Sekunden lang an und fuhr dann hastig fort: »Ich nehme an, Sie würden die Bilder gern sehen.«

»Das hat wenig Sinn, wenn ich nicht an ihnen arbeiten soll.«

»Vielleicht werden Sie das tun, Mademoiselle Lawson.«

»Sie meinen ...«

»Ich meine, Sie sollten wenigstens eine Nacht hierbleiben. Sie haben eine lange Reise hinter sich. Und da Sie so ein Experte sind« – er blickte auf die Briefe in meiner Hand – »und so berühmte Leute Sie so überschwenglich zu Ihrer Arbeit beglückwünscht haben, nehme ich doch an, daß Sie die Bilder zumindest sehen möchten. Wir haben einige hervorragende Meisterwerke im Château. Sie sind im Laufe der Jahrhunderte gesammelt worden. Ich versichere Ihnen, es ist eine Sammlung, die Ihre Aufmerksamkeit verdient.«

»Möchten Sie, daß ich die Arbeit übernehme?«

»Sie könnten uns zuerst einmal einen Rat geben, oder?«

Ich war so erleichtert, daß ich meine Einstellung ihm gegenüber änderte. Die bisherige Antipathie verwandelte sich in Sympathie. »Ich würde mein Bestes tun, Monsieur le Comte.«

»Sie befinden sich im Irrtum, Mademoiselle. Ich bin nicht der Comte de la Talle.«

Es gelang mir nicht, meine Überraschung zu verbergen. »Aber was ...«

»Philippe de la Talle, der Vetter des Grafen. Der Graf wird entscheiden, ob er Sie mit der Restaurierung seiner Bilder betraut oder nicht. Läge die Entscheidung bei mir, würde ich Sie bitten, unverzüglich zu beginnen.«

»Wann kann ich den Grafen sprechen?«

»Er ist nicht da und wird wahrscheinlich noch einige Tage fort sein. Ich schlage vor, Sie bleiben bis zu seiner Rückkehr bei uns. In der Zwischenzeit können Sie die Bilder prüfen und eine Tabelle der notwendigen Arbeiten aufstellen.«

»Einige Tage?« wiederholte ich bekümmert.

»Ich fürchte, ja«, sagte er.

Mein Zimmer lag in der Nähe des Hauptturmes. Die Fensternische war groß genug für zwei Steinbänke zu beiden Seiten, obgleich das Fenster selbst nur ein schmaler Schlitz war. Ich konnte nur hinausgucken, wenn ich auf Zehenspitzen stand. Unter mir war der Burggraben, dahinter lagen Weinberge.

Der hohe Raum war voller Schatten, obgleich es noch früh am Tag war, denn so malerisch die Fensterschießscharte auch war, sie schloß das Licht aus. Die tatsächliche Dicke der Mauern überraschte mich.

Die Tapisserie war eindeutig sechzehntes Jahrhundert. Das Bett hatte einen Baldachin. Dahinter hing ein großer Vorhang, und als ich den zur Seite zog, entdeckte ich eine sogenannte ruelle – einen Alkoven, wie man ihn in französischen Schlössern findet. Dieser hatte die Größe eines kleinen Zimmers und enthielt einen Schrank, eine Sitzbadewanne und einen Frisiertisch mit einem Spiegel.

Das Mädchen brachte mir heißes Wasser und fragte, ob ich etwas kaltes Huhn und eine Karaffe von dem Wein der Gegend haben wollte. Ich dankte ihr und erwiderte, das wäre mir sehr recht.

Ich legte meinen Mantel und den so gar nicht schmeichelhaften Hut ab. Dann zog ich die Haarnadeln aus meinem Knoten und ließ mein Haar auf die Schultern herabfallen. Auf mein Haar war ich stolz. Es war dunkelbraun, hatte aber einen so ausgeprägten kastanienbraunen Schimmer, daß es in der Sonne beinahe rot glänzte.

