Читать книгу Fürstenkrone 11 – Adelsroman - Viola Larsen - Страница 9

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Gräfin Coletta Tihany stand vor dem hohen goldumrahmten Spiegel und warf einen letzten kritischen Blick über ihre schlanke Gestalt im schwarzen Nachmittagskleid, dessen einziger wertvoller Schmuck die dreireihige rosaschimmernde Perlenkette war, die ihr verstorbener Mann ihr noch vor wenigen Wochen geschenkt hatte.

Vor drei Minuten hatte ihr Kammerdiener Ludwig gemeldet, dass ihr Stiefsohn Sandor gekommen sei, den sie vor ein paar Tagen telegrafisch vom Tod seines Vaters benachrichtigt hatte.

Während Graf Sandor im Empfangssalon auf sie wartete, stand sie hier im eleganten Ankleidezimmer und versuchte, eine würdevolle Haltung einzunehmen.

Seit zehn Jahren hatte sie ihren Stiefsohn nicht gesehen. Damals war Sandor siebzehn gewesen und hatte auf der exklusiven Universität von Cambridge studiert, wohin ihn sein Vater geschickt hatte.

Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn war damals schon sehr gespannt gewesen und hatte den endgültigen Bruch bekommen, als sie kurz nach dem Tod von Sandors Mutter als neue Herrin ins Schloss Tihany einzog. Von diesem Tag an gab es nur noch einen kühlen und kurzen Schriftwechsel zwischen Vater und Sohn. Sandor war dann nach seinem Studium nach Kanada gegangen, und die Verbindung war ganz abgerissen.

Gräfin Coletta war nicht ganz unschuldig daran, das wusste sie, und auch jetzt wäre ihr lieber gewesen, wenn der Stiefsohn ferngeblieben wäre. Aber es wäre unverantwortlich gewesen, ihn nicht vom plötzlichen Tod seines Vaters zu unterrichten und sein Kommen zu erbitten.

Zufrieden betrachtete sie ihr Spiegelbild. Sie war dreißig Jahre alt, und sie sah sehr gut aus. Sandor musste jetzt siebenundzwanzig Jahre alt sein. Wenn noch keine andere Frau sein Herz erobert hatte, konnte es ihr doch nicht schwerfallen, ihn um den Finger zu wickeln.

Im Empfangssalon, einem Raum mit dunkelgrünen Samtportieren und einer sonnengelben Sesselgarnitur, ging Graf Sandor Tihany ungeduldig auf und ab.

Mit Befremden hatte er die neue Adresse seiner Stiefmutter zur Kenntnis gekommen. Und mit dem gleichen Befremden war er hier in diesem kleinen Palais erschienen, das in der vornehmsten Gegend der Stadt lag, umgeben von einem großen Garten, der von hohen Eisengittern umzäunt war.

Gedankenverloren starrte er auf verschiedene Gegenstände, die ihm seltsam bekannt vorkamen. Dann wurde ihm ganz plötzlich bewusst, dass dies alles Dinge waren, die ihm aus der Kindheit und frühen Jugend vertraut waren. Alle diese Gegenstände hatten damals Schloss Tihany geziert, in dem er großgeworden war. Die vergoldete Rokokouhr hatte ihren Platz auf dem Marmorkamin im Salon seiner geliebten Mutter gehabt, das Gemälde von Degas hatte im Musikzimmer gehangen, und der riesige Bronzeleuchter hatte in der Halle gestanden.

Wie war sein Vater dazu gekommen, diese Gegenstände aus Tihany zu entfernen und sie hier in seinem neuen Palais aufzustellen? Oder hatte seine Stiefmutter das veranlasst?

In seine Gedanken hinein öffnete sich beinahe lautlos die Tür, und Gräfin Coletta trat ein.

Sie hatte ein Taschentuch in der Hand und hielt es sekundenlang gegen ihre Lippen, als ob sie einen schmerzlichen Aufschrei unterdrücken wollte. Ihre ganze Miene drückte tiefe Trauer aus. Einige Momente stand sie da und mus­terte Sandor, wobei sie feststellte, dass er ein ausgesprochen schöner Mann geworden war. Dann ging sie schwankend auf ihn zu und sank ihm mit einem Wehlaut an die Brust.

Graf Sandor war derart überrascht, dass er wie gelähmt dastand, ehe er ein paar beruhigende Worte murmeln konnte. Er fasste seine Stiefmutter sanft an den Armen und schob sie etwas zurück, denn die Berührung war ihm sehr peinlich.

»Bitte«, sagte er leise, aber eindringlich, »fassen Sie sich, Gräfin.«

Sie hob den Kopf und starrte ihn an.

»Aber, Sandor, warum redest du mich mit Sie an? Das darfst du nicht tun! Es ist entsetzlich genug für mich, jetzt allein zu sein.«

»Ich habe nie das Du gebraucht«, erwiderte er, »wir sind uns fremd. Ich entsinne mich, dass auch Sie nie den Wunsch äußerten, mich mit Du anzureden.«

»Ach, das war damals«, entgegnete sie mit einer wegwerfenden Geste, »da warst du auch so abweisend zu mir. Vergessen wir das alles, bitte! Der Schmerz um deinen Vater, meinen geliebten Gatten, muss uns vereinigen. Ich bin so froh, dass du da bist.«

Ihre Augen hingen an seinem rassigen Gesicht mit den graublauen Augen und dem dunklen Haar.

»Du bist allein gekommen, Sandor. Bist du nicht verheiratet oder verlobt?«

Sein braungetöntes Gesicht verfins­terte sich leicht.

»Ich hatte wenig Zeit, mich nach einer passenden Lebensgefährtin umzusehen. Und eine leichtfertige Wahl kann ich nicht treffen, denn ich bin nicht mit Reichtümern gesegnet.«

Sie lachte leise auf, sah seinen erschreckten Blick und wurde sofort wieder ernst.

»Du bist doch nicht arm«, meinte sie und fasste nach seinem Arm. »Komm, ich werde dir das schönste Gästezimmer des Hauses zeigen! Dort machst du dich etwas frisch, und dann essen wir eine Kleinigkeit, ja?«

»Wo ist mein Vater aufgebahrt?«, fragte er dumpf.

»In der Friedhofskapelle natürlich. Dorthin fahren wir später. Ach, es war entsetzlich für mich! Ich war so allein. Nie hätte ich geglaubt, dass Stefan mich so früh verlassen würde.«

Graf Sandor sah seine Stiefmutter prüfend an. Sie war immer noch sehr hübsch, ja, beinahe auffallend reizvoll. Das Schwarz stand ihr gut, und ihr dunk­les, schimmerndes Haar lag in weichen Wellen um den Kopf. Sie gefiel ihm besser als damals. Oder lag es da­ran, dass der Tod seines Vaters ihn versöhnlicher stimmte?

Sie schien wirklich sehr um den Vater zu trauern.

»Sie hätten bedenken müssen, dass mein Vater fünfundzwanzig Jahre älter war als Sie.«, sagte er sanft.

»Warum kannst du dich nicht an das Du gewöhnen«, entgegnete sie, während sie seinen Arm festhielt und ihn hinausführte. »Lass uns gute Freunde sein und den alten Hader vergessen.«

Ihre braunen Samtaugen flehten ihn an.

»Wenn du es willst«, murmelte er nachgebend.

Sie atmete sichtlich auf.

Das Gastzimmer war wirklich sehr gemütlich. Sein Koffer war bereits ausgepackt, Blumen standen auf dem kleinen Tisch, und einige ausgesuchte Bücher lagen zum Lesen bereit.

»Sehr aufmerksam von dir«, bemerkte er, und fast war er nahe daran, sich zu schämen, dass er sie nie gemocht hatte.

»Na siehst du«, schmeichelte sie. »Ich lasse dich ein Stündchen allein. Wir speisen dann unten im Esszimmer.«

»Wohnt ihr hier schon lange? Hat mein Vater dieses Palais erworben?«, fragte er, als sie schon an der Tür war.

»Seit einem Jahr etwa haben wir uns jeweils einige Monate hier aufgehalten. Dein Vater konnte es günstig erwerben. Natürlich musste eine Menge Geld hi­neingesteckt werden. Es war arg vernachlässigt.«

Sie winkte ihm noch kurz zu, und ehe er weitere Fragen an sie richten konnte, war sie hinausgeschlüpft.

Er brauchte nicht lange, um sich von den Strapazen der Reise zu erholen. Eine seltsame innere Unruhe hatte ihn erfasst. Wieso hatte sein Vater dieses Palais gekauft, da er doch Schloss Tihany und das etwa sieben Kilometer von diesem entfernte Jagdschloss Erlau besaß? Die Erhaltung von drei Schlössern muss­te doch riesige Summen verschlingen.

Graf Sandor verließ sein Gastzimmer. Er schlenderte die Gänge entlang, durchmaß eine langgestreckte Zimmerflucht und stellte immer wieder mit Betroffenheit fest, dass wertvolle Gemälde, kostbare Porzellane und Teppiche aus Schloss Tihany jetzt dieses Haus hier schmückten.

Die Gräfin erwartete ihn im Esszimmer, das mit dunklen Mahagonimöbeln ausgestattet war.

Auf seine Bitte hin erzählte sie ihm von den letzten Stunden seines Vaters.

»Die Trauerfeier wird doch sicher in Tihany stattfinden, nicht wahr?«, fragte Graf Sandor.

Seine Stiefmutter schüttelte den Kopf und sagte: »Nein! Sie findet hier statt. Wir haben hier eine Menge guter Freunde. Die kleine Kapelle in Tihany würde die Trauergemeinde nicht fassen. Erst die Urne wird im Erbbegräbnis von Tihany beigesetzt. Dein Vater wollte es so, und ich werde seinen letzten Wunsch getreulich erfüllen. Verstehst du das?«

»Ja, natürlich«, murmelte er tonlos.

»Tihany wird dir allein gehören, Sandor. Das weißt du doch, nicht wahr? Da aus meiner Ehe mit deinem Vater leider keine Kinder entsprossen sind, fällt Tihany an dich.«

Graf Sandor verfärbte sich.

»Daran habe ich nie mehr gedacht. Ich nahm an, dass du dort leben würdest und dass es dir auch so lange gehört.«

»Nein! An diesem Erbfolgerecht konnte niemand etwas ändern.«

»Das tut mir leid«, sagte er hastig, »ich habe auf keinen Fall die Absicht, dich dort zu verdrängen.«

Gräfin Coletta lachte leise auf.

»Habe keine Angst, ich werde nicht dort leben. Ich habe hier mein Palais, das mir dein Vater zum Geschenk gemacht hat. Es gefällt mir. Für mich wäre die Einsamkeit in Tihany jetzt besonders bedrückend. Hier habe ich Menschen um mich, die mich in meinem großen Schmerz aufrichten. Ich werde dich öfter besuchen kommen, wenn du magst.«

»Du bist jederzeit willkommen«, sagte er offen.

»Wie lieb von dir.« Sie fuhr zart über seine Hand. »Ich bedaure sehr, dass wir all die Jahre so wenig voneinander gehört haben. Aber du warst ein großer Trotzkopf, Sandor. Dein Vater war einfach noch zu jung, um allein zu bleiben. Du bist jetzt älter geworden und wirst das nötige Verständnis dafür aufbringen.«

»Ja, natürlich«, sagte er knapp.

Sie lächelte ihn gewinnend an.

»Ich vermute, du wirst auch nicht immer auf Tihany leben wollen und es höchstens zu deiner Sommerresidenz machen. Oder hast du die Absicht, deinen Beruf in Kanada aufzugeben.«

»Ich weiß nicht«, gestand er. »Der Tod meines Vaters kam so überraschend für mich, dass ich bisher keine Zeit fand, über meine Zukunft nachzudenken.«

»Das braucht auch seine Zeit. Überstürze nichts. Und wenn du Rat suchst, lieber Sandor, so stehe ich ganz zu deiner Verfügung. Ich bin zwar nur ein paar Jährchen älter als du, aber eine Frau sieht manchmal weiter als ein Mann.«

Wieder fuhr sie sanft liebkosend über seinen Handrücken.

*

Die nächsten beiden Tage vergingen für Graf Sandor wie ein unangenehmer Traum. Er empfand wohl echte Trauer um den Vater, aber diese Gefühle hielten nicht allzu lange an, denn er hatte seinen Vater Jahre hindurch nicht gesehen und zu wenig Liebe von ihm erfahren.

Die Trauerfeier war für seine Begriffe viel zu pompös. Manchmal hatte er während der Zeremonie das Gefühl, als ginge es seiner schönen Stiefmutter nur darum, eine allseits bewunderte Rolle zu spielen. Sie stand neben ihm und stützte sich auf seinen Arm, als müsse sie jeden Moment befürchten umzufallen.

Sie bat ihn nach der Feier inständig, doch noch ein bis zwei Tage bei ihr zu bleiben, und er willigte notgedrungen ein, obwohl es ihn mit Macht nach Tihany zog.

Sie war rührend um ihn bemüht und versuchte, ihm jeden Wunsch von den Augen abzulesen, sodass er im Stillen Abbitte leistete, dass er sie bisher so ungerecht behandelt hatte.

Graf Sandor hatte etwa hundert Kilometer zu fahren, bis er den kleinen Ort Neuburg erreichte, der etwa vier Kilometer von Schloss Tihany entfernt lag und die einzige Bahnstation weit und breit war.

