Читать книгу Melodie - Viktoria Horstbrink - Страница 3
Kapitel 1
Оглавление„Kannst du nicht wenigstens David mit ins Bad nehmen?“ ruft Vivian ihrem Ehemann hinterher. Doch Niklas ist schon in Richtung Badezimmer verschwunden und tut so, als ob er sie nicht hören würde. Frustriert räumt sie den Tisch ab und stellt die Teller und Tassen vom gemeinsamen Frühstück in die Spülmaschine. Wie David und Sarah, trägt sie noch ihren Pyjama. Es ist schon kurz vor 8.00 Uhr, und eigentlich sollte sie schon ihre Kinder im Kindergarten abgeliefert haben und sich auf den Weg in die Stadt machen. Sie überlegt, was wohl am klügsten ist. Erst sich oder die Kinder anzuziehen? Sie entscheidet sich, die Kinder zuerst zu waschen. Also fordert sie David auf, der ihr gerade als erstes über den Weg läuft, mit ins Badezimmer zu kommen. „Ich will aber nicht, Sarah soll zu erst!“
„Komm schon, David. Das geht doch ganz schnell. Du kannst auch gleich mit deiner Eisenbahn weiter spielen, wenn Sarah im Bad ist“, versucht Vivian ihren 3 jährigen Sohn zu überzeugen. Da er wesentlich umgänglicher ist als seine 5 Jahre alte Schwester, legt er seine blaue Eisenbahn auf den Boden, steht auf, greift nach der Hand seiner Mama und geht mit ihr ins Bad. Gerade als Vivian die Badezimmertür öffnen will, reißt Niklas sie von innen auf. Dort steht er, in seinem schwarzen Anzug, mit hellblauem Hemd, schwarzen Schuhen und passenden Mantel. Die schicken Kleider, gepaart mit seiner großen Erscheinung, den dunklen Haaren und seinen blendend weißen Zähne, lassen ihn wie ein Model für HUGO BOSS aussehen. Ja, er ist schon fertig, denkt Vivian wütend. Er kann jetzt auf die Arbeit fahren, während ich noch zwei Kinder umzuziehen habe und mich noch selber fertig machen muss. Dass ich heute eine wichtige Präsentation habe, hat er wahrscheinlich schon wieder vergessen. Nur seine Arbeit ist wichtig. Ihre blauen Augen funkeln ihn an. Er hält ihrem Blick nur kurz stand und geht an ihr vorbei. Er greift nach seiner Aktentasche und ruft tschüß zum Abschied, bevor er die Tür hinter sich schließt.
Vivian kocht innerlich, will sich aber vor den Kindern nichts anmerken lassen. Also versucht sie so schnell wie möglich alle drei aus dem Haus zu bekommen.
Als sie schließlich Sarah und David auf dem Rücksitz ihres alten Kombis angeschnallt hat und zum Kindergarten fährt, fällt ihr ein, dass ihr Laptop – den sie für die Firma braucht – noch zu Hause im Büro auf ihrem Schreibtisch liegt. Sie bringt die Kinder in die Tagesstätte, begleitet sie in die jeweiligen Gruppen und verabschiedet sie mit einer Umarmung. Kaum hat sie die Einrichtung verlassen, rennt Vivian den Bürgersteig entlang – vorbei an anderen Eltern, die in aller Ruhe ihre Kinder in den Kindergarten bringen können. Der schnelle Schritt fällt ihr schwer in ihren High Heels und engem Rock, der zum grauen Kostüm gehört, aber sie muss sich beeilen. Es ist bereits 8.45 Uhr. Spätestens um 9.30 Uhr muss sie im Büro sein. Da der Berufsverkehr zu dieser Zeit immens ist, muss sie mit mindestens 30 Minuten Fahrtzeit rechnen.
Als sie endlich mit ihrem Laptop zum Büro unterwegs ist, kann sie wieder durchatmen. Sie macht ihr Autoradio an und hört ihre Lieblings-CD von Andrea Bocelli. Diese Stimme, die tiefe Gefühle aus dem Inneren hervorruft, gibt Vivian immer wieder aufs Neue Antrieb.
