Читать книгу Kopflos in Dresden - Victoria Krebs - Страница 13
Kapitel 9
ОглавлениеMaria kaute auf einem Bleistift herum. In knapp einer Stunde würde der Psychologe ins Präsidium kommen. Dr. Martin trug mit Vorliebe rote Pullover oder T-Shirts, eine Eigenart, deren Ursprung in seiner Kindheit lag, so hatte er ihr einmal erklärt, weil sie es sich mehrmals nicht hatte verkneifen können, ihn mit den Worten »Ah, der Gentleman in Rot« zu begrüßen. In seiner Jugend wären Feuerwehrautos sein Lieblingsspielzeug gewesen.
Seltsame Erklärung, hatte sie gedacht. Sie trug doch auch keine pinkfarbenen Sachen, nur weil sie in ihrer Kindheit mit Barbiepuppen gespielt hatte. Mindestens zehn dieser aus ihrer heutigen Sicht fürchterlichen Exemplare, alle Geschenke ihrer Tante aus dem Westen, hatten auf ihrer Kinderzimmerkommode gesessen. Es hatte auch einen Ken gegeben, aber der hatte ohnehin nur eine untergeordnete Rolle gespielt und war in seiner grässlichen Badehose eigentlich zu nichts nutze gewesen. Manchmal allerdings hatte er für eine der Barbies eine Aufgabe erledigen dürfen, wie zum Beispiel ein Kleid aus dem kleinen Kostümköfferchen zu holen.
Maria lächelte in Erinnerung an die stundenlange Beschäftigung mit den Frisuren und der Kleiderauswahl. Zusammen mit ihrer besten Freundin hatte sie Modenschauen und Schönheitswettbewerbe veranstaltet. Ken hatte lediglich als stummer Zuschauer am Rand gesessen und war gar nicht erst nach seiner Meinung gefragt worden.
Ihre Gedanken wurden durch das Öffnen der Tür und hereinströmenden Kaffeeduft unterbrochen. Ihr Kollege Gerd hielt zwei Becher mit der dampfenden Flüssigkeit in den Händen und verzog das Gesicht. Schon oft hatte Maria festgestellt, dass Männer doch wesentlich schmerzempfindlicher waren, als das Credo des starken Geschlechts es eigentlich verlangte. Er schloss die Tür mit dem Fuß, stellte die Pappbecher hastig auf ihren Schreibtisch und zog scharf die Luft ein.
»Autsch, heiß, diese verdammten Dinger«, meinte er und schüttelte heftig die Hand, als ob er in offenes Feuer gefasst hätte.
»Soll ich deine Hand verarzten?«, frotzelte Maria.
»Haha, sehr witzig!«, erwiderte er, nicht im Geringsten beleidigt. »Wann kommt unser Psycho-Kollege mit seinem roten Pullöverchen?«
»Um halb neun. Eigentlich ist es noch ein bisschen früh für eine Einschätzung. Aber vielleicht hat das rote Pullöverchen ja eine gute Idee. Man darf ihn nicht unterschätzen, auch wenn er bisweilen recht absonderlich wirkt.«
»Ja, das stimmt. Auf seinem Gebiet ist er wirklich ein Ass.«
»Wir haben immer noch keine Vermisstenanzeige. Aber die labortechnischen Untersuchungen müssten eigentlich heute Morgen reinkommen. Ach übrigens, Nihat hat die Datenbanken durchwühlt, bisher ohne Ergebnis. Kein ähnlicher Fall, in dem einem der Opfer der Kopf abgeschnitten, hübsch in einer Vase drapiert und der Körper anschließend in einen Baum gesetzt wurde. Es gab zwar einige Leichenverstümmlungen, darunter auch das Entfernen des Kopfes und weiterer Gliedmaßen, aber dieses spezielle Merkmal, das Arrangieren von Kopf und Körper, tauchte in keinem der anderen Fälle auf.«
»Es kann natürlich sein«, meinte Gerd nachdenklich, »dass der Täter sein Arrangement, wie du es so schön ausdrückst, erweitert, also eine neue Komponente hinzugefügt hat.«
»Ja, gut möglich, glaub ich aber eher weniger. Fragen wir unseren roten Pullover. Wenn sich jemand in die verquere Denkweise eines kranken Hirns hineinversetzen kann, dann er. Ich sage Nihat Bescheid, dass er die entsprechenden Fälle aus der Datenbank ausdrucken soll. Ich möchte, dass Dr. Martin sie sich ansieht. Vielleicht kann er doch Parallelen entdecken.«
»Irgendwas Neues von der Rechtsmedizin?«, wollte Gerd noch wissen.
»Nein, bisher noch nicht. Ist ja erst halb acht.«
Gerd trank schlürfend den brühendheißen Kaffee und sah dabei Maria über den Rand des Bechers an.
Das Telefon klingelte. Hastig nahm sie den Hörer ab und meldete sich mit ihrem Namen. Ihr Kollege sah sie gespannt an. Aus dem, was Maria sagte, konnte er schließen, dass die Rechtsmedizin am anderen Ende der Leitung war.