Ich wusch mich von Kopf bis Fuß in der kleinen Badewanne und fühlte mich danach bedeutend frischer. Dann zog ich frische Wäsche an und einen grauen Wollrock und eine leichte, ebenfalls graue Kaschmirbluse.

Es klopfte, als ich meine Bluse zuknöpfte. Ich sah flüchtig mein Spiegelbild. Meine Wangen hatten sich ein wenig gerötet, und mit dem offenen Haar, das bis zur Taille herabfiel, sah ich wirklich ganz anders aus als die selbstsichere, energische junge Frau, die man in dies Zimmer gebracht hatte.

»Wer ist da?« rief ich.

»Ihr Tablett, Mademoiselle.«

Das Mädchen kam herein. Mit der einen Hand hielt ich mein Haar hinten zusammen, mit der anderen zog ich den Vorhang ein wenig zur Seite.

»Stellen Sie es bitte dorthin.«

Sie tat es und ging wieder. Jetzt erst merkte ich, wie hungrig ich war, und kam aus dem Alkoven heraus, um das Tablett zu inspizieren. Ein Hühnerbein, ein Stück knuspriges Brot, Butter, Käse und eine Karaffe Wein. Ich setzte mich und fing an zu essen. Es schmeckte köstlich.

Ich spürte, wie mich eine schläfrige Zufriedenheit überkam. Ich schloß die Augen und spürte wieder das Rütteln des Zuges, dachte an das Leben im Schloß und an das Leben außerhalb seiner Mauern.

»Mademoiselle!«

Ich fuhr aus meinem Sessel hoch und vermochte mich einen Augenblick nicht zu erinnern, wo ich war. Eine Frau stand vor mir – klein, dünn, mit gerunzelter Stirn, was mehr Besorgnis als Ärger verriet. Ihr staubgraues Haar war in Locken und Ponyfransen frisiert, aufgebauscht und gekräuselt, um zu verbergen, wie spärlich es war. Graue Augen betrachteten mich ängstlich unter zusammengezogenen Brauen. Die Frau trug eine weiße, mit kleinen rosafarbenen Satinschleifchen verzierte Bluse und einen dunkelblauen Rock.

»Ich bin eingeschlafen«, gestand ich.

»Sie müssen sehr müde sein. Monsieur de la Talle schlug vor, daß ich Sie zur Galerie hinaufbringe, doch vielleicht möchten Sie sich lieber noch ein wenig ausruhen. Ich werde etwas später wiederkommen.«

»Das wäre nett von Ihnen. Und sagen Sie, bitte, wer sind Sie?« Ich bin Miß Lawson und aus England gekommen, um – äh ...«

»Ja, ich weiß. Wir erwarteten einen Herrn. Ich bin Mademoiselle Dubois, die Gouvernante.«

»Oh! Ich wußte nicht ...«

»Vielleicht ziehen Sie vor, wenn ich in – sagen wir, in einer halben Stunde wiederkomme?«

»Nein, geben Sie mir nur zehn Minuten, damit ich mich noch etwas erfrischen kann.«

Sie hörte auf, die Stirn zu runzeln, und lächelte unsicher. Sobald sie mich allein gelassen hatte, ging ich in die ruelle und betrachtete mich im Spiegel. Mein Gesicht war gerötet, meine Augen leuchteten, und mein Haar hing mir in einem Gewirr um die Schultern. Ich packte es, zog es fest aus der Stirn, flocht es zu zwei Zöpfen und wand diese zu einem dicken Kranz zusammen, den ich auf dem Kopf feststeckte. Als Mademoiselle Dubois zurückkam, war ich bereit, wieder die mir vertraute Rolle zu spielen.