Ihre Unbeschwertheit hält aber nur bis zur Einfahrt der Tiefgarage von Visionex an – ihrem Arbeitgeber, ein Hersteller für Haarpflegeprodukte. Jetzt gehen ihr wieder sämtliche Szenarien durch den Kopf. In Gedanken spielt sie schon die Präsentation mit der Geschäftsführung um 10.00 Uhr durch. Diese Präsentation ist besonders wichtig. Ihr Chef Wilfried hat ihr zu verstehen gegeben, dass momentan über ihre Beförderung zum Senior Produkt Manager diskutiert wird. Auf diese Beförderung arbeitet Vivian schon lange hin. Obwohl Vivian sich stark engagiert, hervorragende Arbeit abliefert und auch von zu Hause wesentlich mehr Stunden arbeitet, als im Vertrag festgehalten, wurden ihre kinderlosen Kollegen, meist männlichen Geschlechts, bevorzugt. Aber heute, denkt sie sich, heute werde ich sie überzeugen. Die Einführung von Gorgeous Hair war einfach hervorragend. Das muss honoriert werden. Selbstsicher geht sie an ihren Schreibtisch. Dieser liegt in einem Großraumbüro, genau in der Mitte eines Sechserblockes. Charlie kommt mit hochrotem Kopf auf sie zu. „Vivian, ich habe gerade mit dem Marktforschungsunternehmen gesprochen. Sie sagen, Ihnen ist ein Fehler unterlaufen. Sie müssen die Zahlen von Gorgeous Hair noch einmal revidieren. Die neuen Zahlen kommen allerdings erst in den nächsten Tagen.“ Mit großen Augen blickt er zu ihr hoch. Er ist ein ausgesprochen kleiner Mann. Da wirkt selbst Vivian mit ihren 170 Zentimetern wie ein Riese. Beide wissen, dass die Präsentation, die sie heute vor der Geschäftleitung hält, auf diesen Zahlen beruht. Aber sie kann und will nicht absagen.
„Danke Charlie, aber ich werde die Präsentation trotzdem halten. Sollten die Änderungen gravierend sein, reiche ich sie einfach nach.“
Von ihrer Entscheidung überzeugt, setzt sie sich an ihren Tisch und schaltet den Laptop ein. Aber mehr als Anmelden kann sie sich nicht, da schon Petra, die Assistentin der Abteilung, auf sie zu kommt. „Vivian, Torben hat sich krank gemeldet. Er hätte sehr wichtige Dinge zu erledigen, die nicht warten könnten. Er hat mich gebeten, dich zu fragen, ob du ihn unterstützen könntest.“
Vivian starrt auf ihren Bildschirm. Aber es hilft ja nichts. Sie muss Petra eine Antwort geben. Diese fällt barsch aus: „Sag ihm, ich rufe ihn heute Mittag zurück. Jetzt habe ich keine Zeit.“ Kaum ausgesprochen schämt sich Vivian über ihren schroffen Ton: „Petra, tut mir leid. Du weißt, mein Groll ist nicht gegen dich gerichtet.“
„Aber natürlich“, meint Petra mit einem Lächeln.
„Bist du soweit?“, fragt Wilfried, Vivians Chef, der geradewegs auf sie zu läuft.
„Ja“, antwortet Vivian. Sie ist sich nicht sicher, ob das wie eine Bestätigung oder wie eine Eigenüberzeugung klang.
Sie läuft mit Wilfried zusammen durch das Großraumbüro zu der Empfangshalle. Wenn man in diese große Halle hineinschreitet, mit ihren hohen Säulen und der erstaunlichen Akustik, die jeden Schritt auf den Parkett wiedergibt, ist es, als ob man auf der Bühne eines Opernhauses entlang geht.
Als einer der beiden Aufzüge sich öffnet und Herr Lehmann darin wartet, muss Vivian tief durchatmen. Herr Lehmann ist einer der wenigen Personen aus der Geschäftsleitung, die Vivian absolut nicht leiden kann. Seine dauernden kleinlichen Beschwerden sind störend und nervenaufreibend. Doch sie lässt sich nichts anmerken und stellt sich lächelnd neben ihn in den Fahrstuhl. Im Meetingraum sind bereits fast alle anwesend. Die Damen und Herren stehen plaudernd um den Kaffeetisch. Während sie laut lachen und sich gegenseitig auf die Schultern klopfen, baut Vivian Laptop und Beamer auf und überfliegt noch ein letztes Mal ihre Unterlagen.
Nachdem die Teilnehmer der Präsentation kurz darauf auf den Stühlen am Konferenztisch Platz genommen haben und erwartungsvoll auf Vivian schauen, steht sie auf, blickt zu Wilfried, der ihr beide Daumen hoch hält und sieht dann in den Rest der Runde. Anfangs erläutert sie die Ausgangslage des ersten Quartals im Visionex Fiskaljahr für ihr verantwortliches Produkt Gorgeous Hair. In den Monaten Dezember bis Februar lief der Absatz stabil, ohne große Promotionsaktivitäten oder Preissenkungen. Im zweiten Quartal, März bis Mai, ging der Absatz zurück, trotz größerer Promotionsaktionen, wie zum Beispiel Sonderplatzierungen bei einigen Handelspartnern und Handzettel in Tageszeitungen. „Der Absatzrückgang ist darauf zurückzuführen, dass ein Konkurrenzunternehmen ein neues Produkt, namens Watershine, auf den Markt gebracht hat, bestärkt durch Fernseh- und Radiowerbung, sowie Coupons“, erläutert Vivian und beruft sich hierbei auf die Analyse des Marktforschungsunternehmens.
