Читать книгу Fürstenkrone 11 – Adelsroman - Viola Larsen - Страница 6

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Als er sie nach Jahren der Trennung wiedersieht, ist sein Herz schwer vor Sehnsucht und Erwartung und ganz erfüllt von der unsinnigen Vorstellung, sie sei immer noch das kleine Mädchen, sein Mündel, das er in dem Schloss seiner Väter in sicherer Obhut zurückließ, als ihn die Erfüllung seines künstlerischen Berufes in die Ferne rief. Das einsame Moor, die Heideinsel, der Frühlingshimmel, die Fahne mit dem silbernen Falken, die zu seiner Begrüßung auf dem Schlossturm weht, all dies nimmt er kaum wahr. Er wartet nur auf den Augenblick, da er sein kleines Mädchen, seine Sabrina, in die Arme schließen kann.

Aber dann sieht er sie – und erstarrt. Seine halb erhobenen Arme sinken herab. Auf seinen ausdrucksvollen Zügen malt sich eisige Abwehr.

Es währt nur Bruchteile von Sekunden, und Sabrina nimmt die Veränderung in der Haltung des Fürsten gar nicht wahr, denn sie ist nur erfüllt von dem großen Glück des Wiedersehens.

»Willkommen daheim, Wolfhart!«, lacht sie selig. »Willkommen auf der Heideinsel!« Ihre frischen Lippen berühren zärtlich seine Wange.

*

Den ganzen Tag über hat Sabrina diesem Augenblick entgegengefiebert, schon seit dem frühen Morgen. Es ist schließlich ihr Geburtstag, und schon in aller Frühe hat sie Tante Tabea einen gehörigen Schrecken eingejagt, weil sie einfach über die Insel fortgelaufen und nicht mehr wiedergekommen war. Jedes Mal, wenn Sabrina ihre langen, einsamen Wanderungen über die Insel unternimmt, hat Tante Tabea Angst. Denn der mächtige Bau des Schlosses der Fürsten Ravenhill erhebt sich inmitten des Moors auf einer blühenden Heideinsel.

Mit seinen beiden Ecktürmen ragt das Schloss einsam und stolz in die düstere Landschaft hinein und ist im Laufe unzählbarer Jahre doch eins geworden mit ihr.

So ist auch an diesem Geburtstag Tante Tabea wieder von Angst um Sabrina geplagt gewesen. Genau in dem Augenblick, da der klagende Ruf eines Moorhundes die Stille des Morgens zerreißt, die die Landschaft fast gespenstisch einhüllt, wird im Schloss eines der vielen Fenster geöffnet, ein rundes, von silbergrauem Haar und einem weißen Spitzenhäubchen umrahmtes Gesicht erscheint, und zwei graue Augen spähen durch funkelnde Brillengläser besorgt über die Heide­insel.

Fräulein Tabea, die das Hauswesen auf Schloss Ravenhill leitet, schüttelt bekümmert den Kopf, vermeidet es aber, über das Moor zu blicken. Dann formt sie beide Hände zu einem Trichter, schöpft tief Atem und ruft, so laut sie kann: »Sabrina! Sabrina!«

»Sabrina!«, äfft ein dünnes Echo, das aus dem Nichts zu kommen scheint, ihr nach, und Fräulein Tabea seufzt: »Rein außer Rand und Band ist sie heute, die Sabrina! Wo kann sie nur hingelaufen sein? So groß ist die Insel doch wahrhaftig nicht, dass man sich darauf verirren könnte!«

Noch einmal sieht sie aufmerksam und angstvoll über die leichtgewellte Fläche der Heideinsel, die zwischen Kiefern und hellstämmigen Birken im rosenroten Schimmer der Erika erglüht. Aber so sehr sie sich auch anstrengt, kein Zipfelchen von Sabrina ist zu erspähen.

Fräulein Tabea liebt die Heideinsel so sehr, wie sie das Moorland fürchtet. In den dreißig langen Jahren, die sie nun auf Schloss Ravenhill lebt, hat sich ihre Furcht vor dem tückischen braunen Moor nicht gemindert, sondern vertieft. Aber die Heide ist schön, und ihr gehört Fräulein Tabeas ganze Liebe. Und wie immer, wenn ihr Blick über die Heide schweift, gerät sie auch jetzt ins Träumen. Aber energisch ruft sie sich bald darauf zur Ordnung, denn sie hat wahrhaftig keine Zeit zu versäumen, wenn alle Arbeit, die ihrer wartet, bis zur Ankunft Seiner Durchlaucht noch getan werden soll.

Seufzend schließt sie darum das Fenster und wendet sich zurück in den Raum, in dessen großzügiger Weitläufigkeit ihre kleine rundliche Gestalt fast verschwindet.

Vor langen Jahren ist Fräulein Tabea während einer Wanderung durch das Moor einmal so unglücklich gestürzt, dass sie sich ein Fußleiden zuzog. Jeden ihrer Schritte begleitet deshalb das Aufpochen eines Stockes auf dem glänzenden Parkett. So auch jetzt, als sie den unbewohnten Teil des Obergeschosses verlässt, das sie nur betreten hat, um an einem der Fenster nach Sabrina Ausschau zu halten. Mit kleinen energischen Schritten durchquert sie den dunklen Flur und geht, so rasch sie es vermag, die breite Holztreppe zum Erdgeschoss hinunter.

Durch die hohen Fenster der Halle fällt gedämpft das milde Sonnenlicht.

Es lässt den grünen Schieferstein des Kamins magisch aufleuchten, und Fräulein Tabea beschließt, bis zur Ankunft des Herrn vorsorglich ein Feuer im Kamin anzuzünden, denn die Abende sind selbst nach einem sonnigen Tag auf der Heideinsel im Moor kühl.

Auf dem Kachelsims unter den hohen Fenstern steht Sabrinas Geburtstagstisch. Fräulein Tabea rückt die silbernen Leuchter rechts und links der prachtvollen Geburtstagstorte zurecht und findet es sehr schön, dass Wolfhart Fürst von Ravenhill nach über dreijähriger Abwesenheit gerade zu Sabrinas achtzehnten Geburtstag heimkehrt. Während sie die Vase mit blühendem Heidekraut auf dem Geburtstagstischchen betrachtet, fragt sie sich jedoch, was der Fürst wohl dazu sagen wird, dass aus seinem Mündel in den vergangenen drei Jahren eine junge Dame geworden ist.

Wieder muss sich Fräulein Tabea zur Ordnung rufen, und eilends setzt sie ihren Rundgang fort, der sie nun ins Musikzimmer führt, in dem der weltberühmte Dirigent Fürst von Ravenhill die meiste Zeit verbringt, wenn er auf das Schloss seiner Väter heimkehrt. Sie rückt auch hier auf dem niedrigen Klubtischchen die kristallene Vase mit blühendem Heidekraut zurecht und kehrt in die Halle zurück, von der aus sie durch eine weitere, von schweren Vorhängen halb verdeckte Tür in den Speisesaal gelangt.

Dieser Raum ist in seiner klassischen Strenge das schönste Gemach von Schloss Ravenhill, doch dafür hat Fräulein Tabea im Moment keinen Blick. Zornig reißt sie ein Staubtuch an sich, was das Hausmädchen Fine nach dem Staubwischen wahrscheinlich vergessen hat, und nimmt sich grimmig vor, dem jungen Ding ganz gehörig den Kopf zurechtzusetzen.

Wieder in der Halle angelangt, überlegt sie nun ganz genau, was jetzt der Reihe nach noch zu tun ist, um den Empfang des Herrn würdig zu gestalten.

»Sönke muss die Fahne hissen«, murmelt sie vor sich hin und streckt mit erhobener Hand den linken Daumen aus. »Steff muss das Kaminfeuer anzünden!« Dabei erhebt sie wie drohend den Zeigefinger, und die übrigen Finger folgen nach, als sie halblaut fortfährt: »Fine muss die Jagdstiefel Seiner Durchlaucht putzen, Sönke muss seine Gewehre reinigen, und ich, barmherziger Himmel, ich muss ja noch einen Baumkuchen backen, denn ein Empfang ohne Baumkuchen ist kein Empfang!«

Die rechte Hand schwer auf den Elfenbeinknauf ihres Stockes gestützt, das Staubtuch über den Arm und die linke Hand drohend erhoben, so steht Fräulein Tabea wie ein Feldherr auf dem Schlachtfeld inmitten der Halle von Schloss Ravenhill, als Sabrina wie ein Wirbelwind hereinstürmt.

»Was tust du denn da, Tante Tabea?«, fragt sie lachend, und ihre silberne Glockenstimme weckt ein dünnes zärtliches Echo in dem hohen Raum. »Beschwörst du die Götter, auf dass das böse Moor die Insel nicht fresse?«

Gekränkt lässt Fräulein Tabea die erhobene linke Hand sinken, dann schüttelt sie missbilligend den Kopf.

»Spotte nicht«, verweist sie das junge Mädchen ernst, »denn das Moor lässt nicht mit sich spotten!« Sie seufzt und fährt rasch fort: »Aber damit du es genau weißt, ich habe eben aufgezählt, was bis zur Ankunft des Herrn noch getan werden muss. Doch wo hast du die ganze Zeit über gesteckt? Ich war schon in Sorge um dich, Sabrina!«

Aber ungeachtet des gestrengen Tones, ruhen Fräulein Tabeas Augen voll Stolz und herzlicher Liebe auf der zauberhaften Erscheinung des jungen Mädchens, das immer noch lachend vor ihr steht.

Ein schlichtes gelbes Leinenkleidchen mit breitem Schulterkragen umschließt Sabrinas schlanke, biegsame Gestalt. Das hellbraune Lockenhaar, das bis auf die schmalen Schultern Sabrinas fällt, umrahmt in weichen glänzenden Wellen ein klares, reines Antlitz. Die Augen des jungen Mädchens sind strahlend blau wie kristallene Bergseen und ruhen, von seidigen Wimpern beschattet, unter sanft geschwungenen Brauenbögen. Eine gerade Nase und ein kirschroter fein geschwungener Mund vervollständigen den Liebreiz dieses schönen Mädchenantlitzes.

»Glaubst du, dass Wolfhart bald kommen wird, Tante Tabea?«, fragt sie rasch.

»Das verhüte der Himmel!«, stöhnt Fräulein Tabea, die an ihren Baumkuchen denkt. Sie schickt sich eilends an, die Halle zu verlassen, um in der Schlossküche ihre Weisungen zu erteilen. Doch Sabrina bleibt dicht an ihrer Seite.

»Glaubst du, Wolfhart wird diesmal länger bleiben?«, forscht sie. »Ach, Tante Tabea, wenn er doch nur länger bleiben wollte! Was meinst du dazu?«

»Sönke muss die Fahne hissen!«, erwidert Fräulein Tabea geistesabwesend.

»Aber, Tante Tabea«, entrüstet sich Sabrina, »das ist doch keine Antwort auf meine Frage.«

Fräulein Tabea öffnet die Küchentür, erst dann wendet sie sich wieder an Sabrina und erkundigt sich: »Hast du etwas gefragt, mein Kind?«

»Ja, ich habe gefragt, ob du glaubst, dass Wolfhart diesmal länger bleiben wird. Ich wünsche mir das so sehr! Ach, Tante Tabea, was wird er mir wohl aus Tokio mitbringen?«

»Das Staubtuch!«, ruft Fräulein Tabea da aus und wedelt der bestürzten drallen Fine mit dem Tuch vor der Nase hin und her. »Ein Staubtuch gehört in den Besenschrank und nicht in den Speisesaal! Merken Sie sich das für die Zukunft! Außerdem haben Sie vergessen, im Obergeschoss Staub zu wischen. Es ist eine Schande! Als ich noch so jung war wie Sie, Fine …« Sie unterbricht sich, um dann verzweifelt zu zetern: »Nun hören Sie doch endlich auf, wie eine Verrückte das Herdfeuer zu schüren, Fine! Eine Küche ist keine Räucherkammer, und falscher Eifer ist von Übel!«

In diesem Augenblick öffnet sich die zweite Tür der ebenerdig gelegenen Küche, die unmittelbar auf den mit groben Kopfsteinen gepflasterten Schlosshof führt. In ihrem Rahmen erscheint ein älterer Mann, der in seiner grünen Gartenschürze, mit aufgekrempelten Hemdsärmeln, derben Schafstiefeln und einem gewaltigen Schlapphut auf dem schlohweißen Haar wie aus dem Märchenbuch geschnitten wirkt.

»Oh, Sönke«, empfängt Fräulein Tabea ihn erleichtert. »Sie kommen wie gerufen.«

Die dunklen Augen des Gärtners und Schlossfaktotums blitzen Fräulein Tabea unter buschigen weißen Brauen an.

»Was gibt es denn jetzt schon wieder?«, erkundigt er sich missbilligend, denn er schätzt es keineswegs, wenn er zu irgendwelchen häuslichen Arbeiten herangezogen wird.

»Sie müssen sofort die Fahne hissen!«, erklärt Fräulein Tabea. »Seine Durchlaucht kommt doch heute zurück.«

»Ach, du großer Jammer!«, erwiderte, Sönke, und es klingt nicht eben erfreut. Sekundenlang sieht es so aus, als wolle er seinen Worten noch etwas hinzufügen.

Doch ein mahnender Blick Fräulein Tabeas lässt ihn schweigen.

»Schön«, sagt er gemütlich, »dann werde ich nun eben die Fahne hissen!« Er stapft wieder aus der Küche, wendet sich an der Tür aber noch einmal um und bemerkt warnend: »Hoffentlich ist es Seiner Durchlaucht auch recht, wenn wir die Fahne hissen, Fräulein Tabea!« Damit schließt er langsam die Tür hinter sich.

Fräulein Tabea lässt sich auf der gemütlichen Eckbank nieder, die sich um den blankgescheuerten Holztisch der Schlossküche zieht, und sagt streng: »Fine, putzen Sie sofort die Jagdstiefel Seiner Durchlaucht! Und sagen Sie Steff Bescheid, er soll Feuer im Kamin der Halle anzünden. Beeilen Sie sich, Seine Durchlaucht kann jeden Augenblick hier sein!«

Mit lautem Knall schließt sich die Küchentür hinter der übereifrigen Fine, der anscheinend der Schrecken über diese letzte Mitteilung in die Glieder gefahren ist. Aber sonderbarerweise unterlässt Fräulein Tabea eine Zurechtweisung.

»Ich glaube«, erklingt da Sabrinas süße Silberstimme, »alle haben Angst vor Wolfharts Rückkehr: Sönke, Steff, Fine und die anderen.«

»Rede keinen Unsinn!«, fährt Fräulein Tabea auf. »Niemand hat Angst vor Seiner Durchlaucht. Du siehst Gespenster, Sabrina!« Bei dem Wort Gespenster zuckt Fräulein Tabea unwillkürlich zusammen.

»Du hast natürlich keine Angst vor Wolfhart, Tante Tabea!«, lacht Sabrina. »Dafür fürchtest du dich vor …«

»Pst!« Warnend legt Fräulein Tabea den Zeigefinger auf die Lippen. Sie ist blass geworden, aber sie fasst sich sofort wieder und sagt streng: »Jetzt verschwindest du am besten aus der Küche, Sabrina. Ich muss nämlich den Baumkuchen machen …«

»Tante Tabea!«, schmeichelt Sabrina. »Ich habe doch heute Geburtstag, und zu Geburtstagskindern muss man nett sein. Sei also nett, Tante Tabea, und sage mir ganz genau, was Wolfhart in dem Telegramm geschrieben hat!«

»Gewiss, mein Kindchen!«, versichert Fräulein Tabea. »Er hat geschrieben – er hat geschrieben …« Sie verstummt für eine Weile, um dann zu murmeln: »Man nehme das zu Schaum geschlagene Eiweiß von sieben frischen Hühnereiern …«

»Aber, Tante Tabea!«, unterbricht Sabrina sie lachend. »Das hat Wolfhart doch niemals telegrafiert!«

Verwirrt blickt Fräulein Tabea auf. »Ich wiederhole mein Baumkuchenrezept, damit ich keine Zutaten vergesse. Tu mir jetzt die einzige Liebe an, Sabrina, und lass mich mit dem Baumkuchen allein!«

»Sofort, Tante Tabea! Ich möchte ja nur noch wissen, warum alle Angst vor Wolfhart haben?«

»Zitronat!«, verkündet Fräulein Tabea, um sofort ärgerlich hinzuzufügen: »Du kannst mit deiner Fragerei den sanftesten Menschen aus der Ruhe bringen, Sabrina. Ich muss doch jetzt meinen Baumkuchen …«

Zärtlich schließt Sabrina Fräulein Tabea in ihre Arme und küsst sie liebevoll auf die Wange.

»Ich gehe ja schon, Tante Tabea! Großer Gott, im Grunde genommen bist du auch ganz verdreht, seit Wolfhart seine Rückkehr angekündigt hat.«

»Aber nicht aus Angst«, wehrt sich Fräulein Tabea sofort, »nur wegen des Baumkuchens. Für mich ist Seine Durchlaucht der großherzigste, gütigste und edelste Mensch unter der Sonne. So, und jetzt verschwinde, Sabrina, sonst …« Scherzhaft drohend erhebt sie den Schaumschläger, und Sabrina zieht sich schleunigst zurück.

In dem dunklen Flur, der von der Küche zur Halle und zu dem rückwärtigen Treppenaufgang des Schlosses führt, trifft Sabrina den Knecht Steff, einen frischen, jungen, stets heiteren Burschen, der gerade einen Korb Feuerholz in die Halle schleppt.

»Steff«, fragt Sabrina ohne Umschweife, »warum haben Sie Angst vor Fürst Wolfhart?«

»Habe ich das?«, fragt Steff lachend zurück. »Nun ja, vielleicht, gnädiges Fräulein, vielleicht habe ich Angst vor Seiner Durchlaucht, aber es ist schwer zu erklären, warum.«

Seine Stirn kraust sich, so angestrengt denkt er nach. »Für mich ist Seine Durchlaucht eben der ernsteste und herrischste Mensch unter der Sonne.«

Damit will Steff an Sabrina vorbei, aber diese hält ihn am Ärmel seiner grünen Joppe fest.

»Haben Sie in der vergangenen Nacht Tante Tabea wieder erschreckt?«, fragt sie halb lachend, halb ernsthaft.

Trotz des Dämmerlichtes, das im Flur herrscht, erkennt Sabrina ganz deutlich, dass eine tiefe und verräterische Röte in Steffs frische Wangen steigt. Aber er macht dabei runde Unschuldsaugen und versichert treuherzig: »Wo denken Sie denn hin, gnädiges Fräulein! Ich war es diesmal nicht! Auf meine Ehre, gnädiges Fräulein, ich war es nicht!«

»Aber Sie wissen, wer oder was es war?«, forscht Sabrina unbarmherzig weiter.

»Gott bewahre.« Steff schüttelt bekümmert seinen Rotschopf. »Dass Fräulein Tabea aber auch eine so schreckliche Angst vor Gespenstern hat, kann ich nicht verstehen«, bemerkt er noch grinsend, um dann mit seinem Holzkorb Sabrina zu entschlüpfen.

Diese verharrt an der Treppe, die unmittelbar vom Flur zu den oberen Stockwerken des Schlosses führt. Als sie aber Fine das Lied vom Heideröschen singen hört, eilt sie entschlossen die knarrende Holzstiege hinauf.

Im Korridor des Obergeschosses hockt Fine, umgeben von den Jagdstiefeln Seiner Durchlaucht, auf einem Schemel und rückt mit einer gewaltigen Stiefelbürste dem Leder zu Leibe, dass es eine wahre Pracht ist. Dabei singt sie falsch und laut.

Als Sabrina sich ihr jetzt nähert, bricht ihr Gesang mit einem Schreckenslaut ab, und polternd fällt die Stiefelbürste zu Boden.

»O heilige Gertrude!«, stammelt Fine. »Haben Sie mich jetzt aber erschreckt, gnädiges Fräulein!«

»Sie werden doch nicht auch an Gespenster glauben wie Tante Tabea?«, meint Sabrina lachend. »Fine, ich möchte Sie etwas fragen …«

»Ja, gnädiges Fräulein?«

»Fine«, forscht Sabrina ernsthaft, »warum haben Sie Angst vor Seiner Durchlaucht?«

Fine wird rot, zieht den Kopf ein bisschen ein und meint erst nach einer Weile unschlüssig: »Angst habe ich nicht richtig, gnädiges Fräulein, ich habe nur einen Heidenrespekt vor Seiner Durchlaucht.« Sie zuckt die rundlichen Schultern und fügt zögernd hinzu: »Für mich ist der Herr eben der finsterste, nein, der traurigste Mensch unter der Sonne. Er lacht nie, er scherzt nie, und er sieht einen immer so merkwürdig an.«

Eine kleine Weile ist es still.

»Sonderbar«, sagt Sabrina plötzlich versonnen, »bei mir war Fürst Wolfhart immer heiter und …«

»Ja, zu Ihnen, gnädiges Fräulein!«, stimmt Fine zu und bearbeitet eifrig das Leder der Jagdstiefel. »Sie sind ja auch der Augapfel Seiner Durchlaucht. Aber sonst ist Seine Durchlaucht immer so unzugänglich, wortkarg und todtraurig, dass man sich in seiner Gegenwart nicht einmal zu niesen getraut.«

Sie richtet sich ein wenig auf, und ihr rundes, frisches Gesicht wirkt ausgesprochen komisch, als es sich jetzt in düstere Falten zieht.

»Ich glaube, dass Seine Durchlaucht an einem Kummer krankt, dass er ein Geheimnis mit sich herumschleppt …«

Sie kommt nicht weiter, denn Sabrinas glockenhelles Lachen unterbricht ihren Satz.

»Sie lesen zu viele Romane«, sagt Sabrina dann. »Nein, nein, Fine, Wolfhart soll an einem Kummer kranken und ein Geheimnis mit sich herumschleppen? Niemals!«

Gekränkt wendet Fine da ihre Aufmerksamkeit wieder den Jagdstiefeln zu und meint:

»Ich glaube, da gibt es gar nichts zu lachen, gnädiges Fräulein. Ganz im Gegenteil! Warum, frage ich, müssen alle Leute bei Dienstantritt unterschreiben, dass sie sich mit niemand in der Umgebung über das Schloss, seine Bewohner und die Vergangenheit des Schlosses unterhalten werden?«

»Ach, das geschieht nur deshalb, weil Wolfhart das Gerede der Leute hasst«, weicht Sabrina aus.

»Möglich, gnädiges Fräulein. Aber mir ist da etwas nicht geheuer. Meine Nase wittert ein Geheimnis.« Dabei reckt Fine ihre Stupsnase schnuppernd in die Luft. »Warum glaubt etwa Fräulein Tabea, die doch sonst eine sehr vernünftige und gescheite Frauensperson ist, an Gespenster? Und warum wurde vor Jahren die gesamte Dienerschaft entlassen? Warum hat man, mit Ausnahme von Fräulein Tabea und dem alten Sönke, lauter neue Leute eingestellt?«

Sabrina steht diesen Fragen hilflos gegenüber.

»Ich weiß es nicht«, gesteht sie ehrlich, »aber ich werde Fürst Wolfhart fragen, wenn er wieder hier ist.«

Damit überlässt sie Fine ihrer Arbeit und eilt wieder die Treppe hinauf. Sie ist fest entschlossen, nun auch noch den alten Sönke zu fragen, warum er sich nicht auf die Rückkehr Seiner Durchlaucht freut.

Sie trifft Sönke auf dem Speicher, wo der Alte damit beschäftigt ist, die Fahne der Fürsten von Ravenhill zu entfalten. Es ist eine wunderschöne Fahne. Auf moosgrünem Grund schimmert silbern das Wappen der Ravenhills – ein Falke auf gekreuzten Degen.

»Die Fürsten von Ravenhill«, bemerkt Sönke, während er mit behutsamen Händen den kostbaren Stoff glättet und an der Fahnenstange befestigt, »die Fürsten von Ravenhill waren früher hervorragende Falkner. Ich habe es selbst erlebt, wie …«

Sabrina weiß aus Erfahrung, dass Sönke nicht so rasch vom Thema abzubringen ist, wenn er einmal ins Erzählen geraten ist. Darum fragt sie rasch: »Sönke, warum haben Sie Angst vor Seiner Durchlaucht?«

»Angst?«, fragt Sönke zurück, lacht dröhnend und gibt die Fahne dem Wind frei. »Ich sollte Angst vor Seiner Durchlaucht haben? Nein, ich habe keine Angst vor Seiner Durchlaucht, gnädiges Fräulein! Ich habe nur Mitleid mit ihm, denn es ist nicht zu ertragen, sehen zu müssen, wie er sich verändert hat, seit …«

»Seit?«, forscht Sabrina, atemlos vor Spannung und innerer Erregung.

Aber Sönke antwortet ihr nicht. Er zieht seine Schnupftabakdose aus der Joppe und genehmigt sich eine Prise.

»Diese Tabakdose«, bemerkt er dabei, »hat mir der alte Fürst noch geschenkt. Ich sehe ihn noch vor mir stehen, den Falknerhandschuh übergestreift und bebend vor Erregung, ob der Vogel sich in die Lüfte erheben oder zu ihm zurückkehren werde.«

»Sie leben immer nur in der Vergangenheit, Sönke«, sagt Sabrina leise.

Der alte Sönke wirft ihr unter seinen buschigen weißen Brauen einen sonderbaren Blick zu.

»Es ist besser, in der Vergangenheit zu leben«, antwortet er, »als in dieser lausigen Gegenwart.« Nach diesen Worten wendet er sich ab und stapft zur Speichertür. Die Holzstiegen der Treppe knarren unter seinen schweren Schritten.

Dann wird es still. Nur die Fahne der Fürsten von Ravenhill mit dem silbernen Falken auf grünem Grund flattert im Herbstwind, der übers Moor gezogen kommt.

Sabrina beugt sich aus dem niederen Fenster.

Der Dachfirst des Schlosses springt an dieser Stelle weit vor, sodass sie nur ein Zipfelchen blühender Erika, ein Stück des braunen Moores und den Himmel sehen kann. Sonderbar, denkt sie dabei, jeder sieht Wolfhart anders, Tante Tabea behauptet, er sei der großherzigste, gütigste und edelste Mensch unter der Sonne, Steff meint, dass Wolfhart ernst und herrisch sei. Fine erklärt, er sei todtraurig, kranke an einem Kummer und schleppe ein Geheimnis mit sich herum, und Sönke hat Mitleid mit ihm. Ich aber – ich habe ihn ganz einfach lieb!