»Es tut mir leid, daß ich Sie gestört habe.«

Die Frau entschuldigte sich zu übertrieben. Der kleine Vorfall war vorbei, und es war meine Schuld gewesen, einzuschlafen und ihr Klopfen zu überhören. Ich sagte ihr dies und fügte hinzu: »Monsieur de la Talle hat Sie also gebeten, mir die Galerie zu zeigen.«

»Ich verstehe wenig von Bildern, aber ...«

»Wie Sie sagten, sind Sie die Gouvernante. Es gibt hier also Kinder im Château.«

»Nur Geneviève. Monsieur le Comte hat nur das eine Kind.« Sie seufzte. »Geneviève ist sehr schwierig.«

»Das sind Kinder oft. Wie alt ist sie?«

»Vierzehn.«

»Dann bin ich überzeugt, daß Sie sie mühelos in den Griff bekommen.«

Sie warf mir einen ungläubigen Blick zu, und ihr Mund verzerrte sich leicht. »Es ist offensichtlich, Mademoiselle, daß Sie Geneviève noch nicht kennen.«

»Verzogen, vermute ich.«

»Verzogen?«

Ihre Stimme hatte einen merkwürdigen Unterton. Furcht? Angst? Ich konnte es nicht ganz einordnen.

»Ja, auch das«, murmelte sie.

Sie war völlig untauglich, das war ganz offenkundig. Wenn sie eine Frau wie diese ausgesucht hatten, waren meine Chancen, die Restaurierung der Bilder übertragen zu bekommen, bestimmt nicht schlecht. Ich mußte doch viel tüchtiger aussehen als dieses arme Wesen. Oder hielt der Graf die Erziehung seines einzigen Kindes nicht für ebenso wichtig wie die Restaurierung seiner Bilder?

»Ich sage Ihnen, Mademoiselle Lawson, es ist unmöglich, dieses Mädchen in der Hand zu haben.«

»Vielleicht sind Sie nicht streng genug«, meinte ich leichthin und wechselte dann das Thema. »Dies ist ein weitläufiges Gebäude. Befinden wir uns in der Nähe der Galerie?«

»Ich zeige es Ihnen.«

»Ich nehme an, Sie sind schon seit einiger Zeit hier«, sagte ich, nur um Konversation zu machen, während wir das Zimmer verließen und einen Korridor entlang zu einer Treppe gingen.

»Ziemlich. Acht Monate.«

Ich lachte. »Das nennen Sie lange?«

»Die anderen blieben nicht so lange. Niemand blieb länger als sechs Monate.«

Deshalb also behielt man Mademoiselle Dubois. Geneviève war so verzogen, daß es schwierig war, eine Gouvernante zu halten. Man hätte denken sollen, daß der gestrenge König des Schlosses seine Tochter im Zaum zu halten verstand. Und die Gräfin? Eigenartigerweise hatte ich, bevor Mademoiselle eine Tochter erwähnte, nicht an eine Gräfin gedacht. Selbstverständlich mußte es sie geben, da ein Kind vorhanden war. Sie war wahrscheinlich mit dem Grafen fortgefahren, und ich war deshalb von dem Vetter empfangen worden.

»Und tatsächlich«, fuhr die Gouvernante fort, »sage ich mir dauernd, ich sollte gehen. Die Schwierigkeit ist nur ...«

»Jede Stellung hat ihre Nachteile«, tröstete ich sie.

»O ja, in der Tat. Und hier ist so viel ...«

»Das Schloß scheint ein Lagerhaus von Kunstschätzen zu sein.«

»Ich glaube, die Bilder sind ein Vermögen wert.«

»So hörte ich.« Meine Stimme war voller Wärme. Wir waren in einen großen Raum gekommen, eine Art Solarium, wie man in England sagt, da er so angelegt ist, daß er die Sonne einfängt. Ich blieb stehen, um ein Wappen an der Tür zu betrachten. Es war relativ jung, und ich überlegte, ob sich unter der Kalktünche vielleicht Wandmalereien verbargen.