Kaum hatte sie sich mit den Worten »Danke, schicken Sie mir bitte den Bericht zu!« verabschiedet, nickte sie mit dem Kopf und sagte:
»Bingo, Gerd, wir sind ein Stück weiter. Dr. Petermann hat mir mitgeteilt, dass das Blut an der Vase und auf dem Boden vor dem Sockel mit dem der Toten übereinstimmt. Das war ja auch nicht anders zu erwarten gewesen. Auf der Leiter wurden ebenfalls winzige Blutspritzer nachgewiesen. Wie wir bereits vermutet haben, hat der Täter die Leiter aus dem Großen Garten benutzt, um den Kopf in der Vase zu drapieren. Er wusste also, wo sie aufbewahrt wird. Ansonsten sind auf der Leiter natürlich Hunderte andere Spuren, da sie ja ständig in Benutzung ist. Wir werden also alle Angestellten, die dort arbeiten oder gearbeitet haben, vernehmen müssen.«
»Ja, das ist zumindest ein Ansatzpunkt. Wenngleich …«
»Ich weiß, was du sagen willst. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass es sich beim Mörder um einen der Gärtner oder Bediensteten handelt. Die schließe ich aus, weil es einfach zu riskant wäre, die Leiche hier in ihrem Park zu präsentieren. Der Verdacht würde doch sofort auf einen von ihnen fallen.« Sie machte eine zerstreute Geste. »Aber weiter zum Baum, auf dem die Tote saß. Der Bericht der KTU ist vorhin gekommen. In ihm heißt es, dass zur Befestigung der Hände an den Ästen handelsüblicher Draht verwendet wurde. Außerdem ist nun auch klar, wie sie dort hinaufgekommen ist. Die SPUSI hat Einkerbungen an dem Ast darüber gefunden, die darauf schließen lassen, dass eine Seilwinde daran befestigt wurde, um den Körper hochzuhieven.«
Gerd nickte zustimmend und wartete auf weitere Erläuterungen.
»Außerdem gab es Abriebspuren am Baumstamm. Sie könnten von einer Leiter herrühren. Ob es sich um dieselbe handelt, mit der der Mörder an der Vase hochgeklettert ist, konnte nicht festgestellt werden. Aber warum sollte er eine andere Leiter benutzt haben, das macht ja keinen Sinn.« Nachdenklich knabberte Maria wieder auf ihrem Bleistift herum, eine nervtötende Angewohnheit, über die Gerd sich schon oft mokiert hatte.
»Sonst irgendwelche Spuren auf dem Boden?«
»Nein, gar nichts. Der Täter hat den Sandboden unterhalb des Baumes geharkt oder mit einem Besen gefegt. Das gleiche gilt für den Weg. Keinerlei Fuß- oder Reifenspuren.«
»Er muss die Leiche doch irgendwie transportiert haben. Er wird sie nicht auf seiner Schulter getragen und die ganzen Gerätschaften in einer Tüte mitgeschleppt haben.«
»Nein, natürlich nicht, das ist klar. Was kommt da infrage? Was meinst du?«
Ihr Kollege biss nachdenklich auf seine Unterlippe.
»Mit dem Auto kann er nicht gekommen sein, wegen dieser Pfosten, die am Eingang stehen. Nur Angestellte der Parkverwaltung können mit einem Spezialschlüssel herein. Ich denke da eher an ein Fahrrad. Ein Fahrrad mit Anhänger. Da passt alles rein und es ist vor allen Dingen leise und unauffällig.«
»Ja, das könnte sein.« Maria kratzte sich mit der Bleistiftspitze die Kopfhaut, was Gerd mit einem irritierten Blick quittierte.
»Ich glaube, ich vertrage dieses blöde Shampoo nicht«, entschuldigte sie sich.
»Also mit einem Fahrrad …«
Ihre Überlegungen wurden durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen. Hastig sah sie auf ihre Armbanduhr.
»Das rote Pullöverchen!«, raunte sie und grinste verschwörerisch.
Tatsächlich. Es war Dr. Martin in seinem unvermeidlichen roten Pullover. Dazu trug er eine ausgebeulte gelbe Baumwollhose. Ein merkwürdiger altmodischer Lederblouson krönte dieses Gesamtbild der Geschmacklosigkeit. Das dichte weiße Haar stand wie bei einem Hahn hoch zu Berge und verlängerte sein ohnehin schmales Gesicht. Der große Kopf passte nicht zu dem rundlichen, halslosen Körper. Genau genommen passte nichts zueinander. Die Arme waren für seinen gedrungenen Oberkörper zu lang und die Beine zu kurz. Die dicken Brillengläser ließen seine Augen zu kleinen, braunen Murmeln zusammenschrumpfen. Etwas Kindliches und – Maria schämte sich für diesen Gedanken – fast Retardiertes ging von dem Psychologen aus. Aber das täuschte. Sein Verstand war äußerst scharf, geprägt von analytischem und logischem Denkvermögen.
Maria rief Nihat an und bat ihn, die ausgedruckten Informationen aus der Datenbank in ihr Büro zu bringen. Wenige Minuten später war er da. Mit dem Schnellhefter in der Hand schoss er einen feindseligen Blick auf Gerd Wechter ab.
Dr. Martin hatte sich inzwischen auf einen Stuhl gesetzt. Als ob er einen steifen Hals hätte und deswegen den Kopf nicht drehen könnte, wandte er sich Nihat mit dem gesamten Oberkörper zu und beäugte ihn interessiert, wobei sein linker Arm schlaff und leblos an seiner schiefen Schulter baumelte.
»Gib den Ordner bitte Herrn Dr. Martin.«
Als Nihat wieder verschwunden war, schob Maria kurzerhand Aktenordner, Papierstapel und die Tastatur auf ihrem Schreibtisch zur Seite und breitete dort die Polizeifotos von Kopf und Körper der Leiche und den zwei unterschiedlichen Fundorten aus.
»Das ist unser Opfer. Zwischen dreißig und fünfunddreißig Jahre alt. Hier der Kopf in der Vase am Palaisteich im Großen Garten und da«, Maria tippte mit dem Zeigefinger auf das Bild, »der Körper, so wie wir ihn gefunden haben, im Baum, einige Hundert Meter vom Fundort des Kopfes entfernt.«
Dr. Martin inspizierte die Fotos und bewegte dabei unmerklich die Lippen. Maria ließ ihm Zeit und beobachtete den Mann, der sie heute mehr denn je an einen Gnom erinnerte. Mit gekrümmtem Rücken hatte er sich über den Schreibtisch gebeugt und sah sich hoch konzentriert ein Bild nach dem anderen an.
