Читать книгу Das Geheimnis der Schatten II - Viktoria Vulpini - Страница 7
ОглавлениеKapitel 1
Vanessa trat hinaus auf den großen mit Kies bedeckten Platz, der sich vor dem Haus befand. Das letzte Mal hatte sie diese Tür als Gefangene durchschritten. Sie war kaum wirklich bei Bewusstsein gewesen, hatte heftige Schmerzen gehabt und nicht gewusst, was sie hier nun erwarten würde. Auch hatte sie keine Ahnung gehabt, wer die Männer waren, die sie eingefangen und transportiert hatten wie ein wildes Tier. Noch hatte sie große Hoffnungen gehabt, diesen Ort jemals wieder lebend verlassen zu dürfen. Der Gedanke ließ ihr eine Gänsehaut über ihren Körper laufen und es schien ihr irgendwie unglaublich, dass dies alles erst ein paar Tage her sein sollte.
Etwas mühsam holte sie ihre Gedanken zurück in die Gegenwart und blickte hinüber zu den Männern, die dort gerade allerhand Dinge in die Autos einluden. Luthar, ein breitschultriger Mann mit schwarzem Haar, der in seinen Lederklamotten aussah, als käme er gerade von einem Treffen der Hells Angels, war gerade damit beschäftigt, eine Schrotflinte im Kofferraum des Wagens zu verstauen. Dieser Anblick erschien ihr so surreal, dass sie leicht den Kopf schüttelte und sich einmal mehr fragte, ob es wirklich eine clevere Idee war, mit dieser Gruppe loszuziehen, von der sie so wenig wusste.
„Das ist ein Türrahmen und kein Steh-drin!”, knurrte eine verärgert klingende Stimme hinter ihr. Mit plötzlich wild klopfendem Herzen trat sie schnell einen Schritt zur Seite und ließ Chris durch. Er trug wieder eine Bundeswehruniform ohne Namen oder Dienstgradschlaufe und warf ihr einen Blick zu, der ihr direkt auch noch das letzte Bisschen Farbe aus dem Gesicht trieb. Mit der Narbe über dem linken Auge, seinen breiten Schultern und seiner unglaublich unfreundlichen Art schüchterte er wohl jeden ein, der ihm begegnete, dachte sie. Zumindest klappte das bei ihr offenbar sehr gut.
Zu ihrer Erleichterung ging er aber mit einem großen Rucksack nur an ihr vorbei und verlud diesen in einem der beiden Autos. Sie hoffte stark, dass sie eine Wahl bei der Auswahl der Fahrzeuge hatte, denn wenn dem so war, würde sie unter keinen Umständen mit dem Kerl in einem Auto sitzen. Vanessa hatte den Eindruck, dass der Kerl irgendein Problem hatte, doch welches war ihr nicht ganz klar. Aus seiner Art konnte man aber deutlich herauslesen, dass er weder sie, noch Ramon sonderlich gut leiden konnte und das war höflich ausgedrückt. Prinzipiell störte sie das aber nicht groß, denn diese Antipathie beruhte auf Gegenseitigkeit, zumindest von ihrer Seite aus. Er hatte sie in jener Nacht, als sie hier angekommen war, über Ramons Zustand belogen, hatte sie mit voller Absicht direkt in ein tiefes, emotionales Loch gestoßen, von der Tatsache, dass er nicht besonders vorsichtig mit ihr umgegangen war, wollte sie gar nicht erst anfangen. In ihren Augen hatte sie mehr als genug gute Gründe, diesen Mann zu verabscheuen.
Ramon, der Venator, über dessen Zustand dieser Mann sie so dermaßen belogen hatte, ein hübscher, junger Mann Mitte zwanzig - ihr fiel gerade in diesem Moment auf, dass sie ihn nie gefragt hatte, wie alt er wirklich war - stand an einem der beiden Autos. Obwohl es ihr mittlerweile wie eine kleine Ewigkeit vorkam, hatte sie Ramon erst vor einigen Wochen kennengelernt. Er hatte sich schwer verletzt in ihrer Scheune einquartiert und sie dort ziemlich erschreckt. Trotzdem war sie irgendwie fasziniert von diesem Mann. Es erschien ihr immer noch wie reine Magie, dass er es geschafft hatte sich so schnell von seinen Wunden zu erholen und wie genau er das gemacht hatte war ihr immer noch nicht so ganz schlüssig. Erst vor einigen Tagen, als sie mit der Gruppe zusammengetroffen waren, hatte er wieder ordentlich was einstecken müssen. So viel, dass es wirklich knapp gewesen war. Er war so schwer verletzt gewesen, dass sie sicher gewesen war, er würde es nicht schaffen. Es glich mehr einem Wunder, als irgendetwas sonst, dass er noch lebte und erst recht das er schon wieder so gut aussah. Als ein Sonnenstrahl sich hinter einer besonders fluffig aussehenden weißen Wolke hervorkämpfte und auf sein braunes, leicht wirres Haar fiel, schimmerte dies etwas rötlich. Am liebsten wäre sie zu ihm gegangen und hätte ihre Finger durch sein Haar gleiten lassen, doch sie riss sich zusammen und ignorierte das erwartungsvolle Kribbeln in ihren Fingern. Sie fürchtete, wenn sie dies tun würde, würde sie Chris nur mehr Stoff geben um sie in Grund und Boden zu starren.
Mit Ramon sprach der schwarzhaarige Mann namens Corven. Dieser löste in ihr ein dumpfes Gefühl von Bedrohung aus und sie konnte gut darauf verzichten, in dessen Nähe zu sein. Sein schwarzes, etwa schulterlanges Haar fiel glatt herab und umrahmte ein hellhäutiges, scharf geschnittenes Gesicht in dem dunkle Augen saßen, die den Eindruck machten, als würde kein Gefühl sie je erreichen. Der Blick aus diesen Augen, dass wusste Vanessa aus eigener Erfahrung, war überaus unangenehm und sie bezweifelte, dass es jemandem gab, dem es gelang, diesem Blick standzuhalten. Dieser Mann war unglaublich schwer, einzuschätzen und Vanessa gelang dies absolut überhaupt nicht. Ein kaltes Gefühl überlief sie, als sie an das Verhör dachte und die Art, wie er dies geführt hatte. Er war nicht unbedingt zimperlich gewesen und sie war sich sicher, dass er noch ein erhebliches Stück weiter gegangen wäre, wenn sie sich geweigert hätte, mitzuspielen. Dazu kam, dass dieser unberechenbare Typ angeblich auch noch ein Vampir war. Allein dieses Wort zu denken, sorgte dafür, dass sie sich irgendwie blöd vorkam. Es fiel ihr noch immer unglaublich schwer, das zu glauben, vor allem, da es bisher absolut nichts gab, was auf den Wahrheitsgehalt dieser Aussage hingewiesen hätte. Allerdings fürchtete sie, dass, wenn sie ihre Bedenken in diese Richtung äußerte, er sich womöglich animiert sehen würde, ihr das zu beweisen und das war nun wirklich das Allerletzte, was sie provozieren wollte. Der Gedanke als Abendessen zu enden, noch dazu als Abendessen für ein Wesen, an dessen Existenz sie bis vor einigen wenigen Tagen nicht geglaubt hatte, lies sie all ihre Bedenken einfach herunterschlucken. Es würde sicher noch eine ganze Weile brauchen, bis sie sich endlich soweit an dies alles gewöhnt hatte, dass sie es als normal und vor allem wirklich ansehen konnte. Im Moment hielt sie es noch für durchaus wahrscheinlich, dass sie irgendwann einfach aufwachen und darüber lachen würde, was für einen total irren Traum sie da gehabt hatte. Gut, dies war bisher noch nicht passiert und wenn sie ganz ehrlich wahr, glaubte sie auch nicht daran, dass es noch passieren würde, aber die Zweifel an der Echtheit dessen, was sie erlebte, blieb.
Sie schüttelte leicht den Kopf, um die Gedanken in eine andere Richtung zu lenken, und ihr fiel auf, dass Merlin noch fehlte. Merlin war ein gut aussehender, aber schrecklich arroganter junger Mann, mit schwarzem, kurzem Haar und eher hagerer Gestalt. Die meiste Zeit schien er damit zu verbringen in einem alten, staubigen Wälzer zu lesen. Sie wusste nicht besonders viel über ihn; er war recht wortkarg und schien alle anderen eher als lästig zu empfinden. Natürlich war das nur ihr Eindruck und der konnte täuschen, das wusste sie, aber der herablassende Blick mit dem er sie, aber auch den Rest seiner eigenen Gruppe, gemustert hatte, als sie seine Schutzmaßnahme entdeckt hatte, war ihr nicht entgangen. Sie erschauerte direkt, als sie an den riesigen, hundeähnlichen Schatten dachte, der direkt bei ihm gewesen war. Vor diesem Köter hatte sich so dermaßen erschreckt, dass sie samt des Stuhles, auf dem sie gesessen hatte, nach hinten umgekippt war und damit auch bei allen übrigen Anwesenden direkt eine Art Alarmstimmung ausgelöst hatte. Immer noch war sie darüber erstaunt, wie schnell alle Anwesenden, mit Ausnahme von Ramon und eben Merlin, eine Waffe in der Hand gehabt hatten. Erneut schüttelte sie leicht den Kopf und hoffte stark, dass er dieses Vieh nicht mit auf die Reise nehmen wollte, oder es ihr zumindest nicht noch einmal unter die Augen kam.
Luthar blickte sie an und kam dann auf sie zu. Ein leichtes Lächeln zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Obwohl er wild aussah, schien er ein netter Typ zu sein, vorausgesetzt, man hatte nichts mit einer Vereinigung namens Feuersturm zu tun, oder gehörte einer sogenannten Anlage an. Ihr fiel auf, dass er wieder das Lederband mit dem kleinen, silbernen Mjölnir-Anhänger daran trug. Die Kette war ihr schon bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen und sie fragte sich, in wie weit das wohl eine tiefere Bedeutung haben mochte.
„Du willst doch nicht etwa doch noch kneifen?”, fragte er sie, kaum, dass er sie erreicht hatte. Da es derzeit nicht unbedingt danach aussah, als habe sie da wirklich eine Wahl, schüttelte sie den Kopf. Immer unter der Voraussetzung, dass Corven nicht gelogen hatte oder falschen Informationen aufgesessen war, sah es derzeit so aus, als würde nicht nur diese komische, kleine, goldene Scherbe auf dem Wunschzettel von Feuersturm stehen, sondern sie gleich mit. Zu allem Überfluss schien es so, als wäre sie auch nicht in der Lage die Scherbe loszuwerden, was das Problem, mit dem sie sich konfrontiert sah, nicht unbedingt kleiner machte. Es war ihr ein absolutes Rätsel, was diese Vereinigung eigentlich von ihr wollte, aber sie verspürte kein größeres Bedürfnis, das näher zu erforschen. Der Biker, der ihr Schweigen fehldeutete, versuchte sie direkt mit einem Grinsen aufzumuntern. „Das klappt schon, wir haben schon verrücktere Dinge unternommen.” Seine herzliche Art sorgte dafür, dass sich auch auf ihrem Gesicht ein Grinsen ausbreitete. Sie hatte nicht im Mindesten ein Problem sich vorzustellen, dass diese merkwürdige Truppe nur solche Dinge machte und unter Garantie auch schon einige verrückte Aktionen auf dem Konto hatte. Ob diese Unternehmungen aber so aussichtslos und durchgeknallt waren wie das, was sie nun vorhatten, dass bezweifelte sie doch stark. Nach allem was sie über die verbotenen Orte bisher erfahren hatte, war es ein Selbstmordkommando in diese Gebiete einzudringen, aber genau das war der - in ihren Augen total bescheuerte - Plan. Das Problem an der Sache war, dass es keine Alternativen zu geben schien und so hoffte sie, dort diese komische goldene Scherbe ein für alle Mal loszuwerden. Prinzipiell war ihr das ganz recht, sie hatte, seit sie das Ding in ihrer Scheune gefunden hatte, nichts als Ärger mit dem Teil gehabt. Wäre es nach ihr gegangen, hätten sie das verfluchte Ding einfach eingeschmolzen oder es in irgendeinem See oder Meer versenkt, aber das stand leider auch alles nicht zur Wahl, wie es schien. Zumindest waren sich in einem Punkt alle mehr oder weniger einig: Die Scherbe musste vor dem Zugriff Feuersturms geschützt werden.
