Читать книгу Das Geheimnis der Schatten - Viktoria Vulpini - Страница 3

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1 Kapitel 1

Deutlich zeichnete sich die Gestalt auf dem beleuchteten Hof ab. Langsam und offenbar sehr mühevoll humpelte die Gestalt quer über den Hof und hielt auf die alte Scheune zu. Auch in der Küche, in der Vanessa am Fenster stand und das merkwürdige Treiben auf ihrem Hof beobachtete, war es dunkel. Trotz der unheimlich wirkenden Szene überkam sie eine Woge der Erleichterung. Schon gestern war ihr die Gestalt aufgefallen, die mitten in der Nacht über ihren Hof schlich, doch bisher hatte sie sie noch nie genau sehen können. Aus diesem Grund stand sie schon seit Stunden in der dunklen Küche und wartete, um dem Treiben nun ein für alle Mal auf den Grund zu gehen. Wirkliche Angst verspürte Vanessa keine. Vermutlich handelte es sich nur um einen Landstreicher, so etwas kam hier in der Gegend schon einmal vor.

Erst als die Gestalt in der alten Scheune verschwunden war, gab sie ihren Beobachtungsposten auf. Die Erleichterung hatte noch immer die Oberhand und dominierte alle anderen Gefühle. Sie hatte die Gestalt gestern wirklich gesehen, sie hatte sie sich nicht nur eingebildet. Schnell schüttelte sie den Kopf, um den Gedanken wieder los zu werden. Sie würde sich nun nicht mehr länger den Kopf darüber zerbrechen. Fakt war, hier war ein Fremder auf ihrem Hof und das würde sie nicht dulden.

Mit dem festen Entschluss, den Eindringling zur Rede zu stellen und anschließend zu vertreiben ging sie in den Flur. Immer noch ohne das Licht einzuschalten zog sie sich schnell ihre Turnschuhe an, nahm die Jacke von der Garderobe und bewaffnete sich mit einer Taschenlampe, die immer neben ihrem Schlüssel am Schlüssel-Bord hing. Den Schlüssel ließ sie in ihre Tasche gleiten und verließ das Haus.

Es war schon weit nach Mitternacht. Der Himmel war eine einzige grauschwarze Masse, durch die der Mond nur hin und wieder sein fahles Licht warf. Die Luft war klar, sauber, kühl und roch nach Regen. Sie vertrieb fast augenblicklich die schleichende Müdigkeit, die unbemerkt in ihre Knochen gekrochen war. Für einen Moment blieb sie lauschend stehen, atmete die frische, klare Luft ein und genoss die Stille, dann setzte sie sich in Bewegung um den Eindringling zu stellen.

Furcht empfand Vanessa keine, wenn sie wollte, dass der Eindringling verschwand, würde sich jemand darum kümmern müssen und wenn sie das nicht tat, dann hätte sie nur die Wahl die Polizei zu verständigen und die würden ihr ganz sicher nicht auf den Hof kommen. Eigentlich bezog sich diese Abneigung nicht einmal nur auf die Polizei sondern auch auf andere Behörden und wenn sie ganz ehrlich war, dann überhaupt auf andere Menschen. Die restliche Menschheit konnte ihr gestohlen bleiben. Dieser Hof hier war ihre persönliche kleine Oase der Ruhe, weit weg von allem und jedem und so sollte es auch bleiben.

Mit einigen raschen und fest entschlossenen Schritten erreichte sie die Scheune und schaltete die Taschenlampe ein, bevor sie die Tür öffnete. Die Scharniere der Tür gaben ein grausames Ächzen und Quietschen von sich, dann konnte sie in die Scheune hineinleuchten. Im Lichtkegel der Lampe tanzte der Staub und das Licht selbst enthüllte das heillose Chaos, welches hier immer noch herrschte.

Zwischen alten Möbeln standen Kartons und Kisten. Hier oder da lag ein alter Ballen Stroh herum, Spinnennetze waren zwischen den Möbeln aufgespannt und hatten zum Teil eine beeindruckende Größe erreicht. Es roch streng nach Moder und anderen Dingen, die sie nicht genau benennen konnte.

Der Anblick ärgerte sie. Dieses Chaos hätte schon vor fast einem Jahr entsorgt werden sollen, das zumindest hatte der Vorbesitzer des Hauses ihr hoch und heilig versprochen, bisher allerdings hatte sich nichts getan. Wenn man es recht bedachte, passte dieses Verhalten ganz genau zu ihrer Meinung über Menschen. Verlassen konnte man sich nur auf sich selbst. Der aufflammende Ärger verrauchte recht schnell wieder, als sie sich in Erinnerung rief, dass in einer Woche alle gesetzten Fristen abgelaufen waren und sie das Zeug dann einfach entsorgen konnte.

Ihr Blick folgte dem hellen Kegel, den die Taschenlampe in die Dunkelheit warf, doch mehr als den schon bekannten Müll, der sich hier auftürmte, bekam sie nicht zu sehen.

„Hallo?” Vanessa kam ihre eigene Stimme seltsam laut und schroff vor. Nur leises Rascheln und dann ein Quieken war zu hören. Ratten, das wäre ihre nächste Mission, sobald der Müll hier raus war. Die kleinen Tierchen fühlten sich in der Scheune pudelwohl und dachten gar nicht daran von selbst zu verschwinden.

„Hallo! Ich weiß dass Sie hier sind, zeigen Sie sich gefälligst!” Die Antwort war die Selbe wie bei ihrem ersten Versuch auch schon. Stille, leises Rascheln, ab und zu ein leises Fiepen und der Wind der durch einige undichte Stellen pfiff. Nicht ein Geräusch war zu vernehmen, welches hier nicht hingehört hätte und ganz langsam stieg Ärger in ihr auf, aber auch Furcht. Sollte sie sich den Schatten vielleicht doch nur eingebildet haben? Sollte es wieder losgehen? Eilig schüttelte sie den Kopf. Nein, sie hatte ihn gesehen - mehrfach! Bevor sie akzeptieren würde, dass es wieder los ginge, würde sie diese verdammte Scheune auf den Kopf stellen und wenn es sein müsste auch in jeden Karton und hinter jeden Schrank sehen.

„Letzte Chance! Sie zeigen sich freiwillig oder ich lasse Sie von der Polizei hier gewaltsam herausholen!“ Ihre Verärgerung war deutlich zu hören, aber das störte sie nicht. Sie würde sich sicher nicht auch noch bemühen freundlich zu sein. Wieder geschah nichts; Zweifel loderten auf in ihr. Was wenn hier niemand war? Sie wollte nicht darüber nachdenken. Wollte diese Möglichkeit nicht in ihrem Leben haben. Schon fast erleichtert nahm sie nach einer gefühlten Ewigkeit endlich Geräusche wahr, die definitiv nicht zu den hier üblichen Lauten gehörten. Bewegung. Ein leises Ächzen das gefolgt wurde von schlurfenden Schritten. Sofort schoss ihr die berühmte Zombieserie The Walking Dead durch den Kopf. Die Kulisse würde passen, die Geräusche auch, nur die Kameras fehlten. Ein fataler Gedanke. Nicht dass sie Angst gehabt hätte vor irgendwelchen Monstern, doch es säte erste Zweifel an ihrem Vorhaben. Ihr Mut schrumpfte zusammen und wenn sie ganz ehrlich war, wollte sie nun doch lieber weglaufen. Jetzt, in genau diesem Moment, wäre es ihr sogar egal gewesen, wenn sie sich die Gestalt doch nur eingebildet hätte, aber für einen Rückzieher war es nun ein wenig spät.

Sie hörte deutlich, dass der Eindringling nicht mehr weit entfernt war und hoffte inständig, dass er harmlos sein mochte. Das Bild eines besonders hässlichen Zombies kam ihr in den Sinn und war nicht sehr hilfreich, um Ruhe zu bewahren. Dann sah sie eine Hand, die sich an einem der Schränke festhielt. Unwillkürlich hielt sie den Atem an. Der Hand folgte eine Gestalt. Ein Mann in zerlumpten, dreckigen Kleidern, der schützend eine Hand vor das Gesicht hielt um sich vor der blendenden Lampe zu schützen. Der Mann mochte Mitte zwanzig sein, Anfang dreißig vielleicht, das war schwer zu sagen. Zumindest wirkte er relativ normal und lebendig. Er hatte dunkelbraunes, kurzes Haar, das eine Spur zu lang war um noch als ordentlich durchzugehen. Soweit sie das beurteilen konnte, war er gut gebaut und obendrein noch einen guten Kopf größer als sie selbst. Der größte Teil seines Gesichts war durch seine Hand verborgen, so dass sie nicht viel davon sah.

Passend zu dem was sie schon wahrgenommen hatte, als der Mann den Hof überquerte, war er auch jetzt langsam und humpelte heftig. Neben dem Schrank blieb der Mann stehen, ein Verhalten, das Vanessa durchaus recht war.

„Bitte, ich bin in ein oder zwei Tagen weg. Rufen Sie nicht die Polizei, ich werde Ihnen nichts tun, mich Ihnen nicht nähern und Sie auch nicht bestehlen.” Die Stimme des Mannes war leise, es klang erschöpft und kraftlos. Die ganze Art wie er es sagte, überraschte sie und ließ sie erschauern. Als sie nicht sofort reagierte, fügte er müde hinzu: „Ich kann nicht mehr weiter - bitte.“

Vanessa senkte die Lampe ein wenig, denn noch immer blendete sie den Mann damit. Auch der Mann ließ den Arm sinken und nutzte ihn lieber um sich am Schrank mit beiden Händen festzuhalten. Müde Augen richteten sich auf sie. Braune, sanfte Augen in einem leichenblassen Gesicht, das noch die Spuren einer Schlägerei trug.

Die Überraschung hatte ihr die Sprache verschlagen. Erwartet hatte sie etwas anderes. Natürlich war ein Landstreicher nie ein schöner Anblick, aber dieser Mann hier sah noch viel schlimmer aus, als alles was sie sich hätte vorstellen können. Erst jetzt fielen ihr die dreckigen Verbände auf, die hier und dort unter der Kleidung hervor lugten und die dunklen Flecken, bei denen es sich wohl um getrocknetes Blut handelte.

Mit leiser werdender Stimme versuchte er es noch einmal: „Ich werde Ihnen nichts tun, lassen Sie mich einfach nur ein oder zwei Tage hier bleiben. Ich kann wirklich nicht mehr weiter.”

Vanessa bemühte sich ihre Gefühle und Eindrücke unter Kontrolle zu bekommen. Sie war zutiefst schockiert und war sich absolut nicht sicher, was sie nun machen sollte. Immer noch den Blick starr auf den Mann gerichtet, versuchte sie ihren alten Plan auf diese Situation anzupassen, was aber nicht so wirklich gelingen wollte. Demnach blieb sie einfach bei ihrem ursprünglichen Vorhaben: Der Mann musste hier fort. Sie konnte ihn nicht hier bleiben lassen, sie hatte mehr als genug eigene Probleme und war einfach nicht im Stande noch mehr zu ertragen. Noch bevor sie jedoch dazu kam zu antworten, sah sie den Mann leicht schwanken. Dann brach er einfach zusammen. Als wäre plötzlich alle Spannung aus seinem Körper gewichen, gaben seine Beine nach und er schlug schwer auf dem Boden auf, wo er reglos liegen blieb.

Ihr Herz begann zu rasen. „Scheiße!”, ging es ihr durch den Kopf. Ohne wirklich darüber nachzudenken bewegte sie sich eilig auf ihn zu und ging neben ihm in die Hocke. Sie streckte die Hand nach dem Mann aus um ihn auf den Rücken zu drehen, doch sie zögerte für einen Moment.