„Wissen wir, welche Käufergruppe zu dem neuen Produkt gewechselt ist?“ fragt Herr Lehmann. Am liebsten würde sie ihm sagen: „Wenn Sie der Marktforschungsabteilung auch nur Ansatzweise ein legitimes Budget zur Verfügung stellen würden, dann könnte ich Ihnen diese Frage mit Leichtigkeit beantworten“, stattdessen antwortet sie sachlich: „Leider können wir hierzu keine professionelle Aussage treffen, da uns bislang keine Informationen darüber vorliegen.“ Um weitere Diskussionen zu vermeiden und nicht aus dem Konzept zu kommen, führt sie ihre Präsentation umgehend fort. „In den Handelsunternehmen, in denen das neue Produkt Watershine nicht eingeführt worden ist, sind wir von dem Absatzrückgang nicht betroffen. Im Gegenteil, wir können sogar ein leichtes Plus verzeichnen. Es bleibt abzuwarten, ob die Kunden dauerhaft das Produkt bevorzugen oder wieder zu unserem Produkt Gorgeous Hair zurückkehren. Der Preis spielt derzeit keine Rolle, da beide Produkte in derselben Preisklasse liegen.“
Es werden noch einige Punkte zu den laufenden Produktionskosten angesprochen und zu eventuellen Werbekampagnen. Zum Schluss bittet Vivian die Vorstandsmitglieder ihr Budget auf Ausschöpfungsmöglichkeiten zu prüfen. Studien über die Käufergruppen sind zwingend notwendig, um geplante Werbekampagnen gezielt auszurichten.
Als sie ihren Laptop und Beamer herunterfährt, kommt Wilfried auf sie zu und lobt sie: „Gut gemacht, Vivian. Wie immer. Aber ich habe ja auch nichts anderes von dir erwartet!“
Vivian freut sich sehr über dieses Kompliment. Sie wird Wilfried sehr vermissen, denn in ein paar Monaten wird er in den Ruhestand gehen. Sie arbeitet schon seit über neun Jahren mit ihm zusammen und schätzt ihn sehr. Er hat eine offene, direkte Art und weiß gleichermaßen ihre geradlinige, wenn auch manchmal temperamentvolle Art zu schätzen. Sie wird nicht nur Wilfried Schneiders trockenen Humor und seinen Teamgeist vermissen, sondern auch die Sicherheit, die er ihr gegeben hat. Nicht nur, dass er sie beruflich gefördert hat, er war es auch, der es ihr ermöglichte jeweils drei Monate nach der Geburt der Kinder, in ihren Job zurückzukehren. Kein anderer hätte sich für Vivian so stark gemacht. Vor allem nicht nach dem zweiten Kind. Bevor Vivian das erste Mal schwanger wurde, hatte sie in kürzester Zeit sehr viel erreicht. Nachdem sie neben dem Beruf ihren Universitätsabschluss absolviert hatte, war sie mit 22 Jahren die jüngste Produktmanagerin in ihrem Unternehmen gewesen. Aber die Erfolge der Vergangenheit zählen heutzutage nicht mehr.
Vivian ist noch nicht richtig am ihrem Schreibtisch angekommen, kommt Petra wieder auf sie zu. „Entschuldige, dass ich dich wieder überfalle, aber Torben hat wieder angerufen. Er bittet dich, sein Telefon zu übernehmen. Wenn Herr Weide von TradeMart anruft, sollst du ihn auf morgen vertrösten oder dir genau sein Problem beschreiben lassen und mit den Kollegen eine Lösung finden.“
„Typisch Torben! Keiner hat wichtige Arbeit, nur er“, erwidert Vivian und weiß, dass sie so offen nur gegenüber Petra sein kann. „Stell seinen Apparat auf mich um. Aber ich gehe jetzt erst mal essen. Ich bin nämlich mit Veronika in der Kantine verabredet.“
Vivian legt ihren Laptop auf den Schreibtisch, nimmt ihr Portmonee und geht zur Kantine.
Am Eingang der Kantine wartet Veronika schon auf sie. Obwohl sie in der gleichen Firma arbeiten, sehen sie sich selten. Freudig umarmen sie sich zur Begrüßung.