In diesem Moment kam Merlin hinter ihr aus dem Haus und begab sich schweigend, mit einem großen Rucksack, zu einem der geparkten Autos und stieg ein, nachdem er diesen verstaut hatte.
Chris stieg zu Merlin in den alten, blauen Mazda und setzte sich dort ans Steuer. Luthar legte ihr kurz die Hand auf den Rücken und ging mit ihr zu dem schwarzen Audi. Ramon und Corven waren noch immer in ein Gespräch vertieft, blickten ihnen beiden aber schließlich entgegen, als sie sich näherten. Ihr wäre es lieber gewesen nicht die Aufmerksamkeit des Vampirs auf sich zu ziehen und sie vermied es dem Mann ins Gesicht zu sehen. Froh darüber, dass er sich wieder seinem Gesprächspartner zuwandte, atmete sie hörbar auf. Luthar grinste, als er es bemerkte, verkniff sich aber jeden Kommentar dazu.
Auf Ramons Gesicht hingegen breitete sich ein warmes Lächeln aus und Vanessa kam nicht umhin, auch zu lächeln. Bis zu dem Moment, wo sie wirklich geglaubt hatte ihn verloren zu haben, hatte sie alles daran gesetzt sich einzureden, dass sie ihn nur mochte. Doch als die Dinge angefangen hatten sich zu überschlagen, sie dachte, ihn nie wieder zu sehen, war ihr klar geworden, dass sie ihn mehr als nur einfach mochte. Obwohl ihr sehr wohl klar war, wie total bescheuert das war, konnte sie nicht viel daran ändern. Derzeit machte es nicht unbedingt den Eindruck, als würde das wirklich längerfristig funktionieren, aber Abstand halten funktionierte, wie sie herausgefunden hatte, auch einfach nicht. Allein der Gedanke an die vielen schönen gemeinsamen Stunden ließ ihr Herz höher schlagen. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass sie von einer Katastrophe in die nächste schlitterte. Aber irgendwann musste auch das einmal ein Ende haben, oder nicht?
Corven war es, der ihren Gedankengang unterbrach, indem er erklärte: „Luthar wird mit euch fahren. Ich fahre mit Chris und Merlin vorweg.” Luthar nickte kurz zustimmend und grinste dann breit. Auch Ramon erhob dagegen keine Einwände und kletterte in den Wagen. Vanessa selbst war darüber mehr als nur erfreut. Sie konnte sehr gut auf Chris, Corven und Merlin verzichten, die ihr, jeder auf eine andere Art, nicht wirklich eine angenehme Gesellschaft waren. Ihr Blick fiel auf den Wagen, in den Ramon gerade eingestiegen war. In der hinteren Seitenscheibe konnte sie sich selbst etwas unklar erkennen. Ihre langen, blonden Haare waren ungebändigt und wirkten seltsam matt. Unter ihren Augen lagen dunkle Ränder, die sie in einer solchen Intensität nur manchmal gehabt hatte, wenn sie die ganze Nacht verzweifelt vor sich hin schluchzend auf den neuen Morgen gewartet hatte. Es war keine schöne Erinnerung, die das auslöste und so schüttelte sie sie schnell ab. Ein letzter kurzer Blick zeigte ihr, dass sie irgendwie hager und ausgemergelt wirkte, fast schon kränklich. Sie wusste, dass es nicht ganz so schlimm war, aber sie sah derzeit wirklich nicht gut aus. Die Strapazen der letzten Tage hatten deutliche, wenn auch nicht ganz so starke, Spuren hinterlassen. Sie wischte den Anblick beiseite und stieg ein. Sie hatten es sich beide auf der Rückbank des Autos bequem gemacht und sie konnte Corven beobachten, der zu dem Mazda ging und sich dort auf den Beifahrersitz neben Chris setzte.
Ihr Blick wanderte noch einmal hinüber zu dem Haus, welches sie nun das erste Mal richtig wahrnahm. Es war zwei stöckig und hatte eine äußerst gepflegt wirkende, schneeweiße Fassade. Die Fenster waren moderne Doppelverglasungen, die sauber und ordentlich aussahen. Alles erschien absolut makellos und sie war sich sicher, dass das Haus wohl erst vor kurzem frisch gestrichen worden war. Obwohl sie mit diesem Haus nicht nur gute Erinnerungen verband, wurde ihr doch ein wenig schwer ums Herz, denn sie ahnte, dass sie dieses Haus vermutlich nie wieder sehen würde. Diese Unsicherheit, die sich zunehmend in ihrem Leben breitmachte, schürte in ihr eine diffuse Angst vor der Zukunft, die ihr so ungewiss und unvorhersehbar wie noch niemals zuvor in ihrem Leben erschien.
Bevor ihre Gedanken weiter in diese Richtung abrutschen konnten, spürte sie, wie Ramons Hand, die ihre ergriff und diese leicht drückte, dann verschränkten sich beinahe wie von selbst ihre Finger miteinander. Einem Instinkt folgend nutzte sie diese kleine Geste, um sich direkt bei ihm anzulehnen. Sie atmete tief ein und genoss die Nähe, die ihre trüben Emotionen aussperrte. Für einen Moment schloss sie die Augen und kostete dieses Gefühl aus. Als sie ihre Lider wieder hob, blickte sie Luthar über den Rückspiegel hinweg an. Ein amüsiertes Lächeln lag auf seinen Lippen, dass sich auch in seinen Augen widerspiegelte. Den Hof hinter sich lassend, ging es vorbei an einzelnen Bäumen, die am Straßenrand wuchsen, vorbei an weiten Feldern, auf denen sich bereits das erste zarte Grün in diesem Jahr zeigte.
Luthar stellte das Radio an und beschwerte sich prompt darüber, dass es kaum vernünftige Radiosender geben würde. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, doch sie sagte dazu nichts weiter und schaute wie Ramon aus dem Fenster. An ihnen zog Feld um Feld und Dorf um Dorf vorbei. Hin und wieder kamen sie durch eine größere Stadt und schließlich erreichten sie die Autobahn, auf der sie weiter nach Osten fuhren. Von ihrer Umgebung nahm sie nicht viel wahr, zu sehr hing sie ihren eigenen Gedanken nach.
„Och nee!” Luthars genervt klingende Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
„Was ist denn los?”, fragte Ramon, der ebenso wie Vanessa aus seinen Gedanken hochgeschreckt war.
„Stau.” Mehr brauchte er nicht sagen und Vanessa sah, was er meinte. Die Straße, die sich wie ein Band vor ihnen erstreckte und in einiger Entfernung an der Seite eines Hügels hinauflief, war bis zu dessen Kamm voll von stehenden Autos. Nichts schien mehr zu gehen. Was genau den Stau verursachte, musste sich irgendwo hinter dem Scheitel des Hügels und damit außer Sichtweite befinden. Vanessa seufzte, sie hatte es zwar absolut nicht eilig, aber im Stau stehen war nun auch nicht unbedingt das, was sie sich gewünscht hatte. Der Wagen hielt nun an und sie konnte sehen, wie sich Luthar zurücklehnte und dann einen anderen Sender einstellte, von dem sie nur Minuten später von dem Unfall erfuhren, der irgendwo vor ihnen stattgefunden haben musste. Man riet den Autofahrern diese Stelle möglichst zu umfahren. Dummerweise brachte sie dieser Hinweis nicht mehr weiter, denn zwischen ihnen und dem Unfall gab es keine weitere Abfahrt mehr.
Vanessa richtete den Blick wieder zum Fenster hinaus in den Wald, der sich jenseits der Leitplanke erstreckte. Hohe Nadelbäume und hin und wieder ein Laubbaum, an denen sich das erste zaghafte Grün zeigte. Sie wäre dort gern ein wenig spazieren gegangen. Einfach nur um ein wenig abzuschalten und wieder auf den Boden der Normalität zurückzufinden. Seufzend sah sie ein, dass das aber wohl derzeit nicht klappte. Immer mal wieder rollte das Auto ein wenig an, nur um dann wieder zu halten.
„Hier hängen wir einige Stunden fest, wie es aussieht”, stellte Ramon nach einer Weile fest. Das Unbehagen war ihm deutlich anzumerken und auch das zustimmende Grunzen von Luthar klang nicht unbedingt, als wäre das gut. Diese Reaktion der beiden Männer machte Vanessa unsicher. Sie dachte darüber nach, ob der Stau wohl etwas Natürliches war, oder ob es sich dabei um etwas handelte, dass von ihren Verfolgern initiiert wurde. Doch sie verwarf den Gedanken daran schnell wieder. Woher in aller Welt sollten die wissen, wo sie gerade waren, oder gar wohin sie wollten?
Die Zeit verging nur schleppend. Träge wälzte sich die Autoschlange dahin. Sie standen nun schon seit gut einer Stunde hier im Stau, als Vanessa ein merkwürdiges, schleifendes, schabendes Geräusch vernahm. Sie richtete sich auf und sah sich um. Sofort ruhte auf ihr auch Ramons Aufmerksamkeit. „Was ist los?”
Vanessa zuckte leicht mit den Schultern. „Ich weiß es nicht genau, ich dachte, ich hätte etwas gehört, aber ich sehe nichts.” Normalerweise wäre sie ja froh gewesen, nichts zu sehen, doch im Moment machte es das nur unangenehmer. Vielleicht hatte sie es sich auch nur eingebildet, nach allem, was passiert war, hielt sie das durchaus für möglich. Doch dann war es wieder da. Das Geräusch war ganz deutlich zu hören. Es war ihr allerdings vollkommen unmöglich zu sagen, aus welcher Richtung es gekommen war. Aufgekratzt und mit mittlerweile wild pochendem Herzen schaute sie sich um, doch es blieb alles unverändert. Links neben ihr standen Autos, vor ihr lief die Straße den Hügel hinauf und zu ihrer Rechten war immer noch Wald zu sehen.
„Was hast du denn genau gehört?”, fragte Ramon nach einem Moment noch einmal nach und Vanessa bemühte sich, das Geräusch möglichst präzise zu beschreiben.
Geschlagene zehn Minuten starrte sie in Richtung Wald, doch es geschah nichts. Weder konnte sie etwas sehen, noch wiederholte sich das Geräusch. Dieses angespannte Warten war das reinste Gift für ihre Nerven und sie musste erkennen, dass etwas zu sehen schlimm war, doch etwas nur zu hören und dann zu warten, was da wohl kommen mochte, noch viel schlimmer war. Nervös spielte sie an ihren Fingern, während ihr deutlich bewusst war, dass Ramons und auch Luthars Aufmerksamkeit noch auf ihr lagen und sie die beiden auch versuchte auf dem Laufenden zu halten, doch viel zu erzählen hatte sie nicht.
Stück für Stück schob sich die Autokolonne den Hang hinauf. Luthar trommelte gelangweilt auf dem Lenkrad herum. Die ganze Zeit über blieb eine gewisse Anspannung erhalten. Als sie nach fast vier Stunden endlich die Unfallstelle passierten, war Vanessa unglaublich erleichtert. Was auch immer das Geräusch ausgelöst haben mochte, es schien nichts weiter zu bedeuten zu haben. Vielleicht war es auch einfach nur ein Zufall gewesen, aber selbst wenn nicht, mit dem Geräusch allein war einfach nicht viel anzufangen.
Alle atmeten auf, als sie endlich wieder Gas geben konnten. Doch nur zwanzig Minuten nach dem Stauende klingelte das Telefon. Luthar ging dran. Er machte sich nicht die Mühe anzuhalten. Sie hörte nur seinen Teil des Gesprächs, das aus kurzen Antworten bestand und genau null darüber aussagte, wer angerufen hatte oder weswegen. Etwas fasziniert über diese Tatsache wartete sie ab.
„Wir treffen die anderen heute Abend erst wieder, die haben Probleme mit dem Auto. Ich habe die Adresse einer Herberge nahe der Grenze.” Luthar klang gar nicht begeistert, als er ihnen das mitteilte.