Endlich hob er den Kopf. Maria und Gerd sahen ihn gespannt an.
»Spread your wings and fly. Hm, kann er aber nicht, dieser Vogel. Flugunfähig, weil Flügel gefesselt und kein Kopf.«
Gerd und Maria sahen sich kurz an und dachten beide dasselbe. Hatte dieser Psychologe vielleicht doch einen an der Waffel, wie so mancher Vertreter seiner Zunft?
»Rache. Die Frau hat ihren Mann verlassen, wollte wegfliegen. Frei sein, wie ein Vogel. Da hat er ihr dann den Kopf abgeschnitten und sie in den Baum gesetzt.« Seine kindlich hohe Fistelstimme stand in krassem Gegensatz zu seiner nüchternen Erläuterung.
Na großartig, dachte Maria, so weit waren wir auch schon.
»Mit dieser Inszenierung will er seine Macht und Überlegenheit demonstrieren«, ergänzte Dr. Martin. »Und außerdem …« Jetzt zögerte er.
»Ja, und außerdem?«, fragte sie.
Im selben Moment läutete das Telefon. Genervt entschuldigte sich die Kommissarin, die die Nummer der Rechtsmedizin auf dem Display erkannt hatte und den Hörer abnahm. Mit ungläubiger Miene lauschte sie ihrem Gesprächspartner und schaute von Gerd zu Dr. Martin, nachdem sie das Gespräch beendet hatte.
»Das war noch einmal die Rechtsmedizin. Dr. Petermann hatte vorhin ein Detail vergessen.«
»Welches?«, fragte ihr Kollege ungeduldig.
»Die Tote war im Intimbereich rasiert. An sich ja nichts Außergewöhnliches. Trotzdem befanden sich dort Haare, allerdings keine menschlichen.«
»Keine menschlichen?«, echote Gerd entgeistert.
»Nein. Es handelt sich um ein Stück Kaninchenfell, das aufgeklebt wurde.«
»Interessant …«, lispelte Dr. Martin.
Maria schwieg für einen kurzen Moment und runzelte dann die Augenbrauen.
»Dr. Martin. Sie wollten doch noch etwas sagen, bevor wir unterbrochen wurden.«
»Ja, richtig. Er hat diese Frau zu einem Tier gemacht und ihr damit das Wesen eines Menschen genommen, sie ihrer menschlichen Würde beraubt. Verstehen Sie, was ich meine? Nicht wenige Mörder schließen den Getöteten die Augen oder decken sie zu. Was nichts anderes bedeutet, als dass man ihnen, obwohl man sie umgebracht hat, ihre Würde belässt. Ein finaler Gnadenakt sozusagen, wenn auch vielleicht unbewusst. Im vorliegenden Fall wurde das genaue Gegenteil angestrebt. Die Frau wird zu einem bloßen Objekt degradiert, zu einem Vogel, der weder fliegen noch sehen oder hören kann. Ein Nichts.«
»Ich verstehe. Eine komplette Vernichtung?«
»Nicht ganz. Dieser Akt der Degradierung und Entmenschlichung offenbart eine fürchterliche, rasende Wut. Gleichzeitig bedeutet er für den Täter eine Art Erleichterung. Die Frau, die ihn verlassen hat oder ihn verlassen wollte, ist kein Mensch mehr. Es schmerzt nicht mehr so stark, denn sie ist ja nur ein verstümmeltes Tier.«
»Also haben wir es hier mit einem Psychopathen zu tun, wenn ich Sie richtig verstanden habe.«
Dr. Martin schwieg für einen Moment, sagte dann aber:
»Viele Menschen – mehr als Sie sich vorstellen können – haben zum Teil völlig unterschiedliche Ego-Anteile in sich. Es kommt immer darauf an, wie diese Anteile miteinander kooperieren beziehungsweise sich im schlimmsten Fall kontrollieren lassen. Aber wenn Sie darauf bestehen, ja, es handelt sich um einen Psychopathen, also einen Menschen mit einer extrem schweren Persönlichkeitsstörung, die dafür sorgt, dass ihm Empathie und soziales Gewissen fast vollständig fehlen.«
»Wird er es wieder tun? Werden weitere Frauen auf so bestialische Weise hingerichtet werden?«, bohrte Maria nach und fixierte den Psychologen. »Oder ist sein Rachedurst mit der Hinrichtung dieser Frau gelöscht?«
Dr. Martin zögerte einen Moment, bevor er antwortete:
»Wahrscheinlich. Aber ausschließen kann man nichts. Es macht mich schon ein wenig stutzig, dass er sich dieser überladenen Symbolik bedient hat. Diese gewaltige Demonstration von Macht hat etwas nahezu Orgiastisches.« Er schürzte die Lippen. »Wenn wir Pech haben, macht er weiter. Möglicherweise findet er Gefallen an dem Entsetzen, das er auslöst, und berauscht sich an dieser Macht. Für die Presse ist das ja ein gefundenes Fressen, nicht wahr?«
»Ja«, stimmte Maria zu und atmete tief ein. »Doch sie kann auch nützlich sein. Wenn nicht bald eine Vermisstenanzeige erstattet wird, müssen wir ein Foto des Opfers in der Zeitung veröffentlichen. Aber kommen wir noch mal auf das Kaninchenfell zurück, das der Täter ihr auf die Scham geklebt hat. Was hat das denn zu bedeuteten?«
»Das weiß ich im Moment auch noch nicht. Das Einzige, das mir spontan dazu einfällt, ist, dass er diese intime Stelle bedecken wollte. Ihre schamlose Nacktheit bedecken. Ein möglicher Hinweis auf die sexuelle Begierde der Frau.«
»Aber wieso denn ein Kaninchenfell?«
»Na, sein eigenes Haar konnte er wohl schlecht nehmen. Spuren wollte er ja nicht hinterlassen, oder?« Langsam drehte er seinen wie angeschraubt wirkenden Kopf von Maria zu Gerd und wieder zurück. »Er hätte natürlich auch irgendeinen Stoff-Fetzen nehmen können. Daher gehe ich davon aus, dass das Kaninchenfell eine Bedeutung für ihn hat.«
Sein starrer Blick aus dem Fenster signalisierte der Kommissarin, dass der Psychologe gerade intensiv über etwas nachdachte oder schlichtweg einfach nur auf eine Eingebung wartete. Sie kam, die Eingebung.