Erst nach einigen weiteren Atemzügen packte sie den Mann vorsichtig an der Schulter und drehte ihn um. Frisches Blut sickerte aus einer kleinen Wunde am Kopf, die er sich beim Aufprall zugezogen haben musste. Er atmete, das ließ Vanessa aufatmen, doch gleichzeitig nahm sie die unnatürliche Hitze wahr, die sie durch die Kleidung an seiner Schulter spürte. Vorsichtig berührte sie die Stirn des Mannes, die feucht war und so heiß, dass sie schon fast erschrocken die Hand zurückzog. Sie musste einen Notarzt rufen. Dieser Mann musste so schnell wie möglich versorgt werden. Ihre erste Einschätzung, dass es ihm nicht sonderlich gut ging, war wohl maßlos untertrieben gewesen.

Es verstrichen weitere Sekunden, in denen sie zögerte, doch dann gab sie sich einen Ruck und machte Anstalten sich zu erheben. Doch weit kam sie damit nicht. Die Hand des Mannes packte plötzlich ihren Arm. Ein spitzer Schrei entfuhr ihr. Der Schreck lies Vanessa nach hinten ausweichen. Doch der Griff des Mannes war kraftlos, so dass sich die Hand leicht abschütteln lies und Vanessa zur Sicherheit noch ein paar Schritte Abstand gewinnen konnte. Immer noch pochte ihr Herz wie wild und ihre Beine waren sich einig, dass Weglaufen eine gute Idee wäre. Vermutlich hätte sie dem Drang auch nachgegeben, wenn der Mann irgendeine Anstalt gemacht hätte wieder aufzustehen. Doch der Mann machte keine Anstalten das auch nur zu versuchen, geschweige denn ihr zu folgen. Er lag immer noch erschöpft auf Boden, atmete schwer und nur sein Blick folgte ihr.

„Sagen Sie keinem, dass ich hier bin.” Seine Stimme klang müde, doch Vanessa meinte noch etwas anderes in ihr zu hören: Furcht.

Immer noch pochte ihr Herz wie wild und der Drang einfach davonzurennen wurde nicht kleiner. Wieso konnte sie zwar selbst nicht so genau sagen, aber sie wollte nur noch raus aus dieser merkwürdigen Situation.

Der Fremde blieb einfach liegen, es schien ihm schon schwer zu fallen, bei Bewusstsein zu bleiben. Er sah unglaublich müde aus und es schien fast so, als wäre der Grund dafür, dass er dem Drang zu schlafen nicht einfach nachgab, auch nur die nackte Angst. Was mochte diesem Mann wohl zugestoßen sein? Gab es hier womöglich noch eine andere Gefahr von der sie nichts ahnte? Dieser Gedanke lähmte sie für einige Augenblicke, doch dann schüttelte sie ihn ab. Vermutlich war er aufgrund des Fiebers nicht mehr so ganz zurechnungsfähig. Das klang nur logisch und beruhigte sie wieder ein wenig.

„Ich werde einen Krankenwagen rufen.” Ihre Stimme zitterte hörbar und spiegelte damit ziemlich deutlich ihre eigene Nervosität und Verunsicherung wieder. Sie löste den festen Griff um die Taschenlampe ein wenig und registrierte, dass ihre Hände feucht waren. Doch ihre eigenen Reaktionen waren nicht vergleichbar mit dem puren Entsetzen, das sich bei diesen Worten auf dem Gesicht des Mannes ausbreitete. Er stöhnte auf und versuchte dann tatsächlich wieder auf die Beine zu kommen. Sie wich einen weiteren Schritt vor dem Mann zurück, doch das wäre nicht notwendig gewesen. Der Mann bemühte sich zwar nach Kräften aufzustehen, aber es gelang ihm einfach nicht.

Es war ein grausamer Anblick mit anzusehen wie jemand, in ganz offensichtlicher totaler Verzweiflung und panischer Furcht, versuchte auf die Beine zu kommen und dies aber einfach nicht mehr schaffte. Dies löste in ihr schon fast Entsetzen aus. Für einen Moment starrte sie den Mann nur an. Sie war sich sicher: Dieser Mann brauchte einen Arzt, sonst würde er unweigerlich hier sterben oder ein paar Meter weiter irgendwo anders. Noch niemals zuvor hatte sie einen Menschen gesehen, der so dringend Hilfe gebraucht hatte, wie dieser hier.

Nur wenige Momente verstrichen, bevor der Mann seine Versuche schwer atmend wieder aufgab. „Ich bitte Sie, tun Sie das nicht.” Es war kaum mehr als ein Flüstern und er schien quasi alle Hoffnung verloren und sich mit seinem Schicksal abgefunden zu haben. Vanessa fühlte sich bei diesen Worten, als habe man ihr soeben einen großen Eimer eiskaltes Wasser über den Kopf gegossen.

Sie blieb reglos stehen und ließ den Blick erneut über den Mann gleiten, doch ihre Gedanken waren nicht bei dem was sie sah, sondern sie waren bei diesen Worten. Ich bitte Sie, tun sie das nicht, waren ihre Worte gewesen. Ihre letzten Worte an einen Arzt, zu einem Zeitpunkt, bevor sie den Glauben an die Menschen verloren hatte. Bevor man sie ihrer Freiheit beraubt hatte. Es war nur zu deinem Besten, dass beteuerte man auch heute noch. Vielleicht glaubten die Menschen das ja wirklich, ihre Bekannten, ihre Verwandten und die Ärzte. In ihren Augen war es aber das Schlimmste, was man ihr hatte antun können. Erinnerungen an die Verzweiflung, die Hoffnungslosigkeit und die unzähligen Tränen in den langen, einsamen Nächten stiegen in ihr auf und lähmten sie. Für einen Moment war sie wieder dort, in dem kleinen Raum, der so lange ihr zu Hause gewesen war. Eisige Kälte breitete sich in ihrem Körper aus und ließ sie erschauern.

Mühsam kämpfte sie die Erinnerung nieder und mit ihr die Gefühle, die in ihr tobten. Mühevoll holte sie sich wieder ins Hier und Jetzt zurück. Sie hatte geschworen niemals so etwas zu tun. Niemals wollte sie einen Menschen zu etwas zwingen einfach nur, weil sie glaubte es wäre das Beste. Niemals wollte sie so handeln. Allein die Vorstellung sorgte dafür, dass ihr übel wurde. Ihr Blick glitt noch einmal über die Gestalt. Sie war im Begriff ihren Schwur zu brechen. Sie war dabei über den Kopf dieses Mannes hinweg, ja schlimmer noch, gegen dessen ausdrücklichen Willen, etwas zu tun. Einen Moment fragte sie sich, ob der Zustand des Mannes diese Situation hier nicht zu etwas völlig anderem machen würde, doch die Antwort fiel ihr leicht. Vermutlich würde der Rest der Welt das anders sehen, aber für sie war das kein Grund. Selbst die Wahl das Leben nicht weiterführen zu wollen, war eine Wahl, die freie Menschen haben sollten.

Hier her, ans Ende der Welt, weit ab von allen Menschen, die sie einmal kannte, war sie nicht ohne Grund geflohen. Ja, es war eine Flucht gewesen, weg von dem scheinheiligen Getue, weg von den Menschen, denen sie ihr Vertrauen geschenkt und die es mit Füßen getreten hatten.

Ein gemurmeltes, kaum noch verständliches „Bitte!”, holte sie schließlich wieder aus der Vergangenheit und ihre Gedanken zurück in die Gegenwart. Noch einmal zögerte sie kurz, doch dann hatte sie eine Entscheidung getroffen und näherte sich dem Mann erneut, der nun wirklich keine Gefahr darzustellen schien. Die fiebrig glänzenden, braunen Augen blieben starr auf sie geheftet.

„Sie scheinen sehr krank zu sein, ich bin kein Arzt…”, Vanessas Stimme zitterte immer noch leicht und sie zuckte hilflos die Schultern. Es schien fast so als würden die Worte eine zentnerschwere Last von dem Mann nehmen, sie konnte quasi sehen, wie die verkrampften Muskeln sich etwas entspannten.

„Ich brauche nur etwas Ruhe.” Es war nur ein erschöpftes Murmeln. Die Art wie er das sagte, die Art wie er reagiert hatte, schienen ihr Recht zu geben. Sie hatte die richtige Wahl getroffen. Es war seine Entscheidung, nicht ihre und sie würde sich nicht anmaßen über irgendjemand anderen zu bestimmen.

„Meinen Sie, sie schaffen es rüber ins Haus?” Der Mann schien nicht recht zu glauben was er hörte, vielleicht dachte er, er würde halluzinieren. Sie hatte nicht weiter darüber nachgedacht und das wollte sie auch nicht. Es gab nicht viel von Wert in ihrem Haus, er schien nicht gewalttätig zu sein und selbst wenn er es war, war er in dem Zustand nun wirklich keine ernste Bedrohung. „Ich kann Sie schlecht in diesem Zustand hier liegen lassen. Es wimmelt hier nur so von Ratten. Es ist eiskalt und dieser Schuppen hier ist zugig und bietet quasi keinen Schutz vor der Feuchtigkeit.” Sie war selbst erstaunt, wie fest ihre Stimme plötzlich klang.

Der Blick des Mannes spiegelte dessen Verwirrung wieder. Doch in seinen Augen war auch eine Spur Skepsis und Misstrauen zu entdecken. Diesen wilden Mix an Gefühlen kannte sie nur zu gut. Anderen Menschen konnte man nun mal einfach nicht vertrauen.

Zehn Minuten später hatte sie es geschafft, den Mann die wenigen Schritte zu ihrem Haus und dort in die Stube zu bringen. Es war ihr ein Rätsel, wie sie das geschafft hatte. Der Mann war erstaunlich schwer gewesen. Zumindest hatte er sich alle Mühe gegeben ihr zu helfen. Nun saß er total erschöpft da und wartete darauf, dass sie fertig wurde die Couch umzubauen und eine Decke darüber zu legen. Auch das Glas Wasser nahm er dankbar an und leerte es.

„Legen Sie sich ruhig hin, ich werde ihnen noch einen fiebersenkenden Tee machen.” Mit diesen Worten und ohne auf eine Antwort zu warten ging sie in die Küche.

Schnell war der Tee gekocht, ein paar Brote geschmiert und das alles auf ein Tablett gepackt. Doch der Mann war währenddessen offenbar auf der Couch eingeschlafen, aber selbst im Schlaf wirkte er angespannt und unruhig. Einen Moment beobachtete sie die schlafende Gestalt. Dann holte sie von oben eine Decke, die sie über den Mann ausbreitete.

Obwohl er ganz offensichtlich total am Ende war, wachte er direkt wieder auf, doch er blickte sie nur kurz aus müden Augen an, bevor diese wieder zufielen und er wieder einschlief.

Noch einen Moment blickte sie auf den fremden Mann auf ihrer Couch hinab, bevor sie sich in die Küche zurückzog und ihn in Ruhe weiterschlafen ließ. Unentschlossen räumte sie eine Tasse in die Spülmaschine und wischte mit einem Lappen über die Oberflächen. Sie wusste nicht so recht, was sie tun sollte. Sie war aufgekratzt und ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Sie schaltete das Licht in der Küche aus und setzte sich ans Fenster, um hinaus in den Hof zu sehen.

Ihre Gefühle und Gedanken waren wirr. Unsicher darüber, ob sie nun froh sein sollte, dass der Schatten keine Einbildung gewesen war oder nicht blickte sie in die spiegelnde Scheibe. Das Glas spiegelte sie matt wieder. Ihre hellen, blauen Augen wirkten irgendwie stumpf und dunkel. Die blonden Haare, die sie zu einem losen Pferdeschwanz gebunden trug sahen in der Fensterscheibe dunkel und irgendwie dreckig aus. Ihr Gesicht wirkte ebenfalls alt und fleckig, obwohl sie wusste, dass sie mit ihren gerade einmal 22 Jahren, noch keine Altersanzeichen im Gesicht hatte. Das einzig wirklich Reale, das ihr die Fensterscheibe zeigte, war die große, tiefe Falte, die sich auf ihrer Stirn gebildet hatte. Ein Teil von ihr war immer noch erleichtert und scherte sich nicht weiter um die Probleme, die diese Realität ihr nun bescherten. Der andere Teil machte sich heftige Sorgen gerade weil es real war. Da war ein sehr realer, fremder Mann in ihrem Wohnzimmer und zu allem Überfluss wirkte er unruhig, schon beinahe wie auf der Flucht. Wie sollte man diese Panik in seinen Augen sonst interpretieren? Die Idee behagte ihr ganz und gar nicht, denn vor wem könnte man hierzulande schon auf der Flucht sein? Doch eigentlich nur vor der Polizei. Kopfschüttelnd schob sie den Gedanken beiseite, es brachte nichts ihn weiter zu verfolgen, wenn sie es täte, würde sie nur noch unruhiger werden und das würde niemandem etwas bringen. Vielleicht gab es ja auch eine ganz harmlose Erklärung, die ihr nur noch nicht eingefallen war.