Als er in der prallen Mittagssonne ausstieg und den Bahnhof verließ, bedauerte er, keinen Wagen vom Schloss bestellt zu haben, der ihn hier abholte.

Er hatte seine Stiefmutter gebeten, mit ihm zu fahren, damit sie Gesellschaft habe, aber Gräfin Colette hatte abgelehnt. »Ich würde in Tihany zu sehr an alles erinnert werden«, hatte sie erklärt und tief aufgeseufzt. Und er hatte sofort Verständnis für ihre Haltung gezeigt.

Seinen Koffer gab er bei der Gepäckaufbewahrung ab. Dann trat er auf die Straße und bog kurz hinter dem letzten Haus in einen schmalen Feldweg ein.

Der Ort hatte sich verändert. Neue Häuser waren gebaut worden, einige neue Plätze entstanden, die ein Brunnen und Blumenrabatten zierten.

Aber der Feldweg war noch derselbe. Er führte zwischen Wiesen und Äckern hindurch, die ab und zu von einer kleinen Waldung unterbrochen wurden.

Das Herz ging dem jungen Grafen auf, denn all dies gehörte zu seiner Heimat, war ihm vertraut von Kindheit an. Die zehn Jahre seiner Abwesenheit kamen ihm heute wie ein Tag vor. Als sei es gestern gewesen, blieb er stehen, blickte über die Tannenschonung hinweg und glaubte das rote Ziegeldach des Mitteltraktes von Tihany zu sehen.

Er seufzte auf und beschleunigte seine Schritte, bis er heftig atmend vor der hohen Mauer stand, die den Park von Tihany umsäumte. Er musste noch etwa hundert Schritt gehen, bis er das hohe Eisentor erreicht hatte.

Die freudige Erwartung, die ihn die ganze Zeit erfüllt hatte, wich jedoch jäh namenlosen Entsetzen.

Der Park war nicht mehr sorgsam gepflegt wie einst, sondern verwildert, die Rasenflächen nicht geschoren, keine Blumen blühten in bunter Fülle, und das riesige Wasserbecken lag still und öde vor ihm.

Graf Sandor stand einige Minuten wie vom Blitz getroffen. Dann öffnete er die schwere Eichentür und betrat den Park. Niemand war zu erblicken.

Langsam schritt er durch die breite Anfahrtsallee auf das riesige Schloss zu, aus dem alles Leben gewichen schien. Kein Fenster war geöffnet, das große Eingangsportal war fest geschlossen.

Erst stand er unschlüssig vor der breiten Freitreppe und sah zum Portal hinauf. Dann lief er die Stufen hinauf und setzte die Messingklingel in Bewegung. Sein Herz pochte wie rasend, während er auf jedes Geräusch achtete. Aber es näherten sich keine Schritte, kein Fenster wurde geöffnet. Es blieb totenstill.

Graf Sandor rief: »Hallo!« Er klingelte wieder und wieder, aber es tat sich nichts.

Gab es denn kein Personal mehr in Tihany? Träumte er, oder narrte ihn ein Spuk?

Er schritt die gesamte Front des alten Schlosses ab. Aber niemand war zu sehen, niemand gab Antwort auf seine Rufe. Das Schloss schien von allen Menschen verlassen. Auch die Seiteneingänge und das Gartenportal waren fest verschlossen.

Graf Sandor setzte sich erschöpft auf eine der weißen Marmorbänke, die den Parkweg zierten. Sein Auge glitt über den hinteren Teil des Parks, der genauso ungepflegt war wie die vordere Seite.

Warum hatte seine Stiefmutter ihn nicht darauf vorbereitet, dass Schloss Tihany offensichtlich unbewohnt war? Sie wusste es doch! Aber warum das alles? Das Schloss musste doch saubergehalten werden. Oder hatte sie das Personal beurlaubt, solange sie in ihrem Stadtpalais wohnte? Ja, so musste es sein.

Er beruhigte sich wieder etwas, aber dass seine Stiefmutter ihn hierherfahren ließ, ohne ihn einzuweihen, war unverantwortlich. War sie so in ihren Schmerz um den Verlust des Gatten verstrickt, dass sie das vergessen hatte?

Was sollte er tun? Zurückfahren? O nein, nun war er einmal hier und wollte die Dinge klären. Irgendjemand musste einen Schlüssel zum Schloss haben. Auch das hätte die Gräfin ihm sagen müssen.

Zu seiner Erleichterung fiel ihm der Gutsbetrieb ein, der zum Schloss gehörte und zu dem ein Fahrweg von etwa zweieinhalb Kilometern führte. Hoffentlich war das Gut wenigstens bewohnt.

Seufzend erhob er sich und machte sich auf den Weg, der durch ein kleines Wäldchen führte, das kurz vor dem Wohngebäude des Gutes endete.

Schon von Weitem hatte er das Wiehern der Pferde und das Gegacker des Federviehs gehört, das vom Rattern der Traktoren auf den Feldern mehrfach übertönt wurde. Gott sei Dank, hier war noch Leben, hier wurde offenbar genauso gearbeitet wie früher.

Die Tür zum Wohnhaus von Gutsverwalter Lindemann stand offen. Das Haus war frisch gestrichen, Blumenkäs­ten hingen an den Fenstern.

Zögernd betrat Graf Sandor die matt erhellte Diele des Hauses. Im gleichen Moment kam Frau Lindemann aus der Küche. Sie blieb wie erstarrt stehen, als sie den Fremden erblickte, und dann schrie sie auf:

»Mein Gott, Herr Graf! Sind Sie es wirklich?« Sie rannte ins Wohnzimmer und rief: »Gustav, komm schnell! Der Herr Graf ist da! Mein Gott, nein, so etwas!«

Dann stürzte sie wieder auf Graf Sandor zu und griff nach seinen Händen.

»Herr Graf«, stammelte sie, während Tränen über ihr Gesicht rannen, »dass Sie wieder da sind! Nein, das ist zu viel für mich. Ich muss einfach weinen. Verzeihen Sie mir.«

Sie trocknete ihre Tränen an der Küchenschürze und sah verlegen weg. Inzwischen war auch ihr Mann herausgekommen. Er stand ebenso verdattert da und starrte den Grafen an. Er war genauso gerührt wie seine Frau, versuchte aber, es zu verbergen, was ihm nur sehr schlecht gelang. Er bat den Grafen ins Wohnzimmer und bot ihm in einem Sessel Platz an.

»Warum haben Sie mir nicht geschrieben, Herr Graf? Ich hätte Sie abgeholt. Waren Sie etwa zuerst im Schloss?«

Entsetzt sah er den Grafen an.

»Ja, natürlich«, murmelte Graf Sandor. »Würden Sie mir bitte eine Erklärung geben, Herr Lindemann?«

»Das muss ich ja wohl, Herr Graf. Zuerst aber ruhen Sie sich mal etwas aus. Meine Frau wird Ihnen eine Tasse Kaffee machen. Kommen Sie direkt von Kanada, Herr Graf?«

»Nein, ich war im Palais meiner Stiefmutter. Sie können sich denken, dass mich das alles sehr befremdet hat. Ist denn kein Mensch in Tihany?«

Herr Lindemann senkte den Blick. Das Eintreten seiner Frau mit einem Tablett, auf dem eine Kanne Kaffee und frischer Kuchen standen, enthob ihn zunächst einer Antwort.

»So, Herr Graf«, sagte er, »trinken Sie. Sind Sie denn den ganzen Weg von Neuburg hierher zu Fuß gegangen? Ich hätte doch den Wagen geschickt. Aber ich dachte, Sie kämen erst in vierzehn Tagen zur Beisetzung der Urne Ihres Herrn Vaters. Ich wollte bis dahin im Park und im Schloss ein wenig Ordnung machen. Den Schlüssel habe ich ja noch. Tut mir schrecklich leid, Herr Graf. Das muss wirklich eine böse Überraschung für Sie gewesen sein. Ich hätte Sie gern langsam darauf vorbereitet, dass Ihr Herr Vater mit seiner jungen Gattin seit einem Jahr nicht mehr auf Schloss Tihany gelebt hat.«

»Warum?«, fragte Graf Sandor außer sich.

Herr Lindemann zuckte mit den Achseln.

»Ich habe mir meine eigenen Gedanken darüber gemacht. Ob sie stimmen, weiß ich nicht. Ich dachte, die Gräfin hätte Ihnen den Grund dafür genannt.«

»Nein«, erwiderte Graf Sandor hart. »Sie hat mich völlig im Unklaren darüber gelassen. Ich möchte ins Schloss. Bitte, geben Sie mir die Schlüssel!«

»Ich werde Sie begleiten, Herr Graf. Während der Fahrt werde ich Ihnen dann meine Ansicht über den Wegzug Ihres Herrn Vaters darlegen. Meine Frau hat immer noch Angst, dass die Gräfin uns schaden könnte. Aber ich weiß, dass Sie jetzt allein über Tihany zu bestimmen haben. Nicht wahr, so ist es doch?«

»Ja, das ist richtig, aber ich weiß gar nicht, ob es mich noch glücklich macht. Gehen wir! Ich werde erst ruhiger sein, wenn ich in Tihany bin. Läuft der Gutsbetrieb wie sonst, Herr Lindemann?«

»Na, so einigermaßen. Ich gebe mir wahrlich alle Mühe, möglichst viel he­rauszuschlagen. Ihr Herr Vater war zwar nie zufrieden mit den Erträgen, aber wenn nichts hineingesteckt wird, kann man auch nichts herausholen. Sie können sich in den nächsten Tagen von allem überzeugen, Herr Graf. Ich habe mit den wenigen Landarbeitern, die hiergeblieben sind, so viel Ackerland bestellt wie nur möglich war.«

»Wenige Leute? Wo sind die anderen geblieben?«

»Alle abgewandert, Herr Graf. Aber nur weil Ihr Herr Vater die Leute zu schlecht bezahlt hat. Es tut mir leid, über einen Toten so zu sprechen, aber Tatsachen kann man nicht verschweigen.«

Graf Sandor war blass geworden. Er erhob sich.

»Alles, was ich von Ihnen höre, versetzt mich in immer größeres Erstaunen, Herr Lindemann«, murmelte er.

In einem alten klapprigen Auto fuhr der Gutsverwalter den jungen Grafen zum Schloss.

»Herr Graf«, begann Gustav Lindemann, »ich will Sie nicht gegen Ihre Frau Stiefmutter aufhetzen, das liegt mir fern, aber ich mache Sie schon jetzt darauf aufmerksam, dass eine Menge wertvoller Gegenstände vom Schloss in das neue Stadtpalais gewandert ist. Seit einem Jahr war die Gräfin nicht mehr hier, und Ihr Herr Vater kam nur, um die Gelder für die Ernteerträge abzuholen.«

Graf Sandor lehnte sich etwas zurück. Um seine Mundwinkel zuckte es.

»Sagen Sie mir alles, Lindemann, ich bin auf das Schlimmste gefasst.«

»Die Gräfin wird sich an uns rächen, wenn ich sie so vor Ihnen bloßstelle, Herr Graf. Ich und meine Frau haben nie Kontakt zu ihr gefunden. Das heißt, sie hat auch keinen mit uns gesucht. Sie war hier immer eine Fremde, und das hat sie auch gefühlt. Schon in den ers­ten Jahren der Ehe mit Ihrem Herrn Vater war sie ständig auf Reisen. Nie hat sie sich hier wohlgefühlt. Und ich glaube, sie hat auch von Anfang an darauf bestanden, die Wintermonate in der Stadt zu verbringen. Und als sie im Lauf der Jahre merkte, dass sie keine Kinder bekommen würde und das Schloss daher an Sie fallen würde, hat sie nicht eher geruht, bis Ihr Vater ihr ein neues hübsches Schloss kaufte, in dem sie allein die Herrin war. Bevor sie Tihany für immer verließ, musste noch allerlei mitgehen. Sie werden dagegen nichts unternehmen können, Herr Graf. Diese Frau hat genau gewusst, was sie wollte. Und wenn sie ein Kind bekommen hätte, wäre auch Tihany für Sie unerreichbar geworden.«

»Warum haben Sie mir das nicht einmal geschrieben, Lindemann? Vielleicht wäre ich dann doch einmal gekommen und hätte mit meinem Vater gesprochen.«

»Solange Ihr Vater hier war, konnte ich nichts tun, Herr Graf. Auch Sie hätten nichts erreicht, denn Ihr Vater war seiner zweiten Frau völlig hörig. Er hatte sich unter diesem Einfluss so verändert, dass man nicht mehr vernünftig mit ihm reden konnte. Er lebte ständig in der Angst, diese Frau an einen jüngeren Mann zu verlieren, und legte ihr alles zu Füßen, was er hatte. Die Löhne der Arbeiter wurden gekürzt, für Düngemittel wurde nur noch die Hälfte ausgegeben, wertvolle Pferde wurden verkauft. Und das alles nur, um diese Frau zufriedenzustellen, deren Wünsche immer unmäßiger wurden. Ich habe das alles mit banger Sorge beobachtet, aber ich konnte nichts dagegen tun.«

»Und ich hatte gestern sogar noch Mitleid mit ihr«, murmelte Graf Sandor tonlos, »ich glaubte ihr den Schmerz um meinen Vater und ihre Großzügigkeit mir gegenüber.«

»Sicher wird sie um Ihren Vater trauern, Herr Graf, denn es wird schwer für sie sein, sich etwas einzuschränken. Die Erträge von Tihany gehen nun an Sie, laut Erbfolgegesetz, das mir bekannt ist.«

»Ich bin nicht gewillt, mir Gedanken über die Zukunft meiner Stiefmutter zu machen«, warf Graf Sandor hart ein.