»Der Graf ist zweifellos sehr stolz auf seine Bilder.«

»Ich – ich weiß nicht.«

»Das muß er sein. Auf jeden Fall sind sie ihm so wichtig, daß er sie begutachten und restaurieren lassen will. Kunstschätze sind ein Erbe. Es ist ein Privileg, sie zu besitzen, und man darf nicht vergessen, daß Kunst – große Kunst – niemals einem Menschen allein gehört.«

Mademoiselle Dubois lachte blechern, ohne jeden Frohsinn oder jedes Vergnügen.

»Ich erwarte kaum von dem Grafen, daß er mir seine Gefühle mitteilt«, sagte sie.

Nein, überlegte ich, und ich sollte das ebenfalls nicht tun.

»O je!« murmelte sie. »Ich hoffe, ich habe mich nicht verlaufen.

Ach nein, hier ist es.«

»Wir sind jetzt beinahe in der Mitte des Schlosses«, erklärte ich. »Ich würde sagen, wir befinden uns direkt unter dem Rundturm.«

Sie sah mich ungläubig an.

»Die Restaurierung alter Häuser war der Beruf meines Vaters«, sagte ich. »Ich lernte sehr viel von ihm. Wir arbeiteten zusammen.«

Beinahe streng erwiderte sie: »Ich weiß nur, daß ein Mann erwartet wurde.«

»Man erwartete meinen Vater. Er sollte schon vor ungefähr drei Jahren kommen, doch dann wurde der Besuch aus irgendeinem Grund verschoben.«

»Vor ungefähr drei Jahren«, wiederholte sie tonlos. »Das muß gewesen sein, als ...«

Ich wartete, und als sie nicht weitersprach, meinte ich: »Das war vor Ihrer Zeit, nicht wahr? Mein Vater sollte kommen, doch dann wurde ihm ziemlich diktatorisch mitgeteilt, daß es nicht passen würde. Er starb vor einigen Monaten. Ich habe seine noch nicht ausgeführten Aufträge übernommen.«

»Sie haben selbstverständlich recht«, pflichtete Mademoiselle Dubois unterwürfig bei. »Dies ist die Galerie, wo die Bilder hängen.«

Ich stand in einem von mehreren Fenstern erhellten Raum. Sogar in ihrem vernachlässigten Zustand waren die Bilder prachtvoll. Ein rascher Blick genügte, um mir zu sagen, daß sie wertvoll waren. Sie stammten hauptsächlich aus der französischen Schule. Ich erkannte einen Poussin und gleich daneben einen Lorrain und war wie nie zuvor betroffen über die kalte Diszipliniertheit des einen und die intensive Dramatik des anderen. Ich war wie in Trance. Doch dann wurde ich böse, weil alle Bilder so dringend Pflege brauchten.

Schweigend ging ich von Bild zu Bild und vergaß alles übrige. Nach meiner Schätzung verlangte das, was ich bisher gesehen hatte, fast ein Jahr Arbeit und wahrscheinlich noch viel mehr als das.

»Sie finden Sie also interessant«, sagte Mademoiselle Dubois.

»Ich finde sie hochinteressant, aber sie brauchen wahrhaftig eine Aufarbeitung.«

»Dann werden Sie sich vermutlich gleich an die Arbeit machen.«

Ich wandte mich zu ihr um und sah sie an. »Es ist keineswegs sicher, ob ich die Arbeit ausführen werde. Ich bin eine Frau, wissen Sie, und man hält mich deshalb nicht für tauglich.«

Nicht weit entfernt rief eine Stimme: »Ich will sie sehen. Ich sage dir, Nounou, ich werde sie sehen. Esquilles bekam Order, sie in die Galerie zu bringen.«

Eine leise, besänftigende Stimme und dann: »Laß mich, Nounou! Du dummes altes Stück! Glaubst du, du kannst mich daran hindern?«

Die Tür zur Galerie flog auf, und das Mädchen, das ich sofort als Geneviève de la Talle erkannte, stand auf der Schwelle. Sie trug das dunkle Haar lose und beinahe absichtlich unordentlich; die schönen braunen Augen sprühten vor Vergnügen. Sie hatte ein mittelblaues Kleid an, das ihr gut stand. Auch ohne vorherige Warnung hätte ich sofort gewußt, daß sie nicht zu bändigen war. Sie sah mich frech an, und ich erwiderte den Blick. Dann sagte sie auf englisch: »Guten Tag, Miß.«

»Guten Tag, Mademoiselle«, antwortete ich auf englisch.