In diesem Augenblick wird auf der Fahrstraße, die die Heideinsel mit dem Moordorf verbindet, eine schwarze Limousine sichtbar, und Sabrina glaubt, ihr Herzschlag setze aus.

Ein heißes, schwindelndes Glücksgefühl packt sie, und eine Stimme jubelt in ihrem Herzen: Wolfhart kehrt heim!

Sie eilt über den Speicher und jagt die Treppe hinunter.

»Seine Durchlaucht kommt!«, verkündet sie der bestürzten Fine, die vor Schreck prompt wieder die Stiefelbürste fallen lässt. »Seine Durchlaucht kommt!«, ruft sie Steff zu, der sich mit seinem Holzkorb daraufhin schleunigst aus der Halle in die Küche zurückzieht, unter deren Tür Fräulein Tabea mit hochrotem Kopf erscheint. »Wolfhart kommt, Tante Tabea!«, jauchzt Sabrina wieder.

Fräulein Tabea schlägt die Hände über dem Kopf zusammen.

»Und mein Baumkuchen ist noch lange nicht fertig!«, klagt sie mit Grabesstimme.

Sabrina aber stürzt durch die Halle, reißt das Hauptportal auf und stürmt die Freitreppe des Schlosses hinunter, vor der gerade die schwarze Limousine anlangt.

Jubelnd, glückselig begrüßt sie den heimkehrenden Fürsten, aber als ihre frischen Lippen zärtlich seine Wangen berühren, zuckt er unmerklich zusammen.

*

Nur einen winzigen Schritt tritt Fürst Wolfhart zurück, aber durch diese kleine Geste öffnet sich gleichsam ein Abgrund des Fremdseins zwischen ihm und seinem Mündel.

Fassungslos blickt Sabrina den Mann an, denn sonst hat er sie immer liebevoll in seine Arme geschlossen, wenn er von einer seiner großen Reisen in das Schloss seiner Väter heimkehrt, er hat sie immer herzlich auf die Stirn geküsst, ihr braunes Haar gestreichelt und ihr scherzhaft versichert, dass er es vor Sehnsucht nach ihr in der Fremde fast nicht mehr ausgehalten habe.

Heute aber ist alles anders!

Fürst Wolfhart verbeugt sich nur leicht vor Sabrina. Er reicht ihr nicht einmal die Hand, und er spricht kein einziges Wort. Ein paar Sekunden lang hat Sabrina das schreckliche Empfinden, der Himmel müsse einstürzen oder die Erde sich auftun.

»Wolfhart, was – was ist?«, fragt sie tonlos. Ihre Lippen beben, und sie fürchtet, in Tränen auszubrechen. Seit am Vorabend das Telegramm eintraf, das überraschend die Ankunft des Fürsten meldete, hat sie sich auf das Wiedersehen mit ihm gefreut. Und jetzt?

Hoch aufgerichtet steht Wolfhart Fürst von Ravenhill vor ihr, streicht sich eine Strähne des dichten dunklen Haares aus der Stirn und – schweigt. Sein ausdrucksvoller Mund ist fest geschlossen und das Kinn ein wenig vorgestreckt. Die ebenmäßigen Brauenbögen leicht zusammengezogen, sodass eine steile Falte in seine Stirn wächst, verharrt er nun reglos vor Sabrina. Die sonnengebräunte Haut über den Backenknochen spannt sich an, als wenn er einen Schmerz erleide, aber seine dunklen sprechenden Augen sind unverwandt auf das Mädchen gerichtet.

»Wir haben die Fahne gehisst!«, murmelt sie zusammenhanglos. »Wir haben uns so auf dich gefreut. Dein Falke grüßt dich …«

Fürst Wolfhart zuckt unmerklich zusammen. Er hat sich jedoch sofort wieder in der Gewalt. Nur seine hünenhafte Gestalt wirkt jetzt noch stolzer, ablehnender und einsamer als zuvor.

In diesem Augenblick erscheint Fräulein Tabea unter dem Schlossportal. »Willkommen, Durchlaucht! Willkommen daheim!«

Auch dem alten Fräulein reicht Fürst Wolfhart nicht die Hand.

»Warum haben Sie die Fahne hissen lassen, Fräulein Tabea?«, fragt er fast schroff, und dies sind die ersten Worte, die er spricht. »Sie wissen, ich liebe derlei Dinge nicht!«

Fräulein Tabeas freudiges Gesicht erstarrt vor Schreck.

Wortlos schreitet Fürst Wolfhart nun an Sabrina und Fräulein Tabea vorüber, die Freitreppe empor. Das schmiedeeiserne Portal schließt sich Sekunden später hinter seiner hohen Gestalt, während sich Fräulein Tabea und Sabrina stumm und bestürzt gegenüberstehen.

»Ach, du liebe Güte!«, seufzt Fräulein Tabea schließlich. »Das fängt ja gut an!«

Sabrinas Augen sind blind von Tränen der Enttäuschung, und dieser Tränenschleier lässt alles vor ihrem Blick seltsam in sich verschwimmen: die blühenden Blumen auf der Heide, den hellen Himmel und Tante Tabeas weißes Spitzenhäubchen.

»Tante Tabea!«, schluchzt sie plötzlich laut auf. »Oh, Tante Tabea!«

Bekümmert schüttelt das alte Fräulein den Kopf, aber die grauen Augen hinter den funkelnden Brillengläsern sind sonderbar wissend, als wollten sie gleichsam zum Ausdruck bringen, dass sie sich die Ankunft des Fürsten gar nicht anders vorgestellt habe. »Die Fahne!«, murmelt sie. »Der silberne Falke …« Dann rafft sie sich auf, geht zu der vor grenzenloser Enttäuschung weinenden Sabrina und schließt sie mütterlich in ihre Arme. »Weine nicht, Sabrina, hörst du? Weine nicht, mein armer Liebling, denn Tränen ändern nichts. Ich meine es gut mit dir, Liebling! Komm!« Sanft versucht sie, Sabrina die Freitreppe emporzuführen.

»Warum«, schluchzt sie, »ist Wolfhart so – so anders, Tante Tabea?«

Das alte Fräulein senkt den grauhaarigen Kopf, und ihr weißes Spitzenhäubchen glänzt im Sonnenlicht. »Frage mich nicht, Liebling!«, bittet sie leise. »Komm jetzt mit mir ins Haus!«

Aber Sabrina schüttelt leidenschaftlich den Kopf. Sie kann jetzt nicht einfach ins Haus gehen und tun, als sei nichts geschehen. »Sei mir nicht böse, Tante Tabea«, flüstert sie mit tränenerstickter Stimme. »Ich muss mir jetzt frischen Wind um die Ohren wehen lassen.«

»Aber lauf nicht so weit ins Moor hinaus«, ruft Fräulein Tabea ängstlich. Sie fürchtet das Moor. So sehr sie die Heideinsel und das Schloss liebt, in dem sie nun schon fast ein Menschenleben verbrachte, so sehr fürchtet sie das Moor …

Nördlich des Schlosses Ravenhill dehnt sich die Insel gut eine Stunde weit aus, bis die Moorgrenze beginnt. Im Süden hingegen hat das Moor seine braunen starren Wogen im Laufe der Jahre weit über die Insel gespült, und Fräulein Tabea hat schon oft düster prophezeit, dass die ganze Insel eines Tages mitsamt dem Schloss versinken müsse, falls nicht bald etwas gegen das Moor unternommen werde.

Sabrina seufzt unbewusst, als sie an der Moorgrenze steht. Tante Tabea hat recht, sinnt sie. Man müsste etwas gegen das Moor unternehmen, man müsste Gräben, Kanäle und Staudämme bauen und das Oberwasser regeln, sodass es die Wiesen tränkt. Ich werde Wolfhart fragen, warum er es nicht tut.

Sie erschrickt unwillkürlich bei diesem Gedanken. Früher hätte sie eine solche Frage bedenkenlos an den Fürsten gerichtet. Aber wenn er so kühl, fremd und ablehnend zu ihr bleibt, wie er es bei seiner Ankunft war, dann wird sie es wohl nie mehr wagen können, unbefangen mit ihm zu plaudern.

Sie steht reglos still, schließt flüchtig die Augen und sieht wie in einer Vision das Moorland vor sich, wie es ausschauen würde, wenn man es urbar machen wollte: Kanäle, auf denen bunte Boote schwimmen, saubere Häuser aus roten Ziegelsteinen am Uferrand, kleeduftende Wiesen, auf denen Kühe weiden, wogende Kornfelder und die Silhouetten einsamer Mühlen.

Aber als sie die Augen wieder öffnet, liegt nur die schwarzbraune, düstere Einöde vor ihr, deren Schwermut ans Herz greift und einen wahrhaft an Gespenster glauben lässt, wie Fräulein Tabea immer behauptet.

Als Sabrina wieder zum Schloss zurückkehrt, wehen schon die silbernen Schleier der Dämmerung über der blühenden Heide, und von der Kirche des Moordorfes her ruft es das Ave.

So, wie heute die Dämmerung kommt, sinnt Sabrina, ist sie schon vor hundert Jahren über die Insel gezogen, damals, als die Fürsten Ravenhill noch ein regierendes Haus waren. Wolfhart hat mir einmal erzählt, dass es das Ziel seiner Ahnen gewesen sei, das Moor zu bebauen, ein zu jenen Zeiten unerreichbares Ziel. Aber in der technisierten Gegenwart wäre es durchaus möglich gewesen. Warum nur, fragt sie sich, lässt Wolfhart es zu, dass die Insel stirbt?

Sie schüttelt unwillkürlich den Kopf. Sie weiß, es hat keinen Sinn, über derlei Fragen nachzugrübeln. Aber wie immer, wenn etwas sie zutiefst bewegt, sucht sie Trost und Zuflucht bei ihrer Geige. Das Musikzimmer ist Sabrinas Zuflucht.

Mit behutsamen Händen löst sie das kostbare Instrument aus seiner violetten Samthülle und betrachtet es zärtlich. Eine ganze Weile steht sie reglos und versonnen da und lauscht der seltsamen Melodie ihres Herzens, die sie sich nicht zu deuten weiß. Bisher war immer alles klar, licht und geordnet in ihrem jungen Leben. Warum nur ist mit einem Mal alles anders geworden?

Sabrina zögert, als fürchte sie sich davor, der Melodie in ihr Ton und Klang zu verleihen, aber dann setzt sie doch langsam das Instrument an, ergreift den Bogen und führt ihn zart über die schwingenden Saiten. Sie schließt die Augen, und die Umwelt versinkt für sie.

Es ist eine sonderbare Weise, der Sabrina Leben verleiht. Sie malt in schwermütigem Moll die trostlose Öde des Moorlandes, um später jedoch in jubelnde Durtöne überzugehen. Sabrina hält die Augen geschlossen und versenkt ihr ganzes Fühlen und Sein in die Melodie, die sie ihrer Geige entlockt. Erst als der letzte Ton verklungen ist, öffnet sie, wie aus einem tiefen Traum erwachend, langsam ihre Lider.

»Das war schön, Moorprinzesschen!«, sagt da eine wohlklingende dunkle Männerstimme.

Unter der Tür zur Halle steht Fürst Wolfhart.

»Verzeih mir«, bittet er herzlich, »dass ich dich belauscht habe, aber ich konnte nicht widerstehen.«

Wie gebannt ruhen seine dunklen sprechenden Augen auf der liebreizenden Erscheinung Sabrinas.

»Hast du erkannt, was ich spielte, Wolfhart?«, fragt Sabrina tief atmend.

Fürst Wolfhart lächelt. »Natürlich! Das Moor und die Heide.«

Sabrina nickt ernsthaft. »Du erkennst immer, was ich spiele«, sagt sie einfach. »Auch als ich noch ein Kind war, wusstest du immer ganz genau, was ich mit meiner Geige sagen wollte. Weißt du noch, wie ich einmal den Schneesturm in einer Melodie malte?«

»Ich weiß, Moorprinzesschen«, antwortet Fürst Wolfhart.

»Oder den Hagelschlag während eines Frühlingsgewitters. Erinnerst du dich noch daran, Wolfhart?«

»Ich habe nichts vergessen, Sabrina.«

Während dieser kurzen seligen Zeitspanne, da sich Fürst Wolfhart und Sabrina in dem dämmrigen Musikzimmer gegenüberstehen, ist alles wie früher, ist alles gut. Sabrina atmet tief auf und legt die Geige sanft in die violette Samthülle zurück.

»Warum tust du nichts gegen das Moor, Wolfhart?«, fragt sie dann. »Man müsste es bekämpfen, müsste fruchtbares Land schaffen, Kanäle ziehen und neues Leben in der trostlosen Öde erwecken. Du kannst das, Wolfhart, warum tust du es nicht?«

Während Sabrina noch spricht, hat sich Fürst Wolfharts Haltung unmerklich verändert. Seine Schultern sind jetzt gestrafft, seine Hände zu Fäusten geballt, und in die vorgewölbte Stirn wächst eine steile, unheilverkündende Falte.

»Lass das Moor ruhen!«, sagt er schroff und gebieterisch.

Erschrocken blickt Sabrina auf.

»Verzeih, Wolfhart! Ich wollte dich nicht verletzen. Der Gedanke kam mir nur, als ich über die Heide streifte und die Moorgrenze erreichte. Es ist böse, das Moor, finster, tückisch und drohend.«

Brüsk wendet sich Fürst Wolfhart ab, ohne Sabrina zu Ende sprechen zu lassen. Er kehrt durch die Halle in den Speisesaal zurück und berührt ungeduldig den silbernen Gong, mit dem er anzuzeigen pflegt, dass er die Mahlzeit wünscht.

Sofort kommt Fräulein Tabea angehastet und versichert eifrig: »Es ist alles bereit, Durchlaucht! Wenn Sie wünschen, kann sofort aufgetragen werden.«

Fürst Wolfhart nickt knapp zum Zeichen seiner Zustimmung, dann nimmt er an der Tafel Platz.

Es ist in Schloss Ravenhill eigentlich Sitte, dass Fräulein Tabea das Abendbrot gemeinsam mit dem Schlossherrn und Sabrina im Speisesaal einnimmt, aber heute hat Fürst Wolfhart die treue Hausbesorgerin nicht aufgefordert, ein Gedeck für sich aufzulegen. So sitzen sich Sabrina und Fürst Wolfhart wenig später allein an der festlich gedeckten Tafel gegenüber.

Schweigend nehmen sie die liebevoll bereitete Mahlzeit ein. Fürst Wolfhart richtet nicht ein einziges Mal das Wort an Sabrina, und diese wagt nicht, das Schweigen zu brechen.

Als abgetragen ist, verbeugt sich Fürst Wolfhart kurz und höflich vor Sabrina. Er erhebt sich und schreitet ihr voran zur Halle, aber Sabrina folgt ihm nur zögernd, denn sie fürchtet sich vor diesem gemeinsamen Abend, an dem Wolfhart doch seine Rückkehr mit ihr feiern will.

Der Schlossherr lässt sich in einem der tiefen Sessel am prasselnden Kaminfeuer nieder, öffnet die Champagnerflasche und schenkt ein. Dann erhebt er sich, ergreift sein Glas und sagt ernst:

»Du bist nun achtzehn Jahre alt geworden, Sabrina. Lass mich dir zu diesem bedeutungsvollen Tag Glück und Gottes Segen wünschen!«

Während eines Herzschlags Länge leuchtet in seinen Augen die alte, innige Zärtlichkeit auf, aber dann verschließt sich sein Blick wieder, und mit einem kühlen Lächeln trinkt er Sabrina zu.

Dann sitzen sie sich schweigend und fremd in den tiefen Sesseln gegenüber. Es ist sehr still. Nicht einmal eine Uhr tickt, nur das Kaminfeuer knackt und prasselt leise.

»Mit dem heutigen Tag«, beginnt Fürst Wolfhart endlich, »endet meine Vormundschaft für dich, Sabrina. Du kannst über dein ferneres Leben bestimmen, und es liegt ganz in deinem eigenen Ermessen, wie du dir deine Zukunft gestalten willst. Ich habe dich zu mir genommen, als du neun Jahre alt warst, Sabrina. Wahrscheinlich kannst du dich an die Einzelheiten jener schrecklichen Nacht, die deinen Eltern das Leben kostete, nicht mehr erinnern, denn ich habe ganz bewusst vermieden, mit dir jemals darüber zu sprechen und jene Erinnerung zu wecken.«

Sabrina hat sich ein wenig vorgeneigt. Gespannt und erregt lauscht sie den Worten Fürst Wolfharts, der gerade ernst sagt: »Das Flugzeugunglück ereignete sich an der Stadtgrenze von San Francisco. Die Insassen der Unglücksmaschine fanden bis auf den Piloten, dich und mich den Tod. Auch deine Eltern mussten ihr Leben lassen, denn dein Vater begleitete mich auf meiner Konzerttournee durch Amerika, und er liebte seine junge Gattin und sein Töchterchen so zärtlich, dass er sich von beiden nicht für längere Zeit trennen wollte. Er war ein großer, begnadeter Künstler, Sabrina, und ich habe niemals mehr jemanden so herrlich Geige spielen hören wie Marcus Mauri, deinen Vater.«

Wieder ist es für eine Weile still in der großen Halle von Schloss Ravenhill. Sabrina wagt fast nicht zu atmen, als sie Fürst Wolfhart weitersprechen hört.

»Du warst ein hilfloses, kleines Menschenkind, Sabrina, eine Waise. Ich zählte damals siebenundzwanzig Jahre und war trotz meiner beginnenden Erfolge einsam, verbittert und menschenscheu. Ich nahm mich deiner an, brachte dich in Fräulein Tabeas Obhut und übernahm die Vormundschaft für dich, da du keine Verwandten hattest. So wurdest du mein Mündel, Sabrina, und ich habe mich in den vergangenen Jahren aufrichtig bemüht, meine Pflichten als dein Vormund nach bestem Wissen und Gewissen zu erfüllen. Du bist wohlbehütet in der Geborgenheit des Moorschlosses aufgewachsen, Sabrina. Ich habe dir eine gute Erziehung angedeihen lassen und das Vermögen, das dir dein Vater bei seinem Tod hinterließ, treu verwaltet. Du verfügst mit dem heutigen Tag über genügend Mittel, um dir eine Existenz nach deinen Wünschen aufzubauen. Ich weiß nicht, welche Pläne du für deine Zukunft hast, aber ich bin gern bereit, dir zu raten, falls du mich in diese Pläne einweihen willst. Wahrscheinlich wirst du das Moorschloss sofort verlassen wollen, um endlich einmal die Welt kennenzulernen. Selbstverständlich steht diesem Wunsch nichts im Wege.«

Sabrina empfindet in diesem Augenblick nichts als Schmerz. Ihre Hände umklammern die Lehne des Sessels, und die Stimme will ihr kaum gehorchen, als sie die Lippen öffnet, um zu sprechen. Tonlos fragt sie endlich: »Ich muss – muss Schloss Ravenhill verlassen?« Das ist das Einzige, was sie den guten, wohlgemeinten Worten des Fürsten entnimmt.

Erstaunt blickt dieser auf. »Du hast mich völlig missverstanden, Sabrina«, erwidert er lächelnd. »Schloss Ravenhill ist nach wie vor deine Heimat und soll immer deine Heimat bleiben, hörst du? Aber die Vermutung, dass du die Einsamkeit des Moorschlosses mit der bunten Betriebsamkeit der Welt vertauschen willst, ist doch naheliegend, nicht wahr?«

»Aber wo – wo soll ich denn hingehen?«, stammelt Sabrina mit zuckenden Lippen, und Tränen verdunkeln ihren Blick. »Ich habe doch niemanden auf der ganzen Welt außer dir.«

Fürst Wolfharts Lächeln vertieft sich. »Das wird sich bald ändern, Moorprinzesschen«, sagt er leise. Es soll scherzhaft klingen, aber heimliche Wehmut verschleiert die dunkle Stimme des Fürsten. »Warte nur, bis du die ersten Schritte in die Welt getan hast!«

»Aber ich will doch gar nicht fort vom Moorschloss!«, schluchzt Sabrina. »Ich will immer – immer hierbleiben, bei Tante Tabea, bei den Pferden, der Heide und – und bei dir!«

Fürst Wolfhart umgeht eine direkte Antwort auf dieses leidenschaftliche Bekenntnis. »Lass uns die Gläser erheben, Sabrina!«, sagt er herzlich. »Lass uns auf deine Zukunft trinken, die mit dem heutigen Tag begonnen hat!«

Gehorsam leert Sabrina ihr Glas, aber das köstliche Getränk mundet ihr nicht, sondern erscheint ihr schal und ohne Geschmack. Noch immer rinnen heiße Tränen aus ihren Augen.

»Warum – warum bist du so anders zu mir, Wolfhart?«, fragt sie schließlich gequält.

Ein Schatten huscht über seine ausgeprägten Züge. »Verzeih, Moorprinzesschen!«, bittet er sanft. »Früher warst du ein Kind. Auch das letzte Mal, als ich vor drei Jahren hier war, warst du noch ein Kind. Jetzt aber bist du eine erwachsene Dame, und diese Tatsache ändert alles.«

»Das begreife ich nicht!«, begehrt Sabrina auf. »Hast du mich deshalb nicht mehr lieb, Wolfhart?«

Fürst Wolfhart antwortet nicht, sondern starrt ins Feuer, und es ist, als erschauten seine Augen in dem zuckenden Flammenspiel längst versunkene Bilder, deren grenzenlose Traurigkeit ihn bitter werden lässt.

Tiefes Mitleid überströmt Sabrinas Herz. Sie möchte gut zu dem einsamen Mann sein, und es drängt sie, ihm wie früher tausend zärtliche Worte zu sagen.

Sie lächelt unter Tränen, beugt sich spontan vor, und ihre beiden Hände umschließen seine Rechte.

»Ich bin dir gut, Wolfhart«, sagt sie schlicht.

Er sieht sie seltsam an, dann zieht er seine Hand fast brüsk zurück und erhebt sich.

»Ich habe dir mein Mitbringsel noch gar nicht überreicht«, lenkt er kühl ab. »Gedulde dich bitte einen Augenblick, Sabrina.«

Als er wenig später in die Halle zurückkehrt, überreicht er ihr einen zauberhaften japanischen Kimono aus kirschroter Seide, der mit silbernen Blütenornamenten kunstvoll bestickt ist.

»Ich hoffe, dass er dir gefällt«, sagt er dabei förmlich.

Die Kälte seiner Worte lässt Sabrinas heiße Freude jäh ersterben.

*

Entgegen seiner ursprünglichen Absicht, nach der drei Jahre währenden Konzerttournee rund um die Erde nun für einige Monate auf Schloss Ravenhill auszuruhen, eröffnet Fürst Wolfhart dem bestürzten Fräulein Tabea am kommenden Vormittag, dass er die Heideinsel spätestens in acht Tagen wieder verlassen wolle.

»So schnell wollen Sie schon wieder von uns fort, Durchlaucht?«, fragt sie erschrocken. »Und ich dachte, Sie wollten diesmal einige Monate bei uns bleiben. Sie haben …«

»Ich habe meine Absicht eben geändert«, unterbricht Fürst Wolfhart sie schroff. »Warum haben Sie übrigens die Fahne noch nicht einholen lassen, Fräulein Tabea? Ich schätze es nicht, wenn ich Befehle wiederholen muss!«

»Jawohl, Durchlaucht!«, stammelt das alte Fräulein fassungslos. »Ich werde Sönke sofort Bescheid sagen.«

Liebevoll eilt Sabrina, die gerade das Speisezimmer betritt, Fräulein Tabea zu Hilfe. »Gib mir das Tablett, Tante Tabea«, bittet sie herzlich, »ich werde uns bedienen.«

»Vielen Dank, Sabrina«, murmelt Fräulein Tabea erleichtert.

Fürst Wolfhart verbeugt sich knapp vor seinem Mündel.

»Guten Tag, Sabrina!«, sagt er kühl und höflich.

»Hast du die erste Nacht im Moorschloss angenehm geruht?«, fragt Sabrina zaghaft.

»Danke, ja.«

Sein Verhalten ist keineswegs ermunternd, aber Sabrina ist verzweifelt bemüht, das Eis zwischen sich und ihm zu brechen.

Sie kann es einfach nicht fassen, dass die alte, vertraute Gemeinsamkeit für immer zerstört sein soll. Angestrengt sucht sie nach einem geeigneten Gesprächsthema und meint schließlich: »Der Turmhahn prophezeit herrliches Wetter. Werden wir auf die Jagd gehen, Wolfhart?«

Jetzt wirft der Fürst dem jungen Mädchen einen kurzen herrischen Blick zu. »Ich habe allerdings vor, morgen zur Jagd zu gehen«, erklärt er unmissverständlich.

Sabrina errötet über die schroffe Ablehnung ihrer Begleitung. Trotzdem versucht sie ein letztes Mal, eine Brücke über den Ozean des Fremdseins zwischen Wolfhart und sich zu schlagen, und sagt: »Sönke hat mir erzählt, dass die früheren Herren von Ravenhill hervorragende Falkner waren!«

»Sönke ist ein altes Waschweib!«, erwidert der Fürst unwirsch. »Glaube nicht an die Ammenmärchen, die er dir auftischt!«

Jetzt kann Sabrina den Tränen nicht mehr wehren, die heiß über ihre schmalen Wangen rinnen.

»Weine nicht!«, fordert Fürst Wolfhart da hart, und mit einer ungeduldigen Gebärde wischt er ein Brotkrümchen zur Seite. »Du bist viel zu sensibel, Sabrina, und es ist höchste Zeit, dass du aus dieser Abgeschiedenheit hier heraus und in die Welt kommst. Die Heideinsel ist zu still und zu einsam für ein junges Menschenkind wie dich. Du bist jetzt erwachsen, Sabrina, und musst dir dein eigenes Leben selbstständig aufbauen.«

Wie am Abend zuvor, so entnimmt Sabrina auch jetzt diesen Worten nur, dass sie die Geborgenheit des Moorschlosses verlassen und in die Fremde gehen soll. Grenzenlose Angst ergreift Besitz von ihr.

Wie aus weiter Ferne hört sie, wie Fürst Wolfhart ernst schließt: »Ich hoffe, du verstehst mich recht, Sabrina, und erkennst, dass ich nur dein Bestes will.«

»Jawohl, Wolfhart«, erwidert Sabrina leise. Sie hält jetzt den Blick auf den Teller gesenkt, damit Fürst Wolfhart die verräterischen Tränen nicht bemerken kann, die ihren Blick noch immer verdunkeln.