»Die Vagina, eine Kaninchenhöhle? War die Frau schwanger?«
»Das wissen wir noch nicht«, gab Maria Auskunft und sah plötzlich das Bild von kleinen nackten Kaninchenbabys im Bauch der Frau vor sich – fünf, sechs Stück, nackt und blind. Sie schüttelte sich.
»Aber wie gesagt, das ist reine Spekulation. Das muss ich mir noch mal ausgiebig durch den Kopf gehen lassen.«
Maria nickte und sah ihren Kollegen an.
»Gerd, hast du noch Fragen an Dr. Martin? Ansonsten …« Der Angesprochene schüttelte den Kopf. Maria stand auf, um den Mann im roten Pullover zu verabschieden.
»Vielen Dank, das war’s fürs Erste. Sie haben uns sehr weitergeholfen. Wenn Sie sich dann bitte noch die Auszüge aus unserer Datenbank ansehen wollen? Vielleicht können Sie eine Verbindung dieser Fälle zu dem aktuellen Verbrechen herstellen. Was denken Sie, wie lange …«
»Vor morgen komm ich leider nicht dazu«, sagte er und erhob sich. »Wenn mir etwas auffällt, melde ich mich natürlich sofort bei Ihnen.«
Dann schloss er die Tür hinter sich.
»Schöne Scheiße«, stöhnte Maria und schaute aus dem Fenster.
»Schön nicht, Scheiße ja«, gab Gerd lapidar zurück.
Sie sah ihn an. »Stimmt. Ach, bevor ich es vergesse: Die Obduktion ist für morgen angesetzt. Um zehn.«
»Hoffentlich verzichtet Dr. Petermann auf seine groben Scherze. Die gehen mir am frühen Morgen auf die Nerven. Er ist der fröhlichste Leichenaufschneider, den ich jemals kennengelernt habe.«
Aber Dr. Petermann dachte gar nicht daran, seine gute Laune zu verbergen.
Pünktlich um zehn Uhr am nächsten Morgen standen Maria Wagenried und ihr Kollege in dem bereits gut gefüllten Obduktionssaal der Rechtsmedizinischen Instituts des Universitätsklinikums »Carl Gustav Carus« in der Fetscherstraße. Obwohl ihre Anwesenheit nicht zwingend erforderlich war, ließ sie es sich nie nehmen, bei einer Obduktion zugegen zu sein. Natürlich wurde ihr der Obduktionsbericht immer zugesandt, dennoch fand sie es wichtig, die Feststellungen des Rechtsmediziners aus erster Hand zu hören.
Dr. Petermann ragte aufgrund seiner imposanten Erscheinung deutlich heraus, er maß locker über eins neunzig. Aus dem wie aus Granit gemeißelten Gesicht stachen eine große, gebogene Nase und ein kräftiges, kantiges Kinn hervor. Mit seinem kahl rasierten, gebräunten Schädel, der im kalten Licht der Neonröhren glänzte, und dem tiefen Grübchen in seinem energischen Kinn versprühte er den virilen Charme eines testosterongesteuerten Riesen.
Wie immer war er mit einem überlangen, grünen Kittel bekleidet, über den er eine Schürze aus dickem Kunststoff gebunden hatte. Gegen diese exzentrische – zu allem Überfluss trug er auch noch einen kleinen silbernen Ohrring – und sehr präsente Erscheinung verblassten alle anderen Personen, die sich hier versammelt hatten.
Sein Medizinerkollege, der als Nebenobduzent fungierte, und Staatsanwalt Dr. Schmücke, ein verhutzeltes Männchen mit verkniffenem Gesichtsausdruck, unterhielten sich leise im Hintergrund. Des Weiteren waren ein Facharzt im Praktikum, eine Assistentin und zwei verschüchtert aussehende Medizinstudenten zugegen. Ein solch spektakulärer Mord ereignete sich nicht oft, und die Obduktion war für sie alle eine geeignete Gelegenheit, ihre Kenntnisse zu erweitern.
Die Leiche, inklusive des abgetrennten Kopfes, lag auf dem Seziertisch aus Edelstahl. Erbarmungslos offenbarte die Neonbeleuchtung das grauenvolle Ausmaß der Verstümmelung des Körpers.
Dr. Petermann räusperte sich lautstark und gab somit das Zeichen für den Beginn der Autopsie.
»So …«, dröhnte sein tiefer, nasaler Bass. »… dann wollen wir die kopflose Dame mal näher untersuchen.«
Maria spürte den Seitenblick ihres Kollegen, der die Augen genervt verdreht hatte. Aber sie reagierte nicht, sondern blickte mit versteinerter Miene auf den malträtierten Leichnam.
Die Sektion begann mit der akribischen Untersuchung der Körperoberfläche der Leiche. Jeden Quadratzentimeter untersuchten die Mediziner mit einer Lupe, um selbst nach kleinsten Spuren von Hautveränderungen, Einstichstellen oder Faserspuren zu fahnden. Geduldig warteten die beiden Kommissare.
»Ha, was haben wir denn hier?« Dr. Petermann beugte sich noch ein Stückchen tiefer. »Das sieht mir aus wie winzige Metallpartikel.« Er hob den Kopf und verlangte nach einem Klebestreifen, indem er ungeduldig die Hand ausstreckte und dabei die Finger öffnete und wieder schloss. Mit seinen riesigen Händen legte er den Streifen auf die Haut und drückte ihn kurz fest, löste ihn dann mitsamt den daran klebenden Metallspuren vorsichtig wieder ab und gab ihn der Assistentin zurück.