„Gut siehst du aus“, begrüßt Veronika Vivian. „Vor allem so schick.“
„Ich hatte heute eine Präsentation vor der Geschäftsleitung. Daher dieses Outfit. Aber jetzt kann ich ja wenigstens meine Haare wieder aufmachen. Ich bekomme schon Kopfschmerzen“, mit einem Handgriff öffnet Vivian ihre streng zusammen gebundenen Haare und ihre lange rot gewellte Mähne fällt wie ein Schleier über ihren Rücken.
„Wie geht es dir?“, möchte Vivian wissen, als sie und Veronika ihre Teller an der Essensausgabe entlang schieben.
„Och“, stöhnt sie, „ich bin es langsam leid die allein erziehende Mutter zu spielen. Markus soll sich endlich mal einen Job hier in Frankfurt suchen. Auch für unsere Beziehung ist diese Wochenendpendlerei nicht das Beste.“
„Das kann ich mir vorstellen“, stimmt Vivian ihr zu. „Gibt es denn nicht die Möglichkeit, dass du und Amelie nach Berlin gehen?“
„Ich kann doch hier nicht alles so einfach aufgeben. Finde mal als Mutter einen adäquaten Job. Das kannst du vergessen. Wir zwei können froh sein, dass wir schon den Job hatten, bevor wir schwanger wurden. Außerdem will ich Amelie nicht aus ihrer gewohnten Umgebung reißen. Sie hat sich so gut im Kindergarten eingelebt, das will ich ihr nicht kaputt machen.“
Das kann Vivian natürlich verstehen. Das wollte sie für ihre Kinder auch nicht. Aber so ganz alleine auf sich gestellt zu sein wie Veronika - das wäre auch nicht schön. Veronika hat überhaupt keine Verwandten in Frankfurt. Da weiß Vivian mal wieder zu schätzen, wie gut sie es hat, dass ihre Eltern, generell ihre Familie, in der Umgebung wohnt.
Wie hilfreich das ist, merkt Vivian direkt nach dem Mittagessen, als sie wieder an ihrem Schreibtisch sitzt und den Anrufbeantworter abhört. „Guten Tag Frau Steenkamp, hier spricht Claudia Becker aus der Bärengruppe des St. Matthias Kindergartens. Wir bitten Sie Sarah abzuholen, da wir befürchten, dass sie Läuse hat. Danke schön.“
Am liebsten würde Vivian laut schreien. Das darf doch nicht war sein. Ich wette David muss auch nach Hause, weil er automatisch ebenfalls unter Verdacht steht Läuse zu haben. Es bleibt Vivian nichts anderes übrig als, wie so oft, ihre Mutter zu Hause anzurufen und sie zu bitten die Kinder vom Kindergarten abzuholen und zu betreuen bis sie nach Hause kommt.
Vivian ist sehr froh, ein so inniges Verhältnis mit ihrer Mutter zu haben. Lena war für sie schon immer ein Vorbild gewesen. Als kleines Kind hat Vivian sie mit großen Augen bestaunt, wenn sie schick gekleidet mit ihrem Vater aus dem Haus ging. Ihre Mutter legt immer noch großen Wert auf ihr Aussehen. Bis heute hat Vivian ihre Mutter immer nur geschminkt auf die Straße gehen sehen. Die Schminke ist dezent, aber so, dass sie hübsch anzusehen ist. Das versucht Vivian ihr nachzuahmen. Sie benutzt immer ein wenig Lidschatten und Lippenstift. Des Weiteren ist sie Vivian ein Vorbild, weil sie zusammen mit Vivians Vater Falk einen Schreinereibetrieb aus dem Nichts aufgebaut hat, die heute ein florierendes Unternehmen mit über 20 Angestellten ist. Aber am allermeisten bewundert Vivian an ihrer Mutter, wie intensiv sie sich um ihre Familie kümmert und schon immer gekümmert hat. Vivian findet es einfach phänomenal und wundert sich, woher ihre Mutter die Kraft nimmt. Mit 55 ist sie 26 Jahre älter als Vivian, aber es scheint als hätte sie weitaus mehr Energie als sie. Wie gerne würde sie das alles auch mit so einer Eleganz bewältigen. Eine zauberhafte Ehe und das nach 34 Jahren, ein florierendes Geschäft, Zeit für Kinder und Enkelkinder und immer gut gelaunt.