»Ich reise in einigen Tagen ab«, erklärt Fürst Wolfhart weiter und nimmt sich ein wenig von der köstlichen Pfirsichspeise, die Fräulein Tabea zum Nachtisch zubereitet hat. »Du hast also nicht mehr viel Zeit zu verlieren, um eine Entscheidung über dein zukünftiges Leben zu treffen, Sabrina, denn ich möchte, bevor ich gehe, deine Zukunftspläne wissen.«

»Jawohl, Wolfhart!«, sagt Sabrina noch einmal leise und ist fast erleichtert, als er seinen Teller zur Seite schiebt und sich höflich vor ihr verbeugt.

Kühl sagt er: »Ich möchte mich für eine Weile niederlegen, Sabrina. Bitte, lass dich in keiner Weise stören!« Nach diesen Worten erhebt er sich und geht auf die Tür zu, die in seine Zimmerflucht führt.

Sabrina presst fest ihre Lippen zusammen und steht ebenfalls auf. Ohne das übliche Gongzeichen zu geben, das in der Küche verkünden soll, dass der Tisch abgetragen werden kann, eilt sie aus dem Speisezimmer und durch die Halle ins Freie. Unter dem Portal verharrt sie sekundenlang ganz still und blickt über die Heideinsel, die sie so innig liebt und die ihre Heimat geworden ist.

Ich muss von hier fortgehen, hämmert ihr Herz in verzweifelter Qual. Ich muss die Insel und das Schloss verlassen und irgendwo in der Fremde unter gleichgültigen Menschen leben, denn so hat Wolfhart es bestimmt!

Vom Schmerz überwältigt, kann Sabrina keinen einzigen anderen Gedanken fassen, und wie betäubt steigt sie darum langsam die Freitreppe hinab und wählt einen verschlungenen Seitenpfad, der mitten durch die blühende Heide führt.

Nun, da sie ganz allein mit sich ist und von niemandem gesehen und gehört werden kann, schlägt sie beide Hände vor ihr schmales verstörtes Gesichtchen und weint herzzerbrechend.

Ich ertrage es nicht, von hier fortzugehen, gesteht sie sich. Ich werde sterben, wenn ich von alledem, was ich liebe, Abschied nehmen muss! Ich habe Angst vor der Fremde, ich kenne niemanden auf der ganzen Welt, und ich werde überall einsam sein!

Da aber bäumt sich verzweifelt ihr Stolz auf und richtet die boshafte Frage an sie, ob sie vielleicht zu feige sei, den Lebenskampf zu wagen. Lange genug, mahnt dieser Stolz, hast du Wolfharts Güte als etwas Selbstverständliches hingenommen, und nie hast du dir Gedanken darüber gemacht, dass du irgendwann einmal dein eigenes Leben bestehen musst. Es war sehr leichtsinnig von dir, fröhlich in den Tag zu leben und niemals an die Zukunft zu denken.

Schuldbewusst senkt Sabrina ihr Köpfchen. Sie ist gerecht und klarsichtig genug, um zu erkennen, dass sich Wolfhart lange Jahre hindurch selbstlos und gütig ihrer angenommen hat. Er hat ihr eine Heimat gegeben, hat ihr Geborgenheit geschenkt und eine gute Erziehung angedeihen lassen. Nun, da er wünscht, sie solle sich ihr eigenes, selbstständiges Leben aufbauen, darf sie sich nicht aus Abschiedsschmerz und Angst vor der Fremde gegen seinen Willen auflehnen.

Noch einmal rinnen ein paar Tränen über Sabrinas schmale Wangen, aber sie wischt sie energisch fort und flüstert vor sich hin: »Ich muss Wolfhart unendlich dankbar sein für alles, was er für mich getan hat. Er hat ja recht, ich bin kein Kind mehr, sondern ein erwachsenes Mädchen und muss es lernen, mich draußen im Leben zurechtzufinden.«

Als sie sich nun langsam umwendet, um ins Schloss zurückzukehren, umfasst ihr Blick noch einmal liebevoll und zugleich fast schon abschiednehmend das blühende Heideland. Sie blickt zum Schloss hin, das sie zärtlich und innig liebt, und ein wehmütiges Lächeln umspielt ihren jungen Mund.

Mit einem Mal drängt es sie, all das, was sie nun empfindet, ihrer Geige anzuvertrauen, und im gleichen Augenblick trifft sie wie ein Blitzstrahl die Erkenntnis, was sie in ihrem zukünftigen Leben einzig tun kann und wird. Sie will Geigerin werden, eine wirkliche, echte Künstlerin, so, wie Marcus Mauri, ihr Vater, ein Künstler war.

Sie will ihren Entschluss Fürst Wolfhart unverzüglich mitteilen.

Sie trifft den Fürsten in der Halle. Er steht an dem runden Klubtisch vor dem Kamin und ist damit beschäftigt, seine Jagdgewehre zu überprüfen.

»Ich möchte mit dir sprechen, Wolfhart«, sagt Sabrina leise, aber fest.

Der Fürst zeigt sich keineswegs überrascht.

Er macht eher den Eindruck, als habe er erwartet, dass Sabrina ihn aufsuche, um ihre Zukunftspläne mit ihm zu besprechen.

»Ich höre, Sabrina«, sagt er ruhig. »Hoffentlich stört es dich nicht, wenn ich meine Arbeit dabei zu Ende bringe?«

Sabrina schüttelt den Kopf mit dem langen, schweren Haar. »Gewiss nicht, Wolfhart!« Sie schweigt sekundenlang und sieht angespannt vor sich hin. Aber dann richtet sie sich auf und blickt den Fürsten voll und ernst an. »Wie du es gewünscht hast, Wolfhart, habe ich darüber nachgedacht, was ich beginnen könnte, um eine wirkliche Lebensaufgabe zu finden. Vielleicht hältst du meine Wünsche und mein Ziel für vermessen, aber ich glaube, dass ich den richtigen Weg gefunden habe. Ich – ich möchte Künstlerin werden!«

Fürst Wolfhart nickt, ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen oder Sabrina anzusehen. Abermals wirkt er so, als habe er gar keine andere Mitteilung erwartet.

»Bist du dir darüber im Klaren, Sabrina«, fragt er ruhig, »was es bedeutet, sein Leben der Kunst zu verschreiben? Es bedeutet eiserne Arbeit, unermüdliches Streben nach Vollkommenheit, ewigen Kampf um Gestaltungskraft und in gewissem Sinne Ruhe- und Heimatlosigkeit. Wenn du Künstlerin werden willst, Sabrina, so, wie dein Vater ein echter, wirklicher Künstler war, musst du es lernen, auf viele Wünsche zu verzichten und deine ganze Persönlichkeit, dein ganzes Sein ausschließlich in den Dienst der Kunst zu stellen. Ich zweifle nicht daran, dass du Talent genug besitzt, um dich selbst aufzugeben und der Kunst ganz zu dienen. Aber wenn du diesen schweren, dornenvollen Weg beschreiten willst, musst du noch viel, viel lernen!«

Sabrina nickt. »Ich weiß, Wolfhart, und ich bitte dich, mir den Weg zu weisen, den ich gehen muss, um mein Ziel zu erreichen.«

Fürst Wolfhart öffnet rasch den Mund, als wolle er Sabrina einen Vorschlag unterbreiten, aber dann schließt er den Mund wieder und schweigt. Wollte er vielleicht sagen, dass niemand berufener dazu sein könne, Sabrinas reiches Talent zur Entfaltung zu bringen, als er, der große weltberühmte Dirigent Wolfhart Fürst von Ravenhill?

Wie um solchen Gedanken zu wehren, streicht er sich flüchtig über die Stirn und sagt rasch: »Ich kenne einen prächtigen Lehrer in Luzern, einen alten Musikprofessor. Wenn du bei ihm in die Lehre gehst, Sabrina, wirst du eines Tages vielleicht die Vollkommenheit deines Vaters erreichen können.« Rasch beugt er sich wieder über das leichte Jagdgewehr, das er in den Händen hält. »Ich werde ihm sofort schreiben, und wie ich meinen Walter Braman kenne, wird er hocherfreut sein, wenn ich ihm eine begabte Schülerin empfehle. Wenn er dir also recht ist, Sabrina, und wenn du mit meinem Vorschlag einverstanden bist, werde ich mich noch heute mit ihm in Verbindung setzen.«

»Ich bitte dich darum, Wolfhart«, sagt Sabrina leise. »Ich werde dir dankbar sein.«

Fürst Wolfhart nickt nachdenklich. Er legt das Jagdgewehr auf den Tisch zurück und greift zu einem schweren Hirschfänger. Dabei scheint er mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein.

Erschrocken richtet Sabrina sich auf, als Wolfhart in diesem Augenblick einen leisen Schmerzenslaut ausstößt.

»Was ist, Wolfhart?«, fragt sie bestürzt.

»Wie ungeschickt von mir«, murmelt er zornig. »Ich habe mich an der rechten Hand verletzt.«

Sabrina nimmt seine Rechte behutsam in ihre beiden Hände. Vom Daumenansatz zieht sich ein breiter, klaffender Schnitt bis zur Handwurzel hin.

»Um Gottes willen, deine Hand, Wolfhart!«, flüstert sie bebend. »Wie konnte das nur geschehen?«

Fürst Wolfhart gibt keine Antwort. Er zuckt nur stumm mit den Schultern und deutet auf den Hirschfänger, dessen Schneide tief in seine Hand gedrungen ist.

Die Wunde blutet heftig. Ängstlich blickt Sabrina zu Fürst Wolfhart empor, denn sie weiß, dass die Hände das kostbarste Gut des großen Dirigenten sind.

»Sei so lieb, Sabrina, und rufe Fräulein Tabea«, bittet Fürst Wolfhart und drückt sein Taschentuch auf die Wunde, das schnell von Blut durchtränkt ist. »Sie soll Verbandszeug mitbringen.«

Während Sabrina aus der Halle eilt, versucht Fürst Wolfhart, seine Hand zu bewegen. Aber diese schmerzt so sehr, dass er den Versuch gleich wieder aufgibt.

Und dann ist Fräulein Tabea zur Stelle.

»Mein Gott, wie konnte das nur geschehen?«, jammert sie, und als sie die Wunde sieht, entscheidet sie sofort: »Der Arzt soll kommen! Sönke soll sich gleich auf den Weg machen!«

»Unsinn!«, wehrt Fürst Wolfhart ab. »Wegen einer Schramme ruft man keinen Arzt!«

»Das ist mehr als eine Schramme, Durchlaucht!«, erwidert Fräulein Tabea und wirft einen grimmigen Blick auf den Hirschfänger. »Es könnte ja eine Sehne verletzt sein, und schon deshalb müssen wir den Arzt rufen!«

»Bitte, Wolfhart!«, schaltet sich auch Sabrina ein. »Tante Tabea hat recht! Es wäre schrecklich, wenn du durch einen solch dummen Zufall ernstliche Schwierigkeiten hättest.«

Da erhebt Fürst Wolfhart keinen Widerspruch mehr. Nur als Sabrina die Halle verlässt, um Sönke zum Arzt zu schicken, murrt er: »Einfach lächerlich, ein solches Theater um diesen unbedeutenden Schnitt zu machen!«

Fräulein Tabea achtet jedoch nicht auf seine Worte, sondern verbindet seine Hand ruhig weiter.

»Es wird höchste Zeit, dass wir endlich ein Telefon auf Schloss Ravenhill bekommen«, bemerkt sie schließlich. »Man ist im Ernstfall ja völlig von der Welt abgeschnitten. Ehe vor sechs Jahren die Leitung für Strom zu uns gelegt wurde, hausten wir ja zudem noch in ägyptischer Finsternis. Aber das Telefon ist wirklich eine dringende Notwendigkeit, gnädiger Herr, sonst ist man verkauft, verraten und verloren in diesem unheimlichen Gespensterschloss.«

»Gespensterschloss?«, fragt Fürst Wolfhart missbilligend und mit zusammengezogenen Brauen. »Ich glaube, liebes Fräulein Tabea, Sie scherzen.«

»Ich scherze nicht! Es ist nicht geheuer im Schloss. Früher habe ich ja nie etwas bemerkt, aber jetzt spukt es tatsächlich.« Sie dämpft ihre Stimme etwas, als fürchte sie sich, die unheimlichen Gespenster aufzuwecken. »In der bewussten Nacht von Freitag auf Samstag wird es immer unruhig im Falkenverschlag. Nicht nur ich habe es bemerkt, auch Sönke und die anderen. Wir haben einmal dort nachgesehen, aber wir konnten bei Tageslicht nichts entdecken. Alles stand an seinem Platz, die Kette der Falkenstange hing ruhig herab, und die Bretterwand, die zum Freigehege führt, war lückenlos vernagelt. Drei Nächte lang hielt Sönke damals im Verschlag Wache, doch es blieb alles ruhig. Aber in der Nacht des darauffolgenden Freitags begann es wieder. Es war schaurig! Die Kette rasselte, ein Krächzen ertönte, und dann klang es so, als wenn ein gefesselter Falke mit seinen Schwingen schlage und …

»Unsinn!«, unterbricht Fürst Wolfhart sie. »Es wird der Wind gewesen sein.«

»Das sagt Sönke auch«, gesteht Fräulein Tabea. »Aber merkwürdig ist doch, dass der Wind nicht weht, sobald Sönke in dem Verschlag schläft. Seither jedenfalls«, schließt sie ihren Bericht, »schläft Sönke vorsichtshalber jeden Freitag im Falkenverschlag, denn es wäre nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn die Leute erführen, dass es im Schloss tatsächlich spukt!«

»Und seit Sönke im Verschlag schläft, ist alles ruhig?«

»Nein!«, antwortet Fräulein Tabea mit noch immer gedämpfter Stimme. »Dann rumort es im rechten Schloss­turm, genau dort, wo früher immer der Falke saß.«

Fürst Wolfhart schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht an Gespenster«, sagt er schroff.

»Aber es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen wir Menschen uns nichts träumen lassen!«, widerspricht Tabea.

»Möglich«, gibt Fürst Wolfhart zu. »Warum haben Sie mir übrigens nie etwas von diesen – diesen Gespenstergeschichten mitgeteilt?«

»Ich wollte Sie nicht erschrecken, Durchlaucht«, erwidert sie. »Außerdem hätte ich damit wohl nichts daran geändert. Aber nachdem Sie nun einmal hier sind und …« In diesem Augenblick kommt Sabrina zurück, und Fräulein Tabea schweigt.

Als eine knappe Viertelstunde später der Arzt eintrifft und den Verband von Fürst Wolfharts Hand nimmt, ist die Wunde blaurot verfärbt und dick angeschwollen.

»Hinaus mit Ihnen, meine Damen!«, befiehlt der Arzt, dessen rotwangiges Gesicht unter dem weißen Haar eitel Wohlwollen und Zuversicht ausstrahlt. »Das hier ist eine Sache, die ausschließlich Männer angeht.« Er wartet, bis Sabrina und Fräulein Tabea sich widerstrebend zurückgezogen haben, dann wird sein heiteres Gesicht sehr ernst. »Das ist eine schmerzhafte Angelegenheit, Durchlaucht!«, sagt er unumwunden. »Sie haben Glück, wenn Sie an einer Blutvergiftung vorbeikommen. Ich werde mein Möglichstes tun. Ruhe und absolute Schonung, Durchlaucht, sind aber unerlässlich. Dabei müssen Sie möglichst jede Bewegung vermeiden, denn …«

»Ich reise in einigen Tagen ab und muss meinen Wagen chauffieren!«, unterbricht ihn Fürst Wolfhart gereizt. »Sehen Sie zu, dass bis dahin alles wieder in Ordnung ist!«

Der alte Arzt zieht es vor zu schweigen, aber bei sich denkt er, dass Fürst Wolfhart Glück hat, wenn er seinen Wagen vielleicht in drei Monaten wieder chauffieren kann.

*

Der Arzt behält recht. Fürst Wolfhart ist tatsächlich nicht in der Lage, an eine schnelle Abreise zu denken. Die Wunde eitert böse, und auch die geringste Bewegung schmerzt so sehr, dass der Schlossherr zu ständiger Untätigkeit verdammt ist. Seine zuweilen gereizte, zuweilen schwermütige Stimmung überträgt sich auch auf die übrigen Schlossbewohner.

Fräulein Tabea ist zwar rührend um den Fürsten bemüht, vermeidet es aber tunlichst, sich länger als unbedingt notwendig in seiner Nähe aufzuhalten, da sie vor einem plötzlichen Zornausbruch nie ganz sicher ist.

Nur Sabrina hält es unermüdlich und geduldig bei Fürst Wolfhart aus und erträgt jede seiner oft wechselnden Stimmungen in liebevoller Sanftmut. Sie wird es nie müde, mit ihm zu plaudern, ihm vorzulesen oder ihm auf der Geige vorzuspielen.

Dabei ergibt es sich ganz von selbst, dass Fürst Wolfhart beginnt, sie während des Spiels zu unterbrechen, auf kleine Fehler und Mängel in der Bogenführung aufmerksam zu machen oder sie auf einen nicht ganz richtigen Gestaltungsausdruck hinzuweisen. Und während dieser Stunden gemeinsamer intensiver Arbeit, die beiden bald zur lieben Gewohnheit wird, erwacht auch der alte, vertraute Ton wieder zwischen ihnen, und alles ist so, wie es früher war.

Aber sobald das Instrument schweigt, verschließt sich Fürst Wolfhart wieder vor Sabrina.

Dabei erkennt er ganz klar, dass Sabrina, die unter seiner Leitung jetzt jeden Tag mehrere Stunden lang eifrig übt, in ihrem Spiel technisch fast vollkommen ist. Ihre durch jahrelanges Musikstudium untermauerte, urwüchsige Begabung hat sie eine künstlerische Reife erlangen lassen, die es ihr ohne Weiteres möglich machen würde, bereits ihre ersten Konzerte zu geben.

Im Geheimen ertappt Fürst Wolfhart sich wiederholt dabei, dass er sich eine gemeinsame Tournee mit Sabrina ausmalt. Endlich könnte er wieder die Konzertstücke wählen, die er damals, am Beginn seiner Laufbahn, zusammen mit Sabrinas Vater spielte. Aber sobald seine Gedanken bei solchen Träumen angelangt sind, wird er noch schroffer, unzugänglicher und gebieterischer zu Sabrina.

So vergeht die Zeit, und sie vergeht wie im Fluge. Von einer Abreise des Fürsten ist nicht mehr die Rede. Seiner Agentur, die auf neue Abschlüsse drängt, teilt Seine Durchlaucht abweisend mit, dass er noch einige Zeit dringend der Ruhe und Schonung bedürfe. Der Sommer zieht vorüber. Der Herbst hält Einzug. Das Heidekraut ist verblüht und der Wind, der übers Moor gezogen kommt, ist rau und ungestüm. Tagelang ziehen schwere Wolken über das Land, Regen fällt, und es kommt den Menschen so vor, als wolle niemals mehr die Sonne scheinen.

An einem dieser stürmischen Herbsttage geschieht es, dass Sabrina mit ihrer Geige wieder einmal malt, wie sie ihre musikalischen Phantasien zu bezeichnen pflegt.

Obwohl Fürst Wolfhart es ihr streng untersagt hat, auf der Violine zu improvisieren, erhebt er heute keinen Einwand. Er verharrt reglos in dem gemütlichen Musikraum und lauscht ihrem Spiel.

Draußen zieht der Herbststurm übers Moor, und Sabrinas Geige zaubert in das warme lichte Zimmer die ausweglose Trauer der Natur, die sich zum Sterben anschickt.

»Sehr schön, Moorprinzesschen!«, lobt Fürst Wolfhart, als Sabrina den Bogen sinken lässt. »Versuche doch einmal, deine Improvisationen auf Notenpapier festzuhalten.«

»Glaubst du, ich würde das schaffen, Wolfhart?«, forscht Sabrina ängstlich. »Ich habe es noch nie versucht. Was ich so spiele, ist nur für den Augenblick bestimmt und eine Ausdrucksform meiner Stimmung.«

»Versuch es!«, bittet Fürst Wolfhart herzlich. »Ich helfe dir. Wiederhole das, was du eben gespielt hast, noch einmal.«

Er nimmt mit der gesunden Linken ein Notenblatt und hält den Bleistift bereit, um die ersten Töne auf das Blatt zu übertragen.

Sabrina setzt den Bogen an, aber es gelingt ihr nun, da sie bewusst wiederholen soll, was sie zuvor rein gefühlsmäßig gestaltet, nicht mehr, die richtigen Töne zu finden. Mutlos lässt sie nach einigen vergeblichen Versuchen das Instrument sinken.

»Ich kann es nicht!«, klagt sie. »Ich habe gewusst, dass ich es nicht kann, Wolfhart!«

Fürst Wolfhart hat jedoch bereits flüchtige Notenköpfe auf das Blatt gezeichnet. »Versuche das abzuspielen, Sabrina«, sagt er. »Ich glaube, so klang der Anfang deiner Improvisation.«

Erstaunt nimmt Sabrina das Notenblatt entgegen und spielt nach des Fürsten Aufzeichnung. Und tatsächlich, er hat den Anfang ihrer Malerei genau behalten.

Er wehrt aber lachend ab, als sie ihn bittet, das Stück zu vollenden.

»Versuche es nur selbst«, rät er. »Übung macht, wie du weißt, den Meister. Es wird eine gute Schulung für dich sein, wird dein musikalisches Gedächtnis stärken und deine bewusste Arbeit unterstützen.«

Von dieser Stunde an versucht Sabrina immer und immer wieder, das festzuhalten, was sie an Tönen fühlt und empfindet. Aber es will ihr nicht gelingen. Die Töne zerrinnen ihr unter den Händen, sobald sie versucht, diese durch schwarze Notenköpfe auf weißes Papier zu bannen.

In diesen Tagen gelingt es Fräulein Tabea auch, ihren großen Wunsch durchzusetzen. Fürst Wolfhart veranlasst noch vor Einbruch des Winters die Anlage einer Telefonleitung. Und als der elfenbeinfarbene Apparat endlich angeschlossen und griffbereit in der Halle steht, seufzt Fräulein Tabea erleichtert. »Gott sei Dank! Jetzt ist man im Ernstfall wenigstens nicht mehr völlig verraten und verloren!« Was sie aber unter einem Ernstfall versteht, das verschweigt sie wohlweislich.

*

In einer der nächsten Nächte fällt der erste Schnee. Als Fräulein Tabea am Morgen danach gegen acht Uhr die Fensterläden öffnet, ist die Heideinsel wie verwandelt. Der Wagen des Arztes, der gegen zehn Uhr zum Schloss kommt, hat bereits große Mühe, den richtigen Weg einzuhalten, um nicht unversehens von der Straße abzukommen.

Fürst Wolfhart erwartet den Arzt schon ungeduldig.

»Hoffentlich haben Sie mir heute etwas Gutes mitzuteilen, Doktor!«, empfängt er den alten Herrn. »Diese Untätigkeit macht mich langsam, aber sicher verrückt.«

»Schneepsychose!«, antwortet der Doktor heiter. »Das kennt man schon! Nie werden meine Patienten hier zu Lande ungeduldiger als dann, wenn der erste Schnee fällt.«

Sorgfältig befreit er die Hand des Schlossherrn von den Bandagen und untersucht die Wunde eingehend, und seine vergnügte Miene wird noch vergnügter.

»Ich glaube, wir haben es geschafft, Durchlaucht! Ich bin außerordentlich zufrieden. Sie dürfen die Hand natürlich noch nicht überanstrengen. Sie müssen sich immer noch schonen. Aber die Wunde hat sich prächtig geschlossen, und der Eiterherd ist ausgeheilt. Noch einige Tage Schonung, und Sie können sich hinter das Steuer Ihres Wagens setzen und in die Welt zurückkehren.«

»Danke!«, sagt Fürst Wolfhart. »Vielen Dank, Herr Doktor.«

Der Arzt verabschiedet sich, aber als er dann durch die Halle zum Hauptportal eilt, hält ihn Fräulein Tabea zurück.

»Wenn Sie doch schon einmal hier sind, Herr Doktor«, bittet sie, »dann könnten Sie auch gleich nach unserem Sönke sehen. Er gefällt mir gar nicht. Seit Langem klagt er über seine Gicht, aber jetzt hat er auch noch hohes Fieber. Vielleicht hört er auf Sie eher als auf mich.«

Tatsächlich liegt der alte Gärtner mit hochrotem Kopf in seiner Kammer und hat die rot-weiß karierte Bettdecke bis über den Kopf gezogen, weil ihn bitterer Frost schüttelt.

Unschwer stellt der Arzt eine nahende Lungenentzündung fest. Er erteilt seine Weisungen und verspricht, am kommenden Tag wieder nach Sönke zu sehen.

Nachdem der Arzt das Schloss verlassen hat, eilt Fräulein Tabea noch einmal in die Kammer des alten Gärtners. Und während sie ihm das Bett aufschüttelt und die Kissen richtet, sagt sie: »Das kommt nur davon, weil Sie trotz Ihrer scheußlichen Gicht freitags immer im Falkenverschlag übernachtet haben. Da muss sich ja auch der gesündeste Mensch den Tod holen.«

»Quatsch!«, krächzt Sönke frostklappernd. »Ich muss heute Nacht wieder im Falkenverschlag schlafen, oder wollen Sie, dass es einen Skandal gibt?«

Fräulein Tabea zuckt zusammen. Sie hat völlig vergessen, dass heute Freitag ist. Dann aber entgegnet sie: »Sie bleiben im Bett, und damit basta!

Keine Menschenseele kann von Ihnen verlangen, dass Sie sich mit Ihrem Fieber eine Nacht lang in den eisigen Falkenverschlag legen. Seine Durchlaucht ist ja im Hause, und ich hoffe, dass die Gespenster vor ihm Respekt haben und sich ruhig verhalten.«

Der alte Sönke wirft ihr einen sonderbaren Blick zu und sagt nichts mehr.

Unterdessen telefoniert Fürst Wolfhart mit seiner Konzertagentur. Es ist ein langes und inhaltsreiches Gespräch, das er führt, denn die Agentur teilt ihm die Terminvorschläge für eine neue Tournee mit, die ihn zunächst nach Paris und dann nach London, nach Stockholm und Oslo führen soll. Höflich wird er um seine Programmvorschläge gebeten.