Danach arbeitete er sich langsam vorwärts in Richtung Bauch und weiter bis zum Schamhügel, auf dem das Kaninchenfell aufgeklebt war, über das Petermann die Kommissarin bereits am Telefon informiert hatte. Tiefschwarz hob es sich von der blassen Haut der Ermordeten ab. Behutsam löste der Mediziner die Tierhaut mit einer Pinzette, bevor er sie mit ausgestrecktem Arm hoch in der Luft drehte und wendete.
»Das nenn ich mal ein hübsches Fellchen, was? Haben Sie sowas schon mal gesehen? Ich meine, anstatt der Schambehaarung?«, fragte er die Anwesenden. »Wollte wohl ein kleines Häschen aus ihr machen, was?«
Maria registrierte, dass die Medizinstudenten sich betroffen ansahen, als Dr. Petermann den Fellfetzen an seine große, vorspringende Nase hielt und schnüffelnd daran roch. Gerd und sie sahen sich ebenfalls an.
»Kleber, Uhu vermutlich«, konstatierte Petermann und legte das seltsame Objekt in eine kleine Schale. Nachdem noch die Füße und Fußnägel einer eingehenden Prüfung unterzogen worden waren, war die oberflächliche Untersuchung der Leiche beendet.
Dr. Petermann und sein Kollege legten die Lupen zur Seite, dann griff er nach dem Kopf der Toten und legte ihn mit elegantem Schwung auf den danebenstehenden Seziertisch. »Wir verändern Ihre Position ein wenig, aber machen Sie sich keine Sorgen, meine Liebe, Sie bekommen gleich Ihren Körper wieder«, sagte er gutgelaunt und schaute freundlich in das entstellte Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen.
Maria kam mal wieder zu dem Schluss, dass Petermann ein Gemüt wie ein Panzer haben musste.
Anschließend wandte er seine Aufmerksamkeit der Stelle zu, an der ihr der Hals durchschnitten worden war, und meinte nach einer kurzen Untersuchung:
»Hier, sehen Sie!« Er schaute Maria und Gerd abwechselnd an. »Der Hals wurde mit einer Säge zwischen dem fünften und sechsten Wirbel durchtrennt. Zuvor wurde sie ins Land der Träume befördert.«
Er drehte den Schädel herum, auf dessen Hinterkopf deutlich eine Wunde zu erkennen war.
»Mit einem stumpfen Gegenstand ausgeführt«, erläuterte er. »Sie war noch am Leben, als der Täter sie enthauptet hat. Bewusstlos zwar, aber sie lebte.«
Er legte den Kopf auf einen zweiten Sektionstisch hinter sich, an dem nun der Nebenobduzent die Öffnung der Schädeldecke vornahm.
»Hier kann man deutlich die Spuren erkennen, die das Werkzeug an dem Schildknorpel des Kehlkopfes hinterlassen hat.« Petermann wies mit dem Zeigefinger auf die Einkerbungen am Hals des Torsos. Dann arbeitete er schweigend weiter.
Er fand keine weiteren Auffälligkeiten. Die Frau hatte ein hervorragendes Gebiss mit nur einem einzigen plombierten Backenzahn im rechten Unterkiefer und war organisch völlig gesund gewesen. Eine Schwangerschaft sowie Hinweise auf einen ungeschützten, kürzlich vollzogenen Geschlechtsverkehr wurden ausgeschlossen.
Zum Schluss wurden die Fingernägel der Toten abgeschnitten, damit sie später im KTI, dem Kriminaltechnischen Institut, auf Hautschuppen, Blut oder Fasern untersucht werden konnten. Der noch durchzuführende ToxScreen würde, falls vorhanden, Rückstände von Alkohol, Drogen oder Medikamenten nachweisen. Auch die Metallspäne und das Kaninchenfell würden zusammen mit den übrigen Beweismitteln ins KTI geschickt werden.
Während der gesamten Dauer der Obduktion zeichnete ein Aufnahmegerät alle Untersuchungsergebnisse auf. Später würden diese von der Sekretärin abgetippt und eine Kopie an das Kommissariat in die Schießgasse geschickt werden. Nach zweieinhalb Stunden war die Sektion beendet.
Dr. Petermann veranlasste die Schließung des Körpers und ging um den Seziertisch geradewegs auf Maria zu.
»Darf ich Sie zum Mittagessen einladen, Frau Wagenried? Oder geben Sie mir wieder einen Korb?« Seine stahlblauen Augen blitzten amüsiert unter den dichten Augenbrauen.
Die Studenten, die gerade im Begriff waren, den Raum zu verlassen, hielten inne und sahen den Rechtsmediziner verdutzt an. Ohne Marias Antwort abzuwarten fügte er hinzu:
»Ich werde nicht lockerlassen, bis Sie meine Einladung endlich annehmen.«
»Ich stehe nicht auf Männer mit Ohrringen, das erscheint mir irgendwie suspekt. Und dann auch noch in Ihrem Alter…«, schlug Maria das Angebot aus.
Dr. Petermann lachte schallend und warf dabei den Kopf wie ein Pferd zurück. Dieses Geplänkel war eigentlich nur für die Umstehenden gedacht, wie Maria wusste, insbesondere für die jungen Ärzte und Studenten, die diesen kleinen Schlagabtausch verfolgt hatten. Ebenso wusste sie, dass Dr. Petermann seinen Ruf als notorischer Frauenheld immer wieder aufs Neue unter Beweis zu stellen und hartnäckig zu verteidigen pflegte.