»Das sollen Sie auch nicht. Ihre Stiefmutter weiß genau, womit sie jetzt zu rechnen hat. Die hat ihre Schäfchen ins Trockene gebracht, verlassen Sie sich darauf! All das, was sie mitgenommen hat, Gemälde, Teppiche, Porzellan und Silber, stellt einen hohen Wert dar. Und dann wird ja auch bestimmt noch ein ganz hübsches Sümmchen vom Verkauf des Jagdschlosses Erlau übriggeblieben sein.«

Graf Sandor fuhr herum. Seine Augen weiteten sich in namenlosem Entsetzen.

»Erlau ist verkauft? Das kann nicht sein, Lindemann! So etwas kann mein Vater nicht getan haben! Erlau war der Lieblingsaufenthalt meiner Mutter. Ein paradiesisches Fleckchen Erde, wo ich glückliche Kindheitstage verbracht habe.«

Herr Lindemann senkte den Kopf.

»Ich dachte, Ihr Vater hätte es Ihnen mitgeteilt und Ihnen einen Teil des Erlöses überwiesen, Herr Graf.«

»Nichts weiß ich, und nichts habe ich bekommen!«, stieß der Graf außer sich hervor. »Niemals hätte ich meine Einwilligung zu diesem Verkauf gegeben. Mein Gott, Lindemann, ist das wirklich wahr?«

»Leider, Herr Graf. Auch mir hat das Herz geblutet. Aber Ihre Stiefmutter mochte das Jagdschloss nie. Sie sagte, es sei eine düstere Räuberhöhle, in der nur Ratten und Mäuse hausten. Die grauen Mauern und die Einsamkeit dort erdrückten sie. Ich war öfter Zeuge, wie sie ihrem Gatten stets zusetzte, das Jagdschloss zu verkaufen. Die wertvolls­ten Möbelstücke und Gegenstände hatte sie auch dort schon herausgeholt mit der Begründung, die Sachen würden in den feuchten Mauern von Erlau Schaden leiden.«

»Sie standen seit Jahrhunderten dort, und es ist ihnen nie etwas geschehen!«, erklärte Graf Sandor empört.

»Eines Tages, etwa vor eineinhalb Jahren, hat sie einen Käufer gefunden, und Ihr Vater hat das Jagdschloss samt dem darin befindlichen Mobiliar verkauft.«

»An wen?«, fragte Graf Sandor, heiser vor Erregung.

»An einen reichen Bankier aus der Stadt, einen Baron, der vor nicht allzu langer Zeit den Adelstitel erworben hat, weil er allerlei gestiftet hat. Er heißt Waldstein und muss über enorme Gelder verfügen, denn das Jagdschloss wurde in sechs Monaten nach seinem Geschmack umgebaut und eingerichtet. Allerdings nur innen, denn das Äußere des Schlosses musste unverändert bleiben. Es dient der Familie von Waldstein als Sommerresidenz. Der Baron soll einen Sohn und eine Tochter haben. Ich persönlich kenne nur ihn und muss sagen, dass er eigentlich einen recht sympathischen Eindruck macht.«

In dumpfes Schweigen versunken, hatte Graf Sandor zugehört.

Sie waren inzwischen angekommen, aber er hatte es nicht einmal bemerkt.

»Herr Graf«, mahnte Gustav Lindemann ihn leise, »wir sind da! Es tut mir bitter weh, Ihnen solche Eröffnungen gemacht zu haben, aber ich weiß nicht, ob Sie in der Lage gewesen wären, das Jagdschloss auf die Dauer zu erhalten. Was hier in Tihany an Geldern eingeht, reicht nicht dafür aus.«

»Mein Vater war ein reicher Mann«, brach es aus Graf Sandor verzweifelt hervor.

»Er war es, Herr Graf. Aber die Ansprüche seiner zweiten Frau haben sein Vermögen fortdauernd verkleinert. Und wenn er noch ein paar Jahre gelebt hätte, wär er noch ärmer geworden.«

»Diese Schlange!«, presste Graf Sandor hervor.

Er erhob sich, als hingen Bleigewichte an seinen Füßen. Vor dem Wagen blieb er stehen und ließ seine Augen über die Front des Schlosses gleiten. Ob ich das alles erhalten kann?, fragte er sich bang.

Gustav Lindemann war vorangegangen und öffnete das schwere Portal.

Graf Sandor betrat die große Eingangshalle, in die gedämpftes Licht fiel. Ein Geruch nach Staub und Moder schlug ihm entgegen.

Graf Sandor blieb minutenlang stehen, um seine Fassung wiederzugewinnen. Herr Lindemann zog die Vorhänge zurück, um das Tageslicht hereinzulassen, und er öffnete die Fenster, um frische Luft einströmen zu lassen.

»Morgen muss eine der Mägde hier Ordnung schaffen, Herr Graf, und vor allem Ihre Zimmer herrichten.«

»Ja, ja«, erwiderte Graf Sandor halblaut. Verloren hing sein Blick an den wenigen Möbeln, die seine Stiefmutter in der Halle zurückgelassen hatte. Sogar die wertvollen Brücken, die vor den Sitzgarnituren gelegen hatten, waren verschwunden.

Herr Lindemann beobachtete ihn unauffällig.

»Es tut mir leid, Herr Graf«, murmelte er mehrfach.

»Aber, Lindemann, wofür entschuldigen Sie sich. Sie können nichts dafür, dass mein Vater einer solchen Frau hörig gewesen ist. Lassen Sie mir eine Stunde Zeit, um durch alle Räume zu gehen.«

»Natürlich, Herr Graf. Ich sehe inzwischen hier unten nach, was in den nächsten Tagen und Wochen alles zu tun ist. Sie bleiben doch hier, Herr Graf?«

»Ich weiß nicht, ob ich hier noch einmal glücklich werden kann. Mir ist es, als sei das Schloss gestorben und meine Kindheit und Jugend mit ihm. Es liegt mir wie eine Zentnerlast auf der Seele.«

»Überschlafen Sie erst einmal alles, Herr Graf«, murmelte Gustav Lindemann erschüttert.

Graf Sandor stieg langsam nach oben. Er durchwanderte die riesigen Zimmerfluchten, die Säle, in denen die großen Feste stattgefunden hatten. Überall sah es aus, als ob eine Diebesbande alles Wertvolle habe mitgehen lassen.

Nur in seinen eigenen früheren Räumen war nichts verändert. Vor diesen Räumen hatte die Habgier seiner Stiefmutter offenbar haltgemacht. Das Bild seiner geliebten Mutter hing noch über seinem Schreibtisch, und sie lächelte auf ihn herab. Die Erinnerung an die Vergangenheit überkam ihn hier am stärksten und presste ihm das Herz schmerzhaft zusammen.

Er öffnete Schubladen und Schränke. Überall lag eine dicke Staubschicht auf Möbeln und Gegenständen.

Wilde Verzweiflung und Hass gegen die Frau, die ihm nicht nur die Liebe des Vaters, sondern auch einen Teil seiner Heimat und seines Erbes genommen hatte, packten ihn derart, dass er sich aufstöhnend gegen eine Wand lehnte und das Gesicht mit den Händen bedeckte.

Minuten vergingen, bis er sich wieder etwas gefasst hatte und hinuntergehen konnte. Lindemann wartete bereits in der Halle auf ihn und sah ihm voller Bangen entgegen.

»Ich werde Ihnen morgen einen genauen Bericht geben, Herr Graf, und Ihnen alle Rechnungsbücher vorlegen, damit Sie sehen, wie es mit Ihrem Besitz steht. Sie werden für das Schloss wieder Personal einstellen müssen, mindestens drei bis vier Leute. Und auch Landarbeiter brauchen wir noch, um die Erträge zu steigern. Ich habe ganze Landstriche nicht bestellen können.«

»Ja, ja.« Graf Sandor fuhr sich über die Stirn. »Ich verstehe noch nicht viel von all diesen Dingen, aber ich werde mir große Mühe geben. Es kam so plötzlich.«

»Machen Sie sich darüber keine Gedanken, Herr Graf. Das schaffen wir bestimmt gemeinsam. Sie dürfen natürlich keine großen Ansprüche stellen und müssen vorerst bescheiden leben.«

»Wenn es weiter nichts ist, Lindemann. Das fällt mir nicht schwer. Ich bin es seit Jahren gewöhnt, meine eigenen Bedürfnisse zurückzustellen.«

Nach einem kurzen Gang durch den verwilderten Park fuhren sie zum Gutshaus zurück.

Frau Lindemann hatte im Wohnzimmer den Tisch festlich gedeckt. Alles war mit so viel Liebe hergerichtet, dass sich die Stimmung des jungen Grafen wieder etwas hob. Sie hatte ihm für die Nacht sogar schon das Fremdenzimmer richten lassen und fragte ihn, ob er noch besondere Wünsche habe. Nein, er hatte keine. Er war dankbar und froh, dass ihn Menschen umgaben, die er aus seiner Jugendzeit kannte und schätzte.

»Was macht Ihre Tochter?«, fragte er. »Damals war sie elf Jahre, als ich wegging. Jetzt wird sie eine junge Dame sein.«

Die Augen der beiden Lindemanns leuchteten auf.

»Ja, Margret ist unser ganzer Stolz. Sie will Lehrerin werden und besucht die Pädagogische Hochschule. Sie werden sie kaum wiedererkennen. Sie ist sehr hübsch geworden, Herr Graf.«

Frau Lindemann ging ins Nebenzimmer und holte ein eingerahmtes Bild.

»Das ist sie«, sagte sie und reichte dem jungen Grafen die Fotografie.

Er blickte in ein hübsches, lachendes Mädchengesicht mit hellen Augen.

»Sie ist wirklich reizend«, bemerkte er, als er das Bild zurückreichte. »Da können Sie aber stolz sein, eine so nette Tochter zu haben. Sie wird doch sicher einmal nach Hause kommen in den Ferien, nicht wahr?«

»Natürlich, und sie wird sehr überrascht sein, Sie wiederzusehen, Herr Graf. Wir haben ihr gestern den Tod Ihres Vaters mitgeteilt und angedeutet, dass Sie bestimmt zum Begräbnis kommen würden.«

Graf Sandor ging früh zu Bett. Die Lindemanns hatten Verständnis dafür, dass er allein sein wollte. Er war sehr müde, und er schlief sofort ein.

Auch die nächsten Tage blieb er im Gutshaus, bis im Schloss wenigstens eine Reihe von Räumen bewohnbar gemacht worden waren.

Herr Lindemann fuhr mit ihm über die Felder und Wiesen, besichtigte mit ihm die Viehherden und die Obstplantagen. Nachmittags saßen sie über den Büchern, damit der Graf einen umfassenden Überblick über Ein- und Ausgaben erhielt.

Zwei Tage später siedelte er in das Schloss seiner Väter über, aber die Leere des riesigen Bauwerks legte sich ihm wie ein Alb auf die Brust.

Vorerst sollte er die Mahlzeiten noch im Gutshaus einnehmen, bis sich eine Köchin und ein Hausmädchen für ihn gefunden hatten und auch ein Gärtner engagiert war, der den Park einigermaßen in Ordnung bringen sollte.

Die Beisetzung der Urne des Grafen Stefan von Tihany fand ohne die Anwesenheit seiner Witwe, Gräfin Coletta, statt. Sie ließ durch einen Boten dem Grafen Sandor einen Brief überreichen, in dem sie ihm in betrübten Worten mitteilte, dass sie erkrankt sei und daher leider nicht an dieser Feier teilnehmen könne. In Gedanken sei sie jedoch bei dem Toten, der nun in einem Erbbegräbnis die letzte Ruhe fände.

Der Schmerz um den Verstorbenen habe ihre Gesundheit doch stark angegriffen, sodass sie dringend der Ruhe bedürfe. Die vielen Beileidsbesuche hätten an ihren Nerven gezerrt, und daher werde es wohl leider noch etwas dauern, bis sie sich wiedersehen könnten. Sie hoffe, dass er sich inzwischen in Tihany eingelebt habe!

Welch ein Hohn, dachte Graf Sandor zähneknirschend. Er glaubte ihr kein Wort, sondern war davon überzeugt, dass sie nur aus Angst vor ihm und seinen berechtigten Vorwürfen nicht gekommen war.

So stand er allein als Hinterbliebener vor der Gruft. Der Pfarrer von Neuburg hielt eine lange Rede, und die wenigen Angestellten und Arbeiter des Gutes standen stumm dabei.

Von diesem Tag an versuchte Graf Sandor, das angetretene Erbe zu verwalten, so gut es ging.

Auf eine Zeitungsnotiz hatte sich lediglich ein älteres Ehepaar gemeldet, das eine Stelle im Schloss annehmen wollte. Der Mann sollte den Park in Ordnung bringen, und die Frau erbot sich, für den Grafen zu kochen und die bewohnten Räume sauberzuhalten. Eine dritte Hilfe war vorerst nicht zu finden, denn Graf Sandor konnte keine hohen Löhne zahlen. Er saß oft bis in die späte Nacht hinein und rechnete. An sich selber dachte er nicht.