Sie schien belustigt und kam in die Galerie. Hinter ihr bemerkte ich eine grauhaarige Frau. Das war offenbar die Amme, Nounou. Vermutlich war sie hier, seit Geneviève ein Baby war, und hatte mitgeholfen, sie zu verziehen.

»Sie sind also von England gekommen«, bemerkte das Mädchen. »Man erwartete einen Herrn.«

»Man erwartete meinen Vater. Wir arbeiteten zusammen, und da er nicht kommen kann, weil er tot ist, übernehme ich seine Aufträge.«

Ich wandte mich lächelnd der alten Frau zu und begrüßte sie. »Ich finde diese Bilder höchst interessant«, sagte ich zu ihr und Mademoiselle Dubois, »doch sind sie ganz einwandfrei sehr vernachlässigt worden.«

Keine von beiden antwortete, doch das Mädchen, anscheinend verärgert, ignoriert zu werden, sagte: »Das braucht nicht Ihre Sorge zu sein, denn Sie werden nicht hierbleiben dürfen.«

»Still, Liebling«, flüsterte Nounou.

Die besorgten Blicke der Amme hefteten sich auf mich und baten um Verzeihung für das schlechte Benehmen des Schützlings.

»Sie werden ja sehen«, fuhr das Mädchen fort. »Sie denken vielleicht, Sie bleiben, aber mein Vater ...«

Sie begann unvermittelt zu lachen, entwand sich dem Griff der Amme und kam auf mich zu.

»Vermutlich denken Sie, ich sei sehr unhöflich«, meinte sie.

»Ich denke gar nichts über dich.«

»Was denken Sie denn dann?«

»Im Moment denke ich an diese Bilder.«

»Sie meinen, die sind interessanter als ich?«

»Unendlich viel interessanter«, erwiderte ich.

Geneviève wußte nicht, was sie antworten sollte. Sie hob die Schultern und sagte verdrossen und mit leiser Stimme, indem sie sich von mir abwandte: »Na, ich hab’ sie jetzt gesehen. Sie ist nicht hübsch und alt.«

Sie warf den Kopf zurück und stürmte hinaus.

»Sie müssen ihr verzeihen, Mademoiselle«, murmelte die alte Amme. »Sie hat einen ihrer Koller. Ich versuchte, sie von Ihnen fernzuhalten. Ich fürchte, sie hat Sie etwas aus der Fassung gebracht.«

»Nicht im geringsten«, antwortete ich. »Sie ist ja nicht meine Sorge – zum Glück.«

Die Amme ging hinaus, und ich sah Mademoiselle Dubois mit hochgezogenen Brauen an. »Sie und die Amme tun mir leid.«

Ihr Gesicht hellte sich auf. »Kinder können manchmal schwierig sein, aber noch nie habe ich ein so ...«

Sie blickte verstohlen zur Tür. Arme Mademoiselle Dubois, dachte ich. Ich wollte ihre Probleme nicht dadurch noch vergrößern, daß ich ihr sagte, ich fände es dumm von ihr, sich eine derartige Behandlung gefallen zu lassen. Darum sagte ich nur: »Wenn Sie mich jetzt hier allein lassen, werde ich die Bilder einer genaueren Prüfung unterziehen. Vielen Dank für Ihre Hilfe.«

Sie ging geräuschlos hinaus, und ich wandte mich den Bildern zu, doch war ich zu erregt, um ernsthaft arbeiten zu können.