Aus den Augenwinkeln hatte sie bemerkt, dass Gerd bereits mit hochgezogenen Schultern in Richtung Ausgang gegangen war. Sie drehte sich nach ihm um. Selbst von hinten konnte sie erkennen, dass er wütend war. Wenige Minuten später setzte sich Maria zu ihm ins Auto.
»Arschkalt in dieser Bude«, brummte er. »Wie kann Petermann in so einem Eispalast arbeiten? Aber dieser permanent gutgelaunte Arzt scheint ohnehin aus dem gleichen Material zu bestehen wie die Edelstahltische, auf denen er sein Hackwerk der Verstümmelung verrichtet.«
Maria sah ihn erstaunt an. Welche Laus war ihm heute wieder über die Leber gelaufen?
»Hart, kalt und glänzend, mit einer Oberfläche, an der nichts hängen bleibt«, fügte er hinzu. Maria war entschlossen, nicht auf seine Äußerungen einzugehen. Daher fragte sie ihn:
»Was meinst du, Gerd? Diese Metallspäne und das Kaninchenfell sind doch auf jeden Fall erste Anhaltspunkte.«
»Warten wir die Ergebnisse der KTU ab. Für Spekulationen ist es noch zu früh.«
»Ich meine, es würde uns vielleicht weiterbringen, wenn wir wüssten, ob es sich um ein Wild-, ein Haus-kaninchen oder gar eine seltene Rasse handelt. Und wann wurde das Tier geschlachtet?«
Aber da Gerd nicht antwortete und mit verschlossener Miene neben ihr saß, startete Maria den Wagen.
»Okay, auf geht’s. Zurück ins Präsidium. Oder wollen wir noch eine Kleinigkeit essen?«
»Ich würde gerne eine Kleinigkeit rauchen«, entgegnete er. »Du auch?« Er fummelte bereits in seiner Jackentasche herum, um sein Zigaretten-Etui herauszuholen. Er bot Maria eine von den Selbstgedrehten an, die sie ab und zu gerne rauchte. Sie schmeckten einfach unverfälschter, nach richtigem Tabak eben. Sie selbst war aber viel zu bequem, um selbst zu drehen.
»Also, gib schon einen von deinen krummen Hunden her«, raunzte sie ihn grinsend an und griff ins Etui. Sie hatten beide ihre Fenster runtergelassen und qualmten schweigend.
»Gut, wollen wir reden?«, fragte Gerd und stieß eine gewaltige Menge Rauch aus. Offenbar hatte das Nikotin ihn besänftigt.
»Nein, ich muss was essen. Anderen Leuten schlägt eine Autopsie auf den Magen. Ich bekomme davon immer Hunger. Erinnert mich daran, wie lebendig ich noch bin, und dass ich die Freuden des Alltags noch so lange wie möglich genießen sollte. Damit trotze ich dem unausweichlichen Ende.«
»Haha, du siehst aber überhaupt noch nicht nach unausweichlichem Ende aus. Findet der Stahlmann da drinnen doch auch.«
»Mensch, hör auf, der fehlt mir gerade noch zu meinem Glück! Überleg dir lieber, wo wir etwas essen könnten. Worauf hast du Lust?«
»Zum China-Mann? Der an der Ecke?«
Maria nickte, warf ihre Zigarette aus dem Fenster und schloss es wieder. Gerd, der noch nicht zu Ende geraucht hatte, weil er nicht so gierig wie Maria gewesen war, verzog den Mund und blickte bedauernd auf seinen Glimmstängel, der erst zu zwei Dritteln abgebrannt war.
Gott sei Dank waren in dem chinesischen Imbiss noch zwei Tische unbesetzt. Maria steuerte auf den zu, der weit hinten in der Ecke stand.
Der Inhaber erkannte die beiden und warf ihnen ein unergründliches Lächeln zu, welches sowohl bedeuten konnte, dass er sie kaltblütig, ohne mit der Wimper zu zucken, umbringen als auch, dass er sie zur Hochzeit seiner jüngsten Tochter einladen wollte. Mit kleinen Schritten kam er an ihren Tisch und fragte nach der Bestellung. Das tat er jedes Mal, obwohl beide immer das Gleiche wollten. Noch nie hatte er sie gefragt »Wie immer?«
Unruhig spielte Maria mit ihrem Autoschlüssel, während sie auf ihr Essen warteten. Immer wieder drückte sie nervös auf den silbernen Knopf und ließ den Schlüssel herausspringen.
»Maria, könntest du das bitte lassen?« Gerd suchte ihren Blick, der unstet im Lokal hin und her wanderte. »Was ist los mit dir?«
Sie ging nicht gleich auf seine Frage ein, denn im nächsten Moment erschien der Besitzer, der in Wirklichkeit gar kein Chinese, sondern Vietnamese war, und stellte die Getränke auf den Tisch.
»Mich macht dieser Fall nervös. Weiß auch nicht wieso, aber ich krieg diese Bilder von dem Kopf in der Vase und dem Körper im Baum nicht aus dem Kopf. Und wieso, frage ich dich, wird so eine junge Frau nicht vermisst? Das ist doch nicht normal! Schließlich war sie keine von diesen Rentnern, die wochenlang unbemerkt tot in ihrer Wohnung liegen und von denen man immer wieder in der Zeitung liest. Sie sah gut aus, war nicht krank … Sie muss doch Freunde, Bekannte oder Arbeitskollegen gehabt haben. Die einzige Erklärung, die mir dazu einfällt, ist die, dass sie erst kürzlich nach Dresden gezogen ist.«
Das Essen kam.
»Dann hätte sie sich umgemeldet«, warf Gerd ein.