Jeden Tag kämpfte er gegen den sehnlichen Wunsch an, einmal nach Jagdschloss Erlau zu fahren. Aber er unterdrückte diesen Wunsch, weil er wuss­te, dass es für ihn nur eine neue bittere Enttäuschung würde.

Auf den Brief seiner Stiefmutter hatte er nicht geantwortet. Wenn es irgend möglich war, wollte er ihr aus dem Weg gehen.

Aber er hatte nicht mit ihrer Kaltblütigkeit gerechnet. Eines Vormittags fuhr eine elegante Limousine vor. Ihr entstieg Gräfin Coletta, im schwarzen Modellkleid mit apartem Hut.

Sie trug einen Strauß weißer Rosen im Arm und schritt mit betonter Anmut die Freitreppe hinauf, nachdem sie einen kurzen abschätzenden Blick über das Schloss geworfen hatte. Sie stellte fest, dass der Rasen geschnitten war und zwei Blumenkübel zu beiden Seiten der Freitreppe standen.

Da kein Personal zu erwarten war, das sie empfing, betrat sie ungeniert die Halle.

Sie sah eine ältere Frau auf der Treppe Staub wischen und fragte, wo Graf Sandor sei.

»Der Herr Graf ist in seinem Arbeitszimmer«, sagte die Frau. »Wen darf ich ihm melden?«

»Das ist nicht nötig. Ich bin seine Stiefmutter. Außerdem kenne ich mich hier aus. Sind Sie neu engagiert hier?«

»Ja, mein Mann und ich. Wir heißen Braun. Mein Mann pflegt den Garten, und ich mache mich hier nützlich. Wir sind Rentner und wollen durch diese Arbeit unsere kleine Rente etwas aufbessern. Und wohnen tut man ja hier sehr schön.«

»Vernünftig von Ihnen. Der Aufenthalt hier ist für Sie bestimmt die reinste Erholung.«

Die Gräfin stieg die Treppe hinauf, nickte Frau Braun flüchtig zu und ging auf das Arbeitszimmer zu, in dem auch ihr verstorbener Gatte gesessen hatte.

Die Rosen hatte sie noch in der Hand, und ehe sie durch die nur angelehnte Tür eintrat, versuchte sie, ihrem Gesicht den Ausdruck tiefster Trauer zu verleihen.

Graf Sandor saß in Rechnungsbücher vertieft am Schreibtisch. Auch diesem Raum fehlte Verschiedenes, aber er hatte wenigstens noch die wichtigsten Möbelstücke behalten.

Graf Sandor gewahrte seine Stiefmutter erst, als sie bereits eingetreten war.

Er starrte sie sekundenlang wie einen Geist an. Dann sprang er auf, und aus seinen Augen schoss ein Blitz tiefs­ter Verachtung und Empörung.

»Sandor«, hauchte die Gräfin, »ich habe die ganze Zeit gehofft, du würdest mich einmal besuchen. Es wäre noch so viel zu besprechen gewesen. Ich habe mich heute aufgerafft, um an der Gruft Stefans Blumen niederzulegen. Es tat mir so unendlich leid, dass ich nicht bei dir sein konnte, aber mein Arzt hat es mir strengstens untersagt.«

Sie seufzte auf, legte die Blumen auf einen Tisch und kam auf Sandor zu. Sie sah genau, was er von ihrem Besuch hielt, aber sie tat, als ob sie es nicht merkte.

»Wie kommst du zurecht, mein Lieber? Ich wollte dir doch helfen. Und weißt du, in der Aufregung hatte ich ganz vergessen, dir zu sagen, dass …«

Jetzt hatte er genug.

»Dass Jagdschloss Erlau verkauft worden ist, dass die Hälfte der Möbel von Tihany in dein Stadtschloss gewandert ist, und dass Tihany schon seit einem ganzen Jahr leer steht, das wolltest du mir doch sagen, nicht wahr?«, brüllte er außer sich.

»Sandor«, flehte sie und hob beschwörend beide Hände, »wie kannst du mir solche ungerechtfertigten Vorwürfe machen. Ich werde dir alles genau erklären, und du wirst einsehen, dass wir, dein Vater und ich, richtig gehandelt haben.«

»Das werde ich niemals einsehen«, entgegnete er kalt. »Den Verkauf von Erlau kann ich leider nicht rückgängig machen. Aber ich ersuche dich, die Gegenstände zurückzugeben, die aus der Familie meiner Mutter stammen. Diese Dinge haben in deinem Stadtpalais gar nichts verloren. Und dann möchte ich dich bitten, den Besuch bei mir möglichst einzuschränken. Wir haben uns nichts mehr zu sagen.«

»Ich verstehe, du bist gereizt, Sandor.« Sie blieb auffallend ruhig. »Aber um die Finanzen deines Vaters stand es nicht mehr so gut, dass die Erhaltung zweier Schlösser gerechtfertigt gewesen wäre. Erlau ist doch ein alter Kasten.«

»Für dich«, schnitt er ihr scharf das Wort ab, »aber für mich war es das Paradies meiner Kindheit, seit Jahrhunderten im Besitz der Tihanys. Dich stört so etwas natürlich nicht.«

»Aber du hast doch Tihany! Genug zu tun für dich, Sandor! Sei doch nicht so störrisch! Und die Sachen deiner Mutter bekommst du natürlich. Ich habe sie für dich nur aufbewahrt, sonst nichts. Ich habe nicht die Absicht, mich an fremdem Eigentum zu bereichern.«

Sie war so sicher und überlegen, dass er für Augenblicke stutzig wurde und schwieg.

Sie sah, wie er in seinen Empfindungen hin und her schwankte.

»Begleitest du mich zur Gruft?«, fragte sie leise und bittend.

Er sah sie kurz an, zögerte einige Augenblicke und erbot sich dann, mitzugehen. Sie nahm wie selbstverständlich seinen Arm, griff nach den Rosen und schritt mit trauriger Miene die Stufen der breiten Marmortreppe hinab.

»Du sollst dir Tihany wieder wohnlich gestalten«, sagte sie, aber sie hatte nicht die Absicht, ihm die wertvollen Gegenstände zurückzugeben. Er würde schon mit der Zeit gefügig werden und ihr nichts wegnehmen. Er war Kavalier, das fühlte sie. Sein Zorn würde schnell schwinden, wenn sie nur sanft blieb.

An der Gruft verharrten sie einige Minuten in tiefem Schweigen. Er stand in einiger Entfernung und wusste nicht, was er von dieser Frau halten sollte. War das alles doch echt?

Als sie ihre Rosen niedergelegt hatte und wieder auf ihn zutrat, lächelte sie ihn so innig an, dass er ihr den Arm bot.

»Ich möchte dir so gern helfen, lieber Sandor«, sagte sie, so weich sie es vermochte.

»Wie sollte das aussehen?«, fragte er immer noch kühl. »Arbeiten willst du doch wohl kaum. Und ich kann jetzt nur Menschen brauchen, denen keine Arbeit zu viel ist. Tihany ist völlig verwahrlost. Warum hat mein Vater Leute entlassen? Warum wird nur die Hälfte der Felder bestellt? Warum seid ihr nicht in Tihany geblieben? Warum musste dieses stilwidrige Stadtpalais gekauft werden, wenn es um die Finanzen nicht zum Besten stand?«

Gräfin Coletta war tief beleidigt, dass er ihr Stadtpalais stilwidrig nannte.

»Das kann ich dir alles nicht sagen«, erwiderte sie heftig, »das ist Sache deines Vaters gewesen, und es ist töricht von dir, einem Toten noch nachträglich Vorwürfe zu machen. Du hättest ja hierbleiben können. Aber nur weil du mich nicht mochtest, bist du nicht zurückgekehrt und hast deinen Vater alle Entscheidungen überlassen.«

»Ich glaube, da irrst du dich. Ich habe täglich darauf gewartet, ein liebes Wort von meinem Vater oder dir zu hören, und wenn man mich gebeten hätte zurückzukommen, hätte ich keine Sekunde gezögert. Aber ich sehe ein, dass meine Fragen keinen Sinn mehr haben. Ich muss mich an die Tatsachen halten. Entschuldige bitte, dass ich so heftig war.«

Sie war sofort versöhnt, wenigstens nach außen hin. Inzwischen hatten sie das Schloss wieder erreicht. Sie bat noch um eine Tasse Tee, ehe sie wieder abfahren wollte, und er lud sie notgedrungen dazu ein.

Sie nahmen den Tee im kleinen Gartensalon, der noch am meisten an die frühere Behaglichkeit erinnerte. Die Fenstertür zur Terrasse war weit geöffnet. Gräfin Coletta saß ihrem Stiefsohn gegenüber und beobachtete ihn unter halbgeöffneten Lidern.

»Dein Vater hat in den letzten Jahren fest damit gerechnet, dass du ein reiches Mädchen heiraten würdest«, sagte sie nach einer Weile des Schweigens. »Außerdem glaubte er auch nicht, dass du je zurückkommen würdest. Das war ein Grund, warum er Erlau gut verkaufte. Auch er hatte schon finanzielle Schwierigkeiten. Willst du überhaupt nicht heiraten, Sandor?«

»Was ist das für eine Frage. Natürlich möchte ich heiraten. Aber ich sehe nicht auf Reichtum.«

Sie hatte nach einer Zigarette gegriffen, und er gab ihr Feuer.

»Das ist sehr undiplomatisch von dir. Du bist noch viel zu romantisch. Es wäre an der Zeit, dass du etwas realistischer denken würdest.«

Er blickte sie finster an, aber sie achtete nicht darauf.

»Eine reiche Frau, die natürlich auch gut aussehen muss, würde dich aus allem retten. Bitte, werde nicht gleich wieder heftig, ich meine es nur gut mit dir.«

»So?«, warf er voller Hohn hin. Aber sie reagierte nicht darauf.

»Da du so an Jagdschloss Erlau hängst, lieber Sandor, wüsste ich einen Weg für dich, es wiederzubekommen.« Lauernd beobachtete sie die Wirkung ihrer Worte.

Er hatte seine Teetasse mit einem Ruck hingestellt und starrte sie sprachlos an.

»Auf dieses Rezept bin ich gespannt, meine Liebe«, entfuhr es ihm.

»Ich nehme an, dass es dir bekannt ist, wer der Käufer von Erlau ist?«

»Ja, Lindemann hat es mir gesagt. Ein neureicher Baron«, bemerkte er leicht verächtlich.

»Baron Waldstein ist ein Mann mit Geist und Manieren«, sagte sie spitz. »Was weiß schon Lindemann davon. Der Baron ist seit einem dreiviertel Jahr Witwer und hat zwei sehr reizende Kinder. Sohn Albert ist fünfundzwanzig und die Tochter zweiundzwanzig. Ich kenne das junge Mädchen nur flüchtig, da es bisher viel im Ausland war. Ein sehr hübsches Mädchen, lieber Sandor. Sie wäre eine ausgezeichnete Partie für dich, geradezu ideal. Du wärst alle Sorgen los und hättest eine Frau, die in der besten Gesellschaft glanzvoll bestehen würde.«

»Wie ungemein rührend von dir, sich um mich zu sorgen«, erklärte er eiskalt. »Aber gib dir bitte keine weitere Mühe, für mich eine deiner Ansicht nach passende Frau zu suchen. Das übernehme ich selbst. Ich brauche kein reiches, verwöhntes Geschöpf, das auf gesellschaftlichem Parkett glänzt, sondern einen Menschen, der zu mir hält, der mich in meiner harten Arbeit unterstützt.«

»Wenn sie reich ist, braucht keiner von euch beiden hart zu arbeiten, lieber Sandor.«

Er sprang erregt auf.

»Gib dir keine Mühe, mich mit diesem Luxusmädchen zu verheiraten! Sie ist keine Frau für mich. Mir ist ein einfaches Mädchen aus dem Volk lieber als diese Modepuppen.«

Auch die Gräfin hatte sich erhoben. Sie behielt ihre überlegene Haltung.

»Ich dachte, dir läge so viel an Erlau. Wenn du die Baronesse Waldstein heiraten würdest, bekäme sie bestimmt das Jagdschloss als Mitgift. Das wäre doch zu überlegen. Denke einmal vernünftig darüber nach. Falls du deine Ansicht über eine künftige Ehegefährtin ändern solltest, lass es mich wissen. Ich bin gern bereit, die Bekanntschaft mit den Waldsteins zu vermitteln und zwar so diskret, dass die Absicht niemandem auffällt.«

»Danke für die gütige Unterstützung«, sagte er grimmig, »ich werde nicht darauf zurückkommen. Ich muss mich mit dem Verlust unseres Jagdschlosses abfinden. Die Hauptsache ist ja, dass deine Zukunft gesichert ist. Oder muss ich mir auch darüber Gedanken machen?«

In seiner Stimme lag bittere Ironie, die sie sehr klar heraushörte.

»Nicht nötig. Ich sorge für mich selbst, mein Lieber. Du bist sehr taktlos heute. Ich habe das nicht verdient. Aber ich will nachsichtig sein, um deines Vaters willen. Du weißt, wo ich zu finden bin. Wenn du einen Rat brauchen solltest, bin ich jederzeit für dich da.«

Er brachte sie stumm zum Portal und begleitete sie dann bis zu ihrem Wagen. Wieder bereute er, so heftig gewesen zu sein. Trotzdem hatte er nicht den Wunsch, sie so bald wiederzusehen.