»Aber bombardieren Sie mich nun, wo ich endlich Telefon habe, nicht mit Gesprächen«, ruft er lachend, »sonst lasse ich den Anschluss sperren! Ich werde das Programm in aller Ruhe ausarbeiten und Sie verständigen. Wie steht es mit den Proben?«

»Wir halten es wie üblich«, klingt es über den Draht zu ihm zurück. »Sie übernehmen, wenn es Ihnen recht ist, die letzten Proben mit dem Orchester.«

Fürst Wolfhart erklärt sich einverstanden. Als er den Hörer auf die Gabel zurücklegt, denkt er abermals daran, wie schön es wäre, wenn Sabrina ihn als Solistin auf dieser Tournee begleiten würde.

Sein Herz pocht langsam und schwer, als er sich ausmalt, wie er dem zarten, weltfremden jungen Geschöpf behutsam die Schönheiten der Welt erschließen könnte, und erregt beginnt er in der Halle auf und ab zu wandern.

Erst nach einer langen Weile bleibt er an einem der hohen Fenster stehen und blickt nach draußen, wo der unaufhaltsam niederfallende Schnee Moor und Heide in ein immer dicker werdendes weißes Gewand einhüllt.

Sabrina, hämmert sein Herz. Sabrina!

Als wenn seine sehnsuchtsvollen Gedanken sie gerufen hätten, taucht Sabrina auf ihren Skiern aus dem wirbelnden Flockentreiben auf. Ein eleganter, knapp sitzender Skidress lässt ihre schmale, grazile Gestalt noch schlanker und jugendlicher erscheinen. Kurz vor der verschneiten Freitreppe bleibt sie stehen, stützt sich auf die Skistöcke und neigt lauschend das Köpfchen ein wenig. Unter der verwegenen Norwegerkappe drängen sich die hellbraunen Locken hervor, eine feine Haarsträhne weht in ihre klare Stirn und ist sofort vom Schnee weiß überpudert.

Fürst Wolfhart lächelt unbewusst. Es ist ein Lächeln tiefster Zärtlichkeit. Seine dunklen Augen leuchten auf, und seine sonst so harten Züge wirken in diesem Moment gelöst und glücklich.

Aber dann wendet er sich brüsk vom Fenster ab, und sein Antlitz verschließt sich wieder. Narr!, schilt er sich. Unverbesserlicher, törichter Narr, hast du immer noch nicht gelernt zu verzichten? Ist dir alles Erleben nicht Mahnung genug? Alter Tor! Du bist ein Mann von sechsunddreißig Jahren, und Sabrina ist fast noch ein Kind! Du hast niemals das Recht, dieses junge, reine und zauberhafte Geschöpf an dein verbittertes und durch die Vergangenheit belastetes Leben zu ketten!

Mit hastigen Schritten geht er in sein Gemach hinüber und schreibt noch in der gleichen Stunde einen ausführlichen Brief an seine Konzertagentur, in dem er seine Programmvorschläge unterbreitet, in deren Folge und Stückwahl von einer Violinsolistin nicht die Rede ist. Außerdem teilt er mit, dass er Anfang der kommenden Woche bei der Agentur eintreffen werde, um entgegen den üblichen Gepflogenheiten sämtliche Orchesterproben von Anfang an selbst zu leiten.

Dieser Brief kann jedoch nicht gleich zur Post befördert werden, weil der Knecht durch die ständig anwachsenden Schneemassen erst einen Weg vom Schloss zur Fahrstraße bahnen muss. So verschiebt Fürst Wolfhart die Beförderung auf den nächsten Tag und schickt sich an, den Speisesaal aufzusuchen, in dem inzwischen die Mittagstafel gedeckt ist.

Dort geschieht es, dass Sabrina, die den Skidress mit einem hübschen Hauskleid vertauscht hat, dem erstaunten Schlossherrn eröffnet, dass der Schnee verschiedene Stimmen habe.

»Ja, Wolfhart«, versichert sie eifrig, »ich habe es ganz genau gehört. Der Schnee hat wirklich verschiedene Stimmen! Zuerst klang seine Stimme zornig, weil der Wind ihn jagte, dann sangen die Flocken gleichmäßig, müde und monoton, um mit ihrem Lied schließlich in eine weiche, süße Melodie überzugehen.« Sie deutet mit einer raschen Geste zum Fenster und fragt atemlos vor Erregung: »Soll ich versuchen, die Schneemelodie festzuhalten?«

»Aber erst nach getaner Arbeit«, genehmigt Fürst Wolfhart lachend, »wenn du sämtliche für heute vorgesehenen Übungen zu meiner Zufriedenheit gespielt hast.«

Nach Tisch geht Sabrina in den Musikraum, um eine theoretische Aufgabe zu lösen und dann mit den Übungen zu beginnen.

Das Abendbrot nimmt Sabrina wieder gemeinsam mit Fürst Wolfhart im Speisezimmer ein. Als der Schlossherr sich danach aber in seine persönlichen Räume zurückzieht, um verschiedene Partituren zu lesen, schlüpft sie wieder ins Musikzimmer zurück, um endlich – endlich ihre bisher nur mit dem Herzen erlauschte Schneemelodie in wirkliche Töne zu übertragen.

Im Musikzimmer ist es still, und in dieser tiefen, köstlichen Stille ist es herrlich, schöpferisch zu arbeiten, während die Kerzen in ihren silbernen Leuchtern ein unwirklich goldenes Licht verströmen.

Zum ersten Mal gelingt es Sabrina, ihre Melodienträume tatsächlich aufs Papier zu bannen. Immer wieder probt sie, summt, spielt und lauscht, malt schwarze Notenköpfe zwischen die engen Linien des Notenpapiers, streicht durch und verbessert. Sie ahnt nicht, dass Fürst Wolfhart ihre Arbeit aufmerksam durch den Spalt seiner leise geöffneten Tür belauscht und dass seine dunklen Augen stolz und zärtlich aufleuchten, als er mit geübtem Ohr erkennt, wie es Sabrina diesmal tatsächlich gelingt, ihre Fantasie festzuhalten.

Die Stunden vergehen, aber Sabrina bemerkt es nicht. Für sie ist die Welt versunken. Sie lebt nur in ihrer Arbeit, ihrer Melodie, die langsam, ganz langsam Gestalt annimmt und sie mit einem nie erlebten Glücksgefühl erfüllt.

Noch einmal nimmt sie das Notenpapier vor und spielt leise und zärtlich die kleine selbstgeschaffene Weise, deren zarte Melodie süß durch die Stille klingt.

Glücklich und erschöpft lässt sie danach den Bogen sinken. Ob Wolfhart sich freuen wird? Das ist ihr erster bewusster Gedanke, als sie ihre kleine Schöpfung zärtlich in Händen hält. Ob er sich freuen und mit mir glücklich sein wird?

Durch die tiefe schneeverhangene Stille erklingen dünn zwölf Glockenschläge. Es ist Mitternacht, und Sabrina reibt sich die Augen. Sie ist schrecklich müde, und erst jetzt, nachdem ihr Werk vollendet ist, spürt sie, wie sehr die Arbeit sie angestrengt hat und wie kraftlos sie geworden ist.

Langsam nimmt sie den Leuchter mit den fast abgebrannten Kerzen wieder auf und geht in die Halle hinüber. Dort schaut sie pflichtgetreu nach dem Feuer im Kamin und legt noch einige Buchenscheite nach. Anschließend prüft sie sorgsam nach, ob auch das Hauptportal verschlossen und verriegelt ist, und macht sich dann auf den Weg in ihr Turmstübchen.

Das Kerzenlicht in Sabrinas Händen flackert und wirft tanzende Schatten an die kahlen altersgrauen Wände, als sie die schmale Wendeltreppe emporsteigt.

Was sind das für unheimliche, sonderbare Geräusche? Atemlos lauscht Sabrina. Sie wagt es einfach nicht, auch nur einen einzigen Schritt weiterzugehen, sondern verharrt wie gelähmt auf der Stelle.

Es ist der Wind, hämmern ihre Gedanken. Ganz gewiss ist es der Wind, der das Schloss umtost!

Aber das, was sie vernimmt, klingt ganz anders als stöhnender, heulender Wind. Eine Kette rasselt, ein Krächzen wird hörbar und plötzlich auch das Geräusch gewaltiger schlagender Schwingen.

In diesem Augenblick verlässt Sabrina alle Tapferkeit. Von panischem Schrecken gepackt, jagt sie zurück und flüchtet zur Halle.

Sie dreht das elektrische Licht an und stürzt weiter durch den Speisesaal.

»Wolfhart!«, ruft sie und ist verzweifelt vor Angst und halb ohnmächtig vor Schrecken. »Wolfhart!«

Die Tür zum Gemach des Fürsten öffnet sich. Wolfhart eilt Sabrina entgegen und schließt sie, die wie Espenlaub bebt und zittert, fest und tröstend in seine Arme.

»Mein Moorprinzesschen?«, fragt er sanft, »was hat dich erschreckt? So sprich doch! Was ist geschehen?«

»Im Falkenverschlag«, stößt die zitternd hervor, »muss ein großer Vogel sein! Wolfhart, es war schaurig! Die Kette rasselte, und das Krächzen und Flügelschlagen …« Mitten im Satz bricht sie ab.

Fürst Wolfhart ist erblasst, Fräulein Tabeas Worte fallen ihm ein, die er damals mit einem Lächeln und der Bemerkung abtat, dass es vermutlich der Wind gewesen sei, der die unheimlichen Geräusche verursacht habe. Aber schon hat er sich gefasst und streichelt beruhigend über Sabrinas Haar.

»Es war der Wind, Sabrina, glaube mir! Wie sollte ein großer Vogel in den Falkenverschlag kommen, der seit Jahren leer und verlassen ist und dessen Fenster immer verschlossen sind?«

»Aber es klang genauso, als zerre ein großer gefesselter Vogel an der Kette und breite krächzend seine Schwingen aus.«

»Still, Liebes!«, bittet Fürst Wolfhart herzlich. »Du hast zu lange gearbeitet. Du bist erschöpft und überreizt, das ist alles. Deine lebhafte Fantasie hat dir einen Streich gespielt. Sei ruhig! Bitte, sei ganz, ganz ruhig!«

Aber Sabrina zittert noch immer an allen Gliedern und schmiegt sich schutzsuchend an Fürst Wolfhart.

»Ich habe Angst«, flüstert sie mit bebender Stimme, »schreckliche Angst, Wolfhart.«

»Du brauchst jetzt vor allem Ruhe«, erwidert der Fürst. »Du musst tüchtig schlafen. Bis morgen ist alles wieder gut. Ich werde morgen früh selbst im Falkenverschlag nachsehen. Aber ich werde feststellen, dass alles in bester Ordnung ist, verlasse dich darauf. Trinke jetzt einen Kognak, der beruhigt, wärmt und gibt Kraft.«

Liebevoll geleitet Fürst Wolfhart Sabrina zu einem der tiefen Sessel am Kaminfeuer. Dann eilt er in sein Zimmer und schenkt ihr ein großes Glas Kognak ein, das er ihr bringt.

»Trink, Moorprinzessin!«, bittet er herzlich. »Gleich wird dir besser sein!«

Sabrina kuschelt sich in den tiefen Sessel. Gehorsam leert sie das Glas, aber sie greift dabei nach Wolfharts Hand und hält sie ganz fest.

Fürst Wolfhart plaudert mit ihr, um sie von ihrem Erlebnis abzulenken. Er scherzt wie früher, als sein Moorprinzesschen noch ein kleines Mädchen war, und Sabrina lächelt glücklich. Sie schmiegt ihr Gesichtchen in seine Hand und schließt die Augen.

»Ich will hierbleiben!«, murmelt sie schläfrig. »Hier ist es warm und hell, und hier bist du. Im Turm habe ich heute Angst, verstehst du?«

Die letzten Worte sind kaum mehr verständlich. Die lange, anstrengende Arbeit, der große Schrecken und das Glas Kognak tun ihre Wirkung, und ehe Sabrina sich’s versieht, schläft sie tief und fest.

Zärtlich betrachtet Fürst Wolfhart die Schlafende. Dann zieht er behutsam seine Hand unter ihrem Gesichtchen hervor und bettet ihr Lockenköpfchen auf ein weiches Kissen. Er holt warme Decken aus seinem Zimmer und hüllt Sabrina darin ein.

Lange steht er dann vor ihr, und sein Antlitz ist von tiefem Ernst gezeichnet. Er glaubt nicht an Gespenster und ist überzeugt davon, dass die seltsamen Geräusche im Falkenverschlag eines Tages eine höchst natürliche Erklärung finden werden. Aber er ist doch sehr, sehr nachdenklich geworden. Will dieses seltsame Geschehen im Falkenverschlag, das auch Fräulein Tabea und der alte Sönke früher schon wahrnahmen, nicht doch etwas besagen? Soll es vielleicht bedeuten, dass die Vergangenheit endlich ruhe, dass er selbst vergessen soll, was früher einmal war?

Der Widerschein des Kaminfeuers flackert über Sabrinas zartes, schönes Antlitz, und Fürst Wolfhart kann einem plötzlichen Impuls nicht widerstehen. Er beugt sich über die Schlummernde und küsst sie zart und innig auf die klare Stirn.

»Schlaf!«, flüstert er. »Schlaf, träum und vergiss, was dich eben erschreckte, mein Moorprinzesschen!«

*

In den nächsten Tagen und Wochen versinkt die Heideinsel mehr und mehr in tiefem Schnee.

Fürst Wolfhart führt lange Telefongespräche mit seiner Agentur. Er stellt dabei mit amüsiertem Lächeln fest, wie maßlos verwundert die Herren darüber sind, dass er als Mitwirkende seiner kommenden Tournee eine Solistin in Vorschlag bringt. Aber der Name Marcus Mauri, Sabrinas Vater, ist noch in bester Erinnerung und hat einen guten Klang. Gern erklärt sich die Agentur darum bereit, der Tochter des großen, unvergessenen Geigers unter Fürst von Ravenhills Leitung den Start zu ermöglichen.

Damit ist Sabrinas Zukunftsziel sehr, sehr nahe gerückt. Sie selbst begreift noch gar nicht recht, dass Wolfhart sie tatsächlich mit sich nehmen will und dass sie an seiner Seite und unter seinem Schutz die ersten Schritte in die große Welt wagen soll.

Aber Fürst Wolfharts Entschluss ist gereift und gefestigt. Er ist bereit, Sabrina die künstlerische Laufbahn zu eröffnen, sie zu begleiten und sie behutsam in ihr neues Leben einzuführen.

Am Silvestertag erhält er dann die telefonische Nachricht von seiner Agentur, dass bereits in den ersten Januartagen mit den Proben begonnen werden könne, und gut gelaunt legt er den Hörer auf die Gabel zurück.

»Frischauf, Sabrina!«, ruft er fröhlich. »Die Koffer werden gepackt! Die große Reise in eine neue Welt beginnt!«

*

Über die Dächer und Türme von Paris senkt sich ein wirbelnder Flockenvorhang, dessen transparente Sternenornamente in den Lichtkaskaden der Laternen zauberhaft flimmern und leuchten.

Auch die Fassade des inmitten von Paris gelegenen Konzerthauses wird durch Lichterglanz und Flockenzauber märchenhaft verwandelt.

Ein kleiner gebückter Mann mit schütterem Grauhaar, der einen altmodischen Cut und eine schwarze gestreifte Hose trägt, studiert in der Vorhalle des Konzerthauses aufmerksam die dort ausgehängten Plakate. Er schiebt die randlose Brille hoch, und der Blick seiner runden wasserblauen Augen haftet auf den beiden Namen, die auf diesen Plakaten besonders hervorgehoben sind. Wolfhart Fürst von Ravenhill und Sabrina Mauri. Er nickt zufrieden, wirft einen prüfenden Blick zu der noch geschlossenen Vorverkaufskasse und geht dann langsam, den linken Fuß ein wenig nachziehend, durch die Vorhalle zu einer kleinen Seitentür, die unmittelbar in den Konzertsaal führt.

Der große Raum liegt verlassen da. Nur zwei abgeschirmte Wandlampen brennen dicht an der Podiumsrampe und erwecken durch ihr geisterhaftes Licht die leeren Sesselreihen des Zuhörerraumes zu gespenstischem Licht.

Der kleine grauhaarige Mann hinkt durch den Mittelgang, der die Zuhörerreihen trennt, zum Podium, rückt dort die Stühle zurecht und prüft die Standsicherheit der einzelnen Notenständer. Dann öffnet er den Deckel des schwarzen Steinway-Flügels, entfernt mit liebevoller Zärtlichkeit die violette Schutzdecke und klimpert mit der rechten Hand auf höchster Oktave die ersten Takte des Kinderliedes »Hänschen klein«, und wenn Rulle, wie das Faktotum des Ravenhill-Orchesters scherzhafterweise genannt wird, das tut, so ist das ein Zeichen dafür, dass er für das bevorstehende Konzert die besten Hoffnungen hegt.

In diesem Augenblick öffnet sich die grüne Tapetentür, die zum Künstlerraum führt, und Tonio Cirone, der Pianist, streckt seine blonde Löwenmähne heraus.

»Bravo, Rulle!«, freut er sich. »Wenn Sie Ihr Leib- und Magenlied spielen, geht alles klar. Hoffentlich kippt unsere Sabrina vor Lampenfieber nicht um.«

»Sie kippt nicht!«, versichert Rulle. »Aber die Generalprobe wird sie verpatzen!«

»Und das bedeutet nach altem Brauch eine glänzende Aufführung!«, vollendet Tonio Cirone und lässt sich am Flügel nieder, um gleichfalls einige Takte zu klimpern.

»Ist der Chef noch nicht da?«

»Nein, wir sind noch nicht da«, brummelt Rulle, der, wenn von Fürst Wolfhart die Rede ist, bescheidenerweise immer so spricht. »Aber wir werden gleich kommen, denn wir sind pünktlich!« Damit stelzt er zur Rampe und gibt ein dreifaches tiefes »Mäh!« von sich. »Gute Akustik!«, sagt er daraufhin. »Wir werden zufrieden sein.«

Das Podium füllt sich nun langsam mit den übrigen Orchestermitgliedern, die sich gegenseitig mit Handschlag begrüßen, die Notenblätter aufstellen und damit beginnen, die Instrumente zu stimmen.

Sandor Nagy, der schmächtige ungarische Cellist, wiederholt beharrlich eine schwierige Passage, bis Tonio Cirone verzweifelt auf die Tasten schlägt.

»Jetzt lernst du es auch nicht mehr, du Komiker!«, schnaubt er und streicht sich mit gespreizten Händen durch die blonde Löwenmähne. »Kinder, Kinder, Paris fährt mir immer in die Knochen! Denn wenn es in Paris nicht klappt, dann ist die ganze Tournee hin.«

In diesem Augenblick öffnet Rulle weit die Tür des Künstlerzimmers und verkündet: »Wir sind da!«

Wolfhart Fürst von Ravenhill betritt das Podium.

Herzlich begrüßt er seinen Konzertmeister mit Handschlag und die übrigen Musiker mit einem freundlichen Kopfnicken.

Rulle hinkt bedächtig zum Dirigentenpult, rückt die Notenblätter zurecht und stellt ein Glas frisches Wasser bereit. Dann stelzt er zum Künstlerzimmer und schließt dessen Tür ganz fest hinter sich.

An dem hohen Fenster des schmalen, bis zur Decke holzgetäfelten Raumes lehnt Sabrina und blickt hinaus in das wirbelnde Flockentreiben. Ihr schmales, schönes Antlitz, das von dem hellbraunen Haar zärtlich umrahmt wird, ist richtig verstört vor Angst, und sie macht eine hilflose Bewegung, als sie nun Rulle entdeckt.

»Wir haben es nicht gern, wenn man Lampenfieber hat«, brummt dieser und nickt bedeutungsvoll. »Wir können deshalb sogar sehr zornig werden.«

»Ach, Rulle, ich habe aber schreckliche Angst«, seufzt Sabrina und lehnt ihr Köpfchen an die kühle Scheibe des Fensters. »Wenn ich mir vorstelle, dass heute Abend Hunderte von Menschen in dem großen Saal sitzen und mir zuhören werden, dann – dann bin ich überzeugt davon, dass ich keinen einzigen Bogenstrich zuwege bringe.«

Trostlos schüttelt sie den Kopf und wendet sich vom Fenster ab.

Auf dem Mahagonitischchen vor der Klubgarnitur, die das Künstlerzimmer als einziges Mobiliar aufweist, liegt ihre Geige, und Rulle, der inzwischen an den kleinen Tisch getreten ist, streichelt behutsam über die feine Holzmaserung des edlen Instruments.

»Marcus Mauris Geige«, murmelt er. »Sie hat ihren Klang nicht verloren. Es ist ein wahres Wunder, dass das Instrument damals nicht mit demselben Flugzeug nach Frisco befördert wurde, sonst …«

Rulle verstummt, weil er Sabrina durch diese Erinnerungen das Herz nicht schwermachen will.

Trotzdem denkt Sabrina jetzt an ihren Vater und an ihre Mutter. Niemals in all den Jahren hat sie Heimweh nach den Eltern gehabt, denn sie war noch zu jung, als die beiden starben, und immer von so viel Liebe umgeben, um den unersetzlichen Verlust bewusst zu empfinden. Aber jetzt, in dieser Stunde und kurz vor ihrem ersten Konzert hat sie zum ersten Mal brennende Sehnsucht nach Vater und Mutter.

»Hat mein Vater auch Lampenfieber gehabt, Rulle?«, fragt sie leise.

»Natürlich!«, versichert Rulle. »Und wie! Alle echten Künstler haben Lampenfieber, das ist nun einmal so.«

»Und kann man gar nichts dagegen tun?«, fragt Sabrina angstvoll.

»Doch«, antwortet Rulle überzeugend, »man kann etwas dagegen tun, und das Rezept ist sogar ganz einfach. Man muss die vielen fremden Menschen vergessen und nur für den einzigen spielen, den man liebt und …« Er unterbricht sich und horcht zum Saal hin. »Es ist gleich so weit!«, mahnt er. »Ich gehe jetzt hinunter und höre mir Ihr Spiel an.«

»Vielen Dank!«, sagt Sabrina gerührt, denn Rulles feines Ohr ist bei den Orchestermitgliedern hoch geschätzt, und man kann sich bedingungslos auf Rulles Kritik verlassen.

Zaghaft nimmt Sabrina ihre Geige auf, öffnet die Tür zum Podium und wartet hilflos darauf, dass Wolfhart ihr das Zeichen für ihren Einsatz geben wird. Sie spürt, dass ihre Hände vor Angst steif und klamm werden. Trotzdem versucht sie, sich auf das Adagio zu konzentrieren, das sie gleich spielen soll. Aber es gelingt ihr nicht.

Ich sterbe, denkt sie, und dabei übersieht sie, dass Wolfhart im gleichen Augenblick das Zeichen des Einsatzes für sie gibt.

Ungeduldig klopft er ab. »Ich bitte um Aufmerksamkeit!«, sagt er kühl und hebt seinen Taktstock, um neu zu beginnen.

Sabrina tritt verzagt einen Schritt vor. Krampfhaft hält sie ihre Geige fest, und diesmal versäumt sie den rechtzeitigen Einsatz nicht. Aber sie spielt hölzern und mechanisch, und die Geige hat keinen Klang und keine Seele.

Fürst Wolfhart unterbricht Sabrina nicht. Erst als das Adagio beendet ist, wendet er sich plötzlich um und fragt in das zwielichtige Dunkel des Zuhörerraumes hinein. »Wie war es?«

»Miserabel!«, ertönt Rulles tiefer Bass aus der letzten Reihe, und Fürst Wolfhart bedeutet Sabrina durch ein kurzes Zeichen, dass sie sich zurückziehen kann.

Wie gelähmt vor Angst geht sie ins Künstlerzimmer.

Es ist gut, dass Rulle da ist, Rulle, der vor vielen Jahren schon Marcus Mauri vor seinen Konzerten betreut hat und nun rührend um Sabrinas Wohl bemüht ist. Ohne viel Federlesens packt er sie in ein Taxi und bringt sie zum Hotel Claridge.

Er geleitet Sabrina zu ihrem Appartement und befiehlt ihr, sich sofort niederzulegen. Sorgsam rückt er auf dem damastbespannten Diwan die Kissen zurecht und hüllt Sabrinas bebende Gestalt in eine weiche Decke. Dann reicht er ihr ein Glas Wasser, in dem er vorher zwei kleine Tabletten aufgelöst hat. Sabrina trinkt gehorsam die milchige Flüssigkeit und schlummert kurze Zeit später bereits sanft und selig.

Sie erwacht erst wieder, als Rulle vor ihr steht und freundlich sagt: »Ich gehe jetzt in die Hotelhalle. Ich habe Ihnen schon das Bad bereiten lassen und werde nun das Essen bestellen.«

»Wie spät ist es denn?«, fragt Sabrina erschrocken.

»Zeit genug, um noch rechtzeitig zum Konzert zu kommen«, versichert Rulle und zieht sich zurück, nicht ohne vorher freundlich zu mahnen: »Vergessen Sie nicht, heiß zu brausen!«

Der Einfachheit halber lässt Rulle dann das Essen für Fürst Wolfhart und Sabrina in den beiden Appartements verbindenden luxuriösen Wohnraum bringen.

»Ich habe keinen Hunger!«, wehrt Sabrina entsetzt ab, als sie den gedeckten Tisch sieht. »Ich schwöre Ihnen, Rulle, ich kann keinen einzigen Bissen hinunterbringen.«

»Weiß ich!« Rulle nickt überzeugt. »Nur den Hummercocktail müssen Sie versuchen, dann lasse ich Sie ganz bestimmt in Ruhe.« Und da Sabrina beginnt, in dem eleganten Raum ruhelos auf und ab zu wandern, mahnt er freundlich: »Setzen Sie sich doch! Das Konzert fängt nicht früher an, wenn Sie wie ein Tanzbär hin und her wandern.«

»Ach, Rulle«, seufzt Sabrina und lässt sich gehorsam in einem der tiefen Sessel vor dem gedeckten Tisch nieder, »ich sterbe bestimmt!«

»Später einmal«, tröstet Rulle, »jetzt noch nicht.«

»Warum kümmert sich Fürst Wolfhart gar nicht um mich?«, fragt Sabrina gequält.