„Das geht ja schon richtig gut los”, nuschelte Vanessa sich in den nicht vorhandenen Bart und Ramon lachte daraufhin leise. Auch Luthar nickte nur zustimmend und gab ihr Recht. Alle schienen darüber nicht wirklich begeistert zu sein.
Immerhin - und zu Vanessas großer Freude - verlief der Rest der Fahrt für sie absolut ruhig und ereignislos. Zwar hatten sie noch einmal die zweifelhafte Ehre in stockenden Verkehr zu geraten, doch auch diesen Spuk hatten sie zehn Minuten später schon wieder hinter sich gelassen und so konnten sie recht zügig weiter nach Osten fahren.
Die Sonne war schon untergegangen und es war schon dunkel, als sie endlich die abgesprochene Herberge erreichten. Wenn nichts weiter dazwischen kam, würde der Rest gegen Mitternacht auch endlich hier eintreffen, zumindest war so der letzte Stand der Dinge gewesen. Die grün bemalte Herberge stand etwas außerhalb an einem kleinen Wasserlauf, direkt zwischen Straße und Wald. Die Farbe war schon stark ausgebleicht und an der ein- oder anderen Stelle blätterte sie von der Holzfassade ab und hinterließ Stellen, die aussahen, als habe etwas Großes an ihnen genagt. Vanessa schüttelte den Kopf, um diesen merkwürdigen Gedanken loszuwerden, und fragte sich ernsthaft, wie sie auf so einen Vergleich kam.
Über die Inneneinrichtung konnte man nicht meckern, wie sie schnell bemerkten. Die Zimmer waren tadellos: Sauber und behaglich eingerichtet. Da sie nicht vorhatten, sich hier länger als unbedingt nötig aufzuhalten, hatten sie für diese Nacht nur ein Doppelzimmer gemietet. Das hatte der etwas untersetzten Dame am Empfang, mit den gefärbten rotbraunen Haaren und den schrecklich aufdringlich wirkenden knallroten Fingernägeln, die ein paar Zentimeter zu lang waren, nicht wirklich gepasst. Doch sie hatte diesbezüglich nichts gesagt und Vanessa war sich ganz sicher, dass der Grund hierfür einzig und allein bei Luthar zu suchen war, der erstaunlich missmutig und übellaunig aus der Wäsche geschaut hatte, zumindest bis zu dem Moment, wo sie mit dem Schlüssel davongegangen waren. Niemand, schon gar nicht diese Dame, würde sich wohl ohne einen verdammt guten Grund mit ihm anlegen, nicht wenn er ein Gesicht zog, als überlege er gerade, wo er genau anfangen sollte, die Einrichtung zu Zahnstochern zu verarbeiten.
Die Vorräte hatten sie - genau wie ihre Rucksäcke - mit in das Zimmer genommen, welches im Erdgeschoss lag. Dort saßen sie nun beieinander und aßen etwas. Luthar hatte ihnen gesagt, dass die theoretische, reine Fahrtzeit nur etwa 20 Stunden betrug. Allerdings hatten sie nur einen Bruchteil von diesen 20 Stunden am heutigen Tag hinter sich gebracht. Der Stau, die Baustellen und die Panne hatten dafür gesorgt, dass sie nicht einmal die tschechische Grenze hinter sich gelassen hatten. Sie hatten somit viel weniger geschafft, als es der ursprüngliche Plan gewesen war. Die Grenze war von hier aus nur wenige Autominuten entfernt und Vanessa war sich nicht sicher, wieso sie nicht ein Hotel hinter der Grenze gewählt hatten. Letztendlich war es ihr aber auch egal, sie war sich ziemlich sicher, dass sich Corven da irgendetwas bei gedacht hatte.
Luthar schaltete den alten Fernseher ein, der tatsächlich nicht flach war, sondern noch eines jener sperrigen Geräte, die man heutzutage immer seltener zu Gesicht bekam und zappte etwas lustlos wirkend durch die Kanäle. Recht schnell musste Vanessa einsehen, dass das Fernsehprogramm mit den Jahren nur schlechter geworden war und teilweise ihre schlimmsten Befürchtungen noch übertraf. Sie selbst hatte keinen eigenen Fernseher mehr und sie erinnerte sich nicht einmal mehr so genau, wann sie das letzte Mal wirklich ferngesehen hatte. Das was sie nun hier sah, zeigte ihr sehr deutlich, wieso sie die Flimmerkiste bisher nicht vermisst hatte und wieso sie sie auch in Zukunft wohl nicht mehr vermissen würde.
Fasziniert sah sie sich gerade eine dieser vollkommen sinnbefreiten Getränkewerbungen an, bei der sie sich wirklich fragte, welche Drogen der Verantwortliche dafür wohl genommen haben musste, um auf so einen haarsträubenden Unsinn zu kommen. Allgemein drängte sich die Frage auf, ob die Getränkehersteller wohl einen Wettbewerb am Laufen hatten, welche Marke wohl die bekloppteste Werbung ausstrahlte. Vollkommen ausgeschlossen war diese Idee sicher nicht, doch Luthar riss sie in genau diesem Moment aus ihren Gedanken. „Und wie viele waren´s bei dir, Ramon?”
Ramon, der auf dem Bett saß, einen Arm um sie gelegt hatte und offenbar vollkommen in Gedanken auf die Mattscheibe gestarrt hatte, wandte seine Aufmerksamkeit nun dem Biker zu und fragte etwas verwirrt nach: „Was genau meinst du?”
Luthar hatte sich in dem Sessel zurückgelehnt, in dem er saß und musterte ihn genau. „Tote. Unfälle, Racheaktionen… wie viele waren´s bisher?” Verwirrt blinzelte Vanessa und fragte sich ernsthaft, ob sie sich gerade verhört hatte. Schockiert stellte sie aber fest, dass er das wirklich gefragt hatte und noch schockierender war die Tatsache, dass es in einem Tonfall passierte, der so normal war, als würde er ihn nach seinen ehemaligen Frauen oder Autos fragen. Dies zeigte einmal mehr, wie unterschiedlich die Welten doch waren, in denen sie offenbar lebten. Gespannt wartete sie nun aber auf Ramons Antwort.
Ganze zwei weitere Werbeclips liefen, die zwar nicht für Getränke waren, aber von der Sinnhaftigkeit jenen in nichts nachstanden, bevor Ramon endlich antwortete: „Einen. Allerdings bin ich mir über dessen Ableben nicht sicher.” Das Bedauern in seiner Stimme war nicht zu überhören und sie konnte spüren, wie er sich bei diesen Worten leicht versteifte. Es war nicht schwer zu bemerken, dass das nichts war, über das er gerne sprach. Ihre Finger strichen beruhigend über seinen Arm und sie lehnte sich ein klein wenig mehr bei ihm an.
Luthar hingegen runzelte die Stirn und wirkte überrascht. Das konnte man auch seiner nächsten Frage deutlich entnehmen. „Wie kommt´s?”
Ramon ließ sich mit einer Antwort wieder etwas Zeit. Schließlich straffte er sich ein wenig. „Ich hatte einen verdammt guten Mentor. Eine der ersten Dinge, die er mir beigebracht hat war, dass Rache nichts bringt. Im ersten Moment mag sie unglaublich befriedigend sein, doch sie macht nichts ungeschehen und sie ändert die Welt auch nicht, sie schafft nichts Gutes. Doch wenn man Pech hat, dann erreicht man das genaue Gegenteil, dann erschafft sie noch mehr Schlechtes; es entsteht eine Spirale aus Hass und Gewalt, die nichts als Tod und Zerstörung zurücklässt.” Die Art, wie er dies sagte, machte deutlich, dass das auch seine feste Überzeugung widerspiegelte. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, denn diese Einstellung empfand sie selbst als völlig richtig. Wieder einmal unterstrich seine Antwort das, was sie von Ramon zu wissen glaubte.
„Wie sieht es mit Unfällen beim Jagen aus?”
Ein weiteres Kopfschütteln von Ramon. „Keine! Zumindest keine mit tödlichem Ausgang. Es gab einen gebrochenen Arm und einmal eine Platzwunde am Kopf, weil die Beute ungünstig gestolpert und gefallen ist. Aber ihr ist nichts weiter passiert.” Bedauern und ein schlechtes Gewissen war aus diesen Worten herauszuhören und das tat ihr leid, was musste Luthar nun auch solche Fragen stellen?
„Und du, Luthar?” Es war eine kleine Herausforderung. Sie fragte zum einen aus reiner Neugier, zum anderen, weil sie nicht verstand, was die dumme Fragerei sollte und wenn sie ehrlich war auch, weil sie wissen wollte, wie er wohl darauf reagieren würde.
Zu ihrer Überraschung zuckte er jedoch nur leicht die Schultern. „Ich bin kein Venator. Also keine Jagdunfälle bei mir. Allerdings heißt das nicht, dass ich eine kurze Liste habe.” Ein Grinsen, welches Vanessa so gar nicht nachvollziehen konnte, breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Ich muss gestehen, dass ich nicht gezählt habe, aber ich vermute, ich komme auf über fünfzig.” Dabei war in seinem Gesicht keine größere Regung zu sehen. Sie wusste genau, dass sie ihn absolut fassungslos anstarrte und er starrte einfach nur unbeeindruckt und ohne auch nur einen Funken von Reue zurück. Für einen winzigen Moment überlegte sie, ob er sie womöglich nur auf den Arm nehmen wollte, doch sie war sich schnell relativ sicher, dass er das wirklich genauso meinte, wie er es sagte. Sie musste schlucken. „Jetzt schau nicht so drein!”, lachte er. „Was hast du denn erwartet? Wir befinden uns quasi mitten in einem Krieg und im Krieg sterben Menschen nun einmal. Du oder dein Gegner, eine andere Wahl gibt es oft nicht. Allerdings muss man sagen, dass sie alle bewaffnet waren, jeder Einzelne hatte seine Wahl getroffen und keiner von denen war ein guter Mensch.”
Unsicher ob es das nun besser machte oder nicht, fiel ihr etwas anderes wieder ein. „Was ist mit den Leuten im Wald passiert? Ich meine nachdem…” Sie beendete den Satz nicht.
„Nachdem wir sie erledigt hatten? Nun ein Teil hat euch beide weggebracht, der andere Teil hat sich um die Leichen gekümmert. Du kannst die ja schlecht einfach so rumliegen lassen, das gibt, wenn die Träumer die finden, jedes Mal ein riesen Chaos.” Wieder klang seine Stimme, als würde er über das Normalste der Welt sprechen.
Zwar drängte sich ihr direkt noch die ein- oder andere Frage auf. Vor allem solche, wieso so wenige Leute vermisst wurden, doch ihre Aufmerksamkeit wurde von einem Auto abgelenkt, dass gerade in diesem Moment draußen auf dem Platz vor der Herberge vorfuhr. Luthar, der auch aufmerksam geworden war, trat vorsichtig ans Fenster und spähte hinaus.
„Was die arme Frau wohl denkt, wenn sie mitbekommt, dass du gleich von noch drei weiteren Männern Besuch bekommst?!” Bei diesen Worten warf Luthar Vanessa ein anzügliches Grinsen zu und zwinkerte ihr zu, während Ramon in ein gut gelauntes Lachen ausbrach. Vanessa jedoch spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. Doch nur für einen kurzen Moment, dann hatte sie das Lachen angesteckt. Vor allem, da sie sich nur zu leicht, dass empörte Gesicht der Frau vorstellen konnte.
Es dauerte nur wenige Minuten bevor Chris, Corven und Merlin schließlich auch das Zimmer betraten. Es war nicht zu übersehen, dass sie alle ein wenig genervt wirkten. Offenbar hatten sie sich diese Reise auch etwas anders vorgestellt. Chris und Merlin setzten sich direkt an den kleinen Tisch, auf dem noch die Vorräte standen, und bedienten sich. Corven erkundigte sich unterdessen bei Luthar nach der aktuellen Sachlage, Problemen und irgendwelchen ungewöhnlichen Ereignissen, von denen es aber zum Glück keine gab.
