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Vilém Flusser und die Freiheit des Denkens
Оглавлениеvon Maria Lília Leao
In der «Phase des Lebens, in der sich der Geist endgültig bildet», lernte ich Vilém Flusser kennen: eine eindrucksvolle menschliche Gestalt, eine von jenen, die im Kern unserer Persönlichkeit einen prägenden Eindruck hinterlassen.
Flusser liebt die Herausforderung, die hautnahe intellektuelle Auseinandersetzung, die er selbst auslöst, fast im Gestus eines Initiationsritus. «Ein Markstein der deutschen Kultur», «eine philosophische Respektlosigkeit, von Plato bis Wittgenstein» – das waren zwei diametral entgegengesetzte Kritiken, die in Hamburg anläßlich eines Seminars über sein Buch Für eine Philosophie der Fotografie formuliert wurden. Flusser lachte laut heraus beim Schildern der Szene, ein typischer Zug dieses wahrhaftigen Homo ludens, eines jüdisch-tschechisch-brasilianischen Macunaíma. *
Bei einem seiner Aufenthalte in São Paulo hörte ich ihn zu dem Thema «Text und Bild» sprechen. Die Sätze, destilliert aus der Strenge von Vernunft und Leidenschaft – nur wenige konnten das so amalgamieren wie Flusser –, waren wie Peitschenhiebe, die uns aus der Lethargie aufrüttelten, zu der uns ein lärmendes Zeitalter verdammt; er wollte unbequem sein, damit keiner die Illusion hegen könne, man sei nicht verantwortlich, und es lohne sich nicht, über alles immer wieder neu nachzudenken.
Flusser veranlaßt immer zum Denken. Und Denken tut weh. Er hat sich nicht verändert, unser Freund und Philosoph; er bemüht sich weiterhin, das Nachdenken für uns zur lebenswichtigen Nahrung werden zu lassen, zur körperlichen Geste des Seins, zum erotischen Vergnügen. Es gibt keinen Zweifel, daß für ihn der ganzheitliche Mensch das denkende Wesen ist.
Als wir ihn kennenlernten – ich spreche von einer Gruppe junger Universitätsleute in den sechziger Jahren, einer Generation, die den Gestus eines lockeren intellektuellen Umgangs mit der Angst kultivierte und deren Ironie noch nicht gänzlich abgeglitten war –, waren wir alle in der großen Leere der Sinnsuche versunken. Flusser, der Fremde in der Welt, vaterlandslos par excellence, von vielen als der «genuine Philosoph Brasiliens» angesehen, sollte an allem teilnehmen und alles fördern. Aber bald stellte sich eine subtile Dialektik zwischen seinem Engagement in der brasilianischen Kultur und unserer Distanzierung von eben diesem gemeinsamen Hintergrund ein.
Wir Migranten sind die Fenster, durch die die Einheimischen die Welt sehen können.
Sollte er für uns dieses Fenster sein?
Ein tieferes Geheimnis als dasjenige der geographischen Heimat ist das der Suche nach dem anderen. Die Heimat des Heimatlosen ist der andere.
Sollten wir für ihn diese Heimat sein?
Philosophisch war die intellektuelle Jugend Brasiliens von Sartre, Camus und anderen Existentialisten geprägt, obwohl die große Mehrheit keinen freien Zugang dazu hatte (und auch heute noch nicht hat). Unsere Gruppe jedoch war privilegiert: Wir gingen im Haus von Flusser aus und ein. Da strömten die Wirbelstürme, Winde und Brisen der philosophischen Welt zusammen, auf Gesellschaften, die ganze Wochenenden dauerten, und auf denen immer wieder Anatol Rosenfeld, João Guimarães Rosa, Milton Vargas, Mira Schendel, Samson Flexor, Vicente und Dora Ferreira da Silva auftauchten. Für uns Jungen und Mädchen entpuppte sich Flusser als «peripatetischer» Lehrer (obwohl er immer auf seinem Stuhl im Wintergarten in der Tiefe seines Hauses im Jardim America saß, eingehüllt in eine Wolke von Rauch aus seiner unvermeidlichen Pfeife). Nichts kann die ersten Schritte einer solchermaßen gelehrten und übermittelten Philosophie behindern: Paideia, aufgebaut auf dem konkreten Boden des Umgangs mit einem lebenden Existenz-Modell. All das formte unsere Köpfe und ist heute in unseren jeweiligen Kontexten wirksam. Ein klassischer Fall des mächtigen Einflusses des intellektuellen Patriarchen, so wird man sicher sagen. Einige, die das Gewicht dieser starken Information nicht ertragen konnten, leugnen sie heute, flüchten sich in die tückischen Gesänge des Unbewußten und entziehen sich der Konfrontation. Erinnert Flusser in dieser Hinsicht nicht ein wenig an Freud? Wie dieser – subversiv, Jude, Emigrant – wurde er vom akademischen Establishment nicht angenommen, und doch rief er Zuneigung und Abneigung und eine Schar von schmerzlich stigmatisierten Schülern hervor.