Draußen wurde das Wetter rasant schlechter, immer seltener lugte der Mond durch die schweren, dunklen Wolken und der Wind gewann deutlich an Kraft. Nach fast einer Stunde entschloss sich Vanessa noch einmal nach dem fremden Mann zu sehen und danach würde sie versuchen selbst ein wenig zu schlafen.

Sie erhob sich von ihrem Stuhl und verließ die Küche, durchquerte den Flur und betrat die Stube. Zu ihrer Überraschung saß der Mann aufrecht da und schien zu lauschen. Seine Züge waren angespannt, konzentriert und er sah schon wieder aus, als würde er gleich weglaufen wollen. Seine braunen Augen richteten sich auf sie. Misstrauen war in ihnen zu sehen.

„Ich denke, es wird heute Nacht noch ein Gewitter geben, das Wetter hat sich extrem verschlechtert.” Es war der Versuch ihn etwas zu beruhigen. Wie auf ein Stichwort heulte der Wind draußen auf und ein loser Ast wurde gegen das Fenster geweht. Es klang schon teilweise ziemlich merkwürdig, wenn der Wind draußen die alten Bäume zum Knarren brachte und gegen die Fensterscheiben hämmerte. In ihrer ersten Nacht allein im Haus, hatte es auch so gestürmt, sie erinnerte sich noch sehr gut daran, dass sie kein Auge zubekommen hatte.

Doch ihre Worte schienen den Mann nicht zu beruhigen. „Trinken Sie den Tee, der wird Ihnen gut tun.” Vanessa goss ihm etwas von dem dampfenden Tee ein, der nach Salbei und Kamille roch und setzte sich auf das kurze Ende der L-förmigen Couch.

Ein wenig zögerte er, doch dann griff er nach dem Becher und trank vorsichtig davon. Ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen. Für einen Moment entspannten sich auch seine Gesichtszüge ein wenig, doch das hielt nicht lange an. Seine steigende Nervosität war plötzlich wieder da. Vanessa verstand nicht, was in ihm vor sich ging. Hatte er vielleicht doch irgendein krummes Ding vor?

Seine Muskeln waren angespannt und er wirkte wieder irgendwie leicht abwesend. Es war vielleicht keine so dumme Idee ihn einfach in Ruhe zu lassen, doch genau in diesem Moment erklang ein ohrenbetäubendes Schrillen. Vanessa stieß einen erschrockenen Laut aus und ihr Herz blieb einen Moment stehen bevor es losraste.

Natürlich kannte sie dieses Geräusch. Es war die alte, mechanische Klingel, die im Flur angebracht war. Dieses Ding war praktisch wenn sie oben war, doch wenn man sich im Erdgeschoss aufhielt, war diese Klingel einfach nur viel zu laut. Auch der Mann war heftig zusammengefahren und starrte Vanessa nervös an.

Vanessa packte all ihren Mut zusammen und erhob sich. Ein Blick auf die Uhr, die an der Wand hing, fachte die Wut, die in ihr aufstieg, noch an: Es war kurz vor drei Uhr morgens!

Langsam erhob sie sich. „Ich schau mal wer da ist und jage ihn zum Teufel.” Ihre Stimme bebte noch leicht und der Schreck saß ihr noch tief in den Gliedern. Je mehr der Schreck aber langsam nachließ, desto mehr stieg in dieser Zeit ihr Groll gegen den Störenfried an. Wer in aller Welt mochte morgens um drei die Dreistigkeit besitzen bei ihr zu klingeln? Kopfschüttelnd und total verärgert beeilte sie sich dann zur Tür zu kommen. Das Letzte was sie wollte war, dass diese verfluchte Klingel gleich noch einmal loslegte. Sie schaltete das Licht in der Stube reflexartig aus und trat hinaus in den Flur, von wo aus sie schon durch die Haustür mit den Glaseinsätzen jemanden stehen sehen konnte. Neben der Tür, dort wo die Treppe zum ersten Obergeschoss lag, war ein kleines Fenster, dass sie kippte um mit den nächtlichen Störenfrieden zu sprechen. Zusätzlich nahm sie das Telefon, das auf der Kommode stand und wählte die Notrufnummer; den Daumen ließ sie über dem Rufknopf verweilen. Sicher war sicher und wenn hier irgendetwas schief ging wollte sie nicht unvorbereitet sein.

„Wer sind Sie und was wollen Sie?“ Ihre Stimme klang unfreundlich, genervt und wenig begeistert. Sie hatte auch nicht vor, an dieser Tonlage noch etwas zu ändern, sollte ruhig jeder mitbekommen, wie wenig erfreut sie über diese Störung war.

„Wir sind auf der Suche nach einem entflohenem Häftling, ist Ihnen etwas Ungewöhnliches aufgefallen?“, antwortete der Mann etwas unfreundlich.

In ihren Ohren klang das, als wäre sie in einem wirklich schlechten Film gelandet. Irgendwie weigerte sie sich das Gehörte wirklich ernst zu nehmen. Vor allem deshalb, weil sie sich fragte, wie es sein konnte, dass der Mann in ihrer Stube seit mindestens zwei Tagen schon hier war, aber erst heute jemand kam, noch dazu mitten in der Nacht und obendrein sollte man doch wohl meinen, dass man von einem entflohenen Häftling etwas gehört hätte. Objektiv war diese Einschätzung natürlich nicht, wenn sie wirklich einen entflohenen Häftling suchten, dann hieß das, dass der Mann vor ihrer Tür von einer offiziellen Stelle kommen musste und von den ganzen Menschen, die dort arbeiteten hielt sie gar nichts. Sie musterte ihn durch die Scheibe. Er war etwas größer als sie, hatte schwarze, kurze Haare, die an seinem Kopf klebten als habe er sie mit Fett eingeschmiert. Er trug eine schwarze Bomberjacke und dunkle Jeans.

„Nein, mir ist nichts Außergewöhnliches aufgefallen, mit Ausnahme ihrer Störung.“

Die Gesichtszüge des Mannes verhärteten sich kurz. Er wirkte verärgert und schien keine wirkliche Lust zu haben mit ihr zu sprechen. Gut so, denn sie war auch verärgert über die späte Störung und hatte mindestens genauso wenig Lust sich jetzt mit ihm zu unterhalten. „Dürften wir uns hier auf dem Gelände und im Haus einmal umsehen, der Mann ist wirklich sehr gefährlich.”

Ohne weiter darüber nachzudenken schüttelte sie den Kopf. „Wenn Sie keinen Durchsuchungsbefehl oder etwas Vergleichbares haben, haben Sie auf meinem Grundstück nichts verloren und wenn Sie einen hätten, hätten Sie ihn mir sicher schon gezeigt. Einen schönen Abend noch.” Ihre Abneigung war wohl nicht zu übersehen und sie wollte den Fremden, der garantiert alles war nur nicht das was er zu sein vorgab, nur noch loswerden. Die Geschichte mit den Häftling war unter Garantie gelogen genau wie wohl alles andere, was noch aus seinem Mund kommen würde. Es schien einen Moment so, als wollte der Mann widersprechen, doch dann legte ihm seine Kollegin, die ihr bis zu dem Moment nicht aufgefallen war und die sie nur als dunkle Gestalt im Hintergrund sehen konnte, eine Hand auf die Schulter. Vanessa war etwas verwirrt und fragte sich, wieso sie die zweite Gestalt nicht einmal bemerkt hatte, doch dann entschuldigte sich der Mann vor der Haustür etwas steif für die späte Störung.

Sie konnte beobachten, wie die Beiden ihren Hof verließen und in ein Auto stiegen, welches vorn auf der Landstraße geparkt war. Sie konnte von dem Auto nicht viel erkennen, aber wie zu erwarten war es kein offizielles Fahrzeug, kein Blaulicht, keine Aufschrift auf der Seite. Nichts wies darauf hin, dass die beiden Kerle überhaupt von irgendeiner Stelle gekommen waren. Als die Männer davonfuhren nahm sie den Daumen vom Rufknopf und löschte die Notrufnummer aus der Wahlanzeige.

Ob die sich womöglich in der Scheune bedienen wollten? Oder hatten sie vielleicht geglaubt, dass Haus stehe leer? Vermutlich war das alles nur ein dummer Zufall gewesen. Allerdings glaubte sie daran nicht wirklich. Kopfschüttelnd machte sie sich wieder auf den Weg in die Stube, um nach ihrem Gast zu sehen. Gast war eine merkwürdige Bezeichnung für den Fremden, aber eine Bessere fiel ihr gerade nicht ein.

Der Mann war noch blasser als vorher und seine Nervosität war nicht weit von einer handfesten Panik entfernt. Seine Augen musterten Vanessa und ließen sie keinen Moment aus dem Blick. Sie fühlte sich unwohl und wollte die Situation etwas entspannen, wusste aber nicht genau wie, also setzte sie sich wieder hin und sagte dann: „Zwei sehr komische Gestalten, die angeblich einen entlaufenen Häftling suchen. Allerdings ohne Uniformen, ohne Namensschilder und ohne die Notwendigkeit zu sehen sich überhaupt mal irgendwie auszuweisen oder auch nur vorzustellen. Amateure!”

Sein Blick, seine ganze Haltung erinnerten Vanessa daran, wie sie sich gefühlt hatte, wenn es um die so genannten Zwischengespräche gegangen war. Immer war da die Angst im Nacken, der Arzt könnte eine blöde Frage stellen, immer die Furcht eine der gegebenen Antworten könnte ihm nicht passen. Immer wieder das vertröstet werden auf das nächste Gespräch. Eilig schüttelte sie die Gedanken ab, das war nun wirklich nicht der passende Moment um sich mit solchen Erinnerungen herumzuplagen.

Neugierig blickte sie den Mann an. Wer mochte er wohl sein? War er womöglich wirklich auf der Flucht? Wenn ja, warum und vor wem? Doch keine dieser Fragen kam über ihre Lippen. Zu den Schatten ihrer eigenen Vergangenheit wollte sie auch keine Fragen gestellt bekommen. „Ich werde keine Fragen dazu stellen“, stellte sie schließlich fest und blickte dem Mann dabei in die Augen. „Es geht mich nichts an und interessiert mich auch nicht wirklich.”

Der Mann wirkte nicht überzeugt, aber das konnte sie ihm nicht mal verübeln, sie traute auch niemanden und gab auch nichts auf irgendwelche Worte. Demnach wunderte es sie auch nicht wirklich, dass das Misstrauen in seinem Blick einfach dort blieb und er eine List zu wittern schien. Seine Hände zitterten leicht und er wirkte angespannt, aber von Müdigkeit war keine Spur mehr zu erkennen.

Ihr Blick glitt über das ungepflegte Äußere des Mannes, die frischen Blutspuren von der kleinen Wunde an der Stirn, über seine abgerissene Kleidung und blieb an seinen braunen Augen hängen. „Sie könnten, wo Sie scheinbar wieder etwas munterer sind, duschen oder ein Bad nehmen und wir könnten danach versuchen Ihre Verletzungen zu verbinden und vor allem zu versorgen, soweit sich da was machen lässt.”