Auch Chris schien noch schlechter gelaunt zu sein, als heute Morgen, was ein echtes Wunder war, denn sie hatte da schon gedacht, schlechtere Laune könnte der Mann nicht mehr bekommen. Er musterte sie und Ramon mit einem Blick, der sie allen Ernstes darüber nachdenken ließ, was in aller Welt sie ihm wohl getan haben mochten. Denn das Problem, dass er mit ihnen beiden hatte, war offenbar eine Nummer größer. Irgendwann, in einer ruhigen Minute, würde sie ihn wohl einmal darauf ansprechen müssen, aber derzeit schien ihr nicht der richtige Moment für dererlei Fragen zu sein.
Mit einiger Mühe ignorierte sie ihn, was vor allem gelang, da er selbst sich gerade um ein Brot kümmerte. Ihr Blick glitt zu Corven hinüber und sie fragte sich, wie er das mit der Ernährung wohl machte. Tiere? Blutbeutel? Seine Kollegen? Unfreiwillige oder gar freiwillige Spender? Hypnose? Die Antwort auf diese Frage würde sie durchaus interessieren, aber sie würde sie unter gar keinen Umständen stellen. Corven war es jederzeit zuzutrauen, dass er solch eine Frage direkt als freiwillige Meldung verstehen würde. Ausgeschlossen war es nicht, dass sie ihm damit womöglich sogar Unrecht tat, aber ihre erste Begegnung saß ihr einfach noch viel zu tief in den Knochen und dazu kam, dass er eine Art an sich hatte, die wohl auch ohne diese Vorgeschichte dafür gesorgt hätte, dass sie in seiner Nähe immer angespannt gewesen wäre. In genau diesem Moment, als habe er ihre Gedanken gehört, drehte er sich zu ihr um. Ihr Herz machte sofort einen erschrockenen Sprung und raste los, während sie sich zwang ihre volle Aufmerksamkeit auf die Werbung zu richten, die schon wieder im Fernsehen lief. Kurz fragte sie sich, ob dies wohl immer noch der alte Werbeblock war, oder schon wieder ein Neuer. Sie musste sich eingestehen, dass sie keine Ahnung hatte und sie bekam von dem Mist auch nicht viel mit, denn ihre Gedanken drehten sich um andere Dinge.
Natürlich war Ramon ihre plötzliche Anspannung nicht entgangen. Er strich ihr behutsam über den Arm und konnte sehen, wie sie sich direkt ein wenig wohler zu fühlen schien. Er sagte nichts dazu, sondern hielt sie nun nur noch ein wenig fester. Dies löste zwar einen ganz leichten Schmerz in ihrer Schulter aus, doch der war ihr im Moment ganz willkommen. Dieser erdete sie irgendwie und verhinderte, dass ihre Gedanken sich gerade ganz verselbstständigten und irgendwelche merkwürdigen Kapriolen schlugen. Obwohl sie genau spürte, dass gerade irgendetwas mit ihr so gar nicht stimmte, entzog sich ihr der Grund doch sehr geschickt.
Das Wenige, das sie von dem Gespräch zwischen Corven und dem Rest wirklich mitbekam, war, dass es neben den Problemen mit ihrem Auto ebenfalls zu einem kleinen Stau und zwei Baustellen gekommen war. Allerdings gab es wohl keine sonstigen Überraschungen. Chris berichtete von einer Drei-Mann-Gruppe Erwachter, die er vor zwei Stunden kurz auf dem Radar hatte, die ihm verdächtig vorgekommen waren, die sie jedoch problemlos hatten hinter sich lassen können.
Schleichend wurde ihre Wahrnehmung immer undeutlicher und sie begann langsam aber sicher immer weiter abzudriften. Eine Art Nebel schien, um sie herum aufzuziehen, der sich immer weiter verdichtete und langsam aber sicher begann, die Worte der Männer und die Geräusche des Fernsehers, irgendwie zu verzerren und hohl klingen zu lassen. Beinahe so, als würde sie nur ein Echo dessen wahrnehmen, was um sie herum geschah. Obwohl ihr das noch nie in einer solch belebten Situation auf diese Art und Weise passiert war, erkannte sie dieses Gefühl. Es war ihr schon früher passiert, immer dann, wenn sie vollkommen entspannt in der Sonne saß oder beim Wandern völlig in Gedanken war. Doch bei diesen Situationen hatte es nur einen entgegenkommenden Spaziergänger, einen Radfahrer oder das Klingeln eines Telefons gebraucht, um sie sie wieder vollständig ins Hier und Jetzt zu bringen. Dieses Gefühl unterschied sich deutlich von dem, was sie empfand, wenn einer der Schatten plötzlich auftauchte, obwohl sie selbst unmöglich sagen konnte, woran das lag, oder auch nur die passenden Worte finden konnte, die beschreiben würden, wo der Unterschied lag.
„Bleiben wir die Nacht hier oder fahren wir direkt weiter?” Es war Merlin, der das gefragt hatte und trotz dieser entrückt wirkenden Wahrnehmung entging ihr der genervte Ton in seiner Stimme dabei nicht. Warum er sie überhaupt begleitete, war ihr ein Rätsel. Chris und Luthar waren dabei, weil sie beide scheinbar ein paar offene Rechnungen mit Feuersturm hatten, Corvens Beweggründe kannte sie nicht und sie hatte nicht einmal eine Idee, was es sein könnte, doch bei Merlin war sie sich ganz sicher, dass er eigentlich kein gesteigertes Interesse an ihr, der Scherbe oder Feuersturm hatte. Was er also nun hier machte, war und blieb ihr ein absolutes Rätsel.
„Bleiben wir hier und nutzen die Chance uns noch ein wenig auszuruhen, ich denke der Zeitpunkt, wo es anstrengend wird, und wir keine Zeit mehr für so etwas haben, kommt früh genug.” Chris´ Stimme klang kühl, als er auf Merlins Frage antwortete. Es war offensichtlich, dass er mit Problemen rechnete und er erinnerte sie an die Aussagen, die Ramon getroffen hatte: Zeit, die es galt sinnvoll zu nutzen. Er war, genau wie Ramon auch, ein Jäger, dass hatte Ramon auf der Fahrt beiläufig erwähnt, als sie im Stau gestanden und mit Luthar über dies und das geredet hatten. Vielleicht war das genau die Art zu leben und zu denken, die man einfach lernte, wenn man erwachte. Wieso hieß es eigentlich erwachen? Sobald sie allein waren, würde sie diese Frage wohl einmal stellen müssen.
„Dann werde ich mich direkt um ein weiteres Zimmer kümmern.” Corven drehte sich bei diesen Worten um, blickte Vanessa einen Moment lang an und ging dann zur Tür, um das Gesagte in die Tat umzusetzen.
Vanessa schüttelte leicht den Kopf in dem Versuch diese merkwürdige Benommenheit abzuschütteln. Doch das Resultat war nur, dass sich alles noch ein Stück weiter zu entfernen schien. Sie atmete tief durch und spürte den vertrauten Druck von Ramons Hand auf ihrem Arm, doch auch das löste in ihr kaum eine nennenswerte Reaktion aus. Viel mehr bemerkte sie nun die Schlieren, die sich am Rand ihres Sichtfeldes durch ihre Sicht zogen. Es kam ihr vor, als würde sie durch eine schlecht geputzte Brille blicken. Sie rieb sich die Augen, doch die Schlieren blieben, wo sie waren. Man sprach sie an, doch auch das bekam sie nur noch am Rande mit. Luthars besorgtes Gesicht schob sich nun in ihr Sichtfeld. Er schnippte mit den Fingern vor ihrem Gesicht und sagte irgendetwas, doch sie schaffte es nicht, sich genug auf ihn zu konzentrieren, um zu verstehen, was er sagte. Alles um sie herum wirkte vollkommen falsch, fremd und irgendwie, als wäre es nicht real.
Ein neuerlicher Schmerz zuckte durch ihren Körper, auch wenn er nicht so extrem schlimm war, als er sie an der verletzten Schulter berührte und sie leicht schüttelte. Doch diesmal wirkte der Schmerz dumpf und ein wenig wie etwas, dass nicht zu ihr gehörte. Sie wandte den Kopf zum Fenster, das in einen schwarzen Abgrund hinauszuführen schien.
Direkt neben diesem Abgrund sah sie es dann. Es war, als würde sich eine Art Nebel verdichten, dunkler werden und schließlich die Form einer humanoiden Gestalt annehmen. Einer Gestalt, die nur aus schwarzem Rauch zu bestehen schien. Jemand schüttelte sie, ihr Kopf wackelte hin und her, trotzdem blieb ihr Blick auf die Gestalt geheftet, die dort stand. Schnell jedoch schien man diese Bemühungen einzustellen. Wie ein fernes Echo drangen Geräusche an ihr Ohr. Fast schien es ihr so, als wäre eine hitzige Diskussion ausgebrochen. Doch dies alles spielte keine wirkliche Rolle. Nicht hier und nicht jetzt.
Nur das Grauen, welches sich in ihr ausbreitete wie eine Lawine, die einmal losgetreten, nicht mehr zu stoppen war, spielte noch eine Rolle. Im gleichen Maße, wie ihr Entsetzen wuchs, wurde auch der Schatten immer plastischer und greifbarer. Gleichzeitig erfasste sie ein Gefühl von Angst. Dieselbe Angst, die sie auf ihrer Flucht verspürt hatte. Völlig erstarrt betrachtete sie den Schatten und es schien ihr beinahe so, als würde der Schatten auch sie betrachten. Dieses Gefühl und die nur sehr geringe Distanz zu der Gestalt waren einfach zu viel. Ungeschickt versuchte sie, nach hinten auszuweichen. Sie schrie auf vor Schreck, als sie erkannte, dass es sich anfühlte, als würden stählerne Fesseln sie an Ort und Stelle halten, deren Herkunft oder Existenz sie bisher nicht einmal bemerkt hatte. Vermutlich hätte sie nur die Blick senken müssen, um zu sehen, was sie hielt, doch dafür hätte sie, die sich immer noch weiter verdichtende Schwärze, aus den Augen lassen müssen und den Mut brachte sie einfach nicht auf.
Ihr Zeitgefühl schien seinen Dienst komplett eingestellt zu haben, denn sie wusste nicht, wie lange sie so da saß. Immer noch wurde die Gestalt aus Schatten dichter und es schien ihr fast so, als wäre schon eine Ewigkeit vergangen. Es war der Eindruck einer drohenden, irgendwie lauernden Gefahr, die sich mit jeder Sekunde, die verstrich, tiefer in ihr Bewusstsein bohrte. Dieses Gefühl hier war anders, es war nicht die reine Angst vor dem Schatten selbst und auch nicht zu vergleichen mit dem merkwürdigen Gefühl, dass sie im Kerker gehabt hatte. Eher war es ein Gefühl, als krieche die Furcht in sie hinein und mit jeder Sekunde wuchsen die Bedrohung, die sie empfand und der Drang einfach davonzurennen. So weit zu rennen, bis das Hotel und dieser Raum kilometerweit von ihr entfernt waren und erst dann wieder stehen zu bleiben. Noch versuchte sie, dieser Eindrücke Herr zu werden, doch da hob der aus schwarzem Rauch geformte Körper plötzlich seinen Arm und deutete auf sie. Das Rauschen ihres eigenen Blutes konnte sie in ihren Ohren hören und es steigerte sich zu einem Tosen und Dröhnen. Wie gelähmt starrte sie den Schatten an, vollkommen unfähig etwas zu tun. Zum Glück, kam das Wesen nicht näher, was zumindest dafür sorgte, dass die Furcht nicht in Panik umschwang. Unglaublich lange schien nichts weiter zu passieren, doch dann wanderte sein Arm und deutete auf etwas anderes. In dieser einfachen Geste, lag etwas unglaublich Forderndes. Trotzdem kostete es sie alles an Willenskraft, das sie aufbieten konnte, um zumindest kurz dem Arm mit den Augen zu folgen.