Vivian sitzt an ihrem Schreibtisch und blickt ins Leere. Sie ist umgeben von klingelnden Telefonen, Stimmen die sich unterhalten und Geklimper auf Tastaturen. Auf ihrem Monitor erscheint eine Meldung: 34 ungelesene Nachrichten in ihrem Posteingang. Sie sitzt kurz regungslos da, nimmt dann den Hörer in die Hand und ruft ihre Mutter an. Als sie ihr die Lage erklärt, stöhnt ihre Mutter ins Telefon. „Ach nein, nicht schon wieder. Das hatten wir doch erst letzten Monat.“ Aus dem Stöhnen wird ein Schimpfen. „Das muss doch mal ein Ende haben. Wir können nicht schon wieder die ganze Wohnung reinigen und alles Waschbare durch die Waschmaschine jagen.“
Vivian hört sich alles an und antwortet: „Mama, es nützt jetzt alles nichts. Kannst du David und Sarah abholen oder nicht?“
„Kind, mach du nur das Nötige auf der Arbeit fertig und komm dann nach Hause. Ich kümmere mich schon um die beiden.“
Erleichtert, aber auch mit einem schlechten Gewissen, beendet Vivian das Gespräch mit einem Danke und fängt an ihre E-Mails zu bearbeiten.
Als Vivian nach dem noch anstrengenden Nachmittag nach Hause fährt, denkt sie, sie würde sich am liebsten sofort ins Bett verkriechen und erst in einer Woche wieder heraus kommen wollen. Aber sie weiß, was sie zu Hause erwartet. Zwei Kinder, die entweder noch voller Energie sind, oder schon derartig ausgepowert, dass sie nur noch quengeln. Während sie Megan, wie sie ihr Auto liebevoll nennt, nach Hause fährt, blickt sie starr auf die Straße. Doch als sie hinter einem Bus an einer roten Ampel stehen bleiben muss, sieht sie ein paar Kinder auf der letzten Bank des Busses sitzen, die sich zu ihr umdrehen und ihr zuwinken. Sie freut sich und winkt strahlend zurück. Selbst als der Bus weiterfährt und sie hinter ihm herfährt, winkt sie noch einige Male.
Zu Hause angekommen, parkt Vivian vor dem Zweifamilienhaus, das sie zusammen mit ihrer Familie und ihren Eltern bewohnt. In diesem Haus ist sie aufgewachsen. Hier in diesem ländlichen Stadtteil von Frankfurt. An diesem Ort herrscht noch Ruhe und Frieden. Kinder können noch auf der Straße spielen oder im naheliegenden Feld nach Mäuselöchern suchen. Für Vivian ist dieser Ort perfekt. Idyllisch ruhig und zugleich nahe am pulsierenden Leben der Großstadt.
Zuerst schließt sie die Wohnung ihrer Eltern auf, die sich im Parterre befindet, um zu sehen, ob Ihre Mutter mit den Kindern dort ist. Nachdem sie nur von Tweety, dem Yorkshire Terrier ihrer Eltern, bellend begrüßt wird, geht sie die Treppen nach oben zu Ihrer Wohnung. Dort hört sie schon an der Haustür die Stimmen der Kinder, die sich scheinbar wegen irgendetwas in den Haaren haben. Als sie durch die Tür direkt in die Küche tritt, kommt Sarah direkt auf sie zugerannt.
„Mama, Mama, der David macht mir immer meine Legotürme kaputt!“
„Hallo, mein Schätzchen“, begrüßt Vivian ihre Tochter, zieht sie an sich und gibt ihr einen Kuss auf den Kopf. „Dann musst du eben in deinem Zimmer mit den Legos spielen.“
„Ich will aber auch bei der Oma in der Nähe sein.“
Da kommt auch schon Vivians Mutter aus dem Wohnzimmer in die Küche. „Na Vivian, hast du alles erledigen können?“
„Ja. Danke Mama, dass du mir, wie immer, so geholfen hast.“
„Also, ich habe keine Läuse in den Haaren der Kinder entdecken können. Da hat wohl eine kleine Fliege auf dem Kopf gesessen und die Damen damit gleich in Panik versetzt.“
„Ja, sie sind sehr übervorsichtig, das stimmt. Da ich ja noch das Anti-Läuse-Shampoo vom letzten Mal im Haus habe, werde ich es ihnen trotzdem zur Sicherheit heute beim Baden verabreichen. Ich bin aber schon froh, dass ich nicht wieder die ganze Wohnung reinigen muss.“
„Gut, mach was du denkst, ich gehe jetzt runter. Dein Vater kommt auch gleich nach Hause und er hat bestimmt Hunger. Im Büro warten auch noch Rechnungen, die geschrieben werden müssen, und ein paar Telefonate wollte ich eigentlich auch noch führen. Aber hier kommt man ja zu nichts.“
„Ich weiß Mama, ich bin dir auch sehr dankbar“, meint Vivian aufrichtig.
Energisch klemmt sich Lena eine Strähne ihrer blonden Haare hinters Ohr, greift nach ihrem Schlüssel und geht. Man kann ihre Schritte auf der silbernen Eisentreppe bis nach unten hören.
Vivian ist gerade dabei ihren Mantel auszuziehen, da kommt ihr auch schon David quietschend entgegen gerannt.