Er nickte zustimmend. Auch wenn wer immer noch etwas hin- und hergerissen aussah, aber immerhin entspannte sich seine Haltung etwas. Etwas verspätet unterstrich er sein Nicken mit: „Duschen wäre toll.” Das Misstrauen verschwand nicht ganz, aber in seinen Blick mischte sich nun wieder Dankbarkeit. Das Gefühl jemanden zu helfen, brachte sie wieder zu einem kleinen Lächeln.

„Gut, dann kommen Sie mit”, forderte sie ihn auf, griff aber zu, als der Mann nur schwankend auf die Beine kam. Vorsichtig half sie ihm durch den Flur zurück und dann die Treppe hinauf, die ihn fast zu überfordern schien. Doch die Vorfreude auf eine Dusche ließ ihn selbst diese Hürde noch überwinden.

Durch einen weiteren Raum ging es oben ins Badezimmer. Ein großer, gefliester Raum in dem - neben der Dusche - noch eine Badewanne zu finden war, sowie ein großer Spiegel und zwei Waschbecken. Trotzdem wirkte der Raum irgendwie leer. Die Dusche war wirklich geräumig und hatte zwei Stufen auf die man sich sogar beim Duschen setzen konnte, obwohl sie selbst sie als Abstellfläche für Duschgel, Shampoo und ähnliches nutzte.

Der Mann wirkte froh, als er das Bad als solches endlich erreicht hatte. Sie half ihm sich erst mal auf die Einfassung der Badewanne zu setzen und begann dann alles Notwendige zusammen zu suchen. Frische Handtücher, einen Waschlappen und zum Schluss holte sie noch eine Decke mit Ärmeln hervor. Etwas anderes hatte sie einfach nicht da. Sie schlug vor seine Klamotten im Anschluss kurz zu waschen. Eine Idee, die ihm zusagte. Das Misstrauen war fast vollständig aus seinem Blick verschwunden, aber dafür schlich sich die Müdigkeit und Erschöpfung wieder hinein.

Schnell erklärte sie ihm die Details zur Dusche, bei der man wirklich aufpassen musste, sonst endete man frisch gekocht. Danach ließ sie den Mann allein, den Rest würde er ohne ihre Hilfe hinbekommen müssen. Um sich zu beschäftigen, ging sie wieder hinunter in die Küche, kochte noch etwas Tee und füllte diesen in eine Thermoskanne, schnitt etwas Obst auf und versuchte ihre Gedanken an die Leine zu legen. Dutzende Fragen und Theorien kreisten durch ihren Kopf. Vor allem die beiden Störenfriede gingen ihr nicht aus dem Kopf. War es wirklich Zufall gewesen, dass sie hier aufgekreuzt waren? Kannte der Mann, der gerade unter ihrer Dusche stand, die beiden vielleicht sogar? Wenn dem so wäre, dann würde das vielleicht seine Nervosität erklären. Zu einem befriedigenden Ergebnis kam sie bei ihren Fragen nicht.

Es dauerte fast eine ganze Stunde bis der Mann schließlich wieder aus dem Bad trat. Vanessa hatte im Flur gewartet, nachdem sie unten mit allem fertig gewesen war. Es war wirklich erstaunlich, was eine einfache Dusche schon alles bewirken konnte. Der Mann wirkte nur noch halb so wild wie vor dem Duschen. Die Wolldecke mit den Ärmeln hatte er eng um sich geschlungen und mit einem gleichfarbigen Band zugebunden so das sie wie ein Bademantel funktionierte. Vanessa musste sich ein Grinsen verkneifen, denn es sah etwas komisch aus.

Der Weg nach unten gestaltete sich für beide als ein ziemlicher Kraftakt und Vanessa war genauso froh wie er, als sie endlich in der Stube angekommen waren. Obwohl der Mann sichtlich erschöpft war, glitt sein Blick hungrig über die Brote und das Obst. Vanessa goss ihm einen weiteren heißen Tee ein und machte sich dann auf den Weg nach oben, um die Wäsche in die Maschine zu räumen und diese anzustellen.

Ein guter Teil des Obstes und auch der Brote waren verschwunden, als sie wieder in die Stube kam und dem Mann war die Erschöpfung und die Müdigkeit deutlich anzusehen.

„Vielleicht legen Sie sich ruhig hin. Ich vermute, alles andere können wir sicher auch nach einer Ruhephase erledigen.” Sie wartet das zustimmende Nicken ab, legte ihm dann das Telefon hin und wies ihn eben in die Benutzung ein. Ein weiterer Apparat stand oben auf ihrem Nachttisch, so würde er sie erreichen können, wenn irgendwas wäre. Im Anschluss wünschte sie ihm noch eine gute Nacht, bevor sie sich auf den Weg nach oben machte.

Die Tür zum Treppenhaus und die zum Schlafzimmer verschloss sie sicherheitshalber. Dann schlüpfte sie schnell in ihren Schlafanzug und legte sich hin. Ihre Gedanken drehten sich noch eine Weile im Kreis und brachten immer und immer wieder dieselben Fragen zu Tage, bis sie schließlich irgendwann einschlief.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel und fiel auf die rote Bettwäsche mit den goldenen Ornamenten unter der Vanessa geschlafen hatte. Wohlig räkelte sie sich in ihrem Bett und streckte ihre Glieder weit aus. Friedlich lauschte sie einen Moment den Vögeln, die draußen vor sich hin zwitscherten. Plötzlich war sie hellwach und saß aufrecht im Bett. Da waren sie: Die Erinnerungen an die letzte Nacht. Für einen winzigen Moment dachte sie darüber nach, ob es womöglich alles nur ein Traum gewesen sein könnte. Hatte sie wirklich gestern Abend diesen fremden Mann in ihr Haus geholt? Sämtliche Reste von Müdigkeit waren sofort wie weggeblasen. Dafür schlich sich nun Unbehagen in ihre Gefühle. Sie ließ sich zurück auf die Kissen fallen und zog die Bettdecke über ihren Kopf. Da sie aber keine Ruhe mehr fand, schwang sie die Beine aus dem Bett und streckte sich noch einmal ausgiebig während sie einen Blick auf die Uhr warf.

Nachdem sie geduscht hatte und die Sachen im Trockener lagen begab sie sich, mit einem flauen Gefühl im Magen, die Treppe hinunter.

Leise, um ihn nicht zu wecken, durchquerte sie den Flur und betrat die Stube. Zu ihrer Überraschung saß er schon dort, aß das was noch übrig war und trank offenbar den Tee aus. Er blickte sie an und nickte ihr zu. Erstaunt musterte sie ihn. Die blauen Flecke und Schwellungen in seinem Gesicht und sogar die kleine Platzwunde an seiner Stirn sahen wesentlich besser aus, als sie es in Erinnerung hatte. Der Anblick irritierte sie so stark, dass sie im ersten Moment nicht wusste was sie sagen sollte. Doch dann riss sie sich davon los und blickte in die haselnussbraunen Augen, die sie genau musterten. Hauptsächlich um überhaupt etwas zu sagen, fragte sie: „Ich mache mir ein Müsli und einen Kaffee, möchten Sie vielleicht auch?” Ihre Stimme klang etwas steif, obwohl sie das nicht beabsichtigt hatte.

„Ja, das wäre toll.” Eilig verließ sie daraufhin die Stube. In der Küche atmete sie tief durch. Das konnte ja heiter werden, wenn sie sich so leicht aus dem Konzept bringen ließ.

Haferflocken, Nüsse, ein Löffel Honig, je einen Apfel und Naturjoghurt waren schnell zu einem leckeren Müsli gemischt und auch der Kaffee war bald darauf fertig. Sie brachte alles in die Stube und stellte es auf den Tisch, dann setzte sie sich. Eigentlich aß sie viel lieber in der Küche, aber in dem Fall würde sie da eine Ausnahme machen.

„Wie geht es Ihnen heute?”, fragte sie nach einer Weile des Schweigens.

„So gut wie seit Wochen nicht mehr”, gestand er und Vanessa konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Erneut glitt ihr Blick über sein Gesicht. Konnte sie sich so getäuscht haben? War das in ihrer Erinnerung vielleicht einfach nur viel dramatischer, als es wirklich war? Vielleicht hatte es auch an der Beleuchtung gelegen. Zumindest aber freute es sie, dass es ihm wieder etwas besser ging. Ein Teil fragte sich aber dennoch, was seine Worte wohl wirklich zu bedeuten hatten oder ob es sich dabei nur um eine höfliche Floskel gehandelt hatte.

„Es tut mir Leid, dass ich Ihnen solche Umstände bereite”, fuhr er fort und klang dabei erstaunlich aufrichtig.

„Muss es nicht, es war meine Entscheidung.” Sie zuckte leicht die Schultern. Um ihre Neugier zu befriedigen hätte sie gern eine ganze Menge Fragen gestellt doch sie biss sich auf die Zunge. Eines war ihr aber klar, die Theorie, dass es sich bei dem Mann hier um einen herkömmlichen Landstreicher handelte, hinkte. Sie war sich nicht so ganz sicher, woran diese Einschätzung genau lag, aber sie wurde sie einfach nicht los. Als ihr auffiel, dass er sie anlächelte wurde ihr bewusst, dass sie ihn seit einer geraumen Weile angaffte, als wäre er ein exotisches Tier.

„Was ist?”, fragte sie verunsichert. Sie konnte Menschen noch nie sonderlich gut einschätzen und war sich nicht sicher, wie sie dieses Lächeln deuten sollte. Ihren Blick heftete sie nun aber auf einen Punkt jenseits der großen Fensterscheibe, die den Blick auf ihren Garten und die Terrasse gewährte.

Er zuckte leicht die Schultern bevor er antwortete. „Diese Situation ist…”

„Merkwürdig!”, beendete sie seinen Satz und musste grinsen.

„Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir Ihren Namen zu verraten?”, fragte Vanessa, die sich dazu entschieden hatte, es mit etwas Smalltalk zu versuchen. Dabei sollte man nicht viel verkehrt machen können, zumindest hoffte sie das.

„Ramon. Und Sie heißen?”

„Vanessa.” Bei der Nennung ihres Namens, musste er nun grinsen und sie kam nicht umhin nachzuhaken: „Verraten Sie mir, was an dem Namen so witzig ist?”

„Nessi.” Schon in der Grundschule hatte man sie damit aufgezogen. Vor allem im Schwimmunterricht waren immer wieder Anspielungen auf das Monster von Loch Ness gefallen. Zum Glück hatte sie das damals schon nicht sonderlich gestört und heute gab sie auf die Meinung anderer Menschen eh nichts mehr. Trotzdem verdrehte sie leicht die Augen, obwohl sie dabei grinsen musste.

„Ihre Sachen sind im Trockener, an die hatte ich in der Nacht dann doch nicht mehr gedacht. In spätestens zwei Stunden sollten sie trocken sein.” Ihr Blick fiel erneut auf die Platzwunde, die er sich gestern zugezogen hatte. „Es ist erstaunlich. Sie sehen wirklich schon viel besser aus als vorhin.” Es war immerhin lediglich eine Feststellung gewesen und keine Frage.

Ramon brummte, nickte und fühlte sich dann scheinbar sogar genötigt dazu etwas zu sagen. „Ich kuriere Krankheiten und Verletzungen in der Regel sehr schnell aus.” Der Ton in dem er das sagte wirkte angespannt, ja beinahe so, als befürchte er zu viel zu verraten.

„Eine nützliche Fähigkeit”, überlegte sie, doch ihr fiel auf, dass das nicht unbedingt seine Zustimmung zu finden schien. Doch sie beließ es dabei, denn es war offensichtlich, dass der Smalltalk hier nicht weiterging. Zwar war ihr absolut nicht klar, was das Problem nun eigentlich war, aber sie akzeptierte es einfach.

Nachdem sie den Rest der Zeit schweigsam gegessen hatte, schlug sie im Anschluss vor, dass er sich noch etwas ausruhe.