Erneut setzte ihr Herz für einen Schlag aus. Dort, wo er hinzeigte, war kein Fenster mehr. Es war nur noch ein klaffendes Loch in der Wand, umrahmt von absoluter Finsternis und in diesem Loch sah sie eine Gestalt. Die Gestalt hockte hinter einem Busch, direkt neben einem Baum und das was ihr als erstes auffiel, waren lange schlohweiße Haare, die von einem Zopfgummi locker im Nacken zusammengehalten wurden. Die Gestalt trug schwarze Kleidung und über dem Rücken baumelte eine Art Machete, in einer dafür vorgesehenen Halterung. Doch das war nicht das Einzige, was sie an ihm entdeckte. Am Gürtel hing noch ein weiteres Messer. Ohne sich auch nur ein bisschen zu bewegen, schien dieser Mann, ein Gebäude zu beobachten. Es dauerte einige Atemzüge bis sie begriff, dass er das Hotel beobachtete, in dem sie sich gerade befanden. Es war eine überaus merkwürdige Erkenntnis, dass sie aus dem Zimmer hinaus jemanden von hinten beobachtete, der wiederum eigentlich das Hotel mit dem Zimmer beobachtete. Kalter Schweiß brach ihr dabei aus und lief ihr über den Rücken. Sie wusste nicht so recht, ob es nun daran lag, dass sie beobachtet wurden, oder an dieser total verdrehten Art, wie sie das wahrnahm. Ihr Blick huschte zu dem Schatten, doch dort wo er eben noch gestanden hatte, war nun nichts mehr zu sehen und als sie erneut nach der Gestalt sehen wollte, war an der Stelle nur wieder eine Wand, in der ein Fenster eingelassen war. Erst jetzt nahm sie die anormale Stille wahr, die herrschte. Keine Stimmen waren mehr zu hören und nicht einmal der Fernseher. Sie spürte, wie die Realität wieder greifbarer wurde, wie sie auf sie zu schoss, als hätte sie etwas hinauf katapultiert. Schnell erkannte sie, dass die Stille daher rührte, das niemand auch nur ein Wort sagte und der Fernseher auf stumm geschaltet war. Sie konnte die Blicke der Anwesenden fast auf der Haut fühlen. Ihre Schulter pochte vor sich hin und sie spürte Ramon, der ihre Arme sanft massierte. Immer schneller wurden die Dinge realer und greifbarer, bis sie schließlich den Eindruck hatte, wieder vollkommen Teil dieser Welt zu sein.
Niemand sprach sie an oder drängte sie zu erzählen, was passiert war. Für einen Moment schloss sie einfach erschöpft die Augen. Sie fühlte sich, als habe sie ewig nicht mehr geschlafen. Am liebsten hätte sie die Augen einfach geschlossen gelassen. Doch dann ging ihr das Bild von der Gestalt draußen im Wald durch den Kopf und sie war hellwach.
Sie riss den Kopf herum und sah Corven und Luthar an. Für einen winzigen Moment zögerte sie, es war ihr mehr als nur ein wenig unangenehm, dass alle das mitbekommen hatten, doch dann riss sie sich zusammen. „Da draußen im Wald ist jemand, der uns beobachtet.” Eigentlich erwartete sie, dass man sie nun beruhigte, dass sie sich das nur eingebildet habe, doch die alarmierten Blicke, die die Männer wechselten, sprachen Bände.
Corven wandte sich an Chris, der aber nur den Kopf schüttelte und erklärte: „Nichts, aber das muss nichts heißen. Er könnte getarnt sein oder kein Zeichen besitzen. Ein normaler Mensch vielleicht.”
Es war Merlin, der sich dicht vor ihr auf das Bett setzte. Hätte Ramon nicht direkt hinter ihr gesessen, wäre sie ihm sicher ausgewichen, als er ihr in die Augen sah. „Hast du ihn gesehen?” Die Frage beschwor das Bild der dort hockenden Gestalt direkt wieder hoch. Ihr war eiskalt, obwohl sie nicht so recht wusste, woran das lag. Die Reaktion der Männer, die sie nicht auslachten oder für verrückt hielten, machte ihr Angst, denn das bedeutete wohl nur, dass dort draußen womöglich wirklich jemand saß und sie beobachtete. Das war kein schöner Gedanke, ganz und gar nicht.
Finger schnipsten vor ihrem Gesicht und ein wenig Ärger regte sich in ihr, sie mochte das einfach nicht. Doch es verfehlte sein Ziel nicht. Sofort waren ihre Gedanken wieder bei Merlin, der ihre gerade eine Frage gestellt hatte und sie nickte. „Ja, ich glaube schon.” Es war keine Absicht, dass sie auswich, es fiel ihr nur unglaublich schwer, das einfach alles so hinzunehmen, denn sie verstand nicht wirklich, was gerade passiert war. Sie konnte nicht erklären was sie gesehen oder wieso sie es gesehen hätte.
Merlin verdrehte leicht die Augen, er war nicht unbedingt ein geduldiger Mensch, aber das wusste sie ja bereits. „Beschreibe uns genau, was du gesehen hast.” Es war ein Befehl, der keine Widerrede duldete und offenbar erwartete er, dass sie gehorchte. In jeder anderen Situation, hätte sie ihm allein für den Versuch, sie herumzukommandieren etwas erzählt, doch genau jetzt in diesem Moment, machte sie eine Ausnahme und beugte sich. Wenn auch nur, weil sie es für sinnvoll hielt.
„Da war ein Schatten, der auf das Fenster gezeigt hat und durch das Fenster sah ich eine Gestalt, die im Wald hockte. Ich habe sie nur von hinten gesehen. Weiße, lange Haare im Nacken zusammengebunden. Ein Messer an der Seite und eine Art Machete auf dem Rücken. Er beobachtete das Hotel.”
„Symbole, Namen irgendwas in dem Stil erkannt?” Luthars Stimme klang angespannt und als sie den Kopf umwandte, sah sie, dass er auch genauso aussah. Diese merkwürdige Spannung verschwand auch nicht, als sie den Kopf schüttelte.
Sie lehnte sich an Ramon an, der ihr immer noch über die Arme strich, genoss seine Nähe und versuchte, ihre Angst, ihre Verwirrtheit und dieses schreckliche Unbehagen in den Griff zu bekommen. „Die Gestalt. Ein junger Mann mit weißen Haaren?” Vanessa blickte Corven an und dachte über die Frage nach, bevor sie antwortete. Sie spürte, wie die Stimmung im Raum sich veränderte und die Anspannung noch weiter anstieg.
Schließlich nickte sie zögerlich. „Möglich. Aber ich kann es nicht genau sagen, ich habe die Gestalt nur von hinten gesehen. Kennst du ihn?” Sie musste diese Gegenfrage einfach stellen.
Corven antwortete ihr nicht, sondern tauschte nur einen langen Blick mit Luthar, der schließlich nickte und offenbar aussprach, was beide dachten: „Vielleicht ein Geist.”
Einen Geist hätte sich Vanessa definitiv eher anders vorgestellt, doch noch bevor sie diesbezüglich etwas sagen konnte, dämmerte ihr bereits, dass das vielleicht einfach nur eine Bezeichnung für eine besonders ausgebildete Form von Soldaten oder Ähnliches sein könnte. Eine erwachte SEK-Einheit vielleicht.
Corven nickte bedächtig und gleichzeitig besorgt: „Würde erklären, wieso du ihn nicht wahrnimmst, aber nicht wie er so schnell hier sein konnte.” Diese Aussage war an Chris gerichtet, der wiederum nur angespannt nickte. Schweigen breitete sich im Zimmer aus, während alle über das eben berichtete nachdachten und eine Lösung für dieses neuerlich aufgetauchte Problem suchten.
„Ich vermute”, begann Chris nach einer Weile schließlich, „dass er auf Verstärkung wartet. Vielleicht wäre es nicht die dümmste Idee, ihn auszuschalten und zu verschwinden. Im Moment sollten wir das Überraschungsmoment noch auf unserer Seite haben.” Es klang weniger nach einem ausgereiften Plan, als mehr nach einem Gedanken, den er aussprach. Vanessa blinzelte ein paar Mal und versuchte sich klar darüber zu werden, was genau Chris nun eigentlich vor hatte und ob er wirklich überlegte, den Mann so ohne weiteres anzugreifen und womöglich zu verletzten.
„Vergiss es! Das Überraschungsmoment ist dahin, noch bevor wir den Raum hier verlassen haben.” Verärgert schüttelte Luthar bei diesen Worten den Kopf, offenbar gefiel ihm selbst nicht so wirklich, was er gerade sagte. „Diesen Typen kann man eigentlich nur aus dem Weg gehen. Ein Angriff würde vermutlich nach hinten losgehen.” Die Gewissheit, die dabei in der Stimme mitschwang, ließ sie ahnen, dass er damit wohl schon einige Erfahrungen gesammelt hatte. „So gerne ich dem auch eine Kugel zwischen die Augen jagen würde, wenn es wirklich ein Geist ist, bringt ihn selbst das vermutlich nicht um und kauft uns nur einiges an Problemen ein.” Wieder glaubte sie, sich verhört zu haben und war ein wenig schockiert darüber, dass niemand auch nur im Mindesten so wirkte, als würde das anders gesehen werden.
Obwohl Chris deutlich die Stirn runzelte, sagte er dazu aber nichts weiter. Es war jedoch offensichtlich, dass ihm diese ganze Situation genauso wenig gefiel, wie dem Rest auch. Schließlich sagte er: „Wir können schlecht hier bleiben und abwarten. Es ist nicht auszuschließen, dass er tatsächlich auf Verstärkung wartet.”
„Dann packen wir eben und sehen zu, dass wir hier verschwunden sind, bevor sie eintrifft.” Während Merlin dies sagte, erhob er sich auch schon und ging zu seinem Rucksack hinüber. Seine Stimme hatte bei diesem Vorschlag extrem pragmatisch geklungen. Unterdessen versuchte, sich Vanessa darüber klar zu werden, was wohl damit gemeint war, dass eine Kugel zwischen die Augen den Mann dort draußen womöglich nicht umbringen würde. Konnte es so etwas wirklich geben? Es fiel ihr schwer daran zu glauben, weil diese Idee viel zu fantastisch in ihren Ohren klang.
Alle Blicke richteten sich auf Corven, der Luthar genau in diesem Moment Recht gab. „Einen Kampf sollten wir auf jeden Fall vermeiden, egal wer oder was er nun genau ist.” Sein Blick wanderte weiter zu Merlin. „Kannst du etwas tun, um uns eine Weile zu verbergen?” Neugierig blickte Vanessa zu dem jungen Mann hinüber, der darüber nachzudenken schien.
Luthar wirkte nicht sonderlich geduldig und auch Chris schien Lust zu haben Merlin zu beschleunigen, doch noch bevor die Situation eskalierte, nickte dieser schließlich. „Ich könnte ihn ablenken, allerdings nicht ohne ihn dabei zu schädigen. Ich nehme an, auf solche Befindlichkeiten nehmen wir heute keine Rücksicht?” Dabei klang seine Stimme kühl, als würde ihm das weniger ausmachen, als womöglich dem Rest der Anwesenden.
In Corvens Gesicht konnte man deutlich sehen, dass ihm das nicht gefiel, aber er nickte zustimmend. „Tu was du tun musst, dann verschwinden wir hier.”
„Sollten wir getrennt werden, wo oder wie finden wir einander wieder?”, fragte Ramon, der sehr angespannt aussah.
Erstaunlicherweise schüttelte Luthar nur den Kopf. „Nirgendwo. Wir bleiben zusammen. Du kannst deinen Arsch drauf verwetten, dass die Autos lahmgelegt sind, wir müssen also Querfeldein weiter.” Obwohl sie sich fragte, woher er das so genau wissen wollte, stöhnte sie nur auf. Allein bei dem Gedanken schon wieder im stockfinsteren durch einen Wald zu hetzen, verfolgt von Gott-weiß-wem, sorgte dafür, dass sich ihr der Magen umdrehte. Sie erinnerte sich noch viel zu gut daran, was beim letzten Mal passiert war und sie war überhaupt nicht erpicht darauf, dass zu wiederholen. Nichts davon!
Sie war offenbar nicht die Einzige im Raum, die von diesem Plan nicht wirklich viel hielt. Merlin sah auch aus, als wäre das der dämlichste Plan der letzten hundert Jahre. „Wir sollten versuchen die Autos fit zu bekommen und damit abhauen”, sagte er gereizt klingend.