Rulle schmunzelt. »Wenn Sie mich nicht verraten, sage ich es Ihnen. Er ist ein wenig seltsam, weil er selbst auch ganz schreckliches Lampenfieber hat wie eben jeder echte Künstler. Tun Sie mir die einzige Liebe an, und machen Sie ihn nicht noch ganz verrückt, halb ist er es nämlich schon.«

»Wolfhart?«, fragt Sabrina, und ungläubiges Staunen malt sich auf ihren verängstigten Zügen ab. »Wolfhart hat Lampenfieber? Nein, das kann ich nicht glauben, Rulle!«

Aber als in diesem Augenblick Fürst Wolfhart blass und nervös eintritt, da begreift Sabrina, dass Rulle recht hat. Und in der gleichen Sekunde erfüllt sie der heiße Wille, ihm zu helfen. Dieser Wille gibt ihr die Kraft, plötzlich ganz ruhig zu erscheinen und sogar zu lächeln. Fürst Wolfhart trägt noch seinen Hausanzug und reicht Sabrina nur flüchtig die Hand.

»Bei diesem Hundewetter kommt kein Teufel ins Konzert!«, erklärt er gereizt und nimmt Platz.

»Teufel wollen wir ja auch gar nicht im Saal haben«, stellt Rulle freundlich richtig. »Bitte, hier das Hummercocktailchen müssen Sie versuchen, Chef, es schmeckt köstlich.«

»Danke!«, wehrt Fürst Wolfhart nervös ab. »Ich habe keinen Hunger.«

Rulle zwinkert Sabrina zu, und dieser gelingt es, abermals zu lächeln.

»Tante Tabea würde schrecklich mit uns schelten, wenn sie wüsste, dass wir mit hungrigen Mägen ins Konzert gehen wollen, Wolfhart«, sagt sie. »Und Rulle hat sich so viel Mühe gegeben. Ein Häppchen müssen wir schon zu uns nehmen, meinst du nicht auch?«

»Ein Häppchen – na ja!«, stimmt er zu. »Hast du Lampenfieber?«

»Ein bisschen«, gesteht Sabrina und lächelt scheu. »Aber nicht so sehr viel. Ich mache es heute Abend sicher besser als heute früh, Wolfhart.«

»Hoffentlich!«, lautet die wenig ermutigende Antwort. »Paris verzeiht einer schönen Frau zwar viel, aber dieses miserable Adagio von heute Morgen bestimmt nicht.«

Eine Röte tiefer Beschämung steigt in Sabrinas Wangen. »Verzeih!«, bittet sie leise.

»Schon gut!«, knurrt Fürst Wolfhart.

Rulle beginnt nun, von den harmlosesten Dingen zu plaudern: von den Schneeräumkommandos, von den grässlichen Taxifahrern, von den zugigen Hotels und von Himmel und Hölle, nur über das bevorstehende Konzert verliert er kein Sterbenswörtchen.

Fürst Wolfhart unterbricht ihn schließlich, erhebt sein Glas und trinkt Sabrina zu. »Auf unser erstes Konzert, Moorprinzesschen!«

Der vertraute Kosename hüllt Sabrina weich und warm in einen Mantel herzlicher Zärtlichkeit ein. »Auf unser erstes Konzert, Wolfhart.«

*

Eine halbe Stunde später fährt ein Taxi Fürst Wolfhart, Sabrina und den kleinen Orchesterdiener vom Hotel Claridge zum Konzerthaus, an dessen Kasse ein kleines Schildchen verkündet, dass der große Saal vollständig ausverkauft ist.

Während Sabrina und Fürst Wolfhart sofort in das Künstlerzimmer gehen, um dort auf ihren Auftritt zu warten, begibt Rulle sich sogleich auf das Podium, das noch durch einen schweren Vorhang vom Zuhörersaal abgetrennt ist. Wie am Vormittag vor der Generalprobe rückt er die Stühle für die Orchestermitglieder zurecht, prüft die Sicherheit der Notenständer und achtet darauf, dass die Partituren richtig liegen. Er öffnet den Flügel und genehmigt sich schließlich einen Blick durch das Guckloch in den von summenden Stimmen, Programmknistern und leisem Lachen erfüllten Saal.

Zufrieden stellt er fest, dass sich die Pariser Musikwelt und die Spitzen der Pariser Gesellschaft vollzählig eingefunden haben. Er seufzt glücklich und spuckt dreimal auf die Rampe, was nach uraltem Brauch Glück für das Konzert bringen soll.

Im Künstlerzimmer sind Fürst Wolfhart und Sabrina indessen schweigend zusammen. Nervös geht der große Dirigent auf und ab. Schließlich bleibt er am Fenster stehen und blickt hinaus in die langsam niedersinkende Nacht.

»Du musst mir verzeihen, Moorprinzesschen«, sagt er leise, »dass ich dir im Augenblick gar keine große Stütze sein kann.«

Sabrina lächelte ihm tapfer zu. »Ich verstehe dich gut, Wolfhart«, sagt sie dann. »Wir gehören doch zusammen, nicht wahr?«

Überrascht hebt Fürst Wolfhart den Kopf, und seine dunklen Augen leuchten auf. Aber da tritt Rulle ein und sagt: »Langsam können wir auf die Plätze gehen, meine ich. Das Orchester ist bereit, und höchste Zeit ist es auch.«

Fürst Wolfhart schaut Sabrina noch einmal in die Augen, ehe er auf die Tapetentür zugeht, die auf das Podium führt. In seinem Blick steht alles geschrieben, was seine Lippen verschweigen: heißes Bangen, ehrliches Hoffen und unsagbare Zärtlichkeit.

Sabrina nickt ihm ernst zu, und für sie ist alles, alles gut. In diesem Augenblick erkennt sie deutlicher als je zuvor, dass sie und Wolfhart zueinandergehören, dass es Liebe, nur Liebe ist, die ihr reines Herz für den Mann schlagen lässt, der ihr eine Heimat gegeben hat, als sie noch eine hilflose Waise war. Ehe sie ihm aber auf das Podium folgen kann, klopft Rulle ihr noch einmal väterlich auf die Schultern und flüstert ihr zu: »Toi, toi, toi! Sie werden es schon schaffen. Aber nur nicht für die Fremden spielen, Sabrina Mauri! Hören Sie auf den alten Rulle, und spielen Sie nur für den einen einzigen Menschen, den Sie lieben!«

»Ja, Rulle«, antwortet Sabrina und atmet tief, »ja, ich werde auf Sie hören, und ich werde es auch schaffen.« Mit diesen Worten tritt sie hinter Fürst Wolfhart auf das Podium, aber sie sieht nicht die vielen fremden Menschen im Saal, sondern nur die hochgewachsene Gestalt des Dirigenten.

Wolfhart, jubelt es in ihrem Innern. Wolfhart, ich liebe dich! Ihre Augen leuchten auf, und das Glück, das sie heiß, ungestüm und mit köstlicher Zärtlichkeit erfüllt, spiegelt sich auf ihrem Antlitz wider.

Hingerissen bewundern die von Schönheit verwöhnten Pariser Sabrinas zauberhafte Erscheinung. Im Fluge gewinnt sie alle Herzen, und wahrscheinlich würde Paris ihr darum auch ein miserabel gespieltes Adagio verzeihen.

Aber als sie den Bogen ansetzt, versinkt alle Welt für sie, denn sie spielt wirklich nicht für die fremden Menschen, sondern nur für ihn, den einzigen Mann, den sie mit aller Zärtlichkeit und Kraft eines reinen, starken Herzens liebt.

Schwebend und süß klingen die ersten Töne auf.

Fürst Wolfhart neigt lauschend den Kopf. Moorprinzesschen, pocht sein Herz, ich liebe dich! Du hast die Vergangenheit besiegt. Wir gehören zusammen, du und ich, untrennbar und für immer.

Atemlose Stille liegt über dem großen Saal, und auch als Sabrina den Bogen sinken lässt, herrscht sekundenlang tiefes Schweigen. Dann aber brandet nicht enden wollender Jubel auf, und wie aus tiefem Traum erwachend richtet Sabrina sich empor.

Wo bin ich denn, fragen ihre verwunderten Augen. Was wollen diese Menschen von mir? Rührend hilflos und mit einem scheuen Lächeln lässt sie den Applaus über sich ergehen.

Aber dann ist Wolfhart bei ihr. Zart ergreift er ihre Hand und lächelt ihr mit einem unendlich zärtlichen, innigen Lächeln zu. Behutsam geleitet er sie an die Rampe und verbeugt sich mit ihr vor den jubelnden Menschen, die der Tochter Marcus Mauris die gleiche begeisterte Zuneigung entgegenbringen wie damals dem unvergessenen Geiger selbst. Wieder und wieder müssen sie für den Beifall danken, ehe sich der silbergraue Vorhang langsam schließt.

»Wir haben gewonnen!«, erklärt Rulle stolz, der in diesem Augenblick auf das Podium eilt und Sabrina begeistert die Hände drückt, während nun auch die übrigen Orchestermitglieder herbeieilen, um die junge Solistin zu beglückwünschen.

Im Künstlerzimmer werden indessen schon prachtvolle Blumengebinde abgegeben.

Auch der zweite Programmteil bringt Sabrina und Fürst Wolfhart jubelnden Beifall. Wieder und wieder müssen sie sich verneigen, und laut ruft man um eine Zugabe.

Lächelnd neigt sich Fürst Wolfhart zu Sabrina.

»Spiel deine Schneemelodie«, bittet er leise. »Du ganz allein!«

Er verbeugt sich kurz vor den Zuhörern und eröffnet ihnen, dass Sabrina Mauri als Dank für die liebevolle Aufnahme in Paris eine eigene kleine Komposition spiele.

Zärtlich und von inniger Liebe erfüllt, ruht Sabrinas Blick auf dem Antlitz Fürst Wolfharts, als sie ihre zauberhafte Weise spielt, die sie in der Nacht auf der Heideinsel ersann. Nicht enden wollender Applaus dankt ihr.

Und dann endlich sind Fürst Wolfhart und Sabrina wieder allein im Künstlerzimmer.

Rulle versteht es meisterhaft, alle Bewunderer und Verehrer zurückzuhalten, denn er weiß ganz genau, dass die beiden Menschen jetzt erst einmal allein sein müssen.

»Du warst wundervoll, Sabrina!«, sagt Fürst Wolfhart innig und zieht behutsam ihre schlanke Gestalt an sich. Seine Lippen streifen ihr hellbraunes Lockenhaar. »Ich danke dir!«

»Ich habe dir zu danken!«, erwidert Sabrina leise. »Ohne dich hätte ich mein Ziel nie erreicht.« Sie lächelt wehmütig. »Ob Vater mit mir zufrieden gewesen wäre?«

»Gewiss, Moorprinzesschen«, gibt Fürst Wolfhart ernst zurück.

Still stehen sie beieinander, halten sich an den Händen und sehen sich in die Augen. Noch ist nichts ausgesprochen, aber ihre Herzen wissen, dass sie eins sind.

Die Schatten der Vergangenheit sind bezwungen, denkt Fürst Wolfhart glücklich, und langsam und zärtlich neigt er sich über Sabrina.

Aber ehe seine Lippen ihren Mund berühren, wird die Tür zum Künstlerzimmer heftig aufgerissen, und in ihrem Rahmen steht eine hochgewachsene, schlanke Dame von faszinierender Schönheit. Dichtes blauschwarzes Haar umschmiegt in weichen Wellen das makellose Oval eines hinreißend schönen Frauenantlitzes. Eine raffiniert einfache Robe aus schwarzem Duchesse mit tiefem Ausschnitt umhüllt die ebenmäßige Gestalt. Die Augen sind ein wenig mandelförmig geschnitten und leuchten in schillerndem Grün. Die feine gerade Nase und der großzügig geschwungene Mund vervollständigen das Bildnis sinnverwirrender Schönheit.

Fürst Wolfhart weicht unwillkürlich einen Schritt zurück. Tiefe Blässe überzieht sein Antlitz, das zu einer steinernen Maske erstarrt. Nur mühsam schöpft er Atem, und seine Arme gleiten kraftlos herab.

Jetzt taucht hinter der Dame mit allen Zeichen des Entsetzens Rulle auf, aber er kann nicht verhindern, dass die schöne Fremde rasch auf Fürst Wolfhart zugeht und ihm mit graziöser Geste ein großes Gebinde blassgelber Rosen in die Hände drückt. Rulle kann auch nicht verhindern, dass sie besitzergreifend beide Hände auf Fürst Wolfharts Schultern legt, ihn flüchtig auf die Wange küsst und begeistert ruft: »Du warst fantastisch, Wolfhart! Alle sind hingerissen von dir! Großer Gott, war ich stolz auf dich! Du bist ein Genie!« Ihre Stimme klingt metallen und kühl, trotz der begeisterten Worte, die sie ausspricht.

»Danke, Simone!«, erwidert Fürst Wolfhart, und seine sonst tiefe und wohllautende Stimme klingt mit einem Mal rau und spröde. »Ich wusste nicht, dass du in Paris bist.«

»Ich bin nur für einige Monate hier«, antwortet die Dame und schmiegt flüchtig ihr Antlitz an Fürst Wolfharts Schulter. »Eigentlich wollte ich den Winter im Süden verleben, aber jetzt bin ich glücklich darüber, dass ich hier in Paris den Genuss deines Konzerts erleben konnte.«

Rulle räuspert sich. »Der Wagen wartet, Chef!«, sagt er.

Die schöne Fremde wendet sich lächelnd um. »Sieh da, Rulle!«, sagt sie. »Bewachen wir den Chef noch immer wie ein Zerberus? Heiße Brause und leichtes Abendbrot vor dem Konzert, wie? Ach, ich habe es nicht vergessen. Wie geht es uns denn?«

»Danke, Hoheit!« Rulle verbeugt sich steif und würdevoll. »Wir haben nicht zu klagen, es geht uns sehr gut.«

Jetzt erst scheint die Dame Sabrina zu bemerken, die fassungslos diesen sonderbaren Auftritt miterlebt.

»Sie haben Ihre Sache auch recht brav gemacht!«, sagt sie hochmütig und reicht Sabrina herablassend die Hand. »Ich bin Simone Prinzessin von Bernadette.« Sie lacht, aber dieses Lachen ist unecht. »Und Sie sind die Tochter Marcus Mauris, nicht wahr? Ach, er war ein großer Künstler! Streben Sie ihm nur fleißig nach, Kindchen!«

Rulle beißt sich vor hilfloser Empörung auf die Lippe. Er könnte die schöne Prinzessin offensichtlich erwürgen. Wie kann sie es wagen, Sabrina, die unzweifelhafte Königin dieses Konzertes, derart herablassend zu behandeln.

In diesem Augenblick ergreift Simone Prinzessin von Bernadette Fürst Wolfharts Arm.

»Gehen wir, Lieber!«, lächelt sie. »Im Hotel ›George V.‹ warten deine begeisterten Verehrer schon auf dich. Es wird ein glanzvolles, großes Fest, wie Paris es nur seinen auserkorenen Lieblingen bereitet. Lassen wir deine Freunde nicht warten.«

Wieder weicht Fürst Wolfhart unwillkürlich einen Schritt zurück, sodass die Hand der Prinzessin von seinem Arm gleitet. Kühl verbeugt er sich.

»Ich ziehe es vor, in mein Hotel zu fahren!«, sagt er kalt.

»Aber das ist unmöglich!«, entgegnet die Prinzessin. »Paris liebt dich, und wen Paris liebt, den will es feiern! Man wird es dir niemals verzeihen, wenn du nicht zu dem zu deinen Ehren veranstalteten Empfang kommst. Säumen wir also nicht länger! Rulle, bringen Sie den Frackmantel des Fürsten! Die Blumen schicken Sie zum Hotel Claridge. Ich habe nicht vergessen, dass Ihr Chef in Paris immer im Claridge wohnt. Wimmeln Sie das jubelnde Volk draußen ab, Rulle, und eilen Sie sich! Der Champagner wird sonst zu Glühwein.« Sie lacht wieder.

Sabrina lehnt totenblass am Fenster und hat die großen, verstörten Augen auf den verzweifelten Orchesterdiener gerichtet, der sich standhaft weigert, einen der Befehle der Prinzessin auszuführen.

»Sind wir nicht einverstanden, Rul­l­e?«, fragt die Prinzessin ihn nun gereizt. »Das tut mir leid. Vor dem Konzert führen Sie das Regiment, aber nachher müssen Sie schon gestatten, dass …«

Jetzt aber kommt Leben in die erstarrte Gestalt Fürst Wolfharts. Zornig sieht er die schöne Frau an, und seine Hände ballen sich unbewusst zu Fäusten.

»Meinen Frackmantel, Rulle!«, befiehlt er schroff. »Die Blumen geben Sie in ein zweites Taxi.« Er wendet sich der verstörten Sabrina zu und reicht ihr ritterlich den Arm. »Komm, Moorprinzessin, gehen wir!«

Auch in Rulle kommt nun Leben. Er überkugelt sich jetzt förmlich, um die Befehle seines Herrn auszuführen.

»Einen Augenblick, Chef!«, sagt er diensteifrig. »Hier, der Frackmantel! Die Blumen in ein zweites Taxi! Jawohl, Chef!«

Fürst Wolfhart zieht den Frackmantel nicht über, sondern nimmt ihn lässig über den Arm. Seine Haltung ist tadellos, aber zugleich unmissverständlich, und fassungslos starrt die schöne Prinzessin ihn an. In ihren grünen Mandelaugen flackert es.

»Was soll das heißen, Wolfhart?«, stößt sie tonlos und mit zuckenden Lippen hervor. »Du kannst mich doch nicht vor aller Welt übergehen, unmöglich machen und durch dein Verhalten der Lächerlichkeit preisgeben?« Ihre überschmalen ringgeschmückten Hände beben. »Ich habe versprochen, dich mitzubringen, und man erwartet, dass …« Fürst Wolfhart verbeugt sich kühl und gelassen vor der schönen, mondänen Frau.

»Die Welt, an deren Urteil dir so viel liegt, Simone«, sagt er langsam, »verachte ich nach wie vor. Der ärmste Kuli ist mir als Zuhörer wertvoller, wenn meine Musik ihm etwas geben kann, als …« Er unterbricht sich, um jedoch sogleich fortzufahren: »Aber lassen wir das. Ich denke, wir haben dieses Thema mehr als einmal bis zum Überfluss erörtert. Hier ist nicht der Ort, um jene Diskussionen wiederaufleben zu lassen. Rulle, wir gehen durch den Seitenausgang. Sorgen Sie dafür, dass uns niemand bemerkt, und sagen Sie dem Chauffeur, er soll unmittelbar zum Claridge fahren! Komm, Sabrina.«

Vor der schönen Prinzessin verhält Fürst Wolfhart noch einmal den Schritt.

»Die Vergangenheit ist tot, Simone!«, sagt er fest und ruhig. »Man soll Totes ruhen lassen.«

Sekunden später starrt Simone Prinzessin von Bernadette fassungslos auf die Tür, die sich bereits hinter Fürst Wolfhart, Sabrina und Rulle geschlossen hat. Ihr schönes Gesicht verzerrt sich zu einer wütenden Grimasse. Zornig ergreift sie ihre blassgelben Rosen, die Fürst Wolfhart achtlos zu den übrigen Blumengebinden gelegt hat, und wirft sie mit einer Gebärde tödlichen Hasses an die Wand, sodass die zarten Blütenblätter zu Boden flattern.

»Das wirst du mir büßen, du törichter Narr!«, murmelt sie, und ihre Mandelaugen sprühen vor Zorn wahre Blitze. »Die Vergangenheit ist nie tot. Diese Stunde wirst du noch bereuen. Das schwöre ich dir, so wahr ich Simone von Bernadette bin!«

*

Noch immer senkt sich ein weißer Flockenvorhang über die Dächer und Türme von Paris.

Vor der hell erleuchteten Fassade des Hotels Claridge hält das Taxi.

Rulle entlohnt den Fahrer und steigt hastig aus, um Sabrina und dem Fürsten den Schlag zu öffnen. Dann geht er den beiden voran in die Hotelhalle, strebt mit flüchtigem Gruß an dem diensteifrig herbeieilenden Empfangschef vorbei zum Lift und hält auch dort die Tür auf.

Sabrina, die eine Stola um die schmalen Schultern hat und rührend kindhaft und zart in der zauberhaften Modeschöpfung aus silbernem Chiffon wirkt, sieht Rulle aus großen, verständnislosen Augen angstvoll an, und Rulle zermartert sich den Kopf darüber, wie er diesen Abend wenigstens für Sabrina retten kann. Als sich der Lift summend in Bewegung setzt, kommt ihm plötzlich der reifende Einfall. Er räuspert sich und erklärt: »Eine gemütliche Feier unter zwei Personen ist tatsächlich viel netter als so eine große Galageschichte unter Hunderten gleichgültiger Menschen. Sie haben vollkommen recht, Chef!« Das sagt er, als sei es für ihn selbstverständlich gewesen, dass Fürst Wolfhart beabsichtigte, den Konzerterfolg mit Sabrina allein zu feiern.

Des Fürsten Brauen ziehen sich zusammen. Mit einem Ruck hebt er den Kopf und öffnet die Lippen, als wolle er Rulle zurechtweisen. Aber als seine dunklen Augen in die wasserblauen des Orchesterdieners blicken, begreift er, dass Rulle das nur für Sabrina gesagt hat, und er atmet tief.

»Ja«, sagt er, »veranlassen Sie alles, Rulle!«

Der Lift hält schnarrend vor dem Korridor des zweiten Stockwerks.

Rulle hinkt hinaus über den weichen roten Teppich und sagt, als er vor der Tür der beiden Appartements angelangt ist: »In zwanzig Minuten erwarte ich die Herrschaften!« Damit ist er verschwunden.

Fürst Wolfhart ergreift Sabrinas schmale Hand und zieht sie zart an seine Lippen.

»Bis gleich, Moorprinzesschen!«, bittet er.

Sabrina nickt. Sie fühlt sich grenzenlos abgespannt und ist dankbar für einige Minuten der Ruhe und Besinnung, in denen sie neue Kraft schöpfen kann.

Als sich die Tür des Appartements hinter ihr schließt, als sie allein ist, gleitet sie hilflos hinab in den dunklen Teich der Erschöpfung. Ohne das Licht anzuschalten, lässt sie sich auf den damastbezogenen Diwan sinken, faltet die Hände und atmet langsam und tief.

Es ist dunkel um sie, aber hinter ihren geschlossenen Lidern jagen grellbunte Bilder wie Szenen eines Filmstreifens vorüber: Der Konzertsaal, Tonio Cirones vom Eifer des Spiels verwirrte Löwenmähne hinter dem Flügel, Wolfhart im tadellos sitzenden Frack am Dirigentenpult, Blumen im Künstlerzimmer, blassgelbe Rosen und die Dame, die sich Simone Prinzessin von Bernadette nannte, ihr verwirrend schönes Antlitz an Wolfharts Wange schmiegte und ihre schmalen ringgeschmückten Hände besitzergreifend auf seine Schultern legte.

Sabrina spürt ganz deutlich den harten, unruhigen Schlag ihres Herzens. Es war zu viel, was an diesem Abend auf sie eingestürmt ist.

Doch ehe sie weiter ihren Gedanken nachhängen kann, öffnet sich die Tür.

Das Licht flammt auf, und seine Helle löscht die quälenden Bilder barmherzig aus.

Vorsichtig trägt Rulle ein silbernes Tablett mit stark duftendem Mokka zum Diwan. Freundlich sagt er: »Da wäre ich! Und der Champagner wäre auch da. Der Chef wartet nicht gern. Einen Mokka habe ich mitgebracht. Trinken Sie, denn das brauchen Sie jetzt!«

Verwirrt richtet sich Sabrina auf. »Danke, Rulle!«

Gehorsam trinkt sie von dem starken heißen Mokka, der sie tatsächlich wunderbar belebt und erfrischt. Die tiefe Müdigkeit verebbt, und ihre wirren Gedanken ordnen sich, um sogleich beharrlich um einen ganz gewissen Punkt zu kreisen.

»Wer war die Dame?«, fragt sie.

»Eine Prinzessin, Dame der großen Gesellschaft. Wir kennen sie von früher, die Prinzessin, aber das hat nichts zu bedeuten. Schmeckt der Mokka nicht vorzüglich?«

»Ja!«, bekennt Sabrina, und ein erleichtertes Lächeln huscht nach Rulles Worten über ihr schmales Gesichtchen. »Sie ist sehr schön, die Prinzessin von Bernadette, nicht wahr?«

Rulle zuckt die Schultern.

»Ich weiß nicht recht. Vielleicht ist sie schön, aber uns gefällt sie nicht. So, und jetzt gehen Sie aber, sonst wird der Chef ungeduldig.«

Er wartet, bis sich die Verbindungstür zum Wohnraum des Appartements hinter Sabrina schließt, dann seufzt er tief, schüttelt bekümmert den Kopf und geht langsam hinaus – ein kleiner, gebückter grauhaariger Mann, dessen Mission für diesen Tag beendet ist.

Fürst Wolfhart hat sich bei Sabrinas Eintritt langsam aus seinem tiefen Sessel erhoben und kommt ihr jetzt entgegen. Wieder ergreift er ihre schmale Rechte und zieht sie behutsam an die Lippen.

»Verzeih!«, bittet er leise. »Du hast das Ende dieses Abends nicht verdient. Es war dein erstes Konzert, dein erster Erfolg, und ich wollte dich eigentlich in die große Welt einführen. Aber …« Er lächelt müde, zuckt die Schultern und schweigt.

»Ich freue mich so sehr, dass ich mit dir allein feiern darf, Wolfhart«, widerspricht Sabrina herzlich. »Unter den vielen fremden Menschen bei einem Galaempfang hätte ich mich bestimmt sehr einsam und verloren gefühlt.«

Sie nimmt den ihr ritterlich gebotenen Arm und lässt sich von Fürst Wolfhart zum Tisch führen.

Köstlich perlt dort bald darauf der Champagner in den kristallenen Schalen. Fürst Wolfhart erhebt sein Glas und trinkt Sabrina feierlich zu.

»Ich danke dir, Moorprinzesschen!«, sagt er liebevoll. »Du hast dich tapfer gehalten. Lass mich dir zu deinem ersten großen Erfolg von ganzem Herzen Glück wünschen.«

Ihre Gläser berühren sich mit harmonischem Klang. Sabrinas Augen leuchten, und ihre zarten Wangen sind sanft gerötet. Nachdem sie die tiefe Erschöpfung, die der übergroßen Anspannung folgt, überwunden hat, fühlt sie sich wunderbar gelöst, heiter und glücklich.