Während der 31 Jahre, die er unter brasilianischen Umständen lebte, entwickelte Flusser seine Art zu denken mit einer Kraft und einer Originalität, die einen seiner unverwechselbaren Züge ausmachen – was ihm ein mystifiziertes Bild eintrug und sogar die Gelehrten, die häufig mit ihm fochten, aus der Fassung brachte.
Wie Nietzsche, Kierkegaard und viele andere nahm sich Flusser nicht vor, ein philosophisches System aufzubauen. Sein Denken ist ein großzügiges fließendes Gewebe, gewoben aus alten und neuen Maschen, im Vertrauen auf die Kette, die die Sprache bildet – das Haus des Seins, wie sie Heidegger nennt. Seine Vertiefung in die verschiedenen Strömungen der Phänomenologie brachte ihn zur Sprachphilosophie, der er viele Aufsätze, Bücher und Vorlesungen widmete. Schließlich wurde ihm sogar die Kolumne «Posto Zero» in der Tageszeitung Folha de São Paulo eingerichtet, wo er von 1969 bis 1971 eine Art phänomenologische Analyse des brasilianischen Alltags vorführte.
Wenn Flusser schreibt, und er tut es mit der Leichtigkeit des Atmens, übersetzt und rückübersetzt er denselben Text in die Sprachen, die er beherrscht: Deutsch, Englisch, Portugiesisch, Französisch.
Max Planck sagt in seiner Autobiographie, daß für die Entstehung eines originalen Gedankens zwei Bedingungen gegeben sein müssen: daß der «Schöpfer» dieses Gedankens frei ist und daß eine ganze Generation ausstirbt; denn erst die nächste wird in der Lage sein, ihn zu verstehen. Die Zeitgenossen sind festgelegt und versklavt, deshalb erschrecken sie vor dem Neuen. Das ist, kurz gesagt, Flussers Sünde: das Neue zu denken und dazu frei zu sein. Jeder, der in Kontakt mit seinen Ideen kommt, merkt, wie sehr sie mit dem in Beziehung stehen, was ihm täglich widerfuhr. Er kann sich nicht auf die Grundlagen seines Denkens beschränken, weil es ständig mit Fakten, welcher Art auch immer, konfrontiert wird. Die Fähigkeit, die Welt scharf zu beobachten und die Aktualität zu erfassen, wobei er beides durch klassische Konzepte filtert und eigene Konzepte entwickelt, machen Vilém Flusser zum Denker unserer «posthistorischen» Epoche. Es ist genau dieses Zusammenstimmen der Beobachtung der Fakten mit der darauf aufbauenden Reflexion, die uns den Eindruck des Wahrhaftigen vermittelt.
Was fehlt noch, damit dieser Eindruck zur Wahrheit führt? Isaías Kirschbaum antwortet: Erst die Zustimmung vergibt den Wahrheitsstempel.
Die Migration ist eine kreative Situation. Und eine schmerzhafte. Wer die Heimat verläßt (aus Zwang oder aus freier Wahl, und beides ist schwer zu unterscheiden), leidet. Denn tausend Fäden verbinden ihn mit der Heimat, und wenn diese durchschnitten sind, ist es, als hätte ein chirurgischer Eingriff stattgefunden. Als ich aus Prag vertrieben wurde (oder als ich die mutige Entscheidung traf zu fliehen), durchlebte ich den Zusammenbruch des Universums. Ich verwechselte mein Inneres mit der Welt da draußen. Ich litt unter dem Schmerz der durchschnittenen Fäden. Aber dann, im London der ersten Kriegsjahre und beim Vorahnen der Schrecken der Lager, begann ich, mir darüber klar zu werden, daß es nicht die Schmerzen eines chirurgischen Eingriffs waren, sondern die einer Entbindung. Ich merkte, daß die durchtrennten Fäden mir Nahrung zugeführt hatten und daß ich jetzt in die Freiheit geworfen war. Ich wurde vom Schwindel der Freiheit erfaßt, der sich darin zeigt, daß sich die Frage «frei wovon?» in die Frage «frei wozu?» verkehrt. Und so sind wir alle Migranten: Wesen, die vom Schwindel ergriffen sind.
Vilém Flusser hat uns etwas zu sagen. Etwas, um uns zu beunruhigen. Seien wir frei, ihn zu hören. Und nehmen wir frei das Recht zu denken wahr.
* Macunaíma, o Herói sem Nenhum Caráter (Macunaíma – der Held ohne jeden Charakter) ist der Titel des berühmtesten Romans des brasilianischen Schriftstellers Mário de Andrade.