„Vorausgesetzt die sind nicht alle total inkompetent, ist das ein Unterfangen, das nicht machbar sein dürfte. Nicht in der Zeit, die wir hier haben und nicht mit den zur Verfügung stehenden Mitteln.” Chris klang angespannt, schien sich darüber aber ziemlich sicher zu sein und fuhr direkt fort. „Wenn du deine Nase ab und an mal in ein Buch über weltlichere Themen stecken würdest, wie zum Beispiel eines, über das Unbrauchbar-Machen von Fahrzeugen, wäre dir das sicher bekannt.” Es war nicht zu übersehen, dass die beiden Männer sich wohl nicht sonderlich gut leiden konnten und sie fragte sich, ob es überhaupt einen Menschen auf diesem Planeten gab, der mit Chris klar kam.
Merlin wollte zwar etwas darauf erwidern, doch Corven kam ihm zuvor. „Klärt das später!” Obwohl diese Anweisung ihm ein paar böse Blicke einbrachte, schwiegen die beiden und schienen sich wieder auf das eigentliche Problem zu konzentrieren. Sie selbst rutschte etwas unruhig hin und her und war Ramon, der sie immer noch hielt, unglaublich dankbar.
Für ein paar Minuten herrschte Schweigen. „Gut, dann bleibt es dabei. Merlin schaltet den Kerl aus, so lang wie es machbar ist. Sollte dem dabei das Hirn aus den Ohren laufen, ist mir das auch recht. Wir nutzen die Zeit, verschwinden hinten aus dem Fenster und schlagen uns zur nächsten Stadt durch, besorgen uns neue Autos und sind weg.” Luthars Stimme klang bei den Worten seltsam erregt, beinahe so, als könnte er es gar nicht mehr abwarten, endlich los zu legen. Merlin hatte unterdessen angefangen, in seinem Rucksack zu kramen, der wie sie recht schnell bemerkte, ziemlich vollgestopft wirkte. Schnell fand er offenbar was er suchte: Ein kleines metallenes Kästchen, welches er auf einen Tisch stellte und ein kleines Messer, dass er vorsichtig aus der Scheide zog und es danebenlegte.
Voller Neugier, beugte sich Vanessa ein wenig vor um besser sehen zu können und Corven trat ein Stück zur Seite, nachdem er ihr Interesse mit gerunzelter Stirn wahrgenommen hatte. Das Kästchen war alt und hatte irgendeine verblichene Farbe auf dem Deckel. Für Vanessa sah sie aus, wie eine dieser alten Blechdosen, die man schon mal in Antiquitätenläden sah und deren Nutzen oder Herkunft ihr nicht bekannt war, und sie bisher auch nicht interessiert hatte. Doch das spannende an der Schatulle war definitiv weder das Material, noch das womit sie ehemals einmal verziert gewesen sein mochte. Es war der Inhalt, der Vanessas Aufmerksamkeit fesselte. In dem kleinen Kästchen lagen einige kleine Knochen, vertrocknete Pflanzenteile und ein paar kleine Steine, zumindest vermutete sie, dass es sich um Steine handelte und darüber war eine Art merkwürdiger Staubschicht zu sehen. Interessiert, aber ohne eine wirkliche Idee, was er damit anstellen wollte, was am Ende dabei herauskommen könnte oder wie ihnen dies genau helfen sollte, musterte sie alles genau. Etwas unsicher blickte sie sich im Raum um, vielleicht würde es auf so einen Hundeschatten hinauslaufen oder ähnliches, das war etwas, das ihr nicht wirklich behagte. Irgendwie weigerte sich ein Teil von ihr immer noch, sich an diese neue Situation anzupassen. Als Merlin nach dem Messer griff und sich, zu ihrem großen Entsetzen, in die Hand schnitt, waren alle anderen Gedanken vergessen und sie konnte ihren Blick kaum von dem, was sie sah, abwenden. So entging ihr der schmerzverzerrte Ausdruck in seinem Gesicht beinahe. Wie gebannt starrte sie auf das Blut, das von seiner Hand nun in die metallene Box tropfte. Er sprach einige Worte, die sie nicht verstand, die ihr aber die Haare zu Berge stehen ließen, obwohl sie keinen Grund dafür benennen konnte. Für einen kurzen Moment fragte sie sich, ob es wohl intelligent sei, hier so offen mit Blut herumzuspielen und ihr Blick drohte zu Corven hinüberzugleiten. Das wäre er sicher auch, wenn nicht in genau diesem Moment der Inhalt der Box angefangen hätte zu brennen. Grüne und blaue Flammen züngelten aus der Box und es begann fürchterlich zu stinken. Dagegen war eine Biomülltonne im Hochsommer gar nichts. Angeekelt schlug sie sich die Hand vor den Mund. Merlins blickte sie kurz an und sie glaubte seine Augen seien noch dunkler geworden, als sie es ohnehin schon waren. Zu allen Attributen, die sie ihm bisher zugeordnet hatte, kam ein weiteres hinzu: Gruselig.
Plötzlich erloschen die Flammen einfach, als habe jemand auf einen Knopf gedrückt und Merlin klappte den Deckel der Schatulle zu. „Erledigt, in spätestens zwei Minuten hat der andere Probleme, als auf uns zu achten.” Merlins Stimme klang kalt und berechnend und Vanessa bekam eine Gänsehaut. Auch Ramon schien sich nicht so recht wohl zu fühlen, zumindest interpretierte sie seinen Griff so, der ein wenig fester geworden war. Doch es blieb keine Zeit das näher zu erforschen, denn im Zimmer brach nun geschäftiges Treiben aus. Merlin packte seine Sachen wieder ein, die anderen griffen nach ihren Rucksäcken und Luthar beschwerte sich über die schönen Waffen, die sie im Auto zurücklassen würden. Was aber nicht hieß, dass sie unbewaffnet waren. Sowohl Chris als auch Luthar trugen ein Teil ihres Waffenarsenals offenbar immer mit sich herum. Vanessa schlüpfte in Jacke und Schuhe, dann nahm sie ihren Rucksack und blickte Ramon an, der schon wieder sehr konzentriert wirkte, sich aber zu ihr lehnte.
„Diesmal passe ich besser auf dich auf!”, versprach er ihr und in ihr breitete sich ein warmes Gefühl aus.
Coreen öffnete eines der Fenster, das von der Straße abgewandt war und kletterte aus diesem hinaus. Draußen nahm er die Rucksäcke entgegen, die Chris ihm anreichte, und schließlich half er Vanessa ebenfalls, aus dem Fenster hinaus zu klettern. Luthar war der Letzte, der das Zimmer auf diese Weise verließ.
Vanessas Herz raste jetzt schon wieder und sie hätte sich am liebsten unter einer Decke verkrochen, aber sie sagte nichts, sondern blickte sich nur um. Schwere, dunkle Wolken waren am Himmel zu sehen, doch noch hatten sie sich nicht vor den Mond geschoben. Zum Glück, so erkannte Vanessa recht schnell, war der Wald hier lichter, als der bei den Ferienhäusern, und das fahle Licht des Mondes erhellte ihn besser. Gut waren die Sichtbedingungen für sie immer noch nicht, aber es würde vermutlich ausreichen, um nicht vor einen Baum zu laufen und größere Hindernisse zu sehen. Das machte diese Flucht erheblich einfacher, zumindest hoffte sie dies. Chris, Luthar und Corven schienen genauso wenige Probleme mit der Dunkelheit zu haben wie Ramon. Nur Merlin ging es offenbar recht ähnlich wie ihr. Wieder einmal ging ihr durch den Kopf, das sie irgendwann herausfinden musste, woran das genau lag, doch im Moment war wohl der denkbar unpassendste Zeitpunkt für solche Fragen und so verkniff sie sie sich.
Eilig folgte sie den anderen, die zwischen den dunklen Bäumen verschwanden. Luthar blieb als letzter zurück und bildete die Nachhut. Ramon war direkt neben ihr und hatte sie an der Hand genommen und bemühte sich sie vor für sie unsichtbaren Hindernissen, zu warnen. Sie war sich ganz sicher, dass er das Versprechen, welches er ihr gerade gegeben hatte, wohl um jeden Preis zu halten versuchen würde. Ein kurzes, stilles Lächeln breitete sich in ihrem Gesicht aus.
Ein leicht moderiger Geruch hing in der Luft. Der Wald lag düster und still vor ihnen. Absolut nichts schien sich zu bewegen. In der Ferne hörten sie die Schreie eines Waldkäuzchens. Erst, als sie schon eine ganze Weile unterwegs gewesen waren, fragte sie sich das erste Mal, was wohl aus dem Beobachter geworden sein mochte. Auf der einen Seite hoffte sie stark, dass er ihnen nicht weiter folgen konnte, doch auf der anderen Seite hoffte sie auch, dass ihm nichts wirklich Ernstes passiert war. In ihr nagten - mehr denn je - Zweifel. Wer wusste schon so genau, ob er wirklich ihretwegen da gewesen war? Was wenn dies alles nur ein dummer Zufall gewesen war? Es kostete sie einige Mühe ihre Befürchtungen für sich zu behalten und einfach weiter zu marschieren. Als sie über eine große Wurzel stolperte, holte das ihre Gedanken wieder ganz ins Hier und Jetzt zurück.
Immer wieder drang Chris´ leises Fluchen zu ihnen herüber. Meistens kurz bevor sie eine etwas andere Richtung einschlugen, als bisher. Der Wald selbst wurde zunehmend unwegsamer, je weiter sie sich von der Herberge entfernten. Der Geruch von modrigem Holz und nassem Moos nahm zu, je weiter sie so in den düsteren Wald vordrangen.
Vor ihr stolperte Merlin über eine große Wurzel und konnte sich gerade noch abfangen, bevor er mit der Nase im Dreck landete. Mit einer gewissen Erleichterung nahm sie zur Kenntnis, dass diesmal sie nicht die Einzige war, die ständig stolperte. Der Mond versteckte sich nun doch immer mal wieder hinter den vorbeiziehenden Wolken. Die Kälte begann ihr langsam in die Knochen zu kriechen und ließ eine Gänsehaut auf ihren Armen entstehen. Die Bäume knarrten leise im Wind, der aufzufrischen schien, doch noch war es trocken und Vanessa hoffte inständig, dass es auch noch eine Weile trocken bleiben würde.
Luthar schloss zu ihnen auf. „Hier nimm´ die”, forderte er sie auf und reichte ihr etwas. Sie blickte ratlos auf den dunklen Umriss der Waffe, den sie so gerade eben erkennen konnte.
„Was soll ich denn damit?” Wirklich alles in ihr sträubte sich gegen den Gedanken, eine Waffe in die Hand zu halten, noch viel mehr gegen den Gedanken, dass sie echt und geladen sein könnte und sie damit womöglich sogar schießen sollte.
„Im günstigsten Fall zielen und schießen, zur Not tut´s schießen wohl auch allein.” Seine Stimme klang bei diesen Worten äußerst amüsiert, doch der ernste Unterton, der trotzdem in den Worten mitschwang, entging ihr in keinster Weise. Nachdem er eine weitere auffordernde Geste mit der Waffe gemacht hatte, griff sie vorsichtig aber sehr zögernd zu. „Sie beißt nicht!”, sagte er belustigt.
Sie verzog bei seinen letzten Worten das Gesicht. Die Waffe war kalt und erstaunlich schwer. Viel schwerer zumindest, als sie erwartet hatte. Es blieb aber dabei, dass sie keinen blassen Schimmer von Waffen hatte und somit auch keine Ahnung, was zum Teufel sie damit nun anstellen sollte. Doch Luthar ließ sich schon wieder zurückfallen und schien es nicht für nötig zu halten, dazu mehr zu sagen. Ramon begann aber direkt, ihr die wichtigsten Regeln zur Waffe zu erklären, während sie weitergingen. Er erklärte die Funktion des Sicherungshebels, ganz grob wie man zielte und ermahnte sie eindringlich, die Waffe gut festzuhalten, am besten mit zwei Händen, wenn sie nicht riskieren wollte, dass sie sich beim ersten Schuss die Nase brach, oder auf dem Hosenboden landete. Alles in ihr stäubte sich gegen die Waffe in ihrer Hand, am liebsten hätte sie es einfach fallen lassen. Sie wollte das Teil nicht und wenn sie ganz ehrlich war, machte es ihr Angst. Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nie eine Waffe in der Hand gehalten und sie hätte auf diese Erfahrung auch gern verzichtet. Doch sie biss die Zähne zusammen und zwang sich dann zu einem leichten Nicken. Dann rief sie sich in Erinnerung, dass ihre Verfolger sicher nicht solche Probleme hatten, was Waffen und deren Gebrauch anging. Diese Tatsache half ihr ein wenig und sie konzentrierte sich wieder vermehrt auf ihre Füße und weniger auf ihre Hände. Ramons Hand drückte die ihre kurz und sie folgten weiter den anderen.