Sie selbst machte sich an den Haushalt, räumte in der Küche auf, putzte das Bad und schließlich flickte sie noch die Klamotten, die aus dem Trockener kamen. Besser wurden die Sachen davon auch nicht, aber zumindest rissen sie so nicht weiter kaputt. Ihr fielen die vielen Flecken auf, die die Maschine nicht aus dem Stoff bekommen hatte und sie war sich ziemlich sicher, dass die meisten davon wohl Blut waren. Für einen Moment versuchte sie sich vorzustellen, wie diese ganzen Defekte und Flecke in die Kleidung gekommen sein mochten, doch das stellte sie eilig wieder ein, denn es brachte sie nirgendwo hin. Als sie auch mit der Reparatur durch war und ihr gar nichts mehr einfiel, was sie noch erledigen musste, ging sie mit den Kleidungsstücken wieder in die Stube.

Mit leicht zerzaustem Haar und einer leicht verrutschten Decke saß er dort. Die haselnussbraunen Augen blinzelten eine Spur zu schnell und sie erkannte, dass sie ihn wohl geweckt haben musste. „Tut mir Leid, wenn ich sie geweckt habe.” Mit den Worten legte Vanessa die Kleidung auf die Couch und wollte sich zum Gehen wenden.

„Vanessa?”, er wartete bis sie ihn ansah, bevor er weitersprach, „Ich glaube ich war vorhin etwas unhöflich, das tut mir Leid. Meine Manieren lassen manchmal zu wünschen übrig, okay, meistens und ich bin es nicht gewohnt, mit Leuten zusammen zu sein. Ich bin eher ein Einzelgänger.” Es schien ihm wichtig zu sein, dies klarzustellen.

„Ich bin auch nicht wirklich der perfekte Gastgeber und vermeide jeden Besuch, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt”, sie zuckte leicht die Schultern und lächelte dann kurz. „Machen Sie sich also darüber keine Gedanken.”

Ramons Blick fiel auf die Wäsche und er wirkte überrascht und erfreut. „Sie haben sie repariert?!”

„Ich dachte mir, dass sie so vielleicht wieder sinnvoller nutzbar sein dürften und vor allem nicht weiter einreißen sollte.” Erst jetzt kam ihr in den Sinn, dass andere Leute das vielleicht hätten anders sehen können, auf der anderen Seite war es nun einmal fertig und man konnte daran nicht mehr viel ändern.

„Ich weiß wirklich nicht, wie ich das wieder gut machen soll.”

Vanessa schüttelte den Kopf. „Ist schon okay.” Wieder breitete sich eine unangenehme Stille aus, wie sie nur dann existierte, wenn keiner mehr etwas zu sagen wusste.

„Ich werde gleich Mittagessen kochen. Mögen sie lieber Spaghetti mit Pesto oder Kartoffelauflauf?” Allein der Gedanke, schien bei Ramon schon fast Begeisterung auszulösen. Er bot ihr sogar an zu helfen doch Vanessa lehnte dies direkt ab. „Sie ruhen sich lieber noch ein wenig aus, ich will sowieso kochen.” Für einen Moment glaubte sie eine Spur Misstrauen in seinem Blick zu sehen, doch dann nickte er.

Diesmal aßen sie in der Küche. Es fiel kein Wort, außer den üblichen Höflichkeiten. Schließlich lehnte er sich mit einem wohligen Laut, nach dem zweiten Teller, auf seinem Stuhl ein wenig zurück und schien rundum satt zu sein.

Da während des Essens schon die Post gekommen war, konnte sie diese direkt im Anschluss in die Küche holen. Drei Briefe, etwas Werbung, die sie sofort zur Seite sortierte und einen Zettel. Der Zettel interessierte Vanessa am meisten also klappte sie ihn direkt auf und las: „Der Mann, der sich auf ihrem Hof versteckt ist ein Jäger. Verhalten Sie sich unauffällig und verständigen Sie uns. Versuchen Sie auf keinen Fall wegzulaufen.” Dann folgte eine Handynummer. Eine tiefe, steile Falte entstand auf ihrer Stirn. War das eine Nachricht von den späten Störenfrieden? Was sollte sie bedeuten? Ramons Haltung war wieder angespannt und er musterte sie aus wachsamen Augen.

Schließlich schüttelte sie leicht den Kopf. „Diese beiden komischen Gestalten von gestern Abend scheinen sehr hartnäckig zu sein.” Bei diesen Worten schob sie den Zettel zu dem Mann hinüber, der ihn las und deutlich blasser wurde. Interessiert und ohne wirklich zu verstehen, was genau hier lief, beobachtete sie die Reaktion von Ramon.

Verunsicherung lag in seinem Blick und wieder eine Spur Furcht, als er sie wieder anblickte. „Ich werde Ihnen nichts tun, ich bin wenn Sie wollen sofort weg. Ich nehme meine Sachen und gehe.”

Sie verzog ein wenig das Gesicht und stellte dann fest: „Ich mag keine Jäger.” Es war die Wahrheit und es war kein Geheimnis, schon einmal hatte sie sich mit den örtlichen Jägern angelegt, ob der Wind womöglich von daher wehte?

Der Mann lachte frustriert und es klang fast schon verbittert: „Es gibt kaum jemanden der uns mag.”

Ihr Mitleid hielt sich nun wirklich in Grenzen. „Nun ja, es gibt denke ich einfach Menschen, die der Meinung sind, dass man keine Bambi-Mörder mehr braucht. Die Luchse sind wieder da, die Wölfe auch und wenn ich mir die ständigen Jagdunfälle in der Zeitung so ansehe… ”, sie unterbrach sich als sie den verwirrten Blick des Mannes bemerkte, der offenbar nicht wirklich verstand, was sie ihm sagen wollte. „Irgendwie habe ich den Eindruck wir reden hier nicht von einem schießwütigen Irren, der nachts die Wälder unsicher macht und Jagd auf Bambis, Wildschweine und Kaninchen macht.”

Ramon schien sich nicht sicher zu sein, was er darauf sagen sollte, er wirkte ein wenig überfahren, gedachte aber offenbar nicht, sie aufzuklären.

Vanessa beendete das Thema dann einfach mit einem Schulterzucken, nahm den Zettel, zerknautschte ihn und warf ihn dann in die Tonne. „Ist ja aber auch eigentlich egal, ich habe keine Lust mich in Ihre Probleme oder die der Störenfriede von gestern Nacht reinzuhängen.” Die Art wie Ramon sie daraufhin anstarrte zeigte ihr deutlich wie merkwürdig ihr Verhalten offenbar war. Vielleicht waren ihr aber auch kleine, grüne Antennen aus dem Kopf gewachsen. Eine Erklärung für dieses Verhalten hatte sie nicht, aber sie sparte es sich auch dabei nachzuhaken.

Nachdem sie noch einen Nachschlag angeboten hatte, den Ramon aber ablehnte, begann sie die Sachen wegzuräumen. Ihn schickte sie, als er Anstalten machte ihr helfen zu wollen, auf die Couch zurück mit dem ganz klaren Auftrag sich auszuruhen, dem dieser auch nach kurzem Zögern nachkam.

Nachdem sie die Küche fertig aufgeräumt hatte, sah sie kurz nach Ramon, der aber lang ausgestreckt auf der Couch lag und schlief. So holte sie sich ein Buch von oben und setzte sich in die Küche um zu lesen.

Erst kurz vor der üblichen Abendessenszeit wurde sie bei ihrer Lektüre unterbrochen, als die Tür zur Küche geöffnet wurde. Sie war nicht sonderlich überrascht, dass es Ramon war, sie hatte ihn bereits kurz zuvor gehört - doch Ramon war nicht allein. Für den Bruchteil einer Sekunde meinte sie hinter ihm einen Schatten auszumachen, doch er war verschwunden bevor sie ihn wirklich ganz erfassen konnte. Sofort verlor sie alle Farbe aus dem Gesicht und spürte wie ihre Hände leicht zu zittern begangen.

„Ich wollte Sie nicht erschrecken”, entschuldigte sich Ramon sofort.

Eilig schüttelte sie den Kopf. „Das Buch war nur so spannend…”, erwiderte sie, sah aber das Stirnrunzeln, welches sich kurz auf seiner Stirn abzeichnete. Diese Erklärung war natürlich völlig unsinnig, denn ein einziger Blick auf den Titel des Buches offenbarte jedem, dass es sich um ein Sachbuch handelte, das versuchte dem geneigten Leser die neuesten Entdeckungen in der Biologie verständlich zu machen. Damit war es nicht unbedingt die passende Lektüre um daraus aufzuschrecken. Sie holte schon Luft um dem etwas hinzuzufügen, entschied sich dann doch dagegen, ihr fiel auf die Schnelle so absolut gar nichts ein, was geeignet gewesen wäre.

Themawechsel, das war genau der richtige Zeitpunkt dafür. Sie klappte das Buch zu. „Haben Sie Hunger?”

„So einfach zu durchschauen, was?”, er verzog das Gesicht zu einem Grinsen, das einfach nur ansteckend wirkte.

„Was sonst sollte man in einer Küche wollen?” Der verlegene Ausdruck in seinem Gesicht entging ihr nicht.

Ramon nickte. „Ein wenig. Ich hatte gehofft die Reste vom Mittag zu finden”, gestand er und fühlte sich dabei offensichtlich etwas unwohl.

Schnell erhob sich Vanessa, holte einen Teller aus dem Schrank, tat die Reste auf und schob sie in die Mikrowelle. Unterdessen betrat er vollständig die Küche, schloss die Tür wieder hinter sich und setzte sich auf den Stuhl auf dem er heute Mittag schon gesessen hatte.

Sie selbst hatte keinen Appetit nach der Situation gerade. Krampfhaft versuchte sie sich zu beruhigen, vermutlich war das nur ein ganz harmloser, optischer Effekt gewesen. Eine kleine Unschärfe beim schnellen Wechsel vom fixierten auf-die-Buchstaben-starren hin zur Tür. Natürlich, das klang logisch und vermutlich war es nichts anderes. Vermutlich war das nur wieder eine ihrer Überreaktionen. Wenn es um diese Schatten ging, brannten bei ihr immer irgendwelche Leitungen durch und sie benahm sich offensichtlich merkwürdig.

„Sie wirken nervös. Möchten Sie, dass ich gehe?”

Erschrocken blickte sie zu ihm. Sie hasste es, wenn Menschen ihre Unsicherheit in solchen Momenten wahrnahmen. Eilig schüttelte sie den Kopf und erwiderte: „Nein, ich bin nur gerade irgendwie - etwas aufgekratzt.”

„Von der Lektüre?” Die Skepsis in den Worten erkannte selbst sie sofort, sie fühlte sich ertappt und irgendwie gar nicht mehr wohl in ihrer Haut. Eilig suchte sie nach einer plausiblen Erklärung, doch noch bevor ihr etwas Passendes eingefallen war, was sie hätte sagen können, entschuldigte er sich für seine Neugier und schien das Thema damit ruhen lassen zu wollen.

Irgendwie entbehrte dieses um-einander-herum-Tanzen, nicht einer gewissen Komik, fand Vanessa. Sie würde ihre Geheimnisse genauso hüten, wie er die Seinigen, soviel stand fest.

Schweigsam beobachtete sie ihn bis die Mikrowelle diese unangenehme Situation kurz unterbrach. Doch bevor das unangenehme Schweigen in dieser Situation überhand nehmen konnte, ergriff er das Wort: „Wenn Sie erlauben, bleibe ich noch diese Nacht und verlasse Sie dann morgen früh.”

Überrascht blickte sie ihn an. „Natürlich, Sie stören mich nicht und auf einen Tag kommt es nicht an. Kurieren Sie sich ruhig aus.”

„Das wäre zu gefährlich. Ich fürchte, ich würde Sie in Schwierigkeiten bringen, wenn ich zu lange hier verweile.”