*

Baron Waldstein beugte sich über die Hand von Gräfin Coletta und drückte einen Kuss darauf.

»Darf ich Ihnen noch einmal persönlich mein tiefstes Mitgefühl zum Verlust Ihres Gatten aussprechen. Leider konnte ich an der Trauerfeier nicht teilnehmen, weil mich dringende Auslandsgeschäfte daran hinderten.«

»Ich danke Ihnen sehr, Baron. Und vor allem auch für Ihre Blumen und Ihre Zeilen. Bitte, nehmen Sie Platz. Ich fühle mich so entsetzlich einsam und bin glücklich, einen lieben Menschen sehen und sprechen zu können.«

Er erkundigte sich noch einmal zartfühlend nach der Todesursache und ließ sich über die Trauerfeier berichten. Baron Waldstein war ein Mann von Welt. Können und auch eine Portion Glück hatten ihn zu dem gemacht, was er heute war, ein erfolgreicher Bankier, der in allen Teilen der Welt zu Hause war.

Er musterte die Gräfin unmerklich. Ihre Aufmachung war so geschickt und gekonnt, dass er an den Schmerz, den sie zur Schau trug, nicht so recht glauben konnte.

»Ist Ihr Stiefsohn denn nicht hier, der Ihnen zur Seite stehen könnte, Gräfin?«, fragte er. »Sie erwähnten einmal, dass er Schloss Tihany erben werde, da keine anderen Nachkommen da seien?«

»Ja, so ist es. Er sitzt schon dort und hat natürlich keine Zeit mehr für mich.«

»Wäre es nicht angebracht, wenn Sie nach Tihany zurückgingen, Gräfin? Oder haben Sie sich mit dem jungen Grafen so stark entzweit, dass es keine Verbindung gibt zwischen Ihnen und ihm?«

»Um Himmels willen, was soll ich in dieser Einöde? Niemals kehre ich dorthin zurück. Ich bin glücklich hier in der Stadt. Übrigens war mein Stiefsohn außer sich, dass Stefan Jagdschloss Erlau verkauft hat. Ich möchte bloß wissen, wie er das alles verwalten wollte.«

»So! Nun, an dem Verkauf ist ja gar nichts mehr zu ändern. Hoffentlich überträgt der junge Graf seinen Zorn nicht auf mich und meine Familie. Das wäre mir sehr unangenehm. Er wird doch nicht etwa auf Erlau aufkreuzen und meiner Tochter, die augenblicklich dort ist, um nach dem Rechten zu sehen, Vorwürfe machen?«

»Baronesse Waldstein ist in Erlau?«, fragte die Gräfin interessiert.

»Ja, seit ein paar Tagen. Sie liebt dieses Schloss. Seitdem sie zu Weihnachten dort war, ist sie ganz vernarrt in das alte Gemäuer. Sie sollten uns einmal dort besuchen, Gräfin. Wir werden unsere Sommerferien dort verbringen. Ich glaube, ich habe aus dem alten Kasten wirklich ein Kleinod gemacht. Ein wenig Gesellschaft würde Ihnen bestimmt guttun.«

»Wie reizend von Ihnen, Baron. Ich nehme diese Einladung mit dem größten Vergnügen an. Nein, ich habe trotz aller Trauer nicht die Absicht, mein Leben in Einsamkeit zu verbringen. Dazu bin ich noch zu jung, und jeder wird das begreifen.«

»Selbstverständlich, Gräfin. Ich habe Verständnis für Ihre Einstellung.«

Sie lächelte ihn gewinnend an.

»Ich weiß, dass Sie ein aufgeschlossener Mensch sind, Baron.« Sie seufzte wieder auf. »Mein Stiefsohn macht mir große Sorgen. Er ist ein Starrkopf ersten Ranges. Er lehnt jeden Rat ab. Natürlich ist Tihany in der letzten Zeit leicht vernachlässigt worden. Aber man kann doch nicht mir die Schuld daran geben. Mein Stiefsohn muss heiraten. Er sieht gut aus und ist sehr gescheit, aber ein Romantiker, dem mit Vernunft nicht beizukommen ist.«

»Das Vorrecht aller jungen Menschen, Gräfin«, lächelte Baron Waldstein nachsichtig. »Meine Tochter Elga kommt ja übrigens in ein paar Tagen zurück. Darf sie Ihnen dann auch einen kurzen Besuch machen?«

»Aber mit dem größten Vergnügen, Baron. Ich habe ohnehin die Absicht, nächste Woche eine kleine Abendgesellschaft zu geben. Nur im engsten Freundeskreis. Dazu sind Sie mit Ihren Kindern allerherzlichst eingeladen. Ich werde sehen, dass auch mein Stiefsohn zu diesem Abend kommt. Wenn Sie Ihre Ferien in Erlau verbringen, sind Sie doch ohnehin Nachbarn und der Kontakt wäre bereits hergestellt.«

»Eine sehr gute Idee, Gräfin«, lobte der Baron. Er beendete damit seinen Besuch. Zum Abschied küsste er der jungen Gräfin wieder die Hand.

Während der Diener ihn hinausbegleitete, konnte er seine Blicke umherschweifen lassen. Er hatte ein glänzendes Gedächtnis und bemerkte, dass sehr viel Mobiliar von Tihany hierhergewandert war. In Tihany hatte er die Verhandlungen wegen des Kaufes von Erlau geführt, und daher war ihm die Einrichtung des Schlosses noch gut in Erinnerung.

Der junge Graf würde wohl kaum entzückt davon sein, jetzt in einem sicher fast halbleeren Schloss zu sitzen. Es wäre gewiss interessant, den jungen Grafen einmal näher kennenzulernen.

Die Gräfin hatte sich bisher wenig positiv über ihren Stiefsohn geäußert. Jetzt schien sie ihre Absicht jedoch etwas geändert zu haben.

Bisher hatte sich der Baron nicht viel um die Verhältnisse der Tihanys gekümmert, da ihm seine Arbeit keine Zeit dazu ließ.

Aber er nahm sich vor, während der Sommerferien auf Erlau den Zuständen auf Tihany etwas mehr Aufmerksamkeit zu widmen.

Es blieb abzuwarten, ob der junge Graf mit seinem vernachlässigten Erbe fertig wurde.

*

An diesem Vormittag war reger Betrieb auf dem kleinen Postamt von Neuburg. Es war der Monatsletzte, und da gab es stets eine Menge zu tun.

Baronesse Elga von Waldstein hatte gerade ihren weißen Sportwagen unter einem schattigen Baum vor dem Postamt geparkt und betrat den Schalterraum.

Sie kannte niemanden in Neuburg, denn sie war nur ein einziges Mal in diesem Städtchen gewesen, als sie zu Weihnachten in Schloss Erlau gewesen war und ihr Wagen eine kleine Reparatur nötig gehabt hatte, die der Autoschlosser und Tankstellenbesitzer von Neuburg zu ihrer Zufriedenheit behoben hatte. Er war der Einzige, mit dem sie ein paar persönliche Worte gewechselt hatte.

Elga von Waldstein, mit einer großen Sonnenbrille auf der Nase und einem bunten Tuch um den Kopf, musste sich in der Reihe vor dem Schalter hinten anstellen. Sie brauchte eigentlich nur Briefmarken, aber so weit war man in Neuburg noch nicht, dass man dafür einen Automaten aufgestellt hätte.

Elgas Blick fiel auf einen jungen Mann, der gerade an der Reihe war. Sie hörte, wie er nach zwei Koffern fragte, die er aus Kanada erwartete.

So etwas kam in Neuburg auf dem Postamt nicht alle Tage vor, und daher wurde der junge Herr auch gebührend von den Umstehenden betrachtet, was ihn jedoch nicht zu stören schien.

»Ja, Herr Graf, die sind da«, erklärte der Beamte am Schalter mit besonderer Liebenswürdigkeit, »heute früh sind sie gekommen. Aber wir hätten Ihnen die beiden Koffer doch morgen mit dem Postwagen nach Schloss Tihany gebracht, Herr Graf.«

»Nicht nötig«, sagte der Angeredete, »ich bin gerade mit meinem kleinen Wagen hier und nehme sie mit. Ich brauche die Sachen dringend.«

»Warten Sie, Herr Graf, ich helfe Ihnen.«

Der Beamte schloss für ein paar Minuten den Schalter, um zur Gepäckaufbewahrung zu gehen.

Baronesse Elga starrte den jungen Herrn an, der nun vor dem Gepäckschalter seine Koffer holte. Sie wusste jetzt, wer er war, und daher betrachtete sie den jungen Grafen mit besonderem Interesse. Auch die übrigen Anwesenden starrten den jungen Grafen wie ein Weltwunder an, und einige ältere Leute gingen auf ihn zu, um ihn mit großer Herzlichkeit zu begrüßen.

Elga sah in sein herbschönes Gesicht, das von Wind und Wetter gebräunt war. Eine dunkle Strähne war ihm in die Stirn geweht, die er etwas ärgerlich zurückstrich.

Elga erinnerte sich an all das, was sie über den jungen Grafen gehört hatte. Es war nicht viel, nur dass der alte Graf Tihany und besonders dessen zweite Frau kaum Verbindung mit dem jungen Grafen gehabt hatten, der im Ausland gelebt hatte.

Sie hatte sich nicht für die Gründe dieser Zwietracht interessiert, aber nun erwachte plötzlich ihr Interesse an dem jungen Grafen, der einen starken Eindruck auf sie machte.

Sie sah zu, wie man ihm die beiden Koffer herausreichte. Er nahm sie auf und ließ sich nicht davon abhalten, sie allein hinauszutragen.

»Lassen Sie nur«, sagte er sowohl zu dem Beamten als auch zu einigen anderen Leuten, die ihm helfen wollten, »das mache ich schon allein.«

Er grüßte kurz und verließ mit seiner schweren Last das Postgebäude. Elga wäre gern hinzugesprungen, aber sie hielt sich im letzten Moment zurück.

Als der Graf draußen war, ging das Getuschel unter den Anwesenden los. Elga hörte verschiedene Worte über die Stiefmutter, den Vater des jungen Grafen und über Schloss Tihany. Die Bemerkungen waren nicht gerade sehr schmeichelhaft für Gräfin Coletta.

Elga bekam kurz darauf ihre Briefmarken und ging rasch hinaus. Sie sah, wie der junge Graf gerade den zweiten Koffer auf den hinteren Sitzen seines alten Kleinwagens verstaute.

Eine gewisse Scheu hielt sie davon ab, zu ihrem eigenen Wagen zu gehen, der einige Meter von dem Grafen entfernt stand. Sie bemerkte, dass der Graf ihren Wagen kurz und interessiert mus­terte. Anscheinend konnte er sich nicht erklären, wie ein solcher Traumwagen nach Neuburg kam.

Dann stieg er ein und fuhr los. Elga ging rasch zu ihrem Wagen, als der Graf um die nächste Biegung verschwunden war. Ein paar Kilometer hatte sie denselben Weg wie er. Da ihr Wagen bedeutend schneller fuhr, sah sie seinen Wagen nach wenigen Minuten vor sich.

Sie überlegte, ob sie ihn überholen sollte, denn die Straße war nicht sehr breit und hatte verschiedene Windungen. Aber sie war nur wenig befahren.

Elga hupte kurz, und dann brauste sie an ihm vorbei. Sie sah rasch zu ihm hin, aber er blickte starr geradeaus.

Da sie ein scharfes Tempo drauf hatte, war sie in Sekunden um die nächste Kurve verschwunden.

Schade, dachte sie, er hätte ruhig mal zu mir hinsehen können. Ob er weiß, wer ich bin? Ob er überhaupt weiß, dass es mich gibt?

Sie dachte an ihn, bis sie über die steinerne Brücke fuhr, die Jagdschloss Erlau mit dem Festland verband, denn das Schloss lag auf einer Insel in einem großen Waldsee.

Ihr Wagen glitt durch einen gotisch geformten Bogen in den Innenhof des Schlosses, auf dem uralte Bäume eine ebenso alte Zisterne umstanden, die jetzt von Blumenkübeln umrahmt war.

Schlosskastellan Wehnert kam rasch hinzu und half Baronesse Elga aus dem Wagen.

»Ihr Herr Vater hat angerufen, Baronesse. Sie möchten bitte gleich in der Stadtvilla anrufen.«

»Danke, Wehnert. Gibt es denn was Besonderes? Hoffentlich soll ich nicht gleich nach Hause kommen, wo es mir doch hier so gut gefällt. Fahren Sie mir den Wagen bitte in die Garage.«

»Selbstverständlich, Baronesse.«

Elga betrat durch einen der vier Eingänge das Innere des Schlosses. Ihr Vater hatte keine Kosten gescheut, dieses imposante Bauwerk zu einem Juwel auszubauen, das jeden Gast sofort gefangennahm.

Hier gab es keinen Stilbruch. Hier passte alles auf eine wunderbare Weise zusammen und strahlte eine gediegene Vornehmheit aus.

Meistens waren dunkle satte Farben verwandt worden, die zu dem wuchtigen Gemäuer passten. Viel Rot gab den Räumen, den Treppenaufgängen und der Halle eine anheimelnde Gemütlichkeit, die sich besonders im Winter auswirkte.

Das Mobiliar des früheren Besitzers, soweit es die Gräfin Tihany nicht mitgenommen hatte, verband sich in seltener Harmonie mit den Möbelstücken, die Baron Waldstein mit viel Geschmack zusammengetragen hatte.