Wieder einmal kam es ihr vor, als würde sie schon Stunden durch den Wald laufen. Zu ihrer großen Erleichterung war bisher nichts Außergewöhnliches passiert. So ganz langsam begann sich die Hoffnung einzuschleichen, dass das auch so bleiben würde, und der Stress für heute vorbei wäre. Der Wald war immer noch recht unwegsam und die Bäume knarrten zunehmend im immer weiter auffrischenden Wind. Die unheimlichen Schreie eines Waldkauzes, unterbrachen immer wieder die Stille und hallten gespenstisch durch die finstere Nacht.
Je weiter sie aber kamen, desto mühsamer wurde das Gehen. Der Waldboden war hier übersät mit allerlei totem Holz, über das das Moos wucherte und so jeden Schritt zu einem glitschigen Balanceakt machte, der nicht selten in einer Rutschpartie endete. Das allein wäre schon unangenehm genug gewesen, doch dazu kam noch, dass Corven und Chris, die vorausgingen, ein ordentliches Tempo vorlegten, und wenn sie sich nicht täuschte, dann wurden die beiden auch immer schneller. Sie fürchtete langsam, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sich jemand den Knöchel verdrehte oder sich womöglich sogar ein Bein brach. Merlin und sie schienen ihr dafür die wahrscheinlichsten Kandidaten zu sein.
„Fuck!” Das einzelne Wort drang ohne Vorwarnung und gerade laut genug zu ihr, dass sie es verstehen konnte. Es kam von Chris, soweit sie das sagen konnte, und in genau diesem Moment spürte sie auch, wie Ramon ihre Hand fester drückte. Sie hoffte auf eine Erklärung, was los war, doch stattdessen beschleunigten sie das Tempo noch weiter. Dieses Vorgehen hatte jedoch wenig Erfolg. Sie kamen nur noch schlechter voran, wie es ihr schien. Immer wieder strauchelte einer von ihnen und sie selbst hatte den Eindruck, als würde sie alle paar Meter auf der Nase liegen, obwohl es ihr meistens gelang, das Stolpern abzufangen, was oft auch einfach an Ramon lag, der ihr half. Ihre Schulter schmerzte nun wieder schlimmer, die ruckartigen Bewegungen, die sie teilweise instinktiv ausführte, um ihr Gleichgewicht wieder zu finden, waren nicht unbedingt das, was man unter den Arm schonen verstehen konnte. Sie biss die Zähne zusammen und konzentrierte sich darauf einfach möglichst gut voranzukommen, mehr konnte sie derzeit nicht tun.
„Über die Lichtung und hinter den Bäumen in Deckung!” Es war eindeutig Chris, der ihnen das zuraunte und Vanessa bemühte sich, so schnell wie möglich dieser Anweisung Folge zu leisten. Sie verstand nicht wirklich, wieso in aller Welt sie über eine Freifläche laufen sollte, doch als sie sie erreicht hatten, erkannte sie das Problem. Das war keine Lichtung, wie man sie sich vorstellte, sondern eher eine breite Schneise mitten im Wald. Die Bäume hier waren alle offenbar gefällt worden, nur die Baumstümpfe, die noch überall standen, zeugten davon, dass es hier wohl einmal anders ausgesehen hatte. Ein kurzer Blick nach rechts und links offenbarte ihr, dass sich dieser Anblick so weit erstreckte, dass sie dessen Ende in der Dunkelheit nicht einmal mehr sehen konnte. Der Boden war genauso uneben wie bisher, nur war es hier, wie sie schnell merkte, weniger glitschig. Schnell und geduckt überquerten sie dieses Hindernis und gingen sofort hinter den ersten Bäumen, die sie erreichten, wieder in Deckung. Ihr Herz raste wie wild und ihre Beine fühlten sich an, als hätte sie jemand mit Wackelpudding befüllt.
Sie fragte sich, was zum Henker eigentlich genau los war und was genau sie hier nun eigentlich taten.
„Zu nah dran und schneller als wir”, hauchte ihr Ramon ins Ohr und beantwortete so ihre ungestellte Frage. Diesmal war sie froh darüber, dass sie manche Fragen nicht zu stellen brauchte, weil er scheinbar genau wusste, woran sie dachte. Leicht biss sie sich auf die Unterlippe und starrte um den Baum herum auf die Lichtung, bevor Ramon sie zurückzog und leicht den Kopf schüttelte. Es machte sie fast wahnsinnig hier zu stehen und zu warten. Es schien, als habe die Welt den Atem angehalten. Das Käuzchen war verstummt und nur das Flüstern der Bäume im Wald war zu hören. Ein sanfter Windhauch brachte den Geruch nach frischem Harz mit sich.
Plötzlich zerriss ein Schuss die Stille. Unerträglich laut war dieses Geräusch in der ruhigen Atmosphäre des Waldes. Vanessa war heftig zusammengezuckt und hatte einen erschrockenen Aufschrei nicht ganz unterdrücken können. Sie schmeckte einen metallischen Geschmack auf ihrer Zunge und sie erkannte, dass sie sich wohl vor Schreck auf die Lippe gebissen hatte. Der Schmerz trieb ihr für einen Moment die Tränen in die Augen, doch schnell blinzelte sie diese fort. Ramon neben ihr war vollkommen ruhig geblieben und sie fragte sich, wie er das machte. Der Knall war einfach nur ohrenbetäubend und vollkommen ohne Vorwarnung gekommen und es schien, als habe er nicht einmal gezuckt. Wie konnte man nur so ruhig bleiben, wenn so ein Knall, durch die Nacht peitschte? Er spähte vorsichtig um den Baum herum auf die Lichtung. Er hatte ihre Hand losgelassen und hielt nun ebenfalls eine Waffe in seinen Händen. Woher er sie hatte, wusste sie nicht, aber es sah ganz danach aus, als wäre das nicht das erste Mal, dass er so etwas erlebte. Doch wenn sie ehrlich war, war ihr das alles ziemlich egal, solang sie nur alle heil aus dieser Situation herauskommen mochten.
„Er verschiebt sich nach links”, diese Warnung kam leise von Chris wenige Augenblicke, nachdem der Schuss die Stille der Nacht durchbrochen hatte.
Ramon packte sie am Arm. „Komm mit und halt den Kopf unten”, raunte er ihr zu und zog sie dann hinter sich her nach rechts, während Luthar ihren Platz einnahm. Der Ausdruck auf dem Gesicht des Bikers war beängstigend. Er sah aus, als habe er vor einen Mord zu begehen und Spaß daran. Das war mehr als nur beängstigend und verstörend.
Doch bevor sie Zeit hatte, diesen Eindruck ganz zu verarbeiten, wurde ihre Aufmerksamkeit von etwas anderem auf sich gezogen. Merlin hockte an einem Baum ganz in ihrer Nähe, doch der junge Mann war es nicht, der ihren Blick fesselte. Vor ihm stand, keine zwei Meter entfernt, ein wahrhaft riesiger Hund. Das Fell wirkte zottelig, ja schon beinahe so, als habe er anstelle von Haaren feine schwarze Drähte, die von seinem Körper abstanden. Das Ungetüm war so groß wie ein kleines Rind. Noch niemals zuvor hatte Vanessa einen so massigen und riesigen Hund gesehen. Doch das schlimmste an seiner Erscheinung waren die Augen, die rot und unheimlich im Dunkeln glommen. Es war beinahe so, als leuchteten sie von innen heraus, auch wenn sie wusste, dass das eigentlich unmöglich sein müsste. Nach einem Moment wanderte ihr Blick ein Stück tiefer. Das hundeartige Wesen hatte die Lefzen hochgezogen und seine langen, gelblichen Zähne gebleckt. Vanessa stockte der Atem bei dem Anblick. Sie war sich ziemlich sicher: Ein Happs und das war es mit Merlin. Als das Vieh plötzlich an Merlin vorbeisprang und durch den Wald sauste, fuhr sie heftig zusammen. Sie glaubte beinahe, den Boden unter den weiten Sprüngen des Monsters erbeben zu spüren. Gebannt folgte sie dem Ding mit den Augen. Es rannte genau in die Richtung, in der sich vermutlich ihr Verfolger befand. Es war ihr nicht möglich, die Augen von der Kreatur zu lassen, die sich schnell entfernte. Vorsichtig spähte sie um den Baum herum. Auf der freien Fläche sah sie eine Gestalt. Der Riesenhund hielt genau auf die Gestalt zu, die sich leicht geduckt bewegte. Vanessa hielt unwillkürlich den Atem an, als diese Bestie sprang und auf den Mann regelrecht zugeflogen kam. Doch der Mann, dessen weißes Haar nun silbrig im Mondlicht schimmerte, war schnell. Er wich dem Hund mühelos, wie es schien, aus und zog gleichzeitige die Machete - oder was auch immer es nun genau sein mochte - von seinem Rücken. Der Mund stand ihr offen und sie konnte den Blick nicht von dem, was geschah, abwenden. Der Hund fuhr herum, nachdem er gelandet war, und fixierte sein Opfer, das ihm gerade eben noch entkommen war. Der Mann bewegte sich schnell und schien eine Deckung aufsuchen zu wollen, doch in genau diesem Moment brachen weitere Schüsse. Jeder einzelne von ihnen so laut wie ein Kanonenknall. Heftig zuckte sie zusammen. Die Kugeln trafen ihr Ziel. Ihr Verfolger geriet unter der Wucht der in ihm einschlagenden Projektile ins Straucheln und die Einschläge rissen ihn fast zu Boden. Nacktes Entsetzen durchzuckte ihren Verstand.
Genau in dem Moment, in dem der Mann durch die Einschläge abgelenkt war, setzte der Hund zu einem erneuten Sprung an. Die Bestie würde den Mann vermutlich in Stücke reißen. „Nein!” Der Schrei gellte durch die Nacht und zerriss die Stille ebenso, wie es vorher die Schüsse getan hatten. Entsetzen lag darin, sie wollte nicht zusehen, wie dieses Ding etwas zerfleischte. Durch den Schrei offensichtlich abgelenkt zögerte das Ungetüm einen Moment, bevor es sich auf den Mann stürzte. Dieser Sekundenbruchteil reichte aus. Dem Mann gelang es noch, die Machete herumzureißen, so dass der Sprung des Hundes ein Sprung in seinen eigenen Tod wurde. Voller Entsetzen hörte sie das markerschütternde Jaulen, dass nun seinerseits die Ruhe des Waldes störte, als der Hund offenbar von der Machete regelrecht aufgespießt wurde. Ein weiterer Knall folgte dem Jaulen, doch sie sah nicht, ob der Hund oder der Mann getroffen wurde. Unter dem Ansturm gingen beide zu Boden. Doch der Mann kam mit einer unglaublich schnellen, fließenden Bewegung, die mehr einer Schlange glich, als einem Menschen, fast sofort wieder auf die Beine. Der Hund war nicht so schnell, versuchte aber, auch wieder auf die Beine zu kommen. Doch er war nicht schnell genug. Mit ungläubig aufgerissenen Augen sah sie, wie der Mann, kaum dass er selbst wieder stand, die Machete in die Höhe riss und niedersausen ließ. Er traf den Hund mitten im Nacken und nur Sekundenbruchteile später viel der Kopf des Hundes zu Boden und mit einem Moment Verzögerung sackte auch der massige Körper wieder zusammen und kippte zur Seite.