Sie setzte sich zu ihm an den Tisch und wollte gerade nachfragen, wie genau er das meinte, doch ihre Aufmerksamkeit wurde von einem Geräusch auf sich gezogen. Es klang ein wenig wie Fingernägel die über eine Tafel fuhren, doch eher wie ein Echo, nicht so real, nicht so plastisch. Sie blickte sich um, es schien als habe dieser Laut keinen Ursprung, doch dann glitt ihr Blick über das Fenster und hinaus auf den Hof.

Ihr Atem stockte und ihre Beine wurden weich. Sofort keimte Panik in ihr auf und sie wollte nur fortlaufen. Unter Garantie hätte sie das auch getan, wenn sie sich hätte bewegen können. Sie starrte hinaus. Dort war er. Ein schwer zu fassender schwarzer Schemen, wie eine Gestalt aus schwarzem, zusammenhängendem Rauch. Die Konturen waren nie fest immer in Bewegung, doch der Rauch war so dicht, das man nicht hindurchsehen konnte. Einen Moment verharrte dieses Wesen aus Finsternis und dann verschwand es blitzschnell im alten Scheunengebäude. Selbst als es schon wieder fort war, konnte sie ihren Blick nicht von der Stelle nehmen. Eisige Kälte kroch ihren Rücken hinauf und sie fühlte sich, als würde sie den Boden unter den Füßen verlieren.

Erst eine Berührung an der Schulter holte sie wieder zurück in ihre Küche. Ramon hatte sich erhoben und war an sie herangetreten. Seine Hand lag auf ihrem Arm und er blickte sie alarmiert und besorgt an. Vanessa spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten, die sie weg zublinzeln versuchte. Nun war es wichtig, dass sie eine verdammt gute Erklärung liefern konnte, doch ihr fiel einfach nichts ein. Wieder glitt ihr Blick auf den Hof. Das Wetter war schön und freundlich und doch der Anblick wirkte völlig surreal.

Sie musste sich zusammenreißen. Sie musste dringend etwas sagen oder tun, aber sie konnte einfach nicht. Selbst der Mann vor ihr wirkte nicht real genug, um sich damit zu beschäftigen, und ihr Verstand glitt immer wieder zu dem eben Gesehenen und dem blanken Horror, den sie nun spürte.

„Nessi!” Es war ein harter Laut, der ebenso surreal wie störend wirkte, gefolgt von einem unsanften Rütteln und einem leichten Schmerz, an ihrem Arm. Er hatte sie gepackt und wirkte weder sonderlich geduldig noch sonderlich vorsichtig. Die Berührung war unangenehm und holte sie damit wieder vollständig ins Hier und Jetzt zurück. Sie blickte in das Gesicht des Mannes, in seine schönen, haselnussbraunen Augen und nahm einen angenehmen Geruch wahr, den er verströmte.

Langsam schüttelte sie den Kopf. „Ich…”, begann sie, führte den Satz aber nicht weiter.

„Ist alles in Ordnung?” Diesmal klang die Stimme sanfter und der Druck an ihrem Arm ließ nach.

Vanessa hatte nicht die Kraft zu lügen, aber die Wahrheit konnte sie auch nicht sagen und sie musste trotzdem irgendwie reagieren. Musste irgendetwas tun.

Schließlich nickte sie einfach nur. Sie vermied es Ramon in die Augen zu sehen. Scham löste das Gefühl der Verzweiflung ab.

„Kein Grund sich zu schämen. Sie sollten wohl nur lernen, mit ihrer Gabe besser umzugehen.” Es klang gelassen und ruhig. Irgendwie, als wäre das absolut nichts Besonderes. Sie blickte ihn verwirrt an. Keine Distanziertheit, keine herablassende Art war ihm anzumerken.

Er ließ sie nun endgültig los und reichte ihr ein Glas Wasser. „Trinken Sie einen Schluck.” Gehorsam nahm sie es und leerte das Glas. Er zog einen Stuhl herum, so dass er nun direkt vor ihr saß, nahm ihr das Glas wieder ab und stellte es auf den Tisch. Mühsam versuchte sie sich auf die Gegenwart zu konzentrieren, aber immer wieder glitten ihre Gedanken zu dem Gesehenen. Diese undurchdringliche Schwärze, die Kontur, die trotz der ständigen Bewegung immer noch irgendwie scharf war. Als hätte man mit einem Teppichmesser die Realität an der Stelle herausgeschnitten.

Warme Finger massierten ihre rechte Hand. Ein sehr reales Gefühl, das ihren Fokus wieder zurück in diese Situation brachte. Diese Berührung wirkte wie eine Art Schutzschild, die sich wieder zwischen die Gegenwart und die Vergangenheit schob und es ihr ermöglichte komplett zurück zu kommen.

Je stärker ihre Bindung zur Realität um sich herum wieder wurde, umso mehr wurde ihr bewusst, dass hier etwas gänzlich verkehrt lief. Unruhe machte sich breit. Die leichte Massage an ihrer Hand, die eben noch sehr zweckmäßig und angenehm war, wurde nun unangenehm. Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken. Es war ewig her, dass sie so heftig reagiert hatte und jetzt war es nicht nur wieder passiert, sondern jemand hatte es mitbekommen.

Sie atmete erleichtert auf, als Ramon ihre Hand schließlich losließ. Er blickte sie aufmerksam an, was ihr die Schamesröte ins Gesicht trieb. Sie war sowas von kaputt, ein richtiger Freak. Sie hatte es also nicht überstanden und wenn es einmal passiert war, würde es sicher auch wieder passieren. Ihre Welt brach in sich zusammen und es war ihr, als würde sie in ein tiefes, schwarzes Loch fallen.

„Schauen Sie doch nicht so drein, als ob nun gleich die Welt untergeht.”

Mit einiger Mühe und Kraft hob sie den Blick. Ramon lächelte. Er hatte leicht reden, ihre Welt ging unter, all ihre Hoffnungen lagen in einem großen Scherbenhaufen zu ihren Füßen. Eine Träne rollte über ihre Wange. Sie bemerkte es erst, als sie auf ihre Hand tropfte. Sie schluckte. Ein dicker Kloß saß in ihrem Hals.

„Reden Sie mit mir, Vanessa.”

Vanessa wusste nicht, was sie sagen sollte. Guten Tag, ich bin übrigens irre, deshalb hat man mich jahrelang eingesperrt. Das wäre zwar eine Möglichkeit, aber das brachte sie nicht über die Lippen, obwohl es der Wahrheit entsprach, wie sie bitter eingestehen musste.

„Wir haben alle am Anfang so unsere Probleme mit unseren Gaben. Das vergeht. Sie müssen sie nur akzeptieren und lernen mit ihr zu leben.”

„Gabe?”

Ramon lächelte wehmütig. „Nun ja, oder Fluch, je nachdem aus welcher Perspektive man es genau betrachten will, aber man kann lernen damit zu leben, selbst mit den Schlimmsten von ihnen.”

„Ich glaube ich verstehe nicht so ganz.” Eigentlich verstand sie gerade gar nichts. Machte er sich über sie lustig?

„Wie genau äußert sich Ihre Gabe, Vanessa?”

Ungläubig starrte sie ihn an. Glaubte er wirklich, sie würde ihm davon erzählen? Wie könnte sie denn? Das letzte Mal, dass sie dies getan hatte, hatte sie das ihre Freiheit gekostet. Ein Stich fuhr durch ihr Herz, als sie an diesen Verrat dachte.

„Wie viel schlimmer, als ein Jäger, könnte es schon sein?”, fragte er und es klang beinahe, als wäre das die Krone der schlimmen Dinge.

Sie wusste es nicht, aber hielt es für erheblich schlimmer, immerhin konnte man als Jäger jederzeit aufhören. Oder nicht? So langsam dämmerte ihr, dass das Wort vielleicht noch eine andere Bedeutung haben könnte. Sie hatte seinen verwirrten Blick gesehenen und auch jetzt machte das nur Sinn, wenn die Bedeutung noch eine andere war, die sie einfach nicht kannte.

„Ich weiß es nicht”, gab sie zu. Sie fragte sich ob es wohl clever war einzugestehen, dass man nicht wirklich verstand, was er mit Jäger nun genau meinte.

„Was haben Sie gesehen, Vanessa?”, fragte er sanft.

Für einen Moment biss sie sich auf die Zunge, doch dann gab sie auf. Seine Reaktionen waren so ungewöhnlich, dass sie dem Drang nachgab darüber zu sprechen, auch wenn das höchstwahrscheinlich ein Fehler war. „Einen Schatten. Mitten auf dem Hof.” Sie atmete tief durch und fügte hinzu: „Nach einem Moment ist er in der Scheune verschwunden.” Kaum waren die Worte ausgesprochen, hätte sie sie gern zurückgenommen.

„Sind sie ihm jemals gefolgt, Vanessa?”

Die Frage hatte in etwa die Wirkung als ob man ihr einen Holzhammer vor den Kopf geschlagen hätte. Wieso sollte sie einem Hirngespinst jemals hinterher gelaufen sein? Seine Züge enthielten zu ihrer Verwunderung, keinen Spott, es sah beinahe so aus, als würde er das ernst meinen.

„Schauen Sie nicht so, wenn Sie nicht genau wissen was Ihre Gabe ist, könnte das ein Anhaltspunkt sein.”

Sie suchte vergeblich nach einem Anzeichen dafür, dass er sie auf den Arm nahm. Was wohl nur bedeuten konnte, dass er noch irrer war als sie. Na herrlich!

„Gibt es niemanden in ihrer Familie, der eine ähnliche Gabe hat?”

„Nein, ich bin die einzige Verrückte in meiner Familie, wenn man von meiner Uroma mal absieht, die glaubte eine Hexe zu sein, aber die habe ich nicht mehr kennen gelernt”

Ramon schüttelte den Kopf und lächelte. „Sie sind nicht verrückt, Vanessa.”

„Schatten sehen ist also normal?” Es klang giftig.

„Für manche Menschen schon.” Er musterte sie intensiv, dann fügte er an: „Sie haben keine Ahnung, oder? Sie kommen aus einer Träumerfamilie.” Es schien weniger eine Frage, als eine Feststellung zu sein, etwas was ihm auch erst jetzt wirklich in den Sinn zu kommen schien.

„Träumerfamilie?”

Sie verstand absolut nichts mehr, doch in seinem Gesicht zeigte sich ein Zug, der nur bedeuten konnte, dass er irgendwas begriffen hatte.

„Vertrauen Sie mir, Vanessa”, forderte er sie auf.

Sie starrte ihn an. Vertrauen war nicht unbedingt etwas, was sie so mir-nichts-dir-nichts zu jemandem aufbauen konnte. Schon gar nicht zu einem Fremden, der mehr Fragen aufwarf, als er beantwortete.

Er erhob sich und hielt ihr die Hand hin. „Kommen Sie mit.” Sie zögerte. Was hatte der Kerl vor?

„Es passiert Ihnen nichts, versprochen!”

Was hatte sie schon zu verlieren? Schließlich nickte sie und erhob sich, ignorierte aber seine Hand vollständig.

Er blickte an sich runter. „Vielleicht sollte ich mich kurz noch umziehen”, stellte er dann fest und ließ sie allein in der Küche zurück. Auf dem Tisch standen noch die Reste auf dem Teller. Ansonsten sah alles aus wie immer. Sie war sich nicht so ganz sicher, was sie eigentlich erwartet hatte.

Als Ramon zurückkam, trug er wieder seine abgerissenen Kleider und sah darin wieder ziemlich erbärmlich aus.

„So schlimm?” fragte er und wirkte dabei selbst etwas verlegen.

Vanessa spürte wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. Es war ihr mehr als nur ein bisschen unangenehm, dass er offenbar ganz genau wusste was sie dachte. Mit einem verlegenen Schulterzucken nickte sie. Erst danach wurde ihr bewusst, dass man diese Antwort auch missverstehen könnte.

„Kommen Sie, Vanessa”, forderte er sie allerdings nur auf.