»Das müssen wir überprüfen. Aber wie du selbst weißt, drückt die Einwohnermeldebehörde ein Auge zu, wenn die Ummeldung erst später erfolgt. Darauf können wir uns also nicht verlassen. Aber checken müssen wir es trotzdem. Alle Ummeldungen der letzten vier Wochen müssen anhand der Parameter verglichen werden, ob es eine Übereinstimmung mit dem Opfer gibt. Sollte dies der Fall sein, müssen wir jede einzelne Frau überprüfen.«
»Warte mal. Sie hat, sollte sie tatsächlich erst kürzlich nach Dresden gezogen sein, ihren alten Job gekündigt. Da vermisst man sie nicht. Und bevor sie eine neue Arbeitsstelle angetreten hat, wollte sie die Wohnung einrichten und sich mit der Umgebung vertraut machen. Was meinst du, könnte doch sein, oder?«
»Hm«, Maria runzelte die Stirn. »Könnte was dran sein, muss aber nicht.«
»Und was ist mit ihrem PKW, falls sie einen hatte? Aber soweit ich weiß, kann man ohne Meldebescheinigung vom Einwohnermeldeamt kein Fahrzeug ummelden. Wenn wir also eine Chance haben, dann dort. Das kann Nihat übernehmen.«
Schweigend aßen sie. Aber Maria, die zunächst so hungrig gewesen war, schaffte nur die Hälfte ihrer Portion und legte danach das Besteck zurück auf den Teller. Zwar registrierte sie den irritierten Blick ihres Kollegen, ignorierte ihn aber und stierte stattdessen durch das Lokal, ohne die übrigen Gäste richtig wahrzunehmen.
»Trinken wir noch einen Kaffee?«, versuchte Gerd es noch einmal. Aber Maria schüttelte den Kopf.
Bei ihrer Rückkehr ins Präsidium sah Nihat abwechselnd sie und Gerd mit finsterer Miene an und quittierte Marias Frage nach Neuigkeiten mit mürrischem Kopfschütteln.
Sie konnte sich nicht erinnern, jemals einen eifersüchtigeren Mann gekannt zu haben. Zu Anfang hatte sie sich ja dadurch noch sehr geschmeichelt gefühlt, aber in letzter Zeit hatte sich das unangenehme Gefühl eingeschlichen, nicht mehr ungestört ihrer Arbeit nachgehen zu können. Denn jedes Mal, wenn sie mit Gerd unterwegs war, reagierte Nihat auf dieselbe Art und Weise. Nicht nur die gemeinsamen Ermittlungen außer Haus, auch das gemeinsame Büro war ihm ein Dorn im Auge und ständiger Quell abenteuerlichster Vorstellungen über wilde Sexszenen, die sich dort abspielten und seiner selbstquälerischen Fantasie immer neue Nahrung boten.
Natürlich erklärten sich so auch seine häufigen Störungen wegen angeblich wichtiger Informationen, die man problemlos per Telefon oder Mail hätte erledigen können. Das war nicht nur Gerd, ihrem engsten Mitarbeiter, sondern auch den anderen Kollegen aufgefallen. Und das störte Maria am meisten. Wenn die erst einmal anfingen zu glauben, dass sie Berufliches nicht von Privatem trennen konnte, würden sie unweigerlich ihre Autorität und Souveränität als leitende Ermittlerin in Frage stellen.
Nihats eifersüchtiges Benehmen löste Schuldgefühle in ihr aus, sobald sie zusammen mit Gerd die Ermittlungen durchführte. Aber – das musste sie sich eingestehen – auch sie kannte das brennende Gefühl der Eifersucht, das aus ihrer eigenen Unsicherheit resultierte.
Sie, ausgerechnet sie, die niemals irgendeinem Jugendwahn erlegen und mit sich und ihrem Aussehen sehr zufrieden war, wurde plötzlich von Ängsten wegen ihres Alters geplagt. Gut und gerne ging sie noch als Anfang vierzig durch. Aber je länger ihre Beziehung zu Nihat andauerte, so hatte sie mit Bestürzung registriert, desto mehr machte sie sich wegen des großen Altersunterschieds Sorgen.
Immer wieder ertappte Maria sich dabei, wie sie sich kritisch im Spiegel betrachtete. Schonungslos offenbarte der die eindeutigen Zeichen der unaufhaltsamen körperlichen Veränderungen einer Fünfzigjährigen. Wie so viele Frauen in der gleichen Situation fragte sie sich bange, wie lange Nihats Begehren noch anhalten würde. Was würde in zehn Jahren sein? Dann wäre sie alt, richtig alt. Mit schwammigem Kinn, faltigem Bauch und Hängebrüsten. Eine Horrorvision!
Er würde sie für eine jüngere, knackigere Frau sitzen lassen, eine, die ihm vielleicht auch noch Kinder gebar, von denen Nihat, davon war sie überzeugt, insgeheim träumte. Eine Familie zu gründen, das gehörte doch zwangsläufig zum Lebensentwurf eines jungen Moslems, davon war Maria überzeugt.
Oh Gott, daran durfte sie überhaupt nicht denken. Sie liebte diesen Mann und wollte nicht, dass er sie verließ. Er sollte bleiben – für immer.
Manchmal gelang es ihr, diese negativen, lähmenden, sie in einen tiefen Abgrund stürzenden Gedanken beiseite zu schieben, indem sie sich ermahnte, das Hier und Heute zu genießen und das Leben als einen unaufhaltsamen Fluss zu betrachten. So ganz hatte sie diese Strategie, die sie in solchen Situationen wie ein Mantra heraufbeschwor, allerdings noch nicht verinnerlicht.
Maria öffnete die Tür zu ihrem Büro und wurde vom Klingeln ihres Telefons empfangen. Sie nahm ab.