Baronesse Elga eilte über die roten Samtläufer nach oben ins Arbeitszimmer ihres Vaters, um von dort aus in der Stadtvilla anzurufen.

»Muss ich etwa zurückkommen, Papa?«, fragte sie, kaum dass der Vater sich gemeldet hatte.

Er lachte. »Aber, mein Liebling, das kannst du doch halten, wie du willst. Du weißt, dass ich dir nie Vorschriften gemacht habe. Ich wollte mich nur von meinem Kurzflug nach Amsterdam zurückmelden. Ich habe dir etwas sehr Hübsches mitgebracht.«

»Was denn, Papachen?«

»Das wirst du sehen, wenn du nach Hause kommst.«

»Du bist grausam! Aber ich komme trotzdem nicht gleich zurück. Es gefällt mir viel zu gut hier.«

»So! Nun, dann bleib noch. Ich habe übrigens gestern der Gräfin Tihany einen Beileidsbesuch abgestattet. Sie ist sehr gefasst und hat offenbar nicht die Absicht, noch lange zu trauern. Sie will eine kleine Abendgesellschaft geben, für ihre engsten Bekannten, zu denen sie auch uns zählt. Du bist daher auch eingeladen. Ihr Stiefsohn ist übrigens da. Er hat Tihany geerbt, wie ich einmal erwähnte. Erinnerst du dich?«

»Ja, ich entsinne mich, Papa.«

»Er haust auf Tihany, erzählte sie mir, sei ziemlich halsstarrig. Nun, das kann ich nicht beurteilen, da ich den jungen Grafen nicht kenne. Hast du ihn zufällig einmal gesehen?«

Elga zögerte eine Sekunde.

»Nein, Papa«, sagte sie dann knapp.

»So. Nun, es hätte ja sein können. Er sei empört, dass sein Vater Schloss Erlau ohne sein Wissen verkauft habe. Der junge Graf wird also nicht gut auf uns zu sprechen sein, obwohl wir nichts dafür können.«

»Ist der Graf mit seiner Familie nach Tihany gezogen?«, fragte Elga forschend den Vater.

»Er hat keine Familie. Ist noch zu haben, der junge Graf. Wie die Gräfin ihn mir schilderte, muss er ein schwieriger Junge sein. Ich befürchtete schon, er könnte in Erlau erscheinen und dir eine Szene machen, mein Kind.«

»Ich wäre ihm keine Antwort schuldig geblieben, Papa.«

Der Baron lachte herzhaft auf.

»Nun, Albert und ich werden den jungen Grafen in der nächsten Woche bei der Gräfin kennenlernen, denn er soll auch zu dieser Abendgesellschaft erscheinen. Dann bilde ich mir mein Urteil selbst. Du willst ja nicht kommen, nicht wahr?«

Elga zögerte. Dann erklärte sie gedehnt: »Ach weißt du, Papa, ich habe es mir überlegt. Warum soll ich schließlich nicht erscheinen. Die Gräfin wird vielleicht gekränkt sein, wenn ich absage, und das möchte ich nicht. Du kannst also auch für mich zusagen. Ich werde dann übermorgen zurückfahren.«

»Hm! Na, wie du willst. Ich freue mich natürlich sehr, wenn du wieder zu Hause bist. In vierzehn Tagen spätes­tens werden wir alle nach Erlau fahren und dort ein paar Wochen bleiben. Fahre bitte langsam, wenn du zurückkommst. Ich habe immer Angst um dich, Kind.«

*

Graf Sandor bekam die Einladung seiner Stiefmutter schriftlich zugesandt. Sie hatte ein paar persönliche Sätze dazugeschrieben und darin erwähnt, dass auch Baron Waldstein mit Sohn und Tochter käme, und dass die Waldsteins sich sehr freuen würden, ihn kennenzulernen.

Wenn Du gescheit bist, hieß es am Ende, dann lässt Du Dir diese Gelegenheit nicht entgehen. Ich erwarte Dich also.

Er überlegte keine Minute, um ihr eine kühle Absage zu erteilen. Wenn ihn nicht alles getrogen hatte, so war dieses Fräulein von Waldstein im weißen Superkabriolett an ihm vorübergerauscht, als er auf der Heimfahrt von der Post in Neuburg gewesen war. Es war die Straße nach Erlau gewesen, und die Nummer ihres Wagens wies darauf hin, dass sie aus der Stadt kam, in der sowohl seine Stiefmutter als auch die Waldsteins wohnten.

Er hatte voller Grimm diesem weißen Wagen nachgeschaut, ohne die Fahrerin eines Blickes zu würdigen. Er mochte diese Familie nicht, obwohl sie sicher nichts dafür konnte, dass sein Vater ihr Jagdschloss Erlau verkauft hatte.

Aber man sah es an diesem weißen Wagen, dass es Angeber waren, die mit ihrem Geld sicher nur so herumwarfen. Neureiche, denen der Reichtum zu Kopf gestiegen war. Auf deren Bekanntschaft konnte er gut verzichten.

So ähnlich drückte er sich in seiner Absage an die Stiefmutter aus. Er fand es ohnehin geschmacklos, dass sie kurz nach dem Tod ihres Gatten, um den sie doch angeblich so sehr trauerte, bereits eine Abendgesellschaft gab.

Die Gräfin war über diese Zeilen sehr empört und enttäuscht. Sie hatte natürlich ihre eigenen Pläne, was ihren Stiefsohn und sie selbst betraf, aber Sandor schien diese Pläne konstant zu durchkreuzen.

Es lag ihr ungeheuer viel daran, mit der Familie Waldstein in engen Kontakt zu kommen. Dazu trug in erster Linie der Reichtum des Barons bei. Reiche Leute waren der Gräfin stets sehr willkommen gewesen.

Der Baron war Witwer. Er sah noch sehr gut aus, und er würde wohl kaum allein bleiben wollen für den Rest seines Lebens, zumal wenn seine Kinder heirateten und das Elternhaus verließen.

Einen solchen Mann in zweiter Ehe zu heiraten, schien der Gräfin ein erstrebenswertes Ziel. Dann brauchte sie sich nie mehr Sorgen zu machen; denn allzu lange würde sie ihren Lebensstil wohl nicht mehr halten können, wenn nicht neues Vermögen hinzukam.

Sandor konnte ihr dabei helfen, ohne dass er es merkte. Wenn er die Baro­nesse Waldstein bekäme, wäre sie ihrem eigenen Ziel um einen großen Schritt näher gekommen.

Sie wusste genau, dass Sandor jeder Frau gefallen würde. Welches Mädchen würde sich nicht darum reißen, einen so gut aussehenden Mann mit einem Grafentitel zu heiraten. Und wenn sie selbst erst in den engeren Kreis der Familie Waldstein gehörte, war es eine Kleinigkeit, den Baron zu umgarnen.

Ja, das alles hatte sie sich in schlaflosen Nächten ausgedacht, und sie fand ihren Plan genial. Und nun machte ihr Sandor, dieser Dickkopf, alles zunichte. Der brachte es fertig, ein armes, nichtssagendes Mädchen vom Lande zu heiraten.

Die Gräfin war mit Recht verzweifelt, aber sie zeigte ihren Gästen am Festabend ein lächelndes Gesicht. Es waren fünfzehn ausgesuchte Leute anwesend, von denen sich die Gräfin, berechnend wie sie war, irgendwann Vorteile erhoffte.

Baron Waldstein war ihr Tischherr, und sie war wieder einmal entzückt von seinen vollendeten Manieren und seinem Geschick, stets ein fesselndes Thema zu wählen.

Sie trug natürlich noch Schwarz, aber sie hatte den tristen Farbton mit feiner weißer Spitze aufgelockert.

Das Essen hatte sie von einem der ersten Hotels richten lassen, und die Zusammenstellung der einzelnen Gänge wurde allseits gelobt.

Gräfin Coletta sah die junge Baro­nesse Elga heute zum zweiten Mal, und sie war verblüfft über die zarte Schönheit Elgas, die sie heute erst so richtig bewundern konnte.

Ein bisschen zu hübsch war die junge Dame eigentlich, und das registrierte die Gräfin mit einem gewissen Unbehagen. Aber wenn sie ihr Ziel erreichen wollte, durfte sie darauf kein allzu großes Augenmerk richten.

Nach dem Essen, das in angeregtes­ter Unterhaltung verlief, begaben die Gäste sich in den Salon und das Rauchzimmer.

Zuvor hatte die Gräfin auf die drängenden Fragen ihrer Gäste bekanntgeben müssen, dass ihr Stiefsohn, den sie alle mit Neugier erwartet hatten, leider abgesagt hatte, da ihm die Arbeit in Tihany im Moment keine Zeit ließe.

Das wurde sehr bedauert. Besonders Baronesse Elga konnte ihre Enttäuschung kaum verbergen, denn sie war eigentlich nur wegen des jungen Grafen gekommen, wenn sie es sich auch nicht eingestand.

Sie war ziemlich einsilbig, und auch die Späße ihres um drei Jahre älteren Bruders Albert, der seine Schwester immer gern ein bisschen neckte, verfehlten diesmal ihre Wirkung.

Gräfin Coletta nutzte die Gelegenheit, die junge Baronesse für eine Weile allein zu sprechen, da sich Baron Waldstein gerade mit einem bekannten Häusermakler über Kaufprojekte unterhielt, die das Vermögen seines Bankhauses vermehren sollten.

Es ergab sich ganz zufällig, dass sie mit der Baronesse in einem der kleinen Salons zusammentraf. Die Gräfin sparte nicht mit Schmeicheleien über das Aussehen der jungen Dame, um auf diese Weise das Vertrauen der Baro­nesse zu gewinnen.

»Sie waren ein paar Tage allein in Erlau?«, erkundigte sie sich, als sie auf einem reizenden Biedermeiersofa Platz genommen hatten und ein Diener ihnen die Champagnergläser neu füllte.

»Ja, ich liebe das Schloss. Ich freue mich auf die Wochen, die ich mit Papa und Albert dort bald verbringen werde. Schade, dass Ihr Stiefsohn heute so verhindert ist, wir hätten natürlich unseren Nachbarn und früheren Besitzer von Erlau gern kennengelernt. Papa sagte mir, dass der junge Graf über den Verkauf des Schlosses sehr ungehalten gewesen sei. Ich kann das natürlich gut nachfühlen, aber warum war er auch all die Jahre weg von zu Hause.«

»Ihre Frage ist völlig berechtigt, Baronesse. Auch ich habe, genauso wie mein verstorbener Mann, sehr darunter gelitten, dass mein Stiefsohn sich so ablehnend mir gegenüber verhielt. Darum kam er nicht nach Hause, obwohl wir sehr glücklich gewesen wären. Ach, das ist eine lange und sehr unerfreuliche Geschichte. Jedenfalls bin ich jetzt sehr froh, dass Sandor zurück ist, und ich hoffe nichts sehnlicher, als dass er hierbleibt.«

»Hat er keine Braut drüben in Kanada?«, fragte Baronesse Elga, während sie an ihrem Glas nippte.

»Nein. Er sagte mir, dass er keine Zeit gehabt habe, sich nach einer Frau umzusehen. Ich nehme eher an, dass er viel zu spröde dem anderen Geschlecht gegenüber ist. Dabei habe ich wirklich nur sein Wohl im Sinn. Ich möchte, dass Sandor ein glücklicher Mensch wird. Wir könnten so gute Freunde sein, denn er ist doch nur drei Jahre jünger als ich. Ich habe ihm gesagt, dass er heiraten müsse. Er kann unmöglich länger allein bleiben.«

»Will er denn nie heiraten?«, erkundigte sich Baronesse Elga interessiert.

»Doch, das schon«, lächelte die Gräfin dünn, »aber er hat so verschrobene Ansichten. Er steckt voller romantischer Ideen und wird geradezu böse und verstockt, wenn man nicht darauf eingeht.«

»Was sind das für Ideen?«, wollte Elga wissen.

»Nun, ich habe ihm vorgeschlagen, eine passende Lebensgefährtin für ihn zu suchen, denn ich bin ja schließlich in der Gesellschaft bekannt und Sandor ist nach zehnjähriger Abwesenheit fast ein Fremder geworden. Er braucht eine Frau, die natürlich hübsch und intelligent sein und aus unseren Kreisen stammen muss. Erfreulich wäre selbstverständlich, wenn sie etwas Vermögen mitbringen würde, denn ich gebe ehrlich zu, dass Tihany durch die letzten, besonders schlechten Ernten in arge Bedrängnis geraten ist. Ich verstehe nicht viel von Landwirtschaft, aber mein lieber Mann hat in den letzten Jahren über die Einkünfte aus Tihany nur geklagt. Für Sandor wäre das eine ungeheure Erleichterung. Aber glauben Sie, das sähe er ein? Als ich ihm das alles in vernünftiger Form vortrug, wurde er wütend und verbat sich jede Einmischung. Und genauso reagierte er auf meine Einladung.«

Baronesse Elga hatte sehr aufmerksam zugehört.

»Wie töricht von ihm«, sagte sie. »Ist es Ihnen denn gar nicht möglich, den jungen Mann zur Vernunft zu bringen? Wen möchte er denn gern heiraten?«

Die Gräfin lachte spöttisch auf.