Sie zögerte einen Moment, bevor ihre Neugier siegte. Er führte sie zur Tür und hinaus auf den Hof. „Zeigen Sie mir wo sie ihn gesehen haben.”

Spätestens jetzt war sie nicht mehr ganz sicher, wer von ihnen beiden nun der Verrückte war. In seinem Gesicht stand Entschlossenheit und sie ahnte so langsam, dass er keine Ruhe geben würde. Da sie nichts zu verlieren hatte, wehrte sie sich nicht dagegen, sondern gab sich einen Ruck und ging zu der Stelle, mitten auf dem Hof, wo sie diese merkwürdige Gestalt gesehen hatte.

„Genau hier.” Die Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf. Es war ihr beinahe so, als hätte dieser Ort hier eine andere Temperatur als der Rest der Welt. Doch sie schüttelte diesen Gedanken ab. Vermutlich war das nur ein Streich, den ihr ihre angespannten Nerven spielten.

Ramon blickte sich um, als würde er erwarten etwas zu finden. „Wo ist er dann hin?”

Mit einem unguten Gefühl im Bauch beantwortete sie seine Frage und zeigte auf das Gebäude in dem sie ihn gefunden hatte.

Bei der Erinnerung, drängten sich sofort die Bilder von gestern Abend in ihren Geist. Es war kaum zu glauben, dass dieser Mann so eine rasante Besserung seines Zustands durch gemacht hatte. Um nicht zu sagen: Es müsste eigentlich unmöglich sein.

Sie hatte sich keinen Meter bewegt und starrte ihn an. Als er dies bemerkte, griff er nach ihrem Arm und zog sie einfach mit sich. Sie ließ es geschehen und registrierte, dass das Gehen etwas unangenehm und anstrengend zu sein schien, denn er humpelte wieder. Ihr war selbst bewusst was sie tat, sie versuchte sich von dem, was hier gerade geschah, abzulenken. Nicht mehr und nicht weniger.

An der Tür hielt er an. „Gehen Sie hinein Vanessa, Ihnen kann nichts passieren.” Sie atmete tief durch, was sollte das schon bringen? Doch nach einem Blick in sein überzeugtes Gesicht und vielleicht auch, weil seine Tonlage keinen Widerspruch zuzulassen schien, gab sie nach und betrat die Scheune. Es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen, an das hier drinnen herrschende Zwielicht gewöhnt hatten. Der Anblick war der Selbe, wie sonst auch immer. Durch die verdreckten Fenster fiel ein wenig Licht herein, in dem Staub einen wilden Tanz vollführte und offenbarte das Chaos, welches hier herrschte. Es roch muffig und feucht. Das leise Kratzen von winzigen Klauen auf Holz war zu hören und dann hin und wieder die pfeifenden Rufe der Ratten, die diese Scheune ihr zu Hause nannten. Doch das war alles sehr real. Nirgendwo eine Spur von etwas, was nicht in diese Umgebung gehörte. Dies teilte sie Ramon auch mit und wollte sich schon, erleichtert wie sie nun war, zum Gehen wenden.

Doch Ramon, der hinter ihr in die Scheune getreten war, zog die Tür hinter sich zu. „Nun konzentrieren Sie sich auf den Schatten, auf den Moment bevor sie ihn gesehen haben in der Küche, rufen Sie sich ihre Gefühle und Gedanken in Erinnerung.” Über die Schulter hinweg sah sie ihn skeptisch an. Was sollte das werden? Er schien sich seiner Sache ganz sicher zu sein. Im Gegensatz zu ihr wirkte er vollkommen gelassen und ruhig, aber auch sehr zuversichtlich. Wollte sie das wirklich tun? Was sollte ihr das bringen? Ihr Interesse daran, heute womöglich noch einen Schatten zu sehen, war gleich null. Sie schüttelte den Kopf, das hier war einfach totaler Unsinn und reine Zeitverschwendung in ihren Augen.

„Sie müssen lernen es zu kontrollieren und das funktioniert nur so!” So langsam wurde es ihr unheimlich, dass er scheinbar ziemlich gut zu wissen schien, was in ihr vorging. Obwohl das natürlich auch nicht sonderlich schwer zu erraten war.

Sie zögerte. Was war, wenn er sich irrte? Wenn sie total durchdrehte? Was wusste er schon über dieses Problem? Mehr als sie wie es schien. Der Gedanke gefiel ihr nicht, aber er stimmte. In ihrem Kopf begann sie sich vorzustellen, was alles passieren könnte. Sie musste an Die Geister, die ich rief denken. Sie hatte einen unangenehmen Geschmack im Mund und der Geruch, der hier in der Scheune herrschte, störte sie erheblich. Sie wollte raus aus der Scheune und das so schnell wie möglich. „Das ist albern!” Bei diesen Worten drehte sie sich auf dem Absatz um und wollte an Ramon vorbeigehen. Er griff erneut nach ihrem Arm.

„Vanessa…” Er suchte einen Moment nach Worten. „Wenn du das jetzt nicht lernst, wirst du womöglich dein ganzes Leben immer wieder solche Probleme haben. Was ist, wenn es beim Autofahren oder Einkaufen passiert? Wenn es irgendjemand mitbekommt, der keine Ahnung hat? Es kann dich in enorme Schwierigkeiten bringen, wenn du damit die Träumer weckst und selbst wenn du sie nicht weckst, ist es wirklich den Preis wert? Du hast doch nichts zu verlieren. Und du bist nicht allein, ich bin auch hier.”

Bei der Vorstellung wie sie womöglich mitten in einer Menschenmengen etwas sah, wie alle Passanten sie anstarrten, wie sie die Blicke dann auf der Haut spüren würde, das Tuscheln hinter vorgehaltener Hand, wurde ihr eiskalt. Vermutlich würde sie das dann auch direkt wieder zurück in diese Klinik bringen, aus der sie vermutlich kein zweites Mal entkommen würde.

„Wer bist du eigentlich wirklich? Was genau ist hier los?” Ihre Stimme klang bissig.

„Du bist erwacht und hast nie gelernt mit deiner Gabe umzugehen. Wenn ich genaueres über diese Art von Fähigkeit wüsste, würde ich es dir sagen, doch vermutlich wirst du jemanden finden müssen, der eine ähnliche Gabe hat wie du, um wirklich alle Fragen beantwortet zu bekommen.” Es klang geduldig und ruhig, aber auch mitfühlend, ein wenig, als wäre das nicht sein erstes Mal in so einer Situation.

„Und was ist deine Gabe?” Es war der Versuch irgendetwas zu finden, was sie aus dieser Situation raus bringen konnte, vielleicht auch seine Lüge, denn darum musste es sich doch handeln, auffliegen zu lassen.

„Ich bin ein Jäger, ein Venator.” Er schien die Wahrheit zu sagen, doch gleichzeitig schien er sich genauso wenig wohl dabei zu fühlen das auszusprechen, wie sie selbst. „Meine Gaben sind körperlicher Natur: Schnellere Heilung, erhöhte Ausdauer, solche Dinge.”

„Das klingt nicht, als wäre das auch nur im Ansatz problematisch”, gab Vanessa skeptisch zurück. Er nahm die Hand von ihrem Arm und wirkte ernst, doch vielleicht war er einfach nur ein guter Schauspieler. Trotzdem wartete sie ab.

„Ist es in der Regel auch nicht, aber wir haben einen Jagdtrieb, der bringt auch ab und an seine Probleme mit sich.” Dass er nicht gern darüber sprach, sah man ihm direkt an. Warum er es trotzdem tat, war ihr ein Rätsel.

„Was soll das sein?” Unter normalen Umständen hätte sie nicht weiter gebohrt, aber das hier waren keine normalen Umstände und sie hatte ein Recht nachzufragen, wenn er wollte, dass sie das tat was er sagte.

Ramons Blick glitt durch den Raum, als suchte er irgendetwas womit er sich aus dieser Situation befreien konnte, atmete dann hörbar ein. „Wir müssen hin und wieder jagen.” Sie verstand immer noch nicht so wirklich, wo das Problem lag und er fügte seufzend hinzu: „Wir jagen andere Erwachte. Menschen wie dich oder die beiden Leute, die gestern Abend da waren.” Zwar schien die Liste damit noch nicht zu Ende zu sein, doch das genügte auch schon. Sie verlor alle Farbe aus dem Gesicht.

Sie hatte von Leuten gehört, die auf Menschenjagd gingen, es war ein sehr beliebtes Thema gerade in amerikanischen Büchern und Filmen. Meist waren es dann irgendwelche Familien, die über Generationen hinweg ab und an mal Leute entführten und sie dann wie ein Wildschein jagten und erlegten.

Ramon seufzte frustriert und irgendwie auch enttäuscht. „Du brauchst keine Angst haben. Ich bin derzeit wirklich nicht in der passenden Stimmung und deine Vorstellungen darüber sind garantiert schlimmer, als es in Wahrheit ist.” Er fühlte sich ganz offensichtlich nicht ganz wohl in seiner Haut und das sah man ihm deutlich an. „Kümmern wir uns um deine Gabe.”

Doch so leicht würde sie nun nicht klein bei geben. „Nicht so schlimm heißt was genau?”

„Vielleicht zeigt es dir mal jemand.” Es klang schon fast ein wenig herausfordernd und hätte sie noch etwas Farbe im Gesicht gehabt, hätte sie diese wohl auch direkt verloren. Sie wollte etwas sagen, doch er schüttelte den Kopf. „Du hast versprochen keine Fragen zu stellen, erinnerst du dich?” Die Erinnerung an ihr Versprechen, aber auch die Art und Weise wie er dabei drein sah, ließen sie schließlich nicken. Schmerz und Frustration lagen in seinem Blick und etwas Dunkles, Gefährliches. Es war offensichtlich, dass sie mit ihren Fragen tief genug gebohrt hatte. Sie wusste selbst nur zu gut, wie sensibel manche Themen waren und wie schnell ein unbedachtes Wort alte Wunden wieder aufreißen konnte.

„Tut mir Leid!”, sagte sie und meinte es auch so. Er nickte und machte eine einladende Geste. Innerlich fluchte sie. Vielleicht hatte sie wirklich für einen Moment gedacht, sie würden das hier nun abbrechen, aber da hatte sie wohl falsch gedacht. Er wirkte so überzeugt davon, dass sie sich tatsächlich mit einem Ruck wieder umdrehte und den Blick durch den Raum schweifen ließ, doch da war nichts. „Da ist nichts.” Bei den Worten kam sie sich unglaublich bescheuert vor. Sie rechnete schon fast damit, dass er nun gleich in schallendes Gelächter ausbrechen würde, doch er legte ihr nur die Hand auf die Schulter. Die Hitze, die seine Hand ausstrahlte, lenkte sie ab. Es war ungewöhnlich, dass irgendjemand sie einfach so anfasste. Es war ungewohnt und auch etwas unangenehm, doch gleichzeitig gab es ihr Halt. Es war sehr real, genau das Gefühl war es auch gewesen, das sie in der Küche aus ihrer Starre geholt hatte.

„Sieh dich richtig um, versuch´ dir das Gefühl in den Sinn zu rufen, das du hattest, als du es draußen gesehen hast.”

Ihr Herz klopfte schneller und ihre Knie wurden weich. Sie zögerte und tat es dann doch. Womit auch immer sie gerechnet haben mochte, mit der Tatsache, dass kaum ein paar Meter von ihr entfernt plötzlich und wie aus dem Nichts ein Schatten auftauchte, hatte sie nicht gerechnet. Ihr entfuhr ein leiser Schrei und sie machte einen entsetzten Sprung nach hinten. Der Schatten schien sie direkt anzusehen, so weit ein Schatten aus wabernder Dunkelheit überhaupt etwas wahrnehmen konnte. Bei ihrem Zurückweichen war sie gegen Ramon gestoßen, der ein leises, schmerzhaftes Keuchen von sich gab, sie an beiden Oberarmen packte und festhielt. Panik stieg in ihr auf.

„Was siehst du?”