„Hallo, mein Schatz“, begrüßt sie ihn. „Ich ziehe mich erst mal um. Dann komme ich wieder und schaue mir mal eure Haare an“, erklärt sie ihm, während sie in der Hocke sitzt, um mit ihm auf gleicher Augenhöhe zu sein.
Schnell geht sie ins Schlafzimmer, um sich eine bequeme Jeans und ein T-Shirt anzuziehen. Danach geht sie zu den Kindern. Zentimeter für Zentimeter kontrolliert sie die Kopfhaut und Haare ihrer Sprösslinge. Sie kann aber nichts entdecken. Die haben wirklich wieder einen Wind um nichts gemacht, schimpft sie innerlich.
David holt ein Puzzle aus seinem Zimmer und rennt freudestrahlend auf Vivian zu. Eigentlich müsste sie die Wäsche aus dem Trockner holen, eine neue Waschmaschine starten und die Küche aufräumen. Und das alles bevor sie mit der Zubereitung des Abendessens beginnt. Doch sie sieht in die leuchtenden Augen und kann nicht anders, als sich zu ihm auf den Boden zu setzen. Sarah ist in ihrem Zimmer, hinter verschlossener Tür, verschwunden.
Nachdem Vivian eine Weile mit David gespielt hat, er nun in sein Zimmer geht, um ein Bild zu malen, wagt sie sich in die Küche. Als sie auf die Uhr sieht, bekommt sie einen Schreck: 18.30 Uhr. Jetzt wird es aber Zeit, das Abendessen vorzubereiten. Sie holt die Zutaten für die Eierpfannkuchen aus dem Schrank, die sie den Kindern morgens versprochen hatte, wenn sie sich artig waschen und anziehen lassen. Nachdem die Pfanne heiß genug ist, backt sie den ersten Pfannkuchen. Zwischenzeitlich deckt sie den Tisch und ruft die Kinder. Sarah kommt sofort mit freudiger Miene, doch David ist nicht in Sicht. Sie ruft erneut, doch er scheint lieber weiter an seinem Bild malen zu wollen. Vivian lässt die heiße Pfanne auf dem Herd stehen, während sie in sein Zimmer stapft. Als sie mit David unterm Arm, der sich lautstark mit Händen und Füßen wehrt, zurück in die Küche kommt, sieht sie Rauch aus der Pfanne aufsteigen.
„So ein Mist!“ Blitzartig lässt Vivian David auf den Fußboden runter, nimmt die Pfanne vom Herd und schmeißt sie in die Spüle. „Jetzt setzt dich bitte hin David, bevor hier noch ein Unglück passiert.“ Ehrfürchtig klettert David auf seinen Stuhl. Während Vivian den schwarzen Teig aus der Pfanne kratzt, tritt Sarah David unter dem Tisch gegen sein Schienbein. Er fängt sofort an zu weinen. Vivian gibt einen kräftigen Schrei von sich und befiehlt beiden sich jetzt ruhig und ordentlich an den Tisch zu setzen. Stillschweigend und mit großen Augen sehen sie ihre Mutter an. Vivian dreht sich zur Pfanne und ist so mit dem Rücken zu den Kindern gerichtet. Sie atmet tief durch und sagt: „Entschuldigt ihr beiden. Ich wollte nicht so laut werden. Seid einfach lieb. Ich mach euch jetzt einen leckeren Pfannkuchen, ok?“
Beide nicken.
Als die Pfannkuchen fertig sind, schmiert sich Sarah ganz viel Nutella darauf, dass man sich fragt, welche Schicht nun dicker ist. Die des Teiges oder die der Nutella. Für David schneidet Vivian den Teig in kleine Stücke und gibt ihm den Teller mit einem kleinen Gäbelchen. Freudestrahlend nimmt er die erste Gabel, mit der er sich prompt das ganze Kinn voller Nutella schmiert. Vivian muss schmunzeln als sie die beiden betrachtet.
Vivian backt noch zwei weitere Pfannkuchen und setzt sich dann zu den beiden. Sie lässt Sarah von ihrem Tag erzählen und das tut sie auch freudig. Sie erzählt vom Kindergarten, mit welchen Freundinnen sie gespielt hat, und welche Jungs sie geärgert haben. Als die beiden mit dem Essen fertig sind, sagt Vivian: „Ihr geht jetzt noch ein paar Minuten spielen, während ich für euch das Badewasser einlasse.“
Sie räumt noch schnell den Tisch ab und geht ins Badezimmer, um die Wanne zu füllen und die Nachtwäsche zu recht zu legen. Als das Wasser fast fertig eingelaufen ist, ruft Vivian nach den beiden. Sie kommen auch sofort freudestrahlend ins Badezimmer gerannt. Sie führen einen Wettkampf durch, wer von ihnen am schnellsten ausgezogen ist und klettern in die Badewanne. Einen Moment setzt sich Vivian auf den Wannenrand und betrachtet die beiden mit einem Lächeln. Als die zwei sie allerdings nass spritzen, nutzt sie die Gelegenheit und holt sich einen Korb Wäsche, der zusammen gelegt werden muss. Anschließend wäscht sie den beiden – unter großem Geschrei – die Haare und macht sie Bettfertig.