»Wir müssen Tante Tabea anrufen!«, bittet sie, als sie einen Schluck getrunken hat. »Ich habe ihr doch versprochen, sie gleich nach dem Konzert anzurufen und ihr zu berichten, wie es gewesen ist.«

Fürst Wolfhart lächelt überrascht.

»Davon wusste ich nichts! Aber was man versprochen hat, muss man halten, Moorprinzesschen!«

Er steht auf, geht zu dem auf einer kleinen Kommode stehenden Zimmertelefon und meldet bei der Zentrale des Hotels ein Gespräch nach dem Moorschloss an. Dann greift er zu einer Shagpfeife, zu dem ledernen Tabakbeutel und nimmt wieder in seinem Sessel Platz.

»Wir werden uns ein Weilchen gedulden müssen, bis die Verbindung hergestellt ist«, sagt er, setzt seine Pfeife in Brand und blickt schweigend den blauen Rauchwolken nach.

Sabrina senkt die Lider. Vor ihr steht jene kurze beseligende Sekunde, da sie mit Wolfhart nach dem Konzert im Künstlerzimmer allein war, als sie sich an den Händen hielten und in die Augen sahen und Wolfhart sich langsam und zärtlich zu ihr neigte. – Sie erbebt, als sie jetzt die Augen wieder öffnet und ihr Gegenüber anblickt. Ich liebe dich, sagen diese Augen. Ich liebe dich – ich liebe dich!

Aber Wolfhart schweigt. Die Stille schwillt bedrohlich an, und Sabrina wagt fast nicht zu atmen.

Warum sagt Wolfhart nichts, pocht ihr Herz. Warum teilt er mein Glück nicht? Warum lässt er es zu, dass die Stille wächst und wächst und uns unaufhaltsam trennt?

Sie findet keine Antwort, aber ein starker, heißer Wille erfüllt sie plötzlich, der Wille, es nicht ein zweites Mal geschehen zu lassen, dass sich ein Abgrund des Fremdseins zwischen ihr und dem heimlich geliebten Mann öffnet. Aber ehe sie ein Wort sagen kann, schrillt das Telefon.

Fürst Wolfhart geht zum Apparat, nimmt den Hörer ab und meldet sich. Sein kühnes Profil lässt Sabrina tödlich erschrecken, weil es kaum je so starr, fremd und eisig ablehnend gewesen ist wie jetzt.

»Hallo?«, hört sie ihn da aber schon sagen. »Fräulein Tabea? Sie werden aus Paris verlangt!« Er winkt Sabrina zu sich und übergibt ihr mit einer kleinen Verneigung den Hörer.

Sabrinas Hände zittern. Das Gespräch mit Tante Tabea, auf das sie sich eben noch so herzlich gefreut hat, ist ihr plötzlich nicht mehr wichtig. Wichtig ist jetzt einzig und allein, dass sie eine Brücke über den Abgrund des Fremdseins schlägt, der Wolfhart und sie zu trennen droht.

»Tante Tabea?«, fragt sie rasch. »Hier spricht Sabrina.«

»Sabrina?«, hört sie Fräulein Tabeas unsichere Stimme und glaubt auch, den Herzschlag des alten Fräuleins zu vernehmen. »Bist du es wirklich und wahrhaftig?«

»Wirklich und wahrhaftig, Tante Tabea.«

»Wie war das Konzert? Ich habe so an dich gedacht und solche Angst um dich gehabt.«

»Es ging alles gut, Tante Tabea!«, versichert Sabrina. »Wolfhart ist sehr zufrieden mit mir!«

»Gott sei Dank!«, seufzt das alte Fräulein erleichtert. »Es ist lieb von dir, Sabrina, dass du mich gleich anrufst. Ich saß schon seit einiger Zeit in der Halle und wartete auf das Läuten des Telefons.«

Diese Worte lassen wie durch Zaubermacht vor Sabrinas Augen das Bild der Heimat erstehen.

»Brennt Feuer im Kamin?«, fragt sie leise.

»Aber natürlich!«, antwortet Fräulein Tabea. »Oder glaubst du, ich wolle mir in dieser bitteren Kälte den Tod holen? Du kannst dir nicht vorstellen, wie kalt es bei uns ist. Sönke meint, wenn es noch lange so weitergehe, reiche unser Brennvorrat gar nicht aus und wir müssten anfangen, die Möbel zu verheizen. Aber das sagt er jedes Jahr.«

»Ist er wieder ganz gesund?«, forscht Sabrina.

»Ja, bis auf das Zipperlein natürlich, aber das plagt ihn eben jeden Winter.«

»Und die anderen?«, fragt Sabrina.

»Danke, die sind alle wohlauf!«

Liebe, liebe Heimat, denkt Sabrina sehnsüchtig, und das Herz tut ihr richtig weh.

»Du vertelefonierst ein Vermögen, Moorprinzesschen«, mahnt Fürst Wolfhart in diesem Augenblick lächelnd. »Grüße Fräulein Tabea von mir!«

Sabrina nickt. »Grüße von Fürst Wolfhart!«, sagt sie dann in die Sprechmuschel hinein. »Ich glaube, wir müssen aufhören. Vergiss mich nicht, Tante Tabea.«

»Wie könnte ich, Sabrina!«, sagt Fräulein Tabea und schluchzt ein bisschen. »Es ist so einsam hier ohne dich! Vielen Dank für deine Briefe. Ruf mich bald wieder an, ja?«

»Ja«, versichert Sabrina, »gewiss! Auf Wiedersehen, Tante Tabea!«

»Auf Wiedersehen, Kind! Grüße den Fürsten und komm bald heim, hörst du?«

Sabrina steht noch eine ganze Weile reglos da und hält den Hörer in der Hand. Behutsam legt sie ihn endlich auf die Gabel zurück, und langsam wendet sie sich danach zu Fürst Wolfhart um, der mit unbewegtem Antlitz seine Pfeife raucht. Die große Sehnsucht nach der Heimat löscht einen Augenblick lang jedes andere Empfinden in Sabrinas Herzen aus.

»Es ist sehr kalt auf der Heideinsel«, sagt sie leise. »Tante Tabea lässt dich grüßen.«

»Es ist also alles beim Alten?«

»Ja!«, erwidert Sabrina, und tiefe Mutlosigkeit überfällt sie mit einem Mal. Ihre schmalen Schultern neigen sich unwillkürlich ein wenig, als sie ihren Platz wieder einnimmt. Ihr Gesichtchen ist ratlos, traurig und hilflos.

Sei gut zu mir, Wolfhart, bitten ihre Augen. Ich liebe dich doch, dich – nur dich ganz allein! Spürst du es nicht? Warum sagst du kein einziges Wort?

Wieder wächst die drohende Stille wie eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen empor. Sabrina möchte diese Mauer einreißen und öffnet schon die Lippen, aber Wolfhart kommt ihr zuvor.

»Es ist spät geworden, Sabrina«, sagt er ruhig. »Der Tag war sehr anstrengend für uns beide. Wir wollen zur Ruhe gehen.«

Sabrina erwidert nichts. Gehorsam leert sie ihr Glas und erhebt sich, und auch Fürst Wolfhart steht auf.

»Gute Nacht!«, wünscht er rau. »Schlafe gut, Sabrina, und träume von deinem ersten großen Erfolg, der dir ein Ansporn für deine weitere Arbeit sein soll.«

Diesmal zieht er ihre Hand nicht an seine Lippen. Stumm und trostlos steht Sabrina vor ihm.

»Gute Nacht!«, sagt sie endlich leise.

Dann schließt sich die Tür hinter ihr, und Fürst Wolfhart ist allein.

Seine dunklen Augen sind von tiefer Schwermut überschattet, als er leise zu sich selbst sagt: »Es war sehr, sehr töricht von mir zu glauben, ich könnte die Vergangenheit überwinden und vergessen, ja, sogar sterben lassen. Die Vergangenheit wird nie sterben, möchten auch Jahre darüber vergehen, sie wird eins mit uns und bleibt lebendig in unserem Herzen bis zum letzten Lebenstag.«

Traurig und mit sich selbst nicht zufrieden, verlässt auch Fürst Wolfhart das gemütliche Wohnzimmer, um sich zur Ruhe zu begeben.

*

Zweifellos ist es nur Rulles Bemühungen zu verdanken, dass das Ravenhill-Orchester überstürzt von Paris nach London aufbricht, denn Rulle gibt keine Ruhe, und er weiß auch, warum. Obwohl ursprünglich ein Aufenthalt von mehreren Tagen in Paris geplant war, erhebt Fürst Wolfhart keinen Einspruch gegen eine sofortige Abreise.

Weißgelber Nebel liegt wie ein schmutziges Laken über der Stadt an der Themse, als Fürst Wolfhart und Sabrina in Begleitung des getreuen Rulle vom Flugplatz zu ihrem Londoner Hotel fahren.

Sabrina fühlt sich elend, müde und erschöpft. Der erste Flug ihres Lebens, die langsame Fahrt durch die City und die bedrückende Atmosphäre der fremden Stadt strengen sie unsagbar an.

Im Hotel ist es warm und hell. Die Appartements, die Fürst Wolfhart bestellt hat, liegen in zwei verschiedenen Etagen, und als sich der Lift summend wieder in Bewegung setzt, nachdem Fürst Wolfhart ausgestiegen ist, hat Sabrina plötzlich das schreckliche Empfinden, unwiderruflich von dem heimlich geliebten Mann getrennt zu sein.

Nur Rulle bleibt bei ihr, bis das Gepäck kommt. Er schwärmt immerzu von London, der Stadt, die offenbar seine große Liebe ist.

Sabrina hört Rulles Geplauder nur zerstreut zu. Sie sehnt sich grenzenlos nach Wolfhart, der seit jenem ersten Konzertabend in Paris wieder kühl, unnahbar und sonderbar abweisend zu ihr ist. Es gibt keine Brücke, die zu seinem Herzen führt, denkt sie gequält, lehnt sich an das Fenster des vornehmen, im viktorianischen Stil eingerichteten Hotelzimmers und starrt trostlos in den dichten Nebel. Seit sie die Erkenntnis gewann, dass sie Fürst Wolfhart mit aller Kraft ihres reinen, starken Herzens liebt, peinigt seine abweisende, verletzend kühle Haltung sie noch verzweifelter als zuvor.

Während der kommenden Tage ist Sabrina viel allein. Sie schreibt lange heimwehkranke Briefe an Tante Tabea, übt gewissenhaft und wartet sehnsüchtig auf irgendein noch so kleines Zeichen Wolfharts, das ihr verraten könnte, dass alles wieder gut zwischen ihnen ist.

Aber nichts geschieht. Mehr denn je zieht sich Fürst Wolfhart von ihr zurück.

Wäre Rulle nicht, würde Sabrina völlig verzweifeln. Rulle ist rührend um sie bemüht. Er führt sie stundenlang durch die City, zeigt ihr die Sehenswürdigkeiten der Weltstadt und wird nicht müde, ihr alles liebevoll zu erklären und zu erläutern.

So naht der Abend des Londoner Konzertes, dem Sabrina völlig teilnahmslos entgegensieht. Sie ist seelisch einfach zu müde, zu sehnsuchtskrank und zu erschöpft, um sich wegen des Konzertes noch aufzuregen.

Selbst die Generalprobe lässt sie kalt. Sie erledigt ihren Auftritt künstlerisch gewissenhaft, aber ohne innere Teilnahme.

Das stimmt Rulle, der ebenfalls plötzlich von einer merkwürdigen inneren Nervosität gepackt worden ist, bedenklich. Besser viel Lampenfieber als gar keines, denkt er, und er würde etwas darum geben, wenn Marcus Mauris Tochter auch nur einen Bruchteil jener fiebrigen Erwartung zeigen würde, die sie vor ihrem ersten Konzert in Paris ausstrahlte.

Sabrina ist selbst verwundert darüber, dass sie keine Angst vor dem Konzert hat und sich auch gar keine Gedanken darüber macht, ob es ein Erfolg sein wird oder nicht.

Dabei ahnt sie nicht, dass Fürst Wolfhart, der die Stunden nach der Generalprobe in seinem Appartement verbringt und selbst Rulles Fürsorge abweist, ebenfalls dem am Abend stattfindenden Konzert völlig gleichgültig gegenübersteht.

*

Auch an der Kasse des Londoner Konzerthauses hängt ein Schildchen, dass der Saal ausverkauft ist, aber weder Fürst Wolfhart noch Sabrina achten darauf. Schweigend gehen sie zum Künstlerzimmer, und Rulle denkt tief bekümmert, dass es ganz bestimmt ein Unglück geben wird.

Seine Hände zittern ein wenig, als er die Stühle der Musiker zurechtrückt, die Standsicherheit der Notenständer prüft und schließlich den Flügel öffnet.

Wenn nur dieser Abend schon herum wäre, denkt er immer wieder, und gewohnheitsgemäß geht er zum Vorhang und wirft durch das Guckloch einen Blick in den Saal.

Auch hier ist die Prominenz der Londoner Gesellschaft versammelt, und Rulle erkennt einige berühmte Persönlichkeiten. Dann weiten sich plötzlich seine wasserblauen Augen, mit einem Ruck hebt er den Kopf, und seine Hände krampfen sich ängstlich ineinander.

Das ist doch einfach unmöglich, denkt er, das kann doch nicht wahr sein! Sekundenlang ist er überzeugt davon, dass ihn ein Spuk narrt, aber das Bild, das ihn so erschreckte, bleibt unverändert vor seinen Augen.

Es ist das Bild einer faszinierend schönen Frau, die gelangweilt in einer der ersten Sesselreihen sitzt. Sie trägt ein fantastisches Gewand aus kardinalroter Seide und ist niemand anders als Simone Prinzessin von Bernadette.

»Allmächtiger!«, murmelt Rulle verstört. »Jetzt haben wir die Pastete!« Und vor lauter Verzweiflung vergisst er vollkommen, nach altem Brauch dreimal auf die Rampe zu spucken.

Der kleine, gebeugte Mann ist nun erst recht von bösen Ahnungen erfüllt, als er das Podium wieder verlässt. Aber er reißt sich zusammen und ist bald darauf liebevoll um Sabrina bemüht, die im Künstlerzimmer teilnahmslos auf ihren Auftritt wartet.

»Es wird schon gut gehen«, sagt er betont zuversichtlich. »Die Engländer sind lediglich etwas zurückhaltender mit Beifall als die Franzosen. Erschrecken Sie darum also nicht, wenn der Jubel nicht so laut und stürmisch ist wie in Paris.«

»Ja«, sagt Sabrina leise und abwesend, »ja – ja …«

Sie denkt aber, dass im Grunde genommen alles gleichgültig geworden ist, denn was bedeuten ihr Erfolg und Ruhm, wenn der Mann, den sie liebt, sich nicht zu ihr bekennt?

Wenige Minuten später steht sie auf dem Konzertpodium im strahlenden Scheinwerferlicht. Sie ist bezaubernd schön, genauso schön wie in Paris, aber Rulle hat vollkommen recht: Die Engländer sind weitaus zurückhaltender und weniger begeisterungsfähig als die Franzosen. Während Sabrina in Paris allein schon durch ihre jungmädchenhafte, zarte Schönheit die Herzen der Zuhörer im Fluge gewann, verhält sich das Londoner Publikum abwartend, kühl und distanziert.

Auch Fürst Wolfhart wirkt an diesem Abend keineswegs so sicher wie sonst. Er ist merkwürdig nervös und gibt ungeduldig das Zeichen zum Einsatz.

Sabrina nickt unmerklich und beginnt ihr Spiel, aber heute jubiliert ihr Herz nicht.

Es erfüllt sie nicht das starke und beglückende Bewusstsein ihrer jungen Liebe, sondern ihr Herz ist stumm und still. Sie spielt das Adagio technisch einwandfrei und gekonnt, aber ihre Geige singt und klingt nicht, denn Sabrina vermag es nicht, ihr eine Seele einzuhauchen.

Dann ist Sabrinas Solospiel zu Ende. Es bleibt totenstill im Saal. Lediglich nach dem Finale des Orchesters setzt ein lauter Höflichkeitsapplaus ein, der aber schnell wieder verebbt.

»In London gibt es keinen offenen Skandal«, murmelt Rulle halblaut vor sich hin, »dieser erbärmliche Beifall ist aber schon Skandal genug.«

Rulle ist so verzweifelt, dass er nicht einmal die Kraft findet, Sabrina, die nun blass und verstört ins Künstlerzimmer zurückkommt, ein gutes Wort zu schenken, und stumm warten sie beide auf das Erscheinen Fürst Wolfharts.

Als dieser dann auch eintritt, stehen feine Schweißperlen auf seiner Stirn, und seine Haltung ist nicht so straff wie sonst. Er sagt kein Wort, beachtet weder Sabrina noch Rulle und nimmt schweigend auf dem altmodisch grünen Sofa Platz, das in der Ecke am Fenster steht.

Wie anders war alles in Paris! Dort konnten sich Sabrina und Fürst Wolfhart der begeisterten und hingerissenen Verehrer kaum erwehren, aber in London will niemand zu ihnen. Es werden auch keine Blumen abgegeben. Man kümmert sich überhaupt nicht um sie.

Plötzlich pocht es an die Tür, und ein uniformierter Page übergibt Gebinde blassroter Rosen. Rulle wirft einen einzigen Blick auf die elegante Handschrift des Begleitbriefes und wird blass. Er drückt dem Pagen ein Trinkgeld in die Hand und reicht Blumen und Brief dem Fürsten, der beides zuerst achtlos auf den Tisch legen will, dann aber die Handschrift des Begleitschreibens erkennt und das zartgrün getönte Kuvert doch rasch öffnet.

Nach einem Blick auf die schmale Briefkarte zuckt ein bitteres und verächtliches Lächeln um seinen Mund. Rasch legt er die Rosen und die Karte zur Seite.

Dann steht er auf und beginnt unruhig in dem schmalen, altmodisch ausgestatteten Künstlerzimmer hin und her zu gehen. Eine steile Falte gräbt sich zwischen seine dunklen Brauen und wächst drohend in die hohe vorgewölbte Stirn.

Voller Angst beobachtet Sabrina den heimlich geliebten Mann, der ihr so nah und zugleich doch so fern ist. Sie möchte weinen, aber ihr Herz ist so erschöpft und leer, dass sie nicht einmal mehr Tränen findet.

Auch während des zweiten Programmteils ändert sich die Haltung der Zuhörer nicht. Es bleibt drohend still im Saal, als Sabrina auftritt. Eisige Ablehnung weht ihr entgegen.

Aber das berührt sie nicht. Jetzt ist ihr alles gleichgültig, und sie ist darauf bedacht, sorgfältig und gewissenhaft zu spielen, um die anderen nicht auch noch durch einen Fehler zu verwirren.

Kein noch so höflicher Applaus dankt der jungen Künstlerin, als sie nach ihrem Spiel Geige und Bogen sinken lässt. Die Stille ist beschämend, und gesenkten Hauptes tritt Sabrina von der Rampe zurück.

Fürst Wolfhart jagt nun das Programm förmlich zu Ende. Nachdem der letzte Ton verklungen ist, verlässt er, ohne sich dem Publikum überhaupt noch einmal zuzuwenden, raschen Schrittes das Podium.

Rulle hat bereits einen Wagen gerufen, und so können er, Fürst Wolfhart und Sabrina die Konzerthalle sofort verlassen und in das Palace Hotel zurückkehren.

Sabrina ist wie gelähmt. Es drängt sie, Wolfhart zu sagen, wie leid es ihr tut, dass sie so versagt hat, aber kein einziges Wort ringt sich über ihre blassen, bebenden Lippen.

Vor dem Hoteleingang verabschiedet sich Fürst Wolfhart mit einem flüchtigen Neigen des Hauptes von Sabrina und dem getreuen Rulle, dann geht er wortlos durch die Hotelhalle zum Lift.

»Es war schrecklich, Rulle!«, stöhnt Sabrina gequält, als der Mann, den sie liebt, ihren Blicken entschwunden ist. »Ich mache mir entsetzliche Vorwürfe, weil ich versagt habe, denn dass ich versagt habe, weiß ich ganz genau.«

Rulle ist zu ehrlich, um Sabrina zu widersprechen, aber er tröstet sie trotzdem und sagt: »Das kann vorkommen, man darf es nur nicht zu tragisch nehmen. Hoffentlich können Sie schlafen, denn es wird jetzt nichts besser davon, wenn wir die Nerven verlieren. Passen Sie auf, in Stockholm und Oslo ist alles wieder ganz anders!« Aber im Grunde genommen glaubt er nicht daran, dass der Chef nach diesem Londoner Misserfolg die zwei noch geplanten Konzerte geben wird. Blass und bekümmert reicht er Sabrina die Hand. »Ich habe auch versagt«, meint er mit einem schwachen Lächeln. »Ich habe heute Morgen nicht ›Hänschen klein‹ gespielt und habe heute Abend vergessen, vor Konzertbeginn auf die Rampe zu spucken.«

»Das ist freilich entsetzlich!«, lächelt Sabrina zurück, aber es ist ein müdes, trauriges und gequältes Lächeln. »Gute Nacht, Rulle! Schlafen auch Sie gut!« Sie nickt ihm noch einmal zu und geht dann schnell durch die Hotelhalle zum Lift.

Es wäre alles nicht so schlimm, denkt sie, wenn ich mit ihm sprechen und ihm erklären könnte, wie es kam, dass ich versagt habe. Aber alles Grübeln nützt jetzt nichts mehr, Rulle hat vollkommen recht.

Allein und verlassen steht Sabrina dann in ihrem bezaubernden Kleidchen aus Silberchiffon in ihrem vornehmen Hotelzimmer. Tränenlos starrt sie vor sich hin ins Leere, und das Herz ist ihr so schwer wie ein Stein.

*

Um die gleiche Zeit geht Fürst Wolfhart ruhelos in seinem Hotelzimmer auf und ab. Er raucht seine kleine Pfeife und wartet darauf, dass eine von ihm angemeldete Verbindung mit seiner Konzertagentur hergestellt wird. Sein Antlitz ist verschlossen und trägt einen fremden, hochmütigen Zug.

Als endlich das Telefon klingelt, nimmt er ungeduldig den Hörer ab und meldet sich. Ohne Einleitung erklärt er seinem aus dem Schlaf geschreckten Agenten, der erst gar nicht begreift, dass er um diese späte Stunde aus London angerufen wird: »Dieses Konzert war die größte Blamage meines ganzen Lebens. Ich werde die Kritiken mit einem rosa Seidenbändchen versehen und Ihnen zuschicken. Hören Sie noch? Ich werde sofort auf meinen Landsitz reisen. Sagen Sie die geplanten Konzerte in Stockholm und Oslo ab! Guten Abend!«

Ehe der Konzertagent auch nur ein einziges Wort hat sagen können, legt Fürst Wolfhart den Hörer wieder auf und trennt so die Verbindung.

Mit einem erleichterten Aufseufzen lässt er sich in einem der tiefen Sessel, die um einen Klubtisch stehen, nieder. Das wäre also erledigt, denkt er. Keine Macht der Welt könnte mich dazu bewegen, nach diesem entsetzlichen Misserfolg noch in Stockholm oder Oslo aufzutreten.

Dabei vermeidet er es, an Sabrina zu denken, die durch den entsetzlichen Misserfolg ja noch schwerer getroffen sein muss als er selbst.

Aber noch ehe er seinen Gedanken eine neue Richtung geben kann, pocht es leise an seiner Tür, die sich gleich darauf öffnet. In ihrem Rahmen steht Simone von Bernadette.

Fürst Wolfhart springt auf.

»Du?«, fragt er, und seine Stimme klingt rau. »Was – was willst du hier?«

Die schöne Frau lächelt. Aber es ist ein maskenhaft starres Lächeln, das ihre Lippen umspielt. Ihre Augen glitzern höhnisch. Langsam schließt sie die Tür hinter sich und kommt auf Fürst Wolfhart zu.

»Ich will nichts weiter als dir Glück wünschen«, sagt sie. »Du warst einfach wundervoll!«

Bitter lacht Fürst Wolfhart auf.

»Herzlichen Dank!«, gibt er zynisch zurück. »Ich habe deine Fähigkeit zu spotten schon immer bewundert.«

»Aber, Wolfhart«, verweist ihn die schöne Prinzessin sanft, »du irrst! Ich gebe ja zu, dass dein Konzert kein Erfolg war, aber daran trug doch einzig und allein diese kleine Geigerin die Schuld. Ich hielt schon in Paris nicht viel von ihr. Mein Gott, die Pariser sind eben sehr rasch begeistert, wenn eine Künstlerin jung ist und ein hübsches Lärvchen hat.«

»Bitte, mäßige dich, Simone!«, gebietet Fürst Wolfhart herrisch. »Sabrina Mauri ist meine Schülerin. Ich weiß, dass sie eine große, starke Begabung besitzt.«

»Eine Begabung, die dir den ersten Misserfolg deiner Laufbahn eingetragen hat«, stellt die Prinzessin ironisch fest.

Fürst Wolfhart zieht es vor, darauf keine Antwort zu geben.

»Willst du mir nicht wenigstens Platz anbieten?«, fragt sie nun und lässt sich, ohne die erbetene Aufforderung abzuwarten, in einem Sessel nieder.

Unwillig beobachtet Fürst Wolfhart die schöne Frau.

»Ich bin sehr müde«, sagt er kurz. »Was willst du also von mir?«

Die Prinzessin lächelt verführerisch. »Oh, nichts weiter!«, antwortet sie dann. »Ich wollte dich nur sehen und dir sagen, dass du wundervoll warst, wenn auch der Beifall ausblieb. Ich bin sogar überzeugt davon, dass die morgigen Kritiken nicht schlecht sein werden. Wie lange haben wir uns eigentlich nicht mehr gesehen, Wolfhart?«

»Wenn ich mich recht erinnere, sind es erst ein paar Tage her«, antwortet Fürst Wolfhart.

»Aber nicht doch, Wolfhart! Ich spreche von den Jahren, die vor unserem Wiedersehen in Paris lagen. Ach, es war ein großer Fehler von mir, dich zu verlassen.«

Die schöne Prinzessin seufzt tief und blickt aus ihren mandelförmigen Augen dem Rauch ihrer Zigarette nach, der sich in zierlichen Arabesken zur Decke kräuselt.