Die Worte drangen nur gedämpft an ihre Ohren. Sie wollte davonrennen, doch ihre Beine versagten ihr den Gehorsam. Ein Rauschen wie das ferne Branden der See gegen einige Klippen war zu hören, doch wieder klang es falsch - irgendwie hohl. Das war mit Abstand das Dämlichste, was sie je getan hatte. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Sie hatte tief in ihrem Innern gehofft, dass nichts passieren würde und nun war das Ding ihr so nah. Ein stechender Geruch stieg ihr in die Nase, den sie nicht benennen konnte und der auch fehl am Platz wirkte. Das einzig wirklich reale Gefühl, war die Wärme an ihren Oberarmen, der sanfte Druck mit der sie festgehalten wurde.

„Es passiert dir nichts. Was siehst du, Vanessa?”

Diese Worte strahlten so viel Ruhe und Sicherheit aus und waren doch gleichzeitig so fordernd, dass sie ohne nachzudenken antwortete: „Es ist gleich da vorn, bei dem alten Kleiderschrank.” Sie konnte die Panik in ihrer eigenen Stimme hören und spürte wie Ramons Griff noch etwas fester wurde.

„Beschreib´ mir, was du siehst.”

Vanessa stöhnte auf. Wieso musste dieser Kerl sie nur so herumkommandieren? Und warum in aller Welt machte sie das überhaupt mit?

„Es sieht aus wie Rauch oder wabernde Dunkelheit. Es hat grob menschliche Form.” Mit jedem Wort schien ihre Stimme höher und schriller zu werden. Sie hatte den Eindruck immer mehr den Bezug zur Realität zu verlieren. Angst kroch in jede Faser ihres Denkens.

„Was tut die Gestalt?”

„Sie schwebt da.” Doch in diesem Moment glitt der Schemen um den Schrank herum und verschwand aus Vanessas Sicht. „Sie ist hinter dem Schrank verschwunden.”

„Folge ihr!”

Ein Kopfschütteln, mehr brachte sie nicht zu Stande, sie würde keinen Schritt tun können, vermutlich konnte sie eh nur noch stehen, weil Ramon sie festhielt.

„Keine Angst. Ich bin mir sicher, wenn es dir zeigen konnte, was du sehen sollst, wird es dich in Ruhe lassen.”

Das war etwas, an das sie sich zu klammern versuchte. Es war einfach nur verrückt was sie hier tat. Wieso sollte es ihre Wahnvorstellung interessieren, ob sie ihr nun folgte oder nicht?

„Weil es keine Wahnvorstellung ist, es ist da. Das ist deine Gabe. Deshalb siehst du es.” Erst jetzt begriff sie, dass sie ausgesprochen haben musste, was sie dachte. Ihr standen die Tränen in den Augen. Diese ganze Situation war verrückt. Doch schließlich ging sie auf den Schrank zu. Ramons Griff lockerte sich und eine Hand verschwand, die andere Hand legte er leicht auf ihre Schulter. Es war bei jedem Schritt als würde sie schweben, sie nahm kaum wirklich wahr, dass ihre Füße den Boden berührten. Das Rauschen war einem monotonen Brummen gewichen, dass ein wenig wie ein Laubbläser klang, der in einiger Entfernung betrieben wurde, aber auch das klang seltsam hohl.

Diese Situation war der blanke Horror. Als sie am Schrank ankam zögerte sie, doch Ramon schob sie um die Ecke. Die wabernde Dunkelheit glitt ein Stück weiter und verschwand dann im Boden und damit außer Sicht.

„Sie ist da vorn im Boden versunken! Können wir jetzt gehen? Mir reicht es wirklich!” Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern und voll vom Entsetzen, welches sie in jeder Zelle ihres Körpers spüren konnte.

„Was ist da vorn unter dem Boden?”

„Nichts!” Zumindest vermutete sie das. Soweit sie wusste, war nur das Haupthaus unterkellert.

„Ich schau mir das mal an!” Ramon ließ sie los, ging an ihr vorbei und auf die Stelle zu. Eine neue Welle von Furcht ergriff sie und legte sich wie eine kalte Hand um ihr Herz. Unfähig etwas anderes zu tun, beobachtete sie, wie Ramon sich hinab beugte und das Stroh zur Seite wischte. Doch da war nichts. Dann begann er in immer größer werdenden Kreisen zu suchen. Er konnte da nichts finden, das war vollkommen ausgeschlossen, doch dann hörte sie, wie er ein triumphierendes Geräusch von sich gab und mit einem Ruck eine Holzklappe hochzog. Das war eindeutig nun wirklich zu viel des Guten. Wie hatte sie das wissen können? Wieso hatten ihre Einbildungen sie hierher geführt? Ihr Blick war auf das dunkle Loch im Boden gerichtet, unfähig einen wirklich klaren Gedanken zu fassen. Erst als Ramon ihr die Sicht auf das Loch nahm indem er sich vor sie stellte, konnte sie sich davon losreißen. Erstaunt stellte sie fest, dass das Brummen fort war. Zu hören war der Wind, der durch Ritzen und Spalten fegte, von denen es hier Unmengen gab. Verwirrt erkannte sie auch, dass es wieder muffig roch und sie ihren Körper wieder besser wahrnahm.

Er lächelte und war offenbar sehr zufrieden, als er sie jedoch musterte schlug das sehr schnell in Sorge um. „Ist alles okay? Du siehst aus, als würdest du gleich einfach umkippen.”

„Das ist absolut nicht möglich”, stammelte sie nur als Antwort. Sie fand einfach keine Erklärung hierfür. Zumindest keine, die einen Sinn gemacht hätte. Es war, als wäre die ganze Welt aus den Fugen geraten, sie fühlte sich so machtlos und unsicher wie noch niemals zuvor in ihrem Leben.

„Versuch es einfach als möglich zu akzeptieren, es ist noch viel mehr möglich.”

„Vielleicht ist das einfach alles nicht real, diese ganze Situation, du, einfach alles.” Es war der Versuch ihres Verstandes eine logische Erklärung zu finden, die dem Bild der Welt, wie sie es bisher hatte, nicht schadete.

Ramon nahm ihre Hand und sie ließ es geschehen. Wieder massierte er sie leicht. „Realität.” Stellte er einfach nur fest. Als sie ihm nicht glaubte, kniff er völlig unerwartet in die Hand, der Schmerz jagte den Arm herauf. Mit einem erschrockenen Schmerzenslaut entzog sie ihm die Hand, musterte ihn wütend und rieb sich die schmerzende Stelle. Er grinste nur „Sehr real, wie du siehst.”

Sie war ziemlich sauer, denn der war nicht gerade vorsichtig gewesen. Schnell erkannte sie aber, dass er Erfolg gehabt hatte, ihre Gedanken fluchten über diesen blöden Kerl und seine Dreistigkeit. Das alles fühlte sich sehr real an, für einen Moment hatte sie sogar das Entsetzen vergessen.

Er wartete, musterte sie aufmerksam und grinste amüsiert, als habe er genau mitbekommen, was in ihr vorging. Einladend streckte er die Hand aus. „Gehen wir nachsehen?”

Den Teufel würde sie tun! Keine zehn Pferde würden sie da runter bekommen. Sie rieb sich die immer noch schmerzende Stelle und schüttelte den Kopf. Das Grinsen, das sich dabei auf seinem Gesicht ausbreitete, brachte Vanessa dazu, ernsthaft über eine Ohrfeige nachzudenken. Verdient hätte er sie sich definitiv.

Zu ihrer großen Überraschung beließ er es dabei und machte keinen weiteren Versuch, sie in das Loch hinunter zu bekommen, sondern ging allein darauf zu. „Ich schaue nach, warte hier!”

Irre, genau das war das Wort, welches sein Vorhaben am besten beschrieb. Doch damit ließ er sich schon in das Loch hinunter, das offenbar nicht allzu tief war, denn sein Kopf schaute oben noch raus. Dann duckte er sich und verschwand.

Die Furcht kehrte zurück. Nun war sie hier allein, allein in einer Scheune, nur ein paar Meter von einem Loch im Boden entfernt, in dem womöglich diese komische Schattengestalt noch steckte und als wäre das nicht schlimm genug, machte sie sich um diesen Spinner auch noch Sorgen. Sie verfluchte diese Leichtsinnigkeit, er sah noch nicht wieder so aus als könnte er irgendetwas unternehmen, wenn sich herausstellte, dass ihn da unten irgendwas fressen wollte. Sie fluchte innerlich. Doch dann setzte sie sich in Bewegung auf das Loch zu. Als sie es erreichte, erklang von unten seine Stimme: „Bleib oben!” Das würde sie sich bestimmt nicht zweimal sagen lassen. Das Einzige, das sie daran ärgerte war der Tonfall gewesen. Es klang wie ein Befehl. Das war eine Sache, die er sich schleunigst abgewöhnen sollte.

Als er schließlich wieder auftauchte, hievte er eine schwere Kiste aus dem Loch und zog sich dann mühsam selbst heraus. Er rollte sich auf den Rücken, atmete schwer und war ziemlich erledigt. Die Kiste war offenbar sehr alt und bedeckt von Staub und Spinnweben. Doch Vanessas Aufmerksamkeit galt nicht der Kiste, sie ging neben ihm in die Hocke und musterte ihn besorgt. Offenbar hatte ihn dieser kleine Ausflug ziemlich an den Rand seiner Kräfte gebracht und darüber vergaß sie für einen Moment sogar den Schatten, der immer noch dort unten sein könnte.

„Alles klar?”

„Ich glaube, ich bin noch nicht wieder so fit, wie ich dachte.”

„Ach, was du nicht sagst!”, ihre Stimme klang höhnisch, doch das schien ihn nicht weiter zu stören.

Er richtete sich vorsichtig auf und blickte erst die Kiste, dann wieder sie an und grinste breit. „Sieht so aus als solltest du das da finden!”

Skeptisch warf sie einen kurzen Blick auf die Kiste, weigerte sich aber daran zu glauben, dass er Recht haben könnte.

„Du schaust aus wie ein verschrecktes Reh.” Stellte er nach einem Moment fest. Dieser Vergleich gefiel ihr gar nicht. Rehe und Jäger waren selten eine gute Kombination, wenn sie aufeinandertrafen. Er schien in diesem Moment etwa das Selbe zu denken, denn er schüttelte den Kopf. „Keine Sorge, ich jage keine verschreckten Rehe.” Es sollte wohl ein Scherz sein, aber es klang etwas steif.

Vanessa atmete tief durch. “Das ist alles ein klitzeklein bisschen viel.” Sie spürte wie sie zitterte, doch ob das an der Kälte lag oder an den Vorkommnissen konnte sie nicht so genau sagen.

„Erwachen ist nie einfach. Ich kenne keinen, der das als einfach empfunden hätte.”

„Und selbst?” Es war das Erste, das ihr durch den Kopf geschossen war.

Er schüttelte den Kopf. „Ich hatte das Glück, jemandem in die Arme zu laufen, der mich aufklären konnte, aber einfach war es nicht. Es wird einfacher es zu akzeptieren und bei den Meisten auch damit zu leben.”

Wieder war da dieser leichte Anflug von Bitterkeit in seiner Stimme und es tat ihr fast schon Leid gefragt zu haben. Er blickte die Kiste interessiert an. „Bringen wir sie rein und schauen mal was sich darin verbirgt.”

Es war weniger eine Frage, als eine Aufforderung. Er raffte sich auf, schloss die Luke und verteilte das Stroh wieder darüber, so dass sie wieder gut verborgen war und nicht jedem gleich ins Auge springen würde, dann nahm er die offenbar ziemlich schwere Kiste und blickte sie auffordernd an.

Eigentlich wollte sie gar nicht wissen, was sich in der Kiste befand, auf der anderen Seite war das völlig albern. Sie blickte ihn einen Moment lang unschlüssig an, zuckte dann mit den Schultern und machte sich auf den Weg zurück ins Haus.

Das Geheimnis der Schatten

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