Als sie die beiden anzieht, hört sie Schritte auf der Außentreppe. Niklas kommt nach Hause. Oh je, da kann ich mir ja wieder was anhören, weiß Vivian. Es tönt auch schon aus der Küche:
„Wie sieht es denn hier aus?“ Niklas kommt ins Badezimmer und schaut entsetzt. „Ihr seid ja noch gar nicht im Bett.“
Vivian geht gleich in die Verteidigungsposition „Wie du siehst sind sie kurz davor. Außerdem ist es doch schön, wenn sie ihren Vater auch mal unter der Woche zu Gesicht bekommen!“
Niklas brummelt noch irgendetwas vor sich hin - Vivian ignoriert ihn einfach. Sie bringt die beiden ins Bett und liest ihnen jeweils eine Gute Nacht Geschichte vor. Als sie zurück ins Wohnzimmer kommt, sieht sie, wie Niklas das Spielzeugchaos beseitigt. „Wann lernen die beiden denn mal in ihren Zimmer zu spielen und ihr Zeug auch dort zu lassen?!“
Ohne darauf zu antworten geht Vivian in die Küche.
„Was gibt es denn zu essen? Ich habe heute noch nichts gegessen“, ruft Niklas hinter ihr her.
So wie du dich aufführst, dürfte ich dir eigentlich gar nichts zu essen machen. Außerdem bin ich auch total fertig und wer kocht mir etwas?, denkt sich Vivian. Sie antwortet stattdessen, „Nudeln.“ Sie wartet auf die Widerworte, weil sie weiß, dass Nudeln nicht zu Niklas Lieblingsessen gehören, aber komischerweise kommt nichts. Stillschweigend bereitet sie das Essen vor und hört wie Niklas den Fernseher im Wohnzimmer einschaltet.
Als sie beim Essen beieinander sitzen, ist Niklas sehr schweigsam. Vivian beobachtet ihn, aber ihm fällt es nicht auf, da er gedankenverloren die Nudeln von rechts nach links auf seinem Teller schiebt.
„Wie war denn dein Tag?“, unterbricht Vivian das Schweigen.
„Es geht“, antwortet er kurz und knapp, ohne von seinem Teller auf zublicken.
„Meine Präsentation lief übrigens ganz gut, falls es dich interessiert“, schießt es aus ihr heraus.
„Ach ja, schön. Hast du Erfolg gehabt, ja?“, nun schaut Niklas ihr in die Augen.
„Ja, ich glaube ich kann zufrieden sein. Herr Lehmann war wie immer er selbst, aber trotzdem lief es sehr gut.“
Niklas nickt nur, lächelt sie freundlich an und widmet seine Aufmerksamkeit wieder seinem Essen.
„Und wie läuft dein internationales Projekt? Kommst du gut voran?“
„Ich komme überhaupt nicht voran“ poltert es aus ihm heraus, „die Abteilungen führen wieder mal einen politischen Krieg. Es ist sehr frustrierend. Erst werden alle Stufen abgesegnet, doch jetzt wo es an die Umsetzung gehen soll, werden noch zusätzliche Punkte zwingender Maßen gewünscht. Nur diese Punkte können einfach nicht implementiert werden. Deswegen ist die ganze Sache wieder beim Vorstand gelandet. Das heißt im Klartext, wir stehen wieder am Anfang.“
Vivian fragt sich, warum er ihr nicht mehr von seiner Arbeit bei der Bank erzählt. Sie will ihn ansprechen, aber da er seinen Blick wieder von ihr abgewendet hat, isst sie still weiter. Warum vertraut er sich ihr nicht mehr an? Wo sind die Abende geblieben, an denen sie gemeinsam am Tisch saßen, Wein tranken, redeten und lachten? Wann haben sie zum letzten Mal ein Spiel zusammen gespielt, so wie sie es häufig machten? Wohin ist der liebevolle Vater gegangen, der ausgiebig seine Kinder geherzt und geküsst hatte? Der mit ihnen alleine etwas unternahm und sie nicht vor dem Fernseher parkt, so wie er es heute tut?