»Hier ist Dr. Martin«, fistelte der Psychologe und machte eine Pause, als erwartete er Applaus. Als der wider Erwarten nicht kam – Maria war in Gedanken noch bei Nihat und den inneren Kämpfen, die sie zurzeit führte –, legte er los:
»Also, zunächst einmal, ich habe keine Parallelen zu den Fällen aus der Datenbank gefunden, die mir Ihr Kollege zum Abgleich mitgegeben hat. Aber, und das mag jetzt vielleicht irrwitzig klingen, mir ist etwas zu dem Kaninchenfell eingefallen. Ach so, und das mit der möglichen Schwangerschaft habe ich wieder verworfen. Sie war nicht schwanger, oder?«
»Nein, definitiv nicht«, gab Maria zur Antwort und stellte das Telefon auf Lautsprecher, damit Gerd mithören konnte. »Weder hatte sie einen menschlichen Fötus noch Kaninchen-Embryos in ihrem Bauch.«
Maria sah Gerds ungläubigen Blick.
»Ach so, ja, hihi, Kaninchen-Embryos. Absurd, aber lustig.«
Maria verdrehte die Augen und biss so heftig auf ihren Bleistift, dass das obere Ende abbrach. Wütend spuckte sie das Holzstück aus und warf den Rest heftig auf ihren Schreibtisch.
»Ich möchte Sie Folgendes fragen: Was assoziieren Sie mit einem Kaninchenfell? Ich meine«, fügte Dr. Martin erklärend hinzu, »was fällt Ihnen spontan dazu ein?« Man konnte deutlich seinen Atem hören.
»Ich weiß schon, was das Wort assoziieren bedeutet, aber danke für Ihre Hilfe.« Maria fand sich selbst unausstehlich. »Sodomie? Die Frau hat herausgefunden, dass er auf Kaninchen steht und hat ihn damit erpresst. Deswegen hat er sie umgebracht. Und den Grund dafür gleich mit der Ersatz-Schambehaarung mitgeliefert.«
Gerd schüttelte verständnislos den Kopf.
»Sodomie können wir, da bin ich mir sicher, ausschließen. Das würde dem Sinn dieser Inszenierung widersprechen.« Dr. Martin ließ sich offensichtlich selbst durch die wildesten Spekulationen nicht aus der Ruhe bringen und schien zudem gegen weiblichen Spott immun zu sein. »Mit Sodomie kann man seine Macht und Stärke nicht demonstrieren. Das wäre selbst für so einen Kopfabsäger ausgesprochen peinlich, wenn ich das so sagen darf.«
»Weich, zart, streicheln. Hoppeln?« Maria hatte sich immer noch nicht wieder im Griff.
»Ja, genau daran habe ich auch gedacht.« Unbeirrt fuhr der Psychologe in seiner Erklärung fort. »Das Kaninchen, ein Symbol für etwas, das man beschützen muss. Oder etwas, bei dem man Zuflucht suchen kann, wenn man Kummer hat. Ein Kind beispielsweise findet Trost und empfindet Zärtlichkeit bei seinem Kaninchen, das es streicheln und in den Arm nehmen kann.«
»Ein Kind? Wir haben es doch hier mit einem erwachsenen Mann zu tun, nicht mit einem Kind.«
»Davon gehe ich auch aus. Aber ich suche nach einer Erklärung für die Verwendung dieses Fells. Ich denke, es steht für eine wesentliche Erfahrung in seiner Kindheit.«
»Wir suchen also nach einem Mann, der in seiner Kindheit ein Kaninchen hatte. Das engt die Suche natürlich unglaublich ein, Dr. Martin …«
»Es tut mir leid, mehr kann ich dazu im Moment nicht sagen«, erwiderte der Psychologe sachlich.
»Hören Sie, das habe ich nicht so gemeint. Ich wollte nicht sarkastisch sein. Entschuldigen Sie bitte.«
»Doch, genau das wollten Sie. Sarkasmus ist ein Ventil, um innere Spannungen abzubauen. Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Wagenried. Ich nehme so was nicht persönlich.«
Maria bedankte sich und beendete das Gespräch. Sie fühlte sich hundsmiserabel und beschämt, was sie noch wütender machte. Schon wieder hatte sie die Kontrolle verloren. Überhaupt schien ihr gerade alles zu entgleiten. Die Beziehung zu Nihat brachte sie völlig durcheinander, wuchs ihr offenkundig über den Kopf. Höchste Zeit, dieses verrückte Verhältnis zu beenden, bevor es zu spät war – ein für alle Mal. Das wäre das Vernünftigste. Was war das denn für eine Liebe, die keinerlei Zukunft hatte. Wie bescheuert war sie eigentlich gewesen, sich auf so etwas einzulassen? Sie hätte es besser wissen müssen. Gleich heute Abend würde sie mit ihm reden. Sie müsste …
»Maria?« Gerd holte sie in die Wirklichkeit zurück. »Was ist eigentlich los mit dir? Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass dein Hormonhaushalt durcheinander ist. Du hast Dr. Martin ganz schön vors Knie getreten. Können wir uns das leisten?«
»Ach, Scheiße, geh du mir nicht auch noch auf die Nerven!«
»Es ist Nihat, nicht wahr?«
»Ja.«
»Du musst eine Lösung finden, so geht das nicht weiter. Das weißt du selbst.«
»Ja.«
»Du musst das auf die Reihe bekommen. Denk an den Fall. Du musst dich konzentrieren und hundertprozentig bei der Sache sein.«
»Ja, ich weiß.«
»Kann ich dir dabei helfen?«
»Nein.«
Entschlossen und immer noch wütend griff sie zum Telefonhörer.
»Ich bin’s, Nihat. Wende dich bitte an das Einwohnermeldeamt. Überprüfe sämtliche Ummeldungen, die in den letzten vier Wochen vorgenommen wurden. Lass dir eine Liste mit den in Frage kommenden Frauen zwischen dreißig und fünfunddreißig erstellen. Mach dort Druck!« Und nach zwei Sekunden fügte sie hinzu: »Und beeile dich damit!«
Sie knallte den Hörer auf. Gerd grinste und hob den Daumen hoch.
»Blödmann«, sagte Maria.