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Nationalsprachen
ОглавлениеLängst totgeglaubte Ungeheuer beginnen, sich im befreiten Osteuropa zu recken und zu strecken. Als ob nach jahrzehntelanger Vereisung die Drachenbrut des Nationalismus aus ihren Sauriereiern schlüpfen wollte, um sich in der Sonne des freien Marktes zu tummeln. Albanier in Kosovo, Ungarn in Transsilvanien, Armenier in Georgien werden umgebracht (und bringen wohl auch um), weil sie eine andere Sprache als jene ihrer Mitbürger sprechen. Und das ist nichts als zögernde Einleitung zu weiterem linguistisch fundiertem Gemetzel. Die Sache wäre unglaublich, hätte sie nicht Präzedenzen. Man würde meinen, Linguisten (Sprachtheoretiker und -praktiker) seien vonnöten, um diese Schlangenknäuel zu entwirren. Die Präzedenzen zeigen jedoch, wie hoffnungslos derartige linguistische Interventionen sind, selbst wenn sie sich selbst «Esperanto» nennen. Der vorliegende Aufsatz hat vor, darüber nachzudenken, warum übernationale Sprachen (nicht nur Zamenhofs «Esperanto», sondern auch «Interlingua» eines so gewaltigen Denkers wie Peano es war) scheitern müssen.
Angenommen, alle Leute würden überall die gleiche Sprache sprechen. Das würde voraussetzen, daß sie einander nichts Neues zu sagen hätten. Denn wo immer irgend etwas gesagt wird, das vorher noch nicht ausgesprochen wurde, dort verändert sich entweder der Wortschatz (neue Worte werden geschaffen), oder die Syntax (neue Sprachregeln entstehen); oder beides. Die Folge ist, daß an jenen Stellen, wo etwas Neues gesagt wird, Sprachveränderungen vor sich gehen, die sich langsam in der Gegend verbreiten, und sehr bald (in weniger als einer Generation) wird die Universalsprache in eine Reihe von einander zwar überschneidenden, aber doch sich verzweigenden Untersprachen zerfallen. Dagegen ist einzuwenden, daß es in der Vergangenheit Universalsprachen gegeben hat, die sich über viele Generationen hindurch als solche erhalten haben. Etwa die Koine im Hellenismus, das Kirchenlatein im Mittelalter oder Französisch im 18. Jahrhundert. Vorher scheint Aramäisch für lange Zeit diese Rolle gespielt zu haben, und gegenwärtig ist die englische Sprache als eine Art Koine anzusehen. Der Einwand ist jedoch nicht gültig. Derartige Universalsprachen ersetzen nicht die Nationalsprachen, sondern sitzen über ihnen, und sie dienen nicht dem Ausarbeiten neuer Informationen, sondern dem Übertragen von Informationen, die in den einzelnen Nationalsprachen ausgearbeitet wurden.
Aber man muß unter dem Begriff «Sprache» nicht unbedingt jenen Code verstehen, der aus «Phonemen» besteht, also aus Lauten, die wir mittels Zunge, Zähnen und Gaumen erzeugen. Es wird ja auch von Zahlensprachen, filmischen Sprachen, musikalischen und bildnerischen Sprachen, und vor allem von Computersprachen geredet. Und derartige Sprachen laufen ja quer über die Grenzen der Nationalsprachen und kümmern sich nicht um diese Grenzen. Nur gilt für solche Sprachen noch stärker, was oben von den Universalsprachen behauptet wurde. Sobald in ihnen neue Informationen ausgesagt werden, beginnen sie sich zu verzweigen und zu verzetteln. Komplexe mathematische Sprachen entstehen, die nur von wenigen Spezialisten «gesprochen» werden können – Beethovens Sprache ist eine andere als Mozarts, in den bildenden Künsten herrscht eine babylonische Sprachverwirrung, und das Problem der «Kompatibilität» der einzelnen Computersprachen untereinander wird trotz Esperanto-artigen Interventionen immer vertrackter. Was immer man mit dem Begriff «Sprache» meinen möge, ob «langue» oder «langage», jede Art von Universalsprache ist dazu verurteilt, bedeutungslose Aussagen zu machen (leerem Gerede zu dienen). Das ist am deutlichsten an der einzigen tatsächlich konsequenten Universalsprache, nämlich jener der symbolischen Logik, ersichtlich: Sie ist dafür gemacht, um leere Aussagen (Tautologien) zu artikulieren.
Das heißt aber noch nicht, daß Linguisten nichts zu dem widerlichen Gemetzel zu sagen haben, das aus sprachlichen Gründen in Osteuropa ansetzt und sich zu verbreitern droht. Im Gegenteil, sie können überhaupt erst zeigen, was sich dort ereignet. Und zwar, weil sie zeigen können, wie Nationalsprachen (und überhaupt «Untersprachen») entstehen. Sie entstehen dort und dann, wenn es gilt, neue Informationen zu artikulieren, für welche die ursprüngliche Sprache nicht kompetent war. Zum Beispiel sind die einzelnen romanischen Sprachen aus dem Latein des untergehenden Imperiums entstanden, weil es galt, in Gallien, in Iberien oder in Dakien etwas zu sagen, was in Italien nicht gesagt werden konnte. Demnach sind Nationalsprachen (und alle Untersprachen überhaupt) Werkzeuge zum Erzeugen von Neuem, kreative Instrumente. Sie sind alle, ohne Ausnahme, großartige Produkte des menschlichen Willens, Neues herzustellen. Alle Sprachen, ohne Ausnahme, sind Triumphe des Geistes in seinem Kampf gegen die Sturheit der Welt, in die wir geworfen wurden, und jede einzelne Sprache hat eine ihr eigene, nirgendwo anders zu findende Schönheit. Wer also seine eigene Sprache liebt, liebt alle anderen, denn erst im Vergleich zu anderen (etwa beim Übersetzen) erstrahlt die Schönheit der eigenen und der anderen Sprache.
Das erst erklärt, warum in Transsilvanien (zum Beispiel) Rumänen Ungarn umbringen und von ihnen umgebracht werden: Weil es nämlich um Leute geht, die ihre eigene Sprache nicht genügend gut sprechen, um sie lieben zu können. Die mordenden Rumänen benützen ihre Sprache nur, um leeres Gerede darin zu artikulieren, Schlagworte, Parolen, und nicht, um den Reichtum ihrer Sprache für Kreatives anzusetzen. Sie morden die Ungarn (und umgekehrt), weil sie nichts Interessantes aus dem Rumänischen ins Ungarische (und umgekehrt) zu übersetzen haben. Diese Leute morden einander, weil sie sprachliche Kretins sind.
Das also wäre der Beitrag, den Linguisten zum wiedererwachenden Nationalismus leisten könnten: Wer seine eigene Muttersprache liebt, muß notwendigerweise alle anderen Sprachen ebenso lieben (kann also kein Nationalist sein), weil erst im Vergleich zu anderen Sprachen die Schönheit aller Sprachen völlig leuchtet. Und wer seinen Nachbarn umbringt, weil er eine andere Sprache als seine eigene spricht, der hat keine Ahnung von seiner eigenen Sprache. Also, Nationalismus ist nicht dank Esperanto (oder irgendeinem anderen Universalismus), sondern mittels Kenntnis der eigenen Nationalsprache (und der eigenen Nation) zu bekämpfen. Es besteht jedoch wenig Hoffnung, daß ein derartiger Beitrag der Linguistik zum Kampf gegen den Nationalismus von Erfolg gekrönt wird. Gegen Kretinismus ist kein Kraut gewachsen.