Nach dem Essen geht Niklas geradewegs auf die Couch und schaltet den Fernseher wieder ein. Vivian kümmert sich um den Abwasch, die Wäsche, das Online-Banking und sonstige Dinge, zu denen sie tagsüber nicht kommt. Sie sagt sich immer zu, die Beziehung wird wieder besser, wenn die Kinder größer sind. Das ist auch Niklas Kommentar, wenn sie ihn darauf anspricht, dass es so zwischen den beiden einfach nicht weitergehen kann. Aber wie lange soll das noch gehen? Wie lange hält das eine Beziehung aus?, fragt sich Vivian immer wieder. Doch was ist die Alternative? Ihn verlassen? Alleine die beiden Kinder groß ziehen? Ohne ihren Vater? Das will Vivian auf gar keinen Fall! Sie weiß genau, dass die Kinder ihren Vater über alles lieben und das gilt auch im Umkehrschluss für Niklas. Auch wenn er es derzeit leider nicht zeigen kann.
Nachdem sie alles Nötige erledigt hat, geht Vivian ins Arbeitszimmer und ruft ihre beste Freundin in Los Angeles an. Vivian kennt Pelagia von ihrer gemeinsamen Studienzeit.
Pelagia, die mit 18 Jahren von einer kleinen griechischen Insel nach Deutschland kam und mittlerweile schon mehr als drei Jahre mit ihrem Mann in Los Angeles lebt, ist Vivians engste Vertraute. Sie telefonieren mindestens einmal die Woche, schicken sich Emails und sehen sich mindestens einmal pro Jahr.
„Vivian, ich wollte dich auch heute anrufen“, schießt die laute Stimme aus dem Hörer. „Es steht jetzt fest. Ich komme mit Matula und Demitris in zwei Wochen nach Hydra. Wir bleiben sechs Wochen und feiern im August, genau drei Tage nach meinem 30igsten Geburtstag, die Taufe von Demitris. Du musst kommen. Du willst schon so lange meine Heimat kennen lernen, das ist die beste Gelegenheit.“
„Pelagia, wie stellst du dir das vor? Wir haben jetzt Ende Juni, wie soll ich bitte so kurzfristig Urlaub bekommen und meine Kinder unterbringen? Niklas wird sich bestimmt nicht Urlaub nehmen, um eine Woche lang alleine auf die Kinder aufzupassen. Meine Mutter will ich auch nicht fragen, weil ich sie sowieso dauernd in Beschlag nehme.“ Vivian stöhnt. „Warum macht ihr Griechen alles immer so kurzfristig? Hast du schon mal etwas von einer mittelfristigen Planung gehört?“
Pelagia muss lachen. „Da spricht wieder die Deutsche in dir. Alles planen bis ins Detail, am besten schon Jahre im Voraus. Tut mir leid, so geht das nun mal bei uns nicht. Ich bin froh, dass ich Aram überreden konnte, mit den Kindern fliegen zu dürfen. Ich habe mit meinem Bruder ausgemacht, die Taufe in seinem Restaurant zu feiern. Mit dem Pfarrer habe ich auch schon gesprochen. Er hat die Taufe fest eingeplant. Wer weiß, wann ich danach wieder nach Europa kommen kann. Ich habe doch geplant ab Herbst arbeiten zu gehen. Dann gibt es erst mal keinen Urlaub. Du kennst doch Amerika und weißt wie das hier läuft. Also, bist du nun dabei oder nicht?“
Vivian muss erst mal die Flut an Informationen aufnehmen. Natürlich würde sie gern dabei sein. Aber wie soll sie das machen? „Pelagia, ich kann dir jetzt keine Antwort geben. Natürlich wäre ich gerne kommen. Du weißt genau, wie sehr ich mich freuen würde dich wiedersehen und endlich deine Heimat kennen lernen zu können“, gibt Vivian zu. „Gib mir ein paar Tage Zeit darüber nach zu denken. Ich melde mich wieder bei dir.“
Vivian verbringt noch einige Zeit im Internet, um ein paar Sachen zu erledigen. Unter anderem prüft sie die Flugmöglichkeiten nach Athen. Es würde ihr so gut tun, mal Abstand zu bekommen. Einfach mal raus aus allem. Aber sie kann nicht einfach die Koffer packen und gehen. Sie wird gebraucht.
Als Vivian die Treppe herunter ins Wohnzimmer kommt, sieht sie, dass die Couch leer ist. Sie macht die kleinen Lichter auf dem weißen Holzregal aus, schüttelt die Kissen des Sofas aus, auf dem Niklas gelegen hat, schaut noch mal in die Kinderzimmer und geht dann ebenfalls ins Bett. Wach liegt sie neben ihren Ehemann, der mit dem Rücken zu ihr gedreht ist und schläft.