Als ihre Augen von dem toten Hund zurück zu dem Mann jagten, erkannte sie, dass er genau zu ihr herübersah. Er war blutbeschmiert, sie konnte es über die Entfernung als dunkle Flecken auf seiner sonst hellen Haut ausmachen und ebensolche Flecken auf seinem Haar, dass sich zum Teil aus dem gebundenen Zopf gelöst hatte. Die ganze Welt schien für einen Augenblick den Atem anzuhalten, als sich ihr Blick traf. Doch der Moment war genauso schnell vorüber, wie er gekommen war. Der Mann bewegte sich schnell zurück. Weitere Schüsse brachen. Luthar fluchte, aber sie konnte über das Knallen der Schüsse nicht verstehen, was er sagte. Sie sah, dass der Mann noch mindestens einmal getroffen wurde, bevor er hinter einigen Bäumen in Deckung gehen konnte. Ihr Blick wanderte von seiner Deckung zu dem, was auf der Lichtung im Mondschein zurückgeblieben war. Dort lag immer noch der bullige, reglose Körper des Hundes. Um ihn herum breitete sich etwas aus, dass wie flüssige Dunkelheit aussah und in dem sich der Mond unnatürlich wieder zu spiegeln schien. Diese Lache, die über die Baumstümpfe und die Wurzeln zu kriechen schien und sich weniger wie eine Flüssigkeit, als mehr wie ein Tuch benahm, wurde immer größer. Außer Stande sich von diesem Anblick loszureißen, spähte sie weiter um den Baum herum. Der Wald lag nun wieder ruhig da, beinahe so, als wäre nichts gewesen. Eine Wolke schob sich vor den Mond und ließ nun auch die Lache und den Körper mit der Dunkelheit verschmelzen.
Unfähig zu sagen, wie viel Zeit vergangen war, starrte sie immer noch auf den dunklen Hügel, der dort lag und von dem sie genau wusste, dass es sich um den Körper von Merlins Haustier handelte. Dann riss eine Stimme sie jäh aus ihrer Erstarrung.
„Bewegt euch!” Es war Corven, der ungeduldig klang und dessen Tonlage keine Widerrede zuzulassen schien. Ohne weiter darüber nachzudenken, erhob sich Vanessa bei dieser Anweisung. Immer noch war sie in Gedanken bei dem, was dort gerade passiert war. Geschockt blickte sie noch einmal von dem dunklen Hügel zu der nachtschwarzen Stelle, wo der weißhaarige Mann verschwunden war. Ramon packte sie etwas fester am Arm und nahm sie einfach mit sich. Beinahe bewegten sich ihre Beine von allein weiter. Ihr Kopf fühlte sich irgendwie leer an. Immer wieder blitzten Bilder in ihr auf. Die Schüsse, die Einschläge, der Hund, der Kopf des Biests, der zu Boden fiel.
„Weitere Kämpfer, noch etwas über einen Kilometer entfernt.” Chris Stimme klang angespannt und die Worte trieben sie zur Eile. Vanessa kam es ein wenig vor, als tauche sie, genau wie nach den letzten Sichtungen der Schatten, erst allmählich wieder in der Realität auf. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Das Entsetzen über das Geschehene saß ihr noch tief in den Gliedern und wurde nur dadurch unterbrochen, dass sie am Rande mitbekam, wie Corven Luthar so gerade eben davon abzuhalten schien, dem Verfolger nachzusetzen, um ihm den Gar aus zu machen. Sie bekam nicht mehr mit, wie schwierig es war, Luthar davon zu überzeugen, sein Vorhaben abzublasen, aber irgendwann schloss er offensichtlich wieder zu ihnen auf und fluchte dabei vor sich hin. Mit Ramon und dem Rest Schritt zu halten, kostete sie ziemliche Mühe, so dass sie sich komplett auf ihre Füße konzentrieren musste. Schon bald war sie völlig außer Atem und wunderte sich darüber, dass sie sich bisher weder die Beine, noch den Hals gebrochen hatte. Sie hatte sich ganz auf Ramons Führung eingelassen und das klappte erstaunlich gut.
Ein eisiger Tropfen fiel ihr auf den Kopf und rann an ihrer Schläfe herunter, bis er schließlich vom Kragen ihrer Jacke gestoppt wurde. Ein tiefes Seufzen entrang sich ihr, als sie erkannte, dass es nun doch noch zu regnen begann. Das war etwas, das ihnen gerade noch gefehlt hatte. Ein kurzer Blick hinauf zeigte ihr, dass die Wolken nur so über den Himmel zu jagen schienen und es sich immer weiter zuzog. Damit wurde es nun auch in diesem Wald immer dunkler und schon bald kam es ihr vor, als wäre sie wieder in dem Wald nahe der Ferienhäuser. Furcht ergriff von ihr Besitz, als die Erinnerungen an diesen Abend noch einmal in hier hochkamen. Wieder schien Ramon zu bemerken, was in ihr vorging, und er raunte ihr leise zu: „Sie sind weit weg, wir haben die Distanz sogar etwas vergrößert, sie holen uns nicht ein.” Obwohl sie nicht an seinen Worten zweifelte, schaffte er es damit nicht, die Erinnerungen und die Angst ganz zu vertreiben.
Trotz dessen stellte sie zu ihrer Erleichterung fest, dass der Weg wieder leichter wurde. Sie hatten einen Forstweg oder etwas Ähnliches erreicht und obwohl auch dieser nicht gerade oder eben war, lief es sich hier doch erheblich besser, als durch den Wald, wo alle Nase lang irgendwelche Wurzeln regelrechte Stolperfallen bildeten. Nach einer Weile hatten sie Corven eingeholt, der scheinbar auf sie und Merlin gewartet hatte. „Chris wird mit Luthar vorgehen und einen fahrbaren Untersatz besorgen. Ramon, du hast die Verfolger noch im Blick?” Ramon bestätigte dies mit einem kurzen Nicken und er fuhr fort: „Wir haben ihn zwar getroffen, aber ich nehme an, dass wird ihn nicht unbedingt lange aufhalten. Wir müssen also dringend einigen Abstand zwischen uns und ihn bringen.”
„Was nur nötig ist, weil sich das törichte Weib eingemischt hat.” Merlins Stimme klang dabei so eisig, dass Vanessa direkt den Wunsch verspürte, in Deckung zu gehen. Auch Zorn hatte in seiner Stimme gelegen. Sie schluckte, verteidigte sich aber nicht. Ihr waren die Nerven durchgegangen, sie konnte nun mal nicht einfach so dabei zusehen, wie ein rotäugiger Hund, der die Ausmaße eines Ochsen hatte, einen Menschen zerfleischte. Nebenbei bemerkt war sie sich sicher, dass sie auch nichts dafür konnte, dass der Hund überhaupt gezögert hatte. Mittlerweile war sie sich nicht mal mehr ganz sicher, ob das Zögern tatsächlich an ihr gelegen hatte.
„Das besprechen wir später, Merlin!” Die Worte ließen keinen Widerspruch zu. Auf dieses Gespräch freute sie sich gar nicht. Vor allem nicht, da sie ja insgeheim immer noch froh darüber war, dass es so geendet hatte, wie es eben gekommen war.
Wenige Minuten später unterbrach Ramon ihre Gedanken, sie waren mittlerweile in einen schnellen Schritt verfallen, rannten aber nicht mehr. „Ich glaube, sie haben nun den Ort des Zwischenfalls erreicht. Ein Teil bleibt dort zurück, der andere bewegt sich weiter.”
„Dann haben sie wohl den Geist gefunden”, mutmaßte Merlin und Corven nickte zustimmend. Mittlerweile fiel dichter Regen und durchnässte sie. Ganz allmählich wurde auch die Kälte wirklich lästig. Sie kroch ihr tief in die Knochen, ihre Finger fühlten sich schon steif, taub und klamm an und ihre Kräfte waren fast aufgebraucht. So ging es aber nicht nur ihr, auch Merlin wirkte müde und wurde immer langsamer.
Nachdem sie so lange nun schon durch die Dunkelheit gewandert waren, kam es ihr irgendwie merkwürdig vor, als vor ihr durch die Bäume ein einzelnes Licht erschienen war, welches von links nach rechts lief und irgendwo einfach wieder verschwand. Über das Rauschen des Regens, dem Pfeifen des Windes und dem Knarren der Bäume, hörte sie nur ihren eigenen beschleunigten Atem. Die dunklen Wolken hatten sich vollends zugezogen und der Regen fiel monsunartig vom Himmel. Das kalte Wasser lief ihr über das Gesicht und den Nacken hinunter, ihre Socken waren durchweicht und die Hosenbeine bis zu den Knien ebenfalls. Trotz der Anstrengung schlotterte sie vor Kälte. Nachdem zwei weitere Lichtpunkte vorbeigezogen waren, erkannte sie müde, dass es sich wohl um eine Straße handeln musste, die vor ihnen lag. Diese Erkenntnis ließ sie aufatmen, denn das bedeutete, dass sie diesen schrecklichen Wald bald hinter sich lassen würden.
Doch sie erkannte schnell, dass Corven nicht vorhatte, aus dem Wald herauszutreten, und sie stattdessen ein Stück an der Landstraße entlang führte und sie dabei immer außer Sicht blieben. Wenn ein Auto sich näherte, zogen sie sich sicherheitshalber hinter einen Baum oder Busch zurück.
„Chris und Luthar sind wieder auf dem Weg hier her. Ankunft bei der Geschwindigkeit vermutlich in zwei bis drei Minuten”, verkündete Ramon, nachdem sie noch eine ganze Weile weitergewandert waren. Auch seine Stimme klang müde und erschöpft. „Unsere Verfolger haben etwas aufgeholt, aber wir sollten hier weg sein, lange bevor sie hier sind.” Wieder einmal staunte Vanessa über diese Fähigkeit andere Erwachte zu spüren und im Moment war sie unglaublich nützlich. Die Nachrichten gefielen ihr allerdings nicht. Obwohl sie Ramons Einschätzung traute, breitete sich bei der Vorstellung, dass ihre Verfolger sich ihnen näherten, doch eine unbestimmbare Furcht in ihr aus. Doch sie kam auch diesmal nicht dazu, sich groß Gedanken zu machen, denn sie verließen nun den Wald und sprangen über einen kleinen Bach um näher an die Straße heranzukommen.
Die Straße lag einsam und verlassen vor ihnen, doch nur wenige Minuten später näherten sich gleich zwei Autos von links. Chris hielt als erster bei ihnen. Er saß in einem graublauen Kombi und direkt hinter ihm kam Luthar zum Stehen, der in einem zitronengelben Corsa saß. Eilig stiegen sie ein. Corven zusammen mit Merlin in den Kombi, sie selbst und Ramon in den Corsa. Kaum hatten sie die Tür geschlossen, fuhr Luthar auch schon los. Er triefte genauso vor Nässe wie sie auch. Sein Haar klebte nass an seinem Kopf und sein Ärmel tropfte vor sich hin, wenn er nach der Gangschaltung griff.
Unangenehm klebten die nassen Klamotten auf ihrer Haut und sie bibberte vor Kälte. Luthar wirkte verstimmt, konzentriert, aber auch müde. Keiner von ihnen sprach ein Wort. Ramon legte ihr einen Arm um die Schulter und sie lehnte sich an. Ihr Atem beruhigte sich bald wieder und sie bemühte sich, ihre Gedanken nicht abdriften zu lassen. Konzentriert auf die Wärme, die Ramon ausstrahlte und die unglaublich gut tat, wünschte sie sich schon fast ein wenig zurück in das Ferienhaus, in dem sie die interessantesten und schönsten Tage der letzten Jahre verbracht hatte. Es wäre so schön, nun unter die Dusche steigen zu können und danach ins warme Bett zu krabbeln und sich an Ramon anzuschmiegen. Der Gedanke daran ließ sie leicht seufzen. Ramon, dem das Seufzen nicht entgangen war, zog sie ein wenig fester an sich. Es war etwas unangenehm, da ihre Schulter noch immer leicht schmerzte, aber das ignorierte sie einfach. Zumindest für den Moment wollte sie einfach nur das schöne Gefühl genießen, dass diese einfache Geste auslöste. Die Augen fielen ihr zu und ihre Glieder fühlten sich an, als bestünden sie aus Blei. Sie spürte, dass sie kurz davor war einfach einzuschlafen und fuhr leicht hoch.
Ramon küsste sie auf ihren nassen Kopf. „Schlaf ruhig, ich wecke dich, wenn irgendetwas sein sollte.” Sie lächelte leicht und ließ sich wieder vollends gegen ihn sinken. „Ich passe auf dich auf”, versprach er noch einmal. Müde schloss sie wieder die Augen und ließ es zu, dass die Erschöpfung sie einholte und sie in einen tiefen Schlaf gleiten ließ.