»Am liebsten ein Mädchen vom Lande, das ihm bei der Arbeit hilft. So ähnlich hat er sich ausgedrückt. Eine Frau mit Geld kommt für ihn überhaupt nicht in Frage. Er ließe sich nicht verkaufen, sagte er. Übrigens muss er Sie einmal kurz gesehen haben in Ihrem Wagen, Baronesse. Könnte das sein?«

»Ich weiß nicht. Wie kommen Sie darauf?«

»Ich habe großes Vertrauen zu Ihnen, Baronesse«, sagte sie seufzend, während sie sich wieder neben Elga setzte, »darum werde ich Ihnen einige Zeilen aus dem Absagebrief meines Stiefsohnes vorlesen.«

»Bitte«, murmelte die Baronesse und wechselte die Farbe.

»Was Deine Einladung zu Deiner Abendgesellschaft betrifft«, las die Gräfin halblaut vor, »so muss ich sie leider ablehnen, denn ich weiß, dass Du damit nur die Absicht verbindest, mich mit einer Deiner auserkorenen Adels­töchter zu verehelichen. Und dieses Spiel mache ich nicht mit! Ich sagte Dir schon einmal, dass ich mich nicht verkaufen lasse. Die Frau, die ich mir ersehne, braucht weder Geld noch einen Namen zu besitzen. Sie muss nur ein warmes Herz haben und gewillt sein, mir in allem zu helfen, auch wenn es eine Arbeit ist, die ihr ungewohnt ist.

Diese Frau braucht nicht auf Gesellschaften zu glänzen. Auf Tihany ist es einsam, und an Feste ist in den nächs­ten Jahren wohl kaum zu denken, denn ich muss rechnen und sparen, um aus Tihany wieder das zu machen, was es einmal war. Ich lege keinen Wert auf Luxusweibchen, die in weißen Sportwagen in der Gegend herumsausen und nicht wissen, wie sie die Zeit totschlagen sollen!«

Die Gräfin legte den Brief beiseite und sah Elga an, die blass geworden war.

»Haben Sie nicht einen weißen Wagen, Baronesse? Und Sie waren doch auch in Erlau?«

»Ja, natürlich. Aber ich entsinne mich nicht, Ihrem Stiefsohn begegnet zu sein, Gräfin.«

»Nun, Sie müssen ihn ja nicht gesehen haben. Aber Ihr Wagen ist ihm irgendwo wahrscheinlich aufgefallen. Ist das nicht schrecklich mit ihm?«

Elga trank ihr Glas aus.

»Ich finde die Ansichten Ihres Stiefsohnes von seinem Standpunkt aus berechtigt, Gräfin.«

»Aber, Baronesse! Ich hatte gehofft, Unterstützung bei Ihnen zu finden. Ich hoffte, Sie würden mir helfen, diesen jungen Starrkopf zur Vernunft zu bringen.«

»Seine Ansichten sind vernünftig. Ich wünsche ihm, dass er diese Frau findet, die er sich ersehnt.«

Die Gräfin starrte die Baronesse entgeistert an. All ihre Hoffnungen sanken auf den Nullpunkt, denn sie war gewiss, dass die Baronesse nun begierig sei, diesen rätselhaften jungen Grafen kennenzulernen.

Denn welche Frau möchte nicht diejenige sein, die das Herz eines solchen Starrkopfes erobert?

Die Gräfin wollte etwas erwidern, aber in diesem Augenblick kam der Baron herein.

»Oh«, sagte er lächelnd, »die Damen sind in angeregter Unterhaltung. Man vermisst Sie bereits allerseits.«

Die Gräfin entsann sich ihrer Gastgeberpflichten und erhob sich rasch, um sich um die Gäste zu kümmern. Der Baron begleitete sie und fuhr seiner Tochter, die ihnen folgte, zärtlich über den Arm.

Das Gespräch zwischen der Gräfin und Baronesse Elga konnte den ganzen Abend nicht fortgeführt werden, denn Elga war von den jungen Herren umlagert. Getanzt wurde natürlich mit Rücksicht auf die Dame des Hauses nicht. Elga war auch nicht an weiteren Informationen über den jungen Grafen interessiert. Sie wusste jetzt genug, um sich ein Bild von ihm zu machen. Und dieses Bild war ganz anders, als die raffinierte Gräfin annahm.

Nach Mitternacht trennte man sich. Die Gräfin bekam sogleich mehrere Gegeneinladungen, und so schien sich ihre Zukunft wieder erlebnisreich zu gestalten.

Die Waldsteins fuhren in ihrem Mercedes nach Hause, eine große prunkvolle Villa in einem vornehmen Viertel der Stadt, die mit gleichem Geschmack eingerichtet war wie Schloss Erlau.

In der Halle verabschiedeten sich die Waldstein-Kinder von ihrem Vater mit einem zärtlichen Gutenachtkuss. Albert, der sehr müde war, verschwand sofort nach oben, aber Elga blieb noch einige Minuten, sehr zur Verwunderung ihres Vaters, der noch einmal rasch in sein Arbeitszimmer gegangen war, wo stets die Telefongespräche notiert wurden, die bei Abwesenheit des Hausherrn angenommen worden waren.

»Nanu, Schatz«, sagte der Baron, als Elga im Türrahmen erschien, »noch nicht müde? Übrigens sah die Saphirkette an deinem Hals wunderbar aus. Du wurdest bestimmt sehr darum beneidet.«

Elga fiel dem Vater um den Hals.

»Mir gefällt sie auch großartig, Papa. Du verwöhnst mich zu sehr. Trotzdem danke ich dir herzlich für dieses wundervolle Geschenk. Du bist eben der beste Papa auf der Welt! Ich weiß das zu schätzen.«

»Du Schmeichlerin! Fast habe ich den Eindruck, du hast noch etwas auf dem Herzen, oder sollte ich mich täuschen, Kind?«

Elga lachte leise auf und schmiegte den Kopf an die Schulter des Vaters.

»Doch, ich habe einen Wunsch. Aber er kostet dich keinen Cent, Papa. Ich möchte morgen wieder nach Erlau zurückfahren, ganz allein. Das Wetter ist so schön. Mir gefällt es in der Stadt gar nicht mehr. Und ihr kommt doch auch bald nach.«

Der Baron sah seine Tochter forschend an.»Du hast doch einen besonderen Grund für diese urplötzliche Rückreise nach Erlau. Hast du kein Vertrauen zu mir?«

Elga seufzte tief auf, lehnte den Kopf wieder an des Vaters Schulter und murmelte: »Natürlich hat es einen Grund. Ich glaube – ich glaube, ich bin verliebt, Papa.«

»Verliebt? Um Himmels willen, in wen?«

»In den Grafen Tihany, Papa.«

»Aber du kennst ihn doch gar nicht! Das ist doch absurd, mein Kind. Ich glaube, du hast ein bisschen zu viel getrunken heute Abend.«

Elga schüttelte den Kopf. Hastig berichtete sie dem Vater von der Begegnung auf der Post und von dem Brief, den er seiner Stiefmutter geschrieben hatte.

»Das alles imponiert mir so sehr, Papa. Er gefällt mir einfach, der junge Graf. Weißt du, ich kann das nicht erklären. Es ist ein Gefühl, das einen Menschen überfällt und gegen das er nicht ankämpfen kann. Kennst du so etwas, Papa?«

Er lächelte und küsste Elga auf die Stirn.

»Natürlich kenne ich das. Bei deiner lieben, leider so früh verstorbenen Mutter ging es mir ebenso. Aber das besagt noch nicht, dass ich deine Verliebtheit jetzt gutheiße, Elga. Die Gräfin hat bisher nicht gerade begeistert von ihrem Stiefsohn gesprochen. Der junge Mann soll zehn Jahre im Ausland gewesen sein. Wie mir die Gräfin andeutete, muss er dort nur vom Geld seines Vaters gelebt haben. Und nun wundert er sich, dass auf dem väterlichen Schloss nicht alles so ist, wie es einmal war. Er ärgert sich über den Verkauf von Erlau. Ja, du lieber Himmel, warum ist er nicht zu Hause geblieben und hat sich um alles gekümmert? Kind, ich habe volles Verständnis dafür, dass du dich mal verliebst. Der junge Mann muss gut aussehen, wie ich höre. Aber ich verzichte auf einen Schwiegersohn, der nur auf mein Vermögen aus ist und sich von meinem Geld ein angenehmes Leben machen will.«

»Er will kein Geld!«, rief Elga erregt.

Der Vater lächelte. »Aber wenn er einmal spitzbekommen hat, dass du eine glänzende Partie bist, wird er seine Ansicht ändern. Kind, ich habe Angst um dich, und ich lasse dich ungern fahren. Wie willst du ihn überhaupt kennenlernen? Einladen? Ich glaube, er wird gar nicht kommen, da er uns wegen Erlau zürnt. Die Gräfin sagte mir das.«

»Papa, du musst der Gräfin nicht alles glauben. So sonderlich sympathisch ist sie mir nicht. Ich hätte so kurz nach dem Ableben meines Mannes keine Gesellschaft gegeben. Und ob das alles immer stimmt mit dem Stiefsohn, das versuche ich herauszubekommen.«

»Aber, Kind, du bist ungerecht. Du bist verliebt in einen Menschen, den du nicht kennst, und willst daher nur Gu­tes an ihm entdecken. Willst du nicht lieber warten, bis wir alle in Erlau sind und den Grafen offiziell einladen?«

»Er wird nicht kommen. Er sieht in mir eine verwöhnte Luxusdame, weil er mich in meinem Wagen gesehen hat.«

»Und wie willst du ihm diese Illusion rauben?«

»Das weiß ich noch nicht, Papa. Auf Erlau wird mir schon etwas einfallen. Dort kann ich nachdenken. Jedenfalls möchte ich ihn zwingen, in mir einen normalen Menschen zu sehen, kein verwöhntes Luxusgeschöpf.«

»Dränge dich bitte diesem Mann nur nicht auf, Elga. Behalte deine Würde, deinen Stolz!«

»Du kannst dich auf mich verlassen, Papa. Hab keine Angst. Es ist möglich, dass mir gar nichts Gescheites einfällt, oder dass ich reumütig zu dir zurückkehre und dir sage, dass es sich um diesen Grafen wahrlich nicht lohnt. Aber mein Herz sagt mir, dass es anders sein wird. Gute Nacht!, Papa. Ich danke dir, dass du so viel Verständnis für mich hast, und ich bin sehr froh, dir alles gesagt zu haben. Aber erzähl es Albert nicht. Der lacht nur darüber.«

»Ich will schweigen wie ein Grab«, erwiderte der Baron lächelnd.

Er sah seiner Tochter zärtlich und doch voll gewisser Sorge nach. Um alles in der Welt wollte er sein Kind nicht unglücklich oder enttäuscht sehen.

*

Bei strahlendem Sonnenschein fuhr die Baronesse am folgenden Morgen los. Unterwegs dachte sie an nichts anderes als an den jungen Grafen, der mutterseelenallein auf dem Stammsitz seiner Väter saß und sich bemühte, den Besitz zu erhalten.

Sie überlegte fieberhaft, wie sie es anstellen sollte, ihn kennenzulernen, ohne dass er gleich wusste, wer sie war.

Sie machte einen kleinen Umweg über Tihany und hielt in einiger Entfernung vor dem Eisengitter des Parkportals. Sie hatte dieses imposante alte Schloss noch nie gesehen und sich nie dafür interessiert. Es sah vernachlässigt aus, und auch der Park war nur notdürftig in Ordnung gehalten, aber trotzdem beeindruckte sie der Bau ungeheuer. Zu sehen war niemand, und das war gut so. Sie hatte bereits in Erlau angerufen, sodass man über ihre plötzliche Rückkehr nicht überrascht war.

Sie packte ihre Koffer selber aus und ging dann hinunter in den Schlosshof, wo Kastellan Wehnert an einer Tür etwas ausbesserte.

»Wehnert«, rief sie freundlich, »stand nicht in einem der Geräteschuppen ein Damenfahrrad? Kann man das noch benutzen?«

»Ja, da steht ein Rad, Baronesse. Aber wieso wollen Sie mit dem Rad fahren? Sie haben doch Ihren Wagen.«

»Das schon. Aber ich möchte mal ohne Wagen durch die Umgebung fahren. Ich möchte so leben wie die Leute hier auf dem Lande.«

Herr Wehnert sah die Baronesse verwirrt an.

»Ist das nicht gefährlich hier in der Einsamkeit? Ihr Herr Vater würde das auf keinen Fall erlauben.«

»Ich bin doch kein Kind. Wer sollte mir hier etwas tun? Ich fahre ja auch nur in der Nähe herum. Außerdem kann ich mich wehren. Wenn Sie wollen, stecke ich eine Schreckschusspistole ein.«

»Das wäre mir wirklich eine Beruhigung. Ich werde gleich einmal nach dem Fahrrad sehen. Vielleicht ist eine kleine Reparatur nötig.«

»Tun Sie das, Wehnert. Sie bekommen extra etwas von mir.«

Er nickte und sah ihr nach, wie sie durch einen der Torbogen in den Park ging, der sich an die Hinterfront des Schlosses anschloss.

Was die reichen Leute für Ideen haben, dachte er kopfschüttelnd und ging in den Geräteschuppen, um das verstaubte alte Damenfahrrad herauszuziehen.

Es war noch brauchbar. Es musste nur geölt werden und der Rost etwas entfernt. Und da die Baronesse gedrängt hatte, machte er sich gleich da­ran, es gebrauchsfähig zu machen.