»Ich habe meine Fehler zu spät erkannt«, fährt sie jetzt mit gedämpfter Stimme fort. »Erst als wir uns endgültig getrennt hatten, erst als unsere Ehe geschieden war, da wusste ich, welch einen edlen Menschen ich in dir verloren hatte.«

»Vielen Dank für das unverdiente Kompliment«, sagt Fürst Wolfhart da mit einer spöttischen Verneigung. »Ich erinnere mich nämlich noch sehr gut daran, dass du mich den verständnislosesten und herzlosesten Menschen aller Zeiten nanntest.«

»Vergib!«, bittet die schöne Stimme nun leise, und es gelingt ihr sogar, den Anschein zu erwecken, als ob ihre Reue echt ist. »Ich war damals noch zu jung, um deinen wahren Wert zu erkennen.«

»Aber du warst erwachsen genug, um zu erkennen, dass es sich als Simone Prinzessin von Bernadette angenehmer leben ließ als bei mir, nicht wahr?«

»Es war die Einsamkeit des Moorschlosses!«, klagt die schöne Frau. »Diese Einsamkeit hat mich verrückt gemacht. Ich verlor die Nerven. Kannst du das nicht begreifen? Ich war das rege, glänzende gesellschaftliche Leben gewohnt, in dem ich aufgewachsen war. Ich fürchtete mich vor der Stille und … manchmal auch vor dir.«

»Davon habe ich eigentlich nie etwas bemerkt«, erklärt Fürst Wolfhart spöttisch.

»Du bist grausam, Wolfhart!«, seufzt die Prinzessin. »Begreifst du wirklich nicht, dass ich ehrlich bereue und dass ich zur Einsicht gekommen bin?« Sie betupft sich mit einem zartfarbenen Spitzentaschentüchlein die seidigen Wimpern. »Ich – ich habe mich unendlich darauf gefreut, dich wiederzusehen, und habe mir, offen gestanden, dieses Wiedersehen anders vorgestellt.«

Fürst Wolfhart macht eine brüske Handbewegung. Er kann sich nicht erklären, warum ihn seine geschiedene Gattin, um derentwillen er einmal unendlich gelitten hat, plötzlich wieder aufsucht.

»Was willst du von mir, Simone?«, fragt er rau. »Denn dass du etwas von mir willst, das weiß ich genau.«

Simone von Bernadette sieht ihn groß an, und ihre mandelförmig geschnittenen Augen flackern sonderbar.

»Nimm mich wieder zu dir!«, bittet sie leise. »Lass uns noch einmal neu beginnen. Ich bin heute um viele Jahre reifer und verständiger geworden. Wir waren damals beide noch so schrecklich jung, Wolfhart. Wir waren halbe Kinder, du und ich. Es war ein großer Fehler, dass wir uns einfach getrennt haben, anstatt das Leben gemeinsam zu meistern.«

»Du hast mich verlassen, Simone«, stellt Fürst Wolfhart ruhig klar, »nicht ich dich!«

»Ja«, gibt die schöne Frau ungeduldig zu, »ja, ich habe dich verlassen. Es war ein großer Fehler, aber ich bitte dich heute ehrlichen Herzens um Vergebung.«

»Es gibt Dinge, die man nicht vergessen kann, Simone«, sagt er schwer, und vor seinen Augen steht das düstere Moor, flattert die Fahne der Ravenhills mit ihrem silbernen Falken auf moosgrünem Grund.

Jetzt weint Simone von Bernadette leise vor sich hin.

»Glaubst du, ich habe nicht darunter gelitten?«, fragt sie mit bebender Stimme. »Schließlich war Anschi auch mein Kind.«

Als sie den Namen ausspricht, zuckt Fürst Wolfhart unwillkürlich zusammen. Seit vielen Jahren wagt in seiner Umgebung niemand mehr diesen Namen, mit dem sich unsagbar Trauriges verbindet, vor ihm auszusprechen.

»Lass!«, bittet er gequält. »An Geschehenem ist nichts mehr zu ändern.«

Da springt Simone auf und eilt zu ihm. Ihre Hände schließen sich um seinen Schultern.

»Stoße mich nicht von dir, Wolfhart!«, bittet sie, und ihre Verzweiflung erscheint durchaus echt. »Ich ertrage die Einsamkeit nicht mehr, nachdem ich seit zwei Jahren Witwe bin. Ich bin es müde, durch die Welt zu vagabundieren. Ich brauche eine Heimat und einen Menschen, zu dem ich gehöre!«

Sekundenlang vermag Fürst Wolfhart keine Antwort zu finden. So echt ihr Ausbruch auch scheint – er glaubt ihr dennoch nicht.

»Verzeih!«, sagt er dann ruhig und schöpft tief Atem. »Die Vergangenheit ist für mich tot – tot wie Anschi.« Er schließt die Augen, als er den Namen des geliebten Kindes ausspricht, das ein grausames Schicksal von dieser Erde riss. »Es gibt kein Zurück, Simone.«

Die schöne Prinzessin weint nicht mehr. Ihre demutsvolle, ruhige Haltung ist dahin, und hoch aufgerichtet, zornbebend steht sie vor ihrem einstigen Gatten. Hass verzerrt ihr Antlitz zu einer abscheulichen Maske.

»Daran ist nur diese kleine, dumme Gans schuld!«, zischt sie. »Oh, ich habe es im ersten Augenblick erkannt, als ich dich mit ihr sah.«

»Schweig!«, unterbricht Fürst Wolfhart sie gefährlich ruhig. »Schweig, Simone, und geh! Geh fort! Ich möchte dich nie wiedersehen!«

Fassungslos starrt Simone von Bernadette ihn an.

»Du hast es schon in Paris gewagt, mich vor den Augen der Welt der Lächerlichkeit preiszugeben!«, stößt sie dann wutbebend hervor. »Dennoch bin ich noch einmal zu dir gekommen, dennoch habe ich versucht, einen Weg in eine gemeinsame Zukunft zu finden. Aber du weist mich von dir. Gut denn, ich gehe! Ich werde nie wieder bei dir erscheinen, aber du sollst wissen, Wolfhart von Ravenhill, dass du mich nun zur gefährlichen Feindin hast!« Hastig dreht sie sich um und geht zur Tür.

Fürst Wolfhart erwidert nichts, aber als sich die Tür unsanft hinter Simone schließt, atmet er tief und erleichtert auf. Er kann ja nicht ahnen, dass seine geschiedene Frau noch in der gleichen Stunde zu einem ersten Schlag gegen ihn ausholt.

Die schöne Prinzessin von Bernadette verlässt das Palace Hotel nicht. Jetzt, da ihr Vorhaben gescheitert ist, da sie nicht erreicht hat, Fürst Wolfhart wieder für sich zu gewinnen, kreisen finstere Pläne hinter ihrer glatten Stirn. Aber ihrer beherrschten Miene ist davon nichts anzumerken, als sie nach kurzem Anpochen Sabrinas Appartement betritt. Lächelnd schwebt sie auf die erstarrte Sabrina zu und reicht ihr mit einer Geste überschwänglicher Herzlichkeit beide Hände.

»Mein armes, liebes Kleines!«, flötet sie. »Nehmen Sie sich dieses Londoner Konzert nicht so zu Herzen. Sie sahen zauberhaft aus und haben sehr gut gespielt. Es war unverzeihlich von Wolfhart, Sie nach Paris sofort in London auftreten zu lassen, denn die Engländer sind ganz, ganz anders als die Franzosen, viel kühler, zurückhaltender und distanzierter.«

Unaufgefordert nimmt Prinzessin von Bernadette in einem der tiefen Sessel Platz.

»Wirklich, Wolfhart, ist zu hart mit Ihnen«, sagt sie jetzt, um aber sofort mit einem boshaften Lächeln hinzuzufügen: »Nun ja, niemand kennt ihn besser als ich, die ich immerhin einige Jahre als seine Frau an seiner Seite lebte.«

Sabrina zuckt zusammen, als habe sie einen empfindlichen Schlag erhalten. Fassungslos sind ihre klaren, schönen Augen auf das Antlitz der Prinzessin gewandt!

»Ich – ich verstehe Sie nicht!«, stammelt sie leise und denkt bei sich verzweifelt, wie kann es geschehen, dass ich von dieser Ehe gar nichts weiß, dass weder Tante Tabea noch Wolfhart selbst zu mir jemals davon gesprochen haben?

Simone Prinzessin von Bernadette nickt. »Sie können das ja auch nicht verstehen, Sie armes Kind«, sagt sie, »denn ich bin überzeugt davon, dass Wolfhart über unsere Ehe nie zu Ihnen gesprochen hat. Oh, wir haben uns unendlich geliebt und waren namenlos glücklich. Es war eine herrliche Zeit, die ich auf dem Moorschloss verbrachte. Unser Glück erreichte seinen Gipfel, als unsere Anschi geboren wurde, unser geliebtes Töchterchen. Aber unser Kind verunglückte tödlich durch einen tragischen Unfall, dessen Einzelheiten ich Ihnen ersparen möchte, und durch dieses entsetzliche Geschick fand auch Wolfharts und mein Glück ein jähes Ende.« Sie zuckt die Schultern, lächelt wehmütig und bemerkt abschließend: »Ich bin aber sehr froh, dass ich Wolfhart nun wiedergefunden habe, denn in Wahrheit habe ich ihn nie vergessen können, wie auch er mich nicht vergessen hat.«

Sabrina ist in sich zusammengesunken, und trostlos starrt sie vor sich hin ins Leere. Sie hat noch nicht einmal die Kraft, den Blick zu heben, um die schöne grausame Frau anzusehen.

»Ich hoffe«, sagt sie, noch immer lächelnd, »dass wir gute Freundinnen werden. Ich habe nämlich den Eindruck, dass Wolfhart in Ihnen unsere süße kleine Anschi sieht, die heute nur etliche Jahre jünger wäre, als Sie es sind, mein Kind.«

Sie reicht Sabrina nicht mehr die Hand, sondern schwebt huldvoll und herablassend nickend zur Tür.

Für Sabrina aber ist während des kurzen Besuches der Simone Prinzessin von Bernadette eine ganze Welt eingestürzt.

Wäre nur Fürst Wolfhart bei ihr, sie möchte so gern mit ihm sprechen, aber niemand ist da, um ihr trostreich zur Seite zu stehen.

*

Am anderen Morgen regnet es nicht mehr, und zum ersten Mal seit Tagen lacht über die Weltstadt an der Themse ein fast wolkenloser Himmel.

Rulle, der zusammen mit den übrigen Mitgliedern des Ravenhill-Orchesters in einem kleineren Hotel wohnt, fühlt sich sofort wohler als am vergangenen Abend. Und als er nun in das Frühstückszimmer kommt, kann er feststellen, dass er es nicht allein ist, dessen Stimmung sich etwas gebessert hat. Er findet zwar vorerst nur den Pianisten Tonio Cirone vor, aber dieser ruft ihm sogleich entgegen:

»Nun, Rulle, was sagen Sie dazu? Es geschehen doch noch Zeichen und Wunder auf dieser Welt! Sie werden es nicht für möglich halten, aber wir haben gar keine so schlechten Kritiken, wie wir es gestern Abend doch alle befürchteten. Dieses Londoner Konzert war zwar die bisher größte Blamage unseres Lebens, aber immerhin …«

»Ausgeschlossen!«, behauptet da Rulle. »Es ist ganz ausgeschlossen, dass wir keine schlechten Kritiken haben. Geben Sie her, Menschenskind!« Er reißt dem Pianisten die Zeitung aus der Hand und liest.

Aber mit jeder Zeile, die er überfliegt, werden seine Augen größer und seine Züge heller. Tonio Cirone hat tatsächlich recht – die gefürchteten Kritiken sind gar nicht so schlecht.

»Jetzt bricht der Chef die Tournee sicher nicht ab!«, behauptet Tonio Cirone zuversichtlich. »Er wird London zwar schleunigst verlassen, aber passen Sie auf, Rulle, in Stockholm ist alles wieder in Ordnung.«

Mit diesem rosigen Optimismus soll der Pianist jedoch nicht Recht behalten, denn bereits eine knappe halbe Stunde später erreicht Rulle ein Anruf Fürst Wolfharts, wodurch dieser den getreuen Orchesterdiener bittet, sämtliche Musiker in das Palace Hotel zu bitten.

Kaum eine Stunde später kann Fürst Wolfhart seine Musiker in dem Konferenzzimmer des Palaces Hotel empfangen.

In wenigen sachlichen Worten teilt er seinem Orchester mit, was er beschlossen hat.

»Wir brechen die Tournee in London ab, meine Herren«, erklärt er. »Ich bedaure es, dass unsere Zusammenarbeit auf diese Weise ein überraschendes Ende findet, und selbstverständlich komme ich für den hierdurch für Sie entstehenden finanziellen Schaden auf. Darüber hinaus werde ich persönlich bemüht sein, Ihnen geeignete Engagements über meine Agentur zu vermitteln.«

Betreten und ratlos sehen sich die Musiker an. Irgendwie fühlen sie sich alle an dem Misslingen des vergangenen Abends mitschuldig, und jeder von ihnen möchte dem Chef ein entschuldigendes Wort sagen.

Aber nur Rulle bringt den Mut dazu auf. Langsam hinkt der kleine, gebückte grauhaarige Mann zu Fürst Wolfhart hin.

»Das tut uns allen leid, Chef«, sagt er, »und mir am meisten! Wir alle sind nicht ohne Schuld, aber könnten wir nicht …?«

Flüchtig huscht ein Lächeln über Fürst Wolfharts ernstes Antlitz.

»Schon gut, Rulle«, unterbricht er dann freundlich den Alten. »Machen Sie sich weiter keine Gedanken, meine Herren. Die Sache ist für mich erledigt!« Damit neigt er leicht und grüßend das Haupt und wendet sich rasch ab.

Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in London sucht Fürst Wolfhart Sabrinas Appartement auf.

Totenblässe überzieht Sabrinas zarte Wangen, aber darauf achtet Fürst Wolfhart nicht. Höflich reicht er ihr die Hand, und genauso höflich und korrekt verbeugt er sich vor ihr.

»Willst du nicht Platz nehmen?«, fragt Sabrina. Sie zweifelt keinen Augenblick daran, dass sich diese Aussprache auf das Konzert des vergangenen Abends beziehen wird.

»Du hattest vollkommen recht, Sabrina«, beginnt der Fürst schließlich. »Ich werde das Moor eindämmen.«

Sabrina glaubt, Wolfhart nicht recht verstanden zu haben. »Ich verstehe dich nicht«, sagt sie hilflos.

Wolfhart lächelt flüchtig. »Doch, Sabrina, ich habe mir in der vergangenen Nacht alles ganz genau und reiflich überlegt. Es ist zweifellos eine lohnendere Aufgabe für einen Mann, Land zu schaffen und auf dieser gewonnenen Erde neues Leben zu erwecken, als durch die Welt zu reisen und für ein versnobtes und teilnahmsloses Publikum den Bajazzo zu spielen.«

»Wolfhart!«, begehrt Sabrina entsetzt auf. »Wie kannst du so sprechen? Gerade du, dem eine Welt zu Füßen liegt und …«

»Lass!«, unterbricht Fürst Wolfhart sie und bringt sie mit einer kurzen Handbewegung zum Schweigen. »Du musst nicht glauben, dass mich der Misserfolg des gestrigen Abends künstlerisch getroffen hat. Nein, nein, so ist das nicht, Sabrina! Ich überschätze mein Können nicht, aber ich weiß, was ich zu leisten vermag. Es ist etwas ganz anderes, was mich heimzukehren veranlasst!«

Jetzt, denkt Sabrina, und ihr Herz beginnt wie rasend zu pochen, jetzt wird er von der Prinzessin sprechen und mir sagen, dass zwischen ihnen alles wieder gut ist, dass er freiwillig auf seinen Künstlerruhm verzichtet, um an der Seite der geliebten Frau in der Heimat zu leben.

Aber zu ihrem Erstaunen spricht Wolfhart darüber nicht ein Wort, sondern erklärt ruhig: »Sicher gibt es überall auf der Welt Menschen, für die es sich lohnt zu spielen. Aber glaube mir, Sabrina, diese Menschen sind sehr, sehr selten. Was in den großen Städten der Welt in unsere Konzerte kommt, will lediglich dabei gewesen sein, verstehst du? Dieses Publikum geht genauso zum Pferderennen, zu einer Varietéveranstaltung oder zu einer Cocktailparty. Es kommt nicht, um sich der Musik hinzugeben, sondern, um zu sehen und gesehen zu werden.«

Ein Lächeln erhellt seine Züge.

»Nimm meine Worte jedoch nicht allzu ernst! Du stehst noch am Anfang deiner Laufbahn. Geh du den einmal beschrittenen Weg zu Ende!«

»Aber – aber da gibt es doch keinen Unterschied, Wolfhart!«, wirft Sabrina verständnislos ein.

Müde hebt Fürst Wolfhart die Schultern. »Für mich ist das alles ganz anders«, antwortet er. »Ich habe den Nektar des Ruhms gekostet, aber er schmeckt mir heute schal. Dennoch bin ich zu jung, zu kraftvoll, um mich tatenlos in der Einsamkeit zu vergraben.« Mit einem Ruck hebt er den Kopf, sieht Sabrina an und fährt mit erhobener Stimme fort: »Du warst es, die mir meine wahre Aufgabe gezeigt hat. Ich werde Land schaffen und bebauen, wie es meine Väter taten. Und ich werde das Moor auch bezwingen.«

»Oh, Wolfhart!«, flüstert Sabrina.

»Wolfhart …« Wie in einer Vision sieht sie die Heimat vor sich und kann sich lebhaft vorstellen, wie alles sein wird, wenn der Herr von Ravenhill erst einmal begonnen hat, das Moor zu zähmen.

Fürst Wolfhart erhebt sich indes aus seinem Sessel und beginnt im Zimmer hin und her zu wandern.

»Du aber wirst die Stufen des Erfolges emporsteigen, Sabrina, denn für dich ist der Ruhm noch verlockend«, fährt er fort. »Für dich lohnt es sich noch, der Kunst zu dienen, und ich bin der Letzte, der dich in deinem Willen behindern will. Vielleicht war es nicht recht von mir, die Leitung deiner Ausbildung zu übernehmen. Du warst mir zu vertraut, als dass ich ganz unvoreingenommen hätte sein können. Dein Start war gut, aber nun solltest du doch zu Prof. Braman gehen und dort noch ein oder zwei Jahre studieren. Dann sehen wir weiter. Ich bin überzeugt, dass die Tore der Welt dir danach offen stehen.«

Sabrina ist wie gelähmt. Wolfharts Worte haben sie wie Peitschenhiebe getroffen, muss sie doch annehmen, dass er sie mit voller Absicht aus seinem Leben ausschließt, um mit einer anderen Frau glücklich sein zu können.

»Ja«, sagt sie leise. »Ja, Wolfhart, ich – ich werde nach Luzern gehen.«

»Es ist schön, Sabrina, dass du so verständnisvoll bist. Ich habe bereits mit Walter Braman telefoniert, und er nimmt dich gern als Schülerin auf. Ich halte es für richtig, dass du unmittelbar von London aus nach Luzern fliegst. Glückauf, Moorprinzesschen!«, sagt er dann leise und verlässt rasch den Raum.

Erst als die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen ist, begreift Sabrina, dass dies ein endgültiger Abschied war. Laut aufschluchzend schlägt sie beide Hände vor ihr Gesichtchen.

Es kann nicht sein, hämmert ihr Herz in unsagbarer Qual. Ich habe Wolfhart doch lieb, und ich weiß auch, dass ich ihm nicht gleichgültig bin. Während unseres ersten Konzertes in Paris habe ich es ganz deutlich gespürt.

Ein Stöhnen entringt sich ihrer Brust, und heiße, brennende Tränen rinnen aus ihren Augen.

*

Sabrina ist bereits in ihrem blauen Reisekostüm und hält eine Reisetasche in der Hand, als sie Fürst Wolfhart in der Halle des Palace Hotels trifft. Mit einem leichten Neigen des Kopfes nimmt sie den Arm, den er ihr freundlich bietet, und ahnt nicht, welche Kraft es ihn kostet, ruhig und gelassen zu erscheinen. Sie spürt nicht, dass auch ihm der Abschied namenlos schwerfällt, und mit gesenktem Blick geht sie an seiner Seite in den Teeraum des Hotels, wo sie noch eine kleine Erfrischung einnehmen soll.

Sabrina wundert sich selbst darüber, dass ihre Augen trocken und tränenleer bleiben, obwohl heißes Weh ihr das Herz zusammenschnürt. Doch sie will nicht, dass Wolfhart davon etwas bemerkt. Da ihr keine Zeit mehr bleibt, sich von den einzelnen Mitgliedern des Orchesters zu verabschieden, bittet sie leise: »Bestelle bitte allen meine Grüße und meinen Dank für die kameradschaftliche Zusammenarbeit, Wolfhart. Grüße vor allem Rulle von mir.«

»Ach ja, Rulle«, sagt Wolfhart da. »Er ist der Einzige, um den ich mir echte Sorgen mache.«

Sabrina hebt den Kopf. »Warum nimmst du ihn nicht mit aufs Moorschloss?«, fragt sie. »Es gibt dort genug zu tun, und ich glaube, Rulle kann nur glücklich sein, wenn er in irgendeiner Weise für dich tätig sein kann.«

Sekundenlang leuchten Wolfharts Augen auf. »Du hast recht!«, gibt er zurück. »Ich werde Rulle mit mir nehmen! Auf dem Moorschloss haben wir Platz genug, und an Arbeit fehlt es auch nicht. Aber jetzt wird es Zeit, Moorprinzesschen!«, sagt er dann nach einem Blick auf die Uhr, steht auf und ergreift die Reisetasche. »Der Wagen wartet schon auf uns. Selbstverständlich werde ich dich begleiten.«

»Nein!«, wehrt Sabrina ab. »Lass nur!« Der Gedanke, während der langen Fahrtstrecke bis zum Flugplatz noch an der Seite des geliebten, aber für immer verlorenen Mannes sein zu müssen, erfüllt sie mit heißer Angst.

Aber Wolfhart beharrt auf seinem Willen, und so sitzen sie wenig später stumm und still nebeneinander im Fond des Wagens und bemühen sich beide, sich nicht zu verraten.

Schweigend bleibt Wolfhart an ihrer Seite, bis die Passformalitäten erledigt sind, bis Sabrina den Zoll passiert hat und zum Rollfeld geht, auf dem die Maschine bereits wartet.

Dann ist plötzlich auch Rulle da, Rulle im Cut und mit gestreiften Hosen, einen steifen Hut auf seinem grauen schütteren Haar. Er hält ein Veilchensträußchen in der Hand, hinkt auf Sabrina zu und sagt mit einer ganz fremden, halb von Tränen erstickten Stimme: »Viel Glück, Sabrina Mauri. Vergessen Sie den alten Rulle nicht!«

Mit bebenden Händen nimmt Sabrina das Veilchensträußchen entgegen und presst es mit einer rührenden Geste an ihre Lippen. Stumm reicht sie Rulle die Hand. Sie kann jetzt nicht mehr sprechen, denn sie weiß genau, dass sie im gleichen Augenblick ihre tapfere Haltung verlieren würde.

Außerdem geht jetzt alles auch sehr rasch.

Fürst Wolfhart und Rulle bleiben zurück. Sie halten ihre Hüte in der Hand und blicken dem wenig später aufsteigenden stählernen Riesenvogel nach.

»Ja, ja …«, sagt Rulle und wischt sich über die Augen. Er wirkt nun noch hilfloser und verlorener als sonst. Fürst Wolfhart legt leicht seine Hand auf die Schulter des kleinen, gebückten Mannes.

»Wie ist es, Rulle«, fragt er herzlich, »wollen Sie mit mir auf die Heideinsel kommen? Das war Sabrinas Wunsch.«

*

In Luzern, der schönen, lebhaften und malerisch gelegenen Stadt am Vierwaldstätter See, hat der Sommer seinen Einzug gehalten. Vier lange Monate sind ins Land gezogen, seit Sabrina in Luzern eingetroffen ist, aber noch immer ist sie nicht heimisch geworden.

Sie wohnt in einem hübschen kleinen Haus am Rand der Stadt und führt ein durch ihre Pflichten genau geregeltes Leben. Drei Stunden täglich arbeitet sie zusammen mit dem alten Musikprofessor Walter Braman, der sie mit großer Ausdauer, unermüdlicher Energie und eiserner Disziplin unterrichtet. Die übrigen Stunden des Tages verbringt sie in ihrem reizenden Zimmer, arbeitet und übt, und Frau Stüzzli, ihre Wirtin, wundert sich immer wieder darüber, dass ihre junge sympathische Mieterin so ganz in ihrer Arbeit lebt.

An diesem Morgen ist besonders herrliches Wetter. Die Sonne lacht von einem wolkenlosen blauen Himmel herab, und im sorglich gepflegten Vorgarten blühen in verschwenderischer Pracht die Blumen.

»Guten Morgen!«, ruft Frau Stüzzli Sabrina entgegen, die gerade aus ihrem Zimmer kommt. »Es ist Post für Sie eingetroffen. Der Kaffee ist auch schon fertig! Wollen Sie Honig oder Marmelade?«

»Guten Morgen!«, erwidert Sabrina freundlich, aber ernst. »Machen Sie sich nur keine besondere Mühe mit mir, Frau Stüzzli.« Noch während sie spricht, greift sie zu dem weißen Kuvert, das neben dem Gedeck liegt.

Sabrinas zartes Antlitz hat sich in den vergangenen Monaten sonderbar verändert. Es ist reifer geworden, ernster, fraulicher, und um den schönen geschwungenen Mund haben sich unmerklich zwei feine Linien eingegraben, die früher nicht zu sehen waren. Aus dem einstmals unbekümmerten und heiteren Moorprinzesschen ist eine sehr ernste junge Frau geworden.

Unschlüssig hält Sabrina den eben empfangenen Brief in Händen. Sie möchte ihn in Gegenwart Frau Stüzzlis nicht öffnen, brennt aber doch darauf, zu wissen, welche Nachricht er enthält.

Die nette Schweizerin spürt mit feinem Taktempfinden, dass ihre junge Mieterin mit der eingetroffenen Post aus der Heimat allein sein möchte, und zieht sich mit einem freundlichen Gruß zurück.

Sekundenlang zögert Sabrina noch, aber dann öffnet sie rasch das Kuvert, das Tante Tabeas Schriftzüge trägt.