Ich blickte auf die Wände mit den unbezahlbaren und so vernachlässigten Bildern und überlegte, gleich morgen früh abzureisen. Ich könnte mich bei Monsieur de la Talle entschuldigen und zugeben, daß es ein Fehler von mir gewesen war, überhaupt zu kommen.

Ich ging zur Tür, doch als ich den Griff drehte, rührte er sich nicht. Eigenartigerweise packte mich in jenen Sekunden echte Angst. Ich bildete mir ein, eine Gefangene zu sein, und plötzlich schien es mir, als bewegten sich die Wände auf mich zu.

Meine Hand lag schlaff auf dem Griff, und die Tür öffnete sich. Philippe de la Talle stand vor mir.

»Sie waren im Begriff zu gehen, Mademoiselle?«

»Ich wollte in mein Zimmer. Es scheint sinnlos, noch länger hierzubleiben. Ich habe mich nun entschlossen, morgen abzureisen.«

Er zog die Brauen hoch. »Sie haben Ihre Meinung geändert?«

Zornig sagte ich: »Keineswegs! Diese Bilder sind übel vernachlässigt worden – kriminell vernachlässigt worden. Doch ich habe schon viel Schlimmeres restauriert. Ich fühle lediglich, daß meine Anwesenheit hier unerwünscht ist und daß es besser für Sie wäre, jemand anderen zu finden.«

»Liebe Mademoiselle Lawson«, sagte er beinahe gütig, »alles hängt von meinem Vetter ab, dem die Bilder gehören, dem alles in diesem Château gehört. Er wird in einigen Tagen zurück sein.«

»Trotzdem finde ich, ich sollte morgen früh wieder abreisen. Ich kann Sie für Ihre Gastfreundschaft entschädigen, indem ich Ihnen einen Voranschlag für die nötigen Restaurierungsarbeiten an einem der Bilder in der Galerie anfertige, der Ihnen nützlich sein wird, wenn Sie jemand anderen engagieren.«

»Mademoiselle, bleiben Sie wenigstens einige Tage, und hören Sie sich an, was mein Vetter dazu zu sagen hat.«

Ich zögerte und meinte dann: »Na, schön, ich werde also bleiben.«

»Ausgezeichnet«, sagte er und trat zur Seite.

Als es am nächsten Morgen hell wurde, stand ich erfrischt und gut ausgeschlafen in bester Stimmung auf.

Ich wusch mich, zog mich an und klingelte nach dem Frühstück. Der heiße Kaffee, das knusprige Brot und die Butter waren köstlich.

Ich fand den Weg zur Galerie, wo ich einen wunderbaren, friedlichen Vormittag verbrachte; ich examinierte die Bilder und machte mir ausführliche Notizen über die Beschädigungen jedes einzelnen. Ich war so in die Arbeit vertieft, daß ich die Schloßbewohner vergaß und überrascht war, als ein Mädchen an die Tür klopfte und verkündete, es wäre zwölf Uhr und sie würde mir, wenn mir das recht wäre, das Dejeuner auf mein Zimmer bringen.

Ich packte also meine Papiere zusammen und ging zu meinem Zimmer.

Der Nachmittag war keine gute Zeit, um zu arbeiten; außerdem brauchte ich etwas Bewegung.

Ich hatte keine Schwierigkeiten, den Weg in den Hof zu finden, in den Joseph mich bei meiner Ankunft gebracht hatte. Anstatt zu der Zugbrücke zu gehen, durchquerte ich die Loggia, die das Hauptgebäude mit einem Teil des Schlosses verband, der zu einem späteren Zeitpunkt gebaut worden war, und kam durch einen Hof an der Südseite des Schlosses heraus. Hier befanden sich die Gärten, und wenn Monsieur le Comte, wie ich ergrimmt bei mir feststellte, auch seine Bilder vernachlässigte, so gewiß nicht seine Gärten, denn sie wurden offensichtlich sorgfältig gepflegt.

Der Garten lag völlig verlassen da. Vermutlich machten die Arbeiter eine Siesta, denn sogar um diese Jahreszeit brannte die Sonne heiß.

Ich stand unter einem Obstbaum, als ich eine Stimme hörte: »Miß! Miß!«

Ich drehte mich um und sah Geneviève auf mich zu rennen.

»Ich sah Sie von meinem Fenster«, sagte sie. Sie legte mir die Hand auf den Arm und deutete auf das Schloß. »Sehen Sie das Fenster dort ganz oben? Es ist meins. Es gehört zu dem Kindertrakt.«

Sie wirkte jetzt ganz anders, ruhig und heiter, vielleicht ein wenig mutwillig, doch mehr so, wie man sich ein guterzogenes vierzehnjähriges Mädchen vorstellt. Ich begriff, daß ich Geneviève ohne Koller vor mir hatte.

»Sind Sie Gouvernante?«

»Ganz gewiß nicht.«

»Dann sollten Sie es sein. Sie würden eine gute abgeben.« Sie lachte laut. »Sie brauchten dann nicht unter falschen Vorwänden herumzulaufen, nicht wahr?«

Kühl entgegnete ich: »Ich will einen Spaziergang machen. Ich sage dir jetzt auf Wiedersehen.«

»O nein, nicht! Ich bin heruntergekommen, um mit Ihnen zu reden. Zuerst einmal muß ich mich entschuldigen. Ich war unhöflich, und Sie waren sehr kühl. Aber das müssen Sie ja wohl sein. Man erwartet es von den Engländern.«

»Ich bin halb Französin«, bemerkte ich. »Es hat keinen Sinn, diese Unterhaltung fortzusetzen. Ich nehme deine Entschuldigung an und werde dich jetzt allein lassen.«

»Aber ich bin extra heruntergekommen, um mit Ihnen zu reden.«

»Und ich bin heruntergekommen, um spazierenzugehen.«

»Warum können wir nicht zusammen Spazierengehen?«

»Wir machen also einen Spaziergang zusammen«, sagte ich.

»Und ich werde Ihnen alles zeigen, was Sie sehen möchten«, sagte sie.

»Vielen Dank. Das ist sehr nett.«

Sie lachte. »Ich hoffe, es wird Ihnen hier gefallen, Miß.«

Sie lächelte.

»Ich bin nicht sehr nett«, gestand sie. Sie haben alle Angst vor mir.«

»Ich glaube nicht, daß sie Angst vor dir haben. Sie sind vielleicht betrübt und – entrüstet.«

Dies belustigte sie, doch sie war beinahe sofort wieder ernst.

»Hatten Sie Angst vor Ihrem Vater?« wollte sie wissen.

»Nein«, antwortete ich. »Ich hatte vielleicht Ehrfurcht vor ihm.«

»Was ist der Unterschied?«

»Man kann jemanden respektieren, bewundern, zu ihm aufschauen und fürchten, ihn zu erzürnen. Das ist nicht das gleiche, wie Angst vor jemandem zu haben.«

»Sie hatten also wirklich keine Angst vor Ihrem Vater?«

»Nein. Hast du Angst vor deinem?«

Sie antwortete nicht, doch ich bemerkte, wie ein gequälter Ausdruck in ihre Augen kam.

Rasch sagte ich: »Und – deine Mutter?«

»Ich werde Sie zu meiner Mutter bringen.«

»Was?«

»Ich sagte, ich werde Sie zu ihr bringen.«

»Sie ist im Schloß?«

»Ich weiß, wo sie ist. Ich werde Sie meiner Mutter vorstellen. Kommen Sie mit?«

»Aber ja. Ich freue mich, sie kennenzulernen.«

»Sehr gut. Kommen Sie.«

Sie ging voran.