Mein Herzenskind in der Fremde, hier sitze ich nun in der Halle am runden Tisch vor dem Kamin und denke an Dich. Aber viel lieber wäre es mir, wenn ich in die Küche laufen könnte, um für Deinen Empfang einen Baumkuchen zu backen, so riesengroß, wie es noch niemals zuvor einen gegeben hat. Obwohl wir über Leben und Arbeit im Schloss nicht zu klagen haben, kommt mir alles leer und verlassen vor, seit Du fort bist.

Auch die anderen haben Dich nicht vergessen, Fine nicht und Sönke auch nicht. Sogar Steff, der Knecht, fragt oft, wann Du denn nun endlich wieder heimkommst.

Langsam lässt Sabrina den Brief sinken. Tränen verdunkeln ihren Blick, und eine Woge heißen Heimwehs schlägt über ihr zusammen.

»Nie mehr, Tante Tabea«, flüstert sie, »nie mehr kann ich heimkommen.« Krampfhaft schluckt und schluchzt sie, und es währt eine ganze Weile, bis sie sich endlich wieder so weit gefasst hat, dass sie weiterlesen kann, was Fräulein Tabea geschrieben hat.

Liebe Güte, ich müsste ein Buch verfassen, wenn ich Dir berichten wollte, was hier alles geschieht. Ich fürchte, Du wirst Dich gar nicht mehr auf unserer Heideinsel auskennen, wenn du zurückkehrst, denn durch die Pläne unserer Durchlaucht hat sich alles verändert. Es werden riesige Kanäle gezogen, Baggermaschinen machen den ganzen Tag über grauenvollen Lärm, und vorläufig sieht alles noch aus, als wenn gerade ein Erdbeben gewesen wäre. Ich glaube, es wird noch ein ganz gehöriges Stück Arbeit kosten, bis alles tatsächlich so wird, wie es werden soll.

Aber unsere Durchlaucht schafft es schon.

Doch nun das Wichtigste, Sabrina! Ich hätte es fast vergessen, obwohl es das Tagesgespräch im Schloss ist. Das Geheimnis des Falkenverschlages ist gelöst, und zwar war es Rulle, der die Wahrheit ans Tageslicht brachte. Als er dort auf Weisung des Fürsten Ordnung schaffen ließ, entdeckte er drei Eulen, die sich in einem der zahlreichen Mauerwinkel eingenistet hatten. Was Wunder, dass ihr Flattern wie grausiges Schwingenschlagen klang, denn das kleinste Geräusch weckt in solche hohen Gewölben ja immer ein schauriges Echo. Kein Wunder war es auch, dass nichts zu bemerken war, wenn Sönke mit brennenden Kerzen Wache hielt, denn Eulen fürchten ja bekanntlich das Licht. Ich jedenfalls bin sehr froh darüber, dass die Geschichte eine so natürliche Erklärung gefunden hat, und schlafe nun jede Nacht wunderbar.

Noch mehr Ruhe hätte ich allerdings, wenn Du erst wieder bei mir wärst, Sabrina. Lass es nicht mehr so lange dauern, mein Herzenskind, denn Du ahnst ja nicht, wie sehr ich mich nach Dir sehne. Ich schließe Dich in meine Arme, grüße Dich tausendmal und bin immer Deine Tante Tabea.

Unablässig strömen heiße Tränen aus Sabrinas Augen, während sie den Brief behutsam zusammenfaltet. Sie ist in Gedanken in diesem Augenblick meilenweit von Luzern entfernt und zu Hause auf dem Moorschloss, in der Heimat.

*

Der Professor ist ein gütiger weißhaariger Mann, und als Sabrina an diesem Morgen etwas verspätet zum Unterricht kommt, begrüßt er sie freundlich mit der Frage, ob sie vielleicht bei einem Bummel durch das herrliche Sommerwetter die Zeit versäumt habe.

»Nein«, antwortet Sabrina leise, »ich habe Post von zu Hause erhalten.« Sie errötet ein wenig und schweigt, denn es liegt ihr einfach nicht, jemanden in ihr Herz sehen zu lassen.

Aber der alte Professor besitzt sehr große Menschenkenntnis, und es ist ihm während der vier Monate, da er täglich mit Sabrina zusammen gewesen ist, längst klargeworden, dass seine junge Schülerin an einem heimlichen Kummer krankt und grenzenloses Heimweh hat.

Zunächst sagt er jedoch nichts, sondern nimmt den üblichen Unterricht auf. Erst als Sabrina nach drei Stunden Geige und Bogen sinken lässt und sich verabschieden will, meint er plötzlich: »Ich habe meinem Freund Wolfhart geschrieben, dass ich Ihre Ausbildung als beendet betrachte.«

Unwillkürlich zuckt Sabrina ein wenig zusammen. »Ja, aber – aber was soll ich denn tun?«, stammelt sie bestürzt.

Der alte Herr lächelt fein. »Konzerte geben, mein Kind, denn auf dieses Ziel haben Sie doch so unermüdlich und bewunderungswürdig fleißig hingearbeitet.« Ernst ruht der Blick seiner klugen, wissenden Augen auf Sabrinas reinem Antlitz, dann fügt er seinen Worten langsam und bedächtig hinzu: »Oder Sie suchen das Glück an der Seite eines geliebten Mannes …«

Dieser Satz klingt wie eine unausgesprochene Frage, und eine tiefe, verräterische Röte steigt in Sabrinas Wangen. Ehe sie es verhindern kann, rinnen zwei heiße Tränen aus ihren Augen.

Prof. Braman nickt. »Ja, ja«, sagt er, und sein Lächeln vertieft sich, »so ist das nun einmal im Leben. Sehen Sie, mein lieber Freund Wolfhart hat ja auch unendlich unter der Liebe gelitten. Er war noch sehr jung, als er die Ehe mit der schönen, aber herzenskalten Simone schloss. Ich habe ihm damals davon abgeraten, denn ich wusste ganz genau, dass diese Ehe niemals gut enden konnte. Aber Wolfhart war ein echter Feuerkopf, hat seinen Willen durchgesetzt und ist mit sehenden Augen in sein Unglück gerannt.«

Fassungslos starrt Sabrina den alten Herrn an. »Aber – aber ich denke, er war sehr glücklich mit seiner Gattin?«, bringt sie tonlos hervor.

»Wie kommen Sie denn auf diese Idee?«, fragt Walter Braman kopfschüttelnd. »Glücklich soll Wolfhart mit der schönen Prinzessin gewesen sein? Ich bitte Sie! Diese Ehe war eine Hölle und eine einzige Qual, und ich habe Gott gedankt, als sie endlich geschieden wurde, obwohl ich sonst ein ausgesprochener Gegner von Ehescheidungen bin.«

Sekundenlang ist es sehr still. Dann sagt Sabrina leise und ungläubig »Aber Simone Prinzessin von Bernadette hat mir in London doch selbst gesagt, dass sie unendlich glücklich gewesen sei, und – und …«

»Sieh da, die schöne Simone streut noch immer Gift aus!« Prof. Braman nickt. »Nun ja, wenn sie das gesagt hat, dann hat sie eben gelogen. Wissen Sie übrigens nicht, was mit der Prinzessin geschah? Alle Zeitungen haben davon berichtet.«

»Nein«, erwidert Sabrina atemlos vor innerer Erregung, »ich habe kaum mehr in eine Zeitung gesehen, seit ich hier bin.«

Prof. Braman zögert unmerklich, aber dann spricht er es doch aus. »Die Prinzessin verunglückte mit ihrem Wagen in London, als sie von der City zu dem Landsitz einer ihrer Freunde fuhr. Sie konnte aus dem in Brand geratenen Wagen nicht mehr geborgen werden und erlitt einen grauenvollen Tod.«

Sabrina schließt wie geblendet die Augen. »Entsetzlich!«, haucht sie. »Ich kann es gar nicht begreifen!«

»Gewiss ist das entsetzlich«, stimmt Prof. Braman ernst zu, »aber in diesem Falle war es vielleicht eine gerechte Strafe. Wissen Sie denn auch nicht, wie Wolfharts Töchterchen ums Leben kam?«

»Nein«, erwidert Sabrina. »Die Prinzessin hat mir nur gesagt, dass das Kind einem grauenvollen Geschick zum Opfer gefallen ist.«

»Einem Geschick, an dem die schöne Simone einzig und allein die Schuld trug«, vollendet Prof. Braman bitter. »Erst durch jenes schreckliche Geschehen wurden Wolfhart die Augen geöffnet.« Er seufzt. »Sie kennen doch die Fahne der Ravenhills, nicht wahr?«

»Ja, ein silberner Falke über gekreuzten Degen.«

»Ganz recht! Ein silberner Falke über gekreuzten Degen. Sie wissen also vermutlich auch, dass die früheren Herren von Ravenhill große Falkner waren?«

Sabrina nickt stumm.

Er fährt leise fort.

»Nun, Wolfhart teilte diese Leidenschaft seiner Ahnen nicht, denn er war zu sehr mit seiner Kunst beschäftigt, um sich diesen Dingen widmen zu können. Aber im Gedenken an seinen Vater gab er dem letzten Falken das Gnadenbrot. Es war ein stolzer, schöner, kluger Vogel, ich habe ihn während meiner Besuche auf dem Schloss selbst gesehen und bewundert. Als die kleine Anschi zur Welt kam, war der Falke schon alt, aber auch außerordentlich zutraulich, und auch der stolze Falke schien das kleine Menschenwesen in sein einsames Herz geschlossen zu haben.

Eines Tages nun, es war an einem Freitag, spielte Anschi auf der Heide, während ihre Mutter einen französischen Roman las und überhaupt nicht auf das Kind achtete, das sie nie gewollt hatte. Der Falke, von dem alten Sönke zu einem kleinen Flug freigelassen, erspähte seine kleine Freundin und ließ sich in ihrer Nähe nieder, und zutraulich trippelte Anschi zu ihm hin. Nach einer Weile erhob sich der Vogel und flog über das Moor. Das Kind eilte ihm jauchzend nach, überschritt die Heidegrenze und … versank im Moor.«

Sabrina ist zu erschüttert, um ein Wort zu sagen, denn manches wird ihr nun klar: Wolfharts Angst vor dem Moor und sein Hass gegen die Fahne, die das Zeichen des silbernen Falken trägt.

»Begreifen Sie nun«, fragt Prof. Braman langsam in ihre Gedanken hinein, »dass Wolfhart ein einsamer und menschenscheuer Künstler wurde, und dass er sich davor fürchtete, in das Moorschloss zurückzukehren?«

»Ja!«, antwortet Sabrina leise. »Nun begreife ich alles!« Ein tiefer, befreiender Atemzug hebt ihre Brust. Dankbar leuchten ihre Augen auf, als sie dem alten Professor impulsiv die Hand reicht. »Ich habe von all diesen Dingen nichts gewusst. Niemand sprach zu mir je davon. Und was die Prinzessin mir erzählte, klang ganz, ganz anders.«

»Das kann ich mir denken.« Prof. Braman nickt. »Die schöne Simone hat es schon damals immer meisterhaft verstanden, die Wahrheit zu entstellen.« Er lächelt Sabrina herzlich zu und fragt dann: »Und jetzt – wissen Sie jetzt, was Sie beginnen wollen?«

Nur einen einzigen Augenblick zögert Sabrina, dann antwortet sie rasch: »Ja, ich weiß jetzt, was ich zu tun habe! Ich werde heimkehren!«

*

Über der Heide glüht der Sommer. Wolkenlos und blau wölbt sich der Himmel über dem weiten Land, und die Sonne scheint in herrlicher Pracht.

Um das einsame, früher in tiefer Stille versunkene Moorschloss herrscht geschäftiges Treiben. Das lärmende Geräusch von Baggermotoren, Walzen und Kränen ist den Schlossbewohnern zur Gewohnheit geworden.

Der alte Sönke kommt gerade vom Schlosshof her in die Küche und lässt, wie es seine Gewohnheit ist, die Tür offen. »Morgen können Sie Bohnengemüse machen«, sagt er zu Fräulein Tabea. »Ich habe gerade die ersten Bohnen geerntet, das reicht, um ein ganzes Regiment Soldaten damit zu füttern.« Er nimmt eine Prise Tabak aus seiner Dose und fragt: »Wann kommt denn nun endlich das gnädige Fräulein wieder?«

Fräulein Tabea seufzt abgrundtief. »Weiß ich es?«, fragt sie zurück. »Ach, Sönke, manchmal habe ich das Gefühl, sie kommt überhaupt nicht mehr wieder. Auf meinen letzten Brief hat sie mir noch gar nicht geantwortet.«

Auch Fürst Wolfhart vermisst Sabrina sehr, aber er trägt seine Gefühle nicht offen zur Schau, sondern versucht in seiner selbstgewählten Arbeit Vergessen zu finden. Er gönnt sich keine Ruhe und ist vom frühen Morgen an bis in die späte Nacht unermüdlich tätig.

Auch jetzt ist Fürst Wolfhart mitten unter den Arbeitern zu erblicken, denen er seine Weisungen erteilt.

Gerade schaut er sich nach Rulle um, aber der ist nirgendwo zu sehen. Deshalb begibt er sich ins Schloss, wo er den getreuen Alten in der kühlen Halle findet.

»Sie müssen nach dem Moordorf telefonieren, Rulle. Wir brauchen unbedingt weitere Arbeitskräfte, wenn wir die Arbeit bewältigen wollen. Erledigen Sie das gleich!«

Wenig später streift er dann über die Heide.

Mit einem Mal bleibt er jedoch unvermittelt stehen, und sein eben noch heiter und gelöst wirkendes Gesicht verschließt sich im gleichen Augenblick.

Vor seinen Augen taucht die Gestalt Sabrinas auf. Mit einer verzweifelten Gebärde fährt er sich mit der Hand über die Stirn, und Wehmut verschleiert seinen Blick.

Schon am Tag meiner Heimkehr verlor ich mein Herz an sie, sinnt er vor sich hin. Aber ich verbarg meine Liebe unter Schroffheit und Unzugänglichkeit, denn ich war noch sehr der dunklen Vergangenheit verhaftet, um an ein neues Glück glauben zu können. Plötzlich erscheint ihm aber alles, was ihn bisher bewog, Sabrina zu meiden, unsinnig und wesenlos. Gewiss, die Vergangenheit birgt nur tragische Erinnerungen, aber das Leben geht weiter, erkennt er nun. Ich habe kein Recht, mich aus Trauer um die Vergangenheit und Furcht vor dem Glück in die Einsamkeit zu vergraben. Ich spüre, dass Sabrina in der Fremde grenzenlos unter Heimweh leidet. Muss ich sie nicht in die Heimat zurückrufen?

»Moorprinzesschen«, murmelt er nun selbstvergessen und sehnsuchtsvoll. »Moorprinzesschen, wie konnte ich dich nur so lange in der Fremde lassen?«

»Du verzeihst es mir also, dass ich zurückgekehrt bin, ohne dass du mich gerufen hast, Wolfhart?«, fragt in diesem Augenblick hinter ihm eine silberklare, süße und so vertraute Stimme.

Fürst Wolfhart glaubt seinen Ohren nicht zu trauen. Fassungslos wendet er sich mit einem Ruck um.

»Sabrina«, flüstert er, »du – du bist zurückgekommen?«

Unter Tränen lächelnd, blickt Sabrina zu ihm auf.

»Verzeih!«, bittet sie. »Ich habe es in der Fremde nicht mehr ausgehalten. Aber ich wäre nie zurückgekehrt, wenn Prof. Braman mir nicht eröffnet hätte, dass er meine Ausbildung für beendet ansehe.«

»Ich weiß«, murmelt Fürst Wolfhart noch immer fassungslos. »Er berichtete mir darüber, und ich habe angstvoll darauf gewartet, welche Entscheidung du treffen würdest.«

»Ich bin heimgekommen«, sagt Sabrina einfach.

Sekundenlang ist es still zwischen den beiden Menschen, die sich, überwältigt von diesem Wiedersehen, in die Augen blicken.

»Moorprinzesschen«, sagt Fürst Wolfhart endlich, und in seiner Stimme klingen Sehnsucht und Glück mit.

Langsam steigt eine tiefe Röte in Sabrinas schmale Wangen. »Du – du schickst mich nicht mehr fort?«, fragt sie leise und bebend.

»Nie mehr, Moorprinzesschen!«, sagt Fürst Wolfhart ernst. »Nie mehr!«

Und dann werden Sehnsucht und innige Freude übermächtig in ihm. Er streckt seine Arme aus, umfasst Sabrina und zieht sie sanft an sich.

»Mein Kleinod«, flüstert er, »wie viel kostbare Zeit haben wir verloren, wie lange, lange waren wir getrennt.«

»Es war eine schreckliche Zeit, Wolfhart«, haucht Sabrina, und Tränen verdunkeln ihren Blick. »Manchmal habe ich geglaubt, ich müsse vor Heimweh sterben.«

»Mein armes Liebes! Was musst du gelitten haben! Aber glaubst du, ich hätte nicht auch unendliche Sehnsucht nach dir gehabt?«

Behutsam zieht Wolfhart die schmale Gestalt noch fester an sein Herz. Zärtlich neigt er sich über sie, und ihre Lippen finden sich zu einem ersten seligen Kuss.

»Hast du denn nicht gewusst, dass ich dich unsagbar liebe?«, fragt Wolfhart, als ihre Lippen sich voneinander trennen.

Sabrina lächelt unter Tränen. »Du warst so hart, so streng und fremd zu mir, und ich …«

»Das war nur die Angst«, unterbricht Fürst Wolfhart sie leise. »Es war die Angst vor einem neuen Glück.«

Wieder ist es still zwischen ihnen. Eine lange Weile vergeht, bis Sabrina endlich leise sagt: »Ich weiß alles. Durch Prof. Braman habe ich die Wahrheit erfahren, und nur weil ich diese Wahrheit wusste, bin ich heimgekommen, sonst hätte ich es niemals gewagt, zu dir zu kommen, ehe du mich gerufen hättest.«

»Walter Braman«, murmelt Fürst Wolfhart dankbar, »war es, der mich einmal vor einer Ehe mit Simone warnte. Jetzt aber schickt er mir mein Glück ins Haus, und ich will es für alle Zeiten festhalten.«

Wieder neigt er sich über sie, und ihre Lippen finden sich.

Dann aber mahnt er: »Wir müssen zurück zum Schloss. Fräulein Tabea denkt sonst, ich sei im Moor versunken.« Er lacht herzlich, und Sabrina sieht ihn bewundernd an.

»Du bist viel, viel jünger geworden«, stellt sie staunend fest. »Was ist das nur?«

»Das Glück«, antwortet Wolfhart strahlend, »nur das Glück, dich wiederzuhaben, hat mich verwandelt.«

Lachend zieht er Sabrina mit sich, und Arm in Arm schreiten sie dann über die Heideinsel zurück zum Schloss.

»Hat dich noch niemand gesehen?«, forscht er liebevoll, als sie ihr Ziel beinahe erreicht haben.

Sabrina schüttelt das Köpfchen.

»Nein, ich wollte erst ganz allein Wiedersehen mit der Heimat feiern. Ich hoffte, durch die Erinnerung an vergangene glückliche Zeiten den Mut zu finden, dir gegenüberzutreten. Ich wusste ja nicht, ob du mich nicht wieder von dir weisen würdest.«

Zärtlich zieht Wolfhart da Sabrinas schmale Hand an seine Lippen.

»Wie grausam muss ich zu dir gewesen sein«, sagt er leise. »Vergib mir, mein Liebes!«

Aber Sabrina antwortet nur sanft: »Liebe hat nichts zu vergeben, Wolfhart.«

Nur wenig später betreten sie den Schlosshof und treffen dort auf den alten Sönke.

»Grüß Gott, Sönke!«, ruft Sabrina. »Wie geht es Ihnen? Sie haben sich kein bisschen verändert!«

»Ja, sind Sie es denn wirklich und wahrhaftig, gnädiges Fräulein?«, stammelt der alte Mann fassungslos. »Sind Sie heimgekommen? Ach, Sie wissen ja gar nicht, wie sehr wir alle Heimweh nach Ihnen gehabt haben.«

Der Alte wirft seinem Herrn einen sonderbaren Blick zu. Seine weißen buschigen Brauen ziehen sich fragend in die Höhe.

Und dann fragt er auch: »Soll ich nicht die – die Fahne hissen?«

»Ja!«, sagt Fürst Wolfhart tief atmend. »Hissen Sie die Fahne, Sönke! Sie soll nun wieder für immer über dem Schloss wehen.«

Arm in Arm gehen Wolfhart und Sabrina weiter und sehen Fine, die gerade mit zwei schweren Kannen aus der Tür der Milchkammer ins Freie tritt und laut und schallend singt. Plötzlich aber bricht ihr Gesang ab, und eine der Kannen wäre beinahe ihrer Hand entglitten.

»Mein Gott!«, ruft sie dann und macht ungläubige Kulleraugen. »Sind Sie es nun, gnädiges Fräulein, oder sind Sie es nicht?«

»Ich bin es!«, erwidert Sabrina lächelnd und reicht der Magd die Hand.

»Hoffentlich bleiben Sie jetzt immer hier, gnädiges Fräulein?«, fragt Fine gespannt.

»Immer!«, erwidert Sabrina ernst. »So schön die Fremde auch sein kann, glücklich ist man nur daheim.«

Von der Küchentür her ertönt in diesem Augenblick Fräulein Tabeas Stimme: »Wie lange brauchen Sie eigentlich, bis Sie die Milch geholt haben, Fine? Beeilen Sie sich ein bisschen, in der Küche wartet noch genug Arbeit auf Sie!« Ärgerlich pocht Fräulein Tabeas Stock über das Kopfsteinpflaster des Hofes heran, aber dann steht das kleine Fräulein wie erstarrt und blickt Sabrina an: »Sabrina!«, stammelt sie. »Sabrina, bist du – bist du es wirklich, mein Herzenskind?«

»Wirklich und wahrhaftig, Tante Tabea!«, ruft Sabrina, eilt auf das rundliche Fräulein zu und schließt sie fest und innig in die Arme. »Ich bin heimgekommen, Tante Tabea!«

»Und ich habe keinen Baumkuchen gebacken!«, stöhnt Fräulein Tabea. »Dabei sage ich immer: Ein Empfang ohne Baumkuchen ist kein Empfang!« Tränen der Freude rinnen über ihre faltigen Wangen, und ganz fest hält sie Sabrinas Hände, als fürchte sie, ihr Liebling könne wieder fortgehen. »Du bleibst doch jetzt wieder daheim?«, forscht das alte Fräulein ängstlich.

Lächelnd erwidert Wolfhart da an Sabrinas Stelle: »Sie werden sich gleich sehr erschrecken, Tante Tabea, aber Sie müssen sich damit abfinden, dass in Zukunft eine junge Schlossherrin dem Haushalt vorsteht.«

»Gott sei Dank!«, seufzt Fräulein Tabea aus tiefstem Herzensgrund. »Welch ein Glück, dass Sie endlich zur Vernunft gekommen sind, Durchlaucht.«

Hunderterlei Erinnerungen stürmen auf Sabrina ein, als sie am Arm des geliebten Mannes das Moorschloss betritt. Unwirklich und sonderbar fern erscheint ihr die Zeit der Trennung von der geliebten Heimat.

Sie geht neben ihrem Liebsten in die Schlosshalle, wo Rulle auch jetzt noch über seinen Listen sitzt.

»Rulle!«, jubelt Sabrina, eilt auf den kleinen Mann zu und reicht ihm herzlich beide Hände. »Wie fühlen Sie sich im Moorschloss? Ist es nicht wundervoll hier?«

»Doch!«, bestätigt Rulle, nachdem er sein Staunen überwunden hat. »Jedenfalls ist es schöner, hier tätig zu sein, als arbeitslos und gelangweilt in einer trostlosen Bude zu hocken und auf den Beginn der nächsten Tournee zu warten. Übrigens – Tournee«, erkundigt er sich treuherzig. »Wann geht es wieder los, Chef?«

Sekundenlang huscht ein Schatten über Fürst Wolfharts markantes Gesicht.

»Ich habe keine Pläne, Rulle!«, wehrt er kurz ab, aber zärtlich schmiegt Sabrina ihr Gesichtchen an seine Schulter.

»Enttäusche Rulle nicht!«, bittet sie sanft. »Wenn du das Moor bezwungen hast, dann lass uns wieder einmal reisen, sonst stirbt Rulle uns am Ende gar vor Fernweh.«

»Darum geht es gar nicht«, begehrt Rulle auf. »Es geht darum, dass zwei Menschen wie Sie und der Chef einfach nicht das Recht dazu haben, ihre Kunst ganz für sich allein zu behalten.«

»Vielleicht«, sagt Fürst Wolfhart langsam, »vielleicht werden wir doch wieder einmal ein Konzert geben. Was meinst du dazu, Sabrina?«

»Ich bin nur damit einverstanden, wenn wir nie zu lange von zu Hause fortbleiben«, antwortet sie leise und zieht Wolfharts Hand an ihre Wange.

Rulle zieht sich daraufhin still zurück, denn er hat das deutliche Empfinden, dass er jetzt vollkommen überflüssig ist. Fürst Wolfhart lächelt ihm nach, dann zieht er innig Sabrinas zarte Gestalt an sein Herz.

»Nun ist alles gut«, sagt er ruhig und fest. »Wir sind für immer vereint, und schon in wenigen Wochen werden die Hochzeitsglocken läuten. Ich habe dich lieb, Moorprinzesschen, sehr, sehr lieb!«

Sabrina schmiegt sich zärtlich an ihn. »Wir werden beide nie mehr einsam sein«, erwidert sie glücklich, »auch dann nicht, wenn wir einmal in der Fremde sind. Wir haben unsere wahre Heimat gefunden, Liebster, du in meinem und ich in deinem Herzen.«

Während sich draußen unzählige Hände regen, um das düstere Moor zu zähmen und fruchtbares Land zu schaffen, und während drinnen im Schloss zwei Liebende ein inniges, seliges Wiedersehen feiern, hisst der alte Sönke die Fahne.

Seine Augen leuchten glücklich dabei, und mit seinem heiteren Lächeln gibt er das kostbare Tuch dem Spiel des Windes preis.

Langsam entrollt sich die Fahne, und über den kupfernen Zinnen des Moorschlosses erhebt sich zum Zeichen dafür, dass die Schatten der Vergangenheit endgültig überwunden sind, das Wappen der Fürsten von Ravenhill – der silberne Falke über gekreuzten Degen.

Fürstenkrone 11 – Adelsroman

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