»Ich bin wie zwei verschiedene Menschen in einem Körper, nicht wahr?«

»Was meinst du damit?«

»Mein Charakter hat zwei Seiten.«

»Wir haben alle viele Seiten.«

»Aber mein Charakter ist anders. Der Charakter von anderen Menschen ist ganz aus einem Stück. Meiner besteht aus zwei ganz verschiedenen Hälften.«

»Wer hat dir das erzählt?«

»Nounou. Sie sagt, ich sei ein Zwilling, das bedeutet, daß ich zwei Gesichter habe. Ich habe im Juni Geburtstag.«

»Das ist ein Hirngespinst. Jeder Mensch, der im Juni geboren wurde, ist doch nicht wie du.«

»Es ist kein Hirngespinst. Sie sahen doch, wie gräßlich ich gestern war. Das war mein böses Ich. Heute bin ich anders. Ich bin lieb. Ich habe gesagt, daß es mir leid tut, oder etwa nicht?«

»Ich hoffe, es tut dir leid.«

»Ich sagte, es tut mir leid, und das hätte ich nicht gesagt, wenn es nicht wahr wäre.«

»Du kannst genauso sein, wie du sein möchtest«, versicherte ich Geneviève. »Es ist absurd, dir einzureden, du hättest zwei Wesen, und dich auch noch zu bemühen, dem Unerfreulichen gerecht zu werden.«

»Ich bemühe mich nicht, es passiert einfach so.«

Noch während sie das sagte, verachtete ich mich selbst. Es war immer so einfach, anderer Menschen Probleme zu lösen.

Wir blieben stehen. Vor uns lag eine Lichtung, auf der langes Gras wuchs. Ich sah sofort, daß die dort aufragenden Monumente Toten geweiht waren, und vermutete, daß dies der Familienfriedhof war.

Ihre Mutter war also tot. Und das nannte sie, mich ihrer Mutter vorstellen. Ich war schockiert und bestürzt.

»Alle de la Talles kommen hierher, wenn sie sterben«, sagte sie feierlich. »Aber ich komme auch oft hierher.«

»Deine Mutter ist tot?«

»Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo sie ist.«

Sie zog mich durch das lange Gras zu einem reich verzierten Grabmal. Es glich einem kleinen Haus; auf der Spitze war eine wunderschön gemeißelte Gruppe von Engeln, die ein großes marmornes Buch hielten, auf dem der Name der Verstorbenen eingraviert war.

»Schauen Sie«, sagte sie, »da steht ihr Name.«

Der Name auf dem Buch lautete Françoise, Comtesse de la Talle, dreißig Jahre. Ich las das Todesdatum. Es lag drei Jahre zurück. Das Mädchen war also elf Jahre gewesen, als die Mutter starb. »Ich komme oft hierher«, erzählte sie, »um bei ihr zu sein. Ich rede mit ihr. Ich mag es gern. Es ist so still hier.«

»Du solltest nicht hierher kommen«, sagte ich sanft, »nicht allein.«

»Ich mag aber gern allein kommen. Ich wollte nur, daß Sie sie kennenlernen.«

Ich weiß nicht, was mich veranlaßte, es zu sagen. »Kommt dein Vater hierher?«

»Nie. Er mag nicht mit ihr zusammensein. Er wollte es ja vorher auch nicht. Weshalb sollte er es dann jetzt wollen?«

»Wie kannst du wissen, was er gern mag?«

»Oh, ich weiß es. Außerdem ist sie ja jetzt hier, weil er es so wollte. Er erreicht immer, was er will, wissen Sie. Er wollte sie nicht.«

Mir fiel nichts ein. Ich konnte das Kind nur entsetzt anstarren. Sie schien mich jedoch vergessen zu haben, als sie die Hände liebevoll auf die Marmorplatte legte.

Der Schlossherr

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