Baronesse Elga war entzückt, als sie es sah, und unternahm gleich ein paar Runden durch den Park.

*

Graf Sandor war auf der Fahrt nach Hause. Er hatte in Neuburg auf der Sparkasse zu tun gehabt und Verschiedenes für den Schlosshaushalt eingekauft, weil er Frau Braun den Weg ersparen wollte.

Er war in keiner besonderen Stimmung. Es wollte nicht recht vorwärtsgehen, sodass er seine Hoffnungen wieder sinken sah.

Als er um die letzte Kurve bog, sah er am Wegrand ein Mädchen sitzen. Neben ihm lag ein Fahrrad, an dem es sich zu schaffen machte. Es trug einen roten Rock und eine weiße Bluse, und um den Kopf hatte es ein rotes Tuch gebunden.

Er hielt unwillkürlich, kurbelte sein Wagenfenster herunter und fragte:

»Kann ich Ihnen helfen?«

Jetzt erst drehte sie ihm das Gesicht zu. Ein Gesicht von so liebreizendem Ausdruck, dass es ihm fast den Atem verschlug. Blondes Haar quoll unter dem knallroten Tuch hervor, und die braunen Augen erinnerten an weichen Samt.

»Ich habe eine Panne«, sagte sie, »mein hinterer Reifen ist platt. Ich muss in eine Glasscherbe oder so etwas Ähnliches geraten sein.«

Er stieg aus und kam näher. Unbekümmert nahm er dicht neben ihr im Graben Platz, sah sie noch einmal kurz an und betrachtete dann den Reifen.

»Der muss natürlich geflickt werden«, meinte er. »Haben Sie es weit bis nach Hause?«

»Nein, nein, ein paar Kilometer, aber bei der Hitze ist es nicht schön, das Rad zu schleifen.«

»Da haben Sie recht. Ich könnte Sie nach Hause bringen und das Rad auf meinem Wagendach transportieren.«

»Nein, nein, das würde Ihren Wagen ruinieren. Es ist ein altes Rad, aber man fährt noch ganz gut damit. Ich werde schon sehen, wie ich weiterkomme.«

Er sah sie an. Mein Gott, ist sie hübsc­h, dachte er erschauernd, und sie dachte so etwas Ähnliches von ihm. Ihr Herz pochte zum Zerspringen, denn sie wusste ja, wen sie vor sich hatte. Dass er so prompt auf ihre Reifenpanne he­reinfallen würde, die sie natürlich selbst herbeigeführt hatte, nachdem sie wuss­te, dass er jeden Morgen fast um dieselbe Zeit nach Neuburg fuhr, hätte sie nicht gehofft.

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, sagte er nach kurzem Überlegen. »Wenn Sie hier ein paar Minuten warten wollen, hole ich eine Klebemasse und ein paar Flicken, um den Reifen notdürftig zu reparieren. Ich habe es nicht weit. Ich bin gleich zurück.«

»Ja, verstehen Sie denn etwas davon?«, fragte sie verblüfft.

Er sah sie erstaunt an.

»Warum sollte ich nicht? Sehe ich so aus, als ob ich das nicht könnte?«

Sie lachte, und er lachte mit.

»Nein, so sehen Sie nicht aus. Das ist sehr, sehr nett von Ihnen. Natürlich warte ich. Ich habe ja Zeit.«

Wieder sahen sie sich lachend an. Dann stieg er ein, winkte ihr zu und ras­te davon.

Baronesse Elga drückte beide Hände auf ihr wild pochendes Herz. Sie fand ihn unwiderstehlich, und die Minuten, in denen er weg war, empfand sie wie eine Ewigkeit. Gleichzeitig hatte sie Angst vor dem Abenteuer, in das sie sich begeben hatte. Was sollte sie zum Beispiel sagen, wenn er fragte, wo sie wohne, wenn er sie etwa begleiten wollte? Irgendetwas Vernünftiges muss­te ihr einfallen, ehe er zurück war.

Es dauerte etwa zwölf Minuten, ehe er zurück war. Er hupte schon von Weitem, damit sie wusste, dass er es war. Sie winkte ihm zu, als seien sie alte Bekannte, und als er hielt, ging sie auf ihn zu.

»Haben Sie etwas gefunden?«, fragte sie, und er nickte vergnügt. »Sind Sie Autoschlosser oder so etwas Ähnliches?«, forschte sie und kam sich ziemlich gemein vor, weil sie doch wusste, wer er war. Aber er nahm die Frage nicht übel, sondern lachte nur.

»Ich glaube, mir ginge es besser, wenn ich das wäre«, meinte er scherzhaft.

Er zog Klebemasse aus der Tasche und einige Gummiflicken, die er mit erstaunlicher Geschicklichkeit auf die defekte Stelle an ihrem Reifen aufklebte.

»Bis nach Hause werden Sie kommen, wenn wir jetzt den Reifen aufpumpen«, sagte er, als er fertig war.

»Danke«, murmelte sie, als er den Reifen fachmännisch aufgepumpt hatte und ihr lächelnd das Rad hinhielt.

»Sind Sie aus Neuburg?«, erkundigte er sich.

Sie schüttelte den Kopf. Ich darf keine allzu dicken Lügen auftragen, nahm sie sich vor.

»Wollen Sie mir nicht verraten, wo Sie herkommen?«, fragte er bekümmert.

»Ich verbringe meine Ferien bei Verwandten«, sagte sie. »Kennen Sie die Gegend hier?«

»Ja, natürlich. Ich wohne in der Nähe. In Tihany.«

Sie lächelte. »Also auf einem Schloss? Ich weiß, es liegt nicht weit entfernt. Ich fuhr vor ein paar Tagen dort vorbei. Arbeiten Sie dort?«

»Ja, das tue ich.« Er sah sie an und nahm plötzlich ihre Hand. »Bleiben Sie noch lange bei Ihren Verwandten?«

»Ein paar Wochen. Warum?«

Der Druck seiner Hand jagte ihr einen Schauer über den Rücken.

»Darf ich Sie wiedersehen? Morgen?«, fragte er drängend, und sie nickte eifrig, weil sie vor Glück kaum atmen konnte. »Also gut«, sagte er und verstärkte den Druck seiner Hand, »morgen um die gleiche Zeit hier an der Kreuzung, ja?«

»Ja«, hauchte sie und stieg auf ihr Rad.

»Fahren Sie vorsichtig«, mahnte er sie, »dass Sie keine zweite Panne bekommen!«

»Ja«, rief sie zurück und fuhr los in Richtung Erlau.

Er sah es verwirrt und eilte ein paar Schritte hinter ihr her.

»Irren Sie sich auch nicht in der Richtung?«, rief er aufgeregt. »Sie sind doch fremd hier. Da geht es nach dem Jagdschloss Erlau, ich weiß es ganz genau.«

Sie schluckte, aber sie war auf diese Frage vorbereitet.

»Da will ich ja auch hin«, entgegnete sie unbefangen, »da wohnen meine Verwandten.«

Er war dicht bei ihr und hielt ihr Rad an der Lenkstange fest, um sie damit am Weiterfahren zu hindern. Sie musste noch einmal absteigen und sah ihn mit gespielter Verwunderung an.

»Wer sind Ihre Verwandten?«, fragte er erregt.

»Der Kastellan von Schloss Erlau, Herr Wehnert. Dort verbringe ich meine Ferien«, behauptete sie.

Er atmete sichtlich auf. »So«, sagte er dann gedehnt. Er hielt ihr das Rad, damit sie wieder aufsteigen konnte. »Ist der jetzige Besitzer nicht da?«, erkundigte er sich mit abgewendetem Gesicht.

»Baron Waldstein? Nein, die sind nicht anwesend. Die kommen erst in ein paar Wochen.«

Sie war immer froh, wenn sie ihn nicht anlügen musste.

Auch diese Antwort schien ihn zu beruhigen.

»Dann bis morgen«, sagte er herzlich und winkte ihr nach.

Ich bin schamlos und gemein, dachte Baronesse Elga, aber nun hatte sie mit dem Schwindeln angefangen und muss­te es durchhalten.

In Erlau angekommen, rief sie sofort ihren Vater an, weil sie ihr Erlebnis nicht für sich behalten konnte.

Der Baron war schockiert über die Komödie, die seine Tochter dem Grafen vorgespielt hatte, und riet ihr, sofort diese Lügen aufzudecken.

»Dann sehe ich ihn nie wieder«, erklärte Elga voller Angst und Trotz. Sie war dem Weinen nahe, und immer wenn der Baron seine Tochter traurig wusste, lenkte er ein.

»Also meinetwegen, aber du bist dafür verantwortlich. Was auch daraus entsteht, du musst es durchkämpfen. Ich kann dir da nicht beistehen, Kind.«

»Das sollst du auch nicht. Ich will nur, dass du weißt, was ich tue. Du, er ist einfach hinreißend. Denke dir, er hat mein Rad eigenhändig repariert.«

»Eingebildet scheint er tatsächlich gar nicht zu sein. Das spricht für ihn. Trotzdem warne ich dich und rate dir zur Vorsicht! Eines Tages wird er erfahren, wer du bist.«

»Das werde ich ihm selber sagen, Papa. Aber erst muss er wissen, dass ich kein Luxusgeschöpf bin.«

»In Gottes Namen tu, was du willst«, seufzte der Baron abgrundtief.

Nach dem Gespräch informierte sie Herrn Wehnert und seine Frau, dass sie sich bei einem jungen Mann als ihre Verwandte ausgegeben habe und dass sie das bestätigen sollten, falls dieser junge Herr einmal hier in Erlau nach ihr fragen sollte.

Auf die verblüfften Gesichter hin sagte sie: »Das ist alles ein Scherz, der von mir später aufgedeckt wird. Mein Vater weiß übrigens Bescheid, damit Sie nicht denken, es sei ein böser Streich von mir.«

Trotzdem waren die Wehnerts wieder einmal konsterniert, was der jungen Baronesse so alles einfiel.

*

Als Baronesse Elga am nächsten Tag zur gleichen Zeit ihr Rad aus dem großen Torbogen schob und die steinerne Brücke erreichte, sah sie den Wagen des Grafen schon auf dem Fahrweg stehen. Er selber stand auf der Brücke, an die steinerne Brüstung gelehnt, und starrte wie versunken auf das Schloss, das in imposanter Größe vor ihm aufragte.

»Hallo!«, rief Baronesse Elga leise, denn er schien sie nicht bemerkt zu haben.

Er schrak zusammen und kam rasch auf sie zu.

»Haben Sie geträumt?«, fragte sie, als er ihr die Hand reichte.

»Vielleicht«, gab er gedehnt zur Antwort. Dann lächelte er sofort, und in seinen Augen stand deutlich die Freude, sie wiederzusehen. »Lassen Sie Ihr Rad zu Hause«, sagte er, »wir fahren ein wenig durch die Gegend. Einverstanden? Darum habe ich Sie auch hier abgeholt.«

»Gut«, meinte sie. »Kommen Sie doch mit in den Schlosshof. Er ist sehr schön.«

»Ja, ja, ich weiß«, entfuhr es ihm, »ich möchte es nicht.«

»Aber warum denn nicht? Der Besitzer ist doch gar nicht da. Woher kennen Sie den Schlosshof?«

Er gab auf die letzte Frage keine Antwort.

»Na gut«, bemerkte er und folgte ihr über den letzten Rest der Brücke durch den großen Torbogen.

Sie wollte ihm Verschiedenes erklären, aber als sie sein Gesicht sah, schwieg sie, heißes Mitleid überkam sie.

Im Schlosshof war niemand zu sehen. Das wusste die Baronesse. Sie lehnte ihr Rad an die Wand.

Graf Tihany stand wie angewurzelt da, sah an den Innenwänden empor und stellte fest, dass sie neu verputzt waren und viel freundlicher wirkten als früher. Dann glitt sein Blick über den großen Schlosshof, der in seiner altertümlichen Form belassen, aber mit Blumenkübeln und schmiedeeisernen Verzierungen verschönt worden war.

Graf Tihany musste sich eingestehen, dass der neue Besitzer Geschmack besaß und wohl allerlei Geld an die Verschönerung des Gebäudes verschwendet hatte. Ihm selbst hätte der Betrag dazu gefehlt.

Trotz dieses Eingeständnisses wollte die Bitterkeit über den Verlust des alten Schlosses nicht weichen. Darum drehte er sich unvermittelt um und ging rasch wieder hinaus, sodass ihm die Baro­nesse kaum folgen konnte.

Sie fragte ihn nichts, sondern ging stumm neben ihm her zu seinem Wagen. Sie hatte ihr einfachstes Kleid angezogen und ein buntes Tuch um den Kopf gebunden.

Er öffnete ihr die Wagentür und stieg ein. Ohne ein Wort zu sagen, fuhr er an. Eine ganze Weile fuhren sie schweigend durch den Wald, der so dicht war, dass die Sonnenstrahlen nur vereinzelt durch das Astwerk fielen.

»Entschuldigen Sie«, bemerkte er da plötzlich, »ich komme Ihnen gewiss sonderbar vor. Darf ich Ihnen sagen, dass ich sehr glücklich bin, Sie zu sehen?«

Sie lächelte ihn an, erwiderte jedoch nichts.

»Sind Sie gut nach Hause gekommen?«, fragte er, und sie nickte.

Als der Wald endete und freie Wiesen und Felder vor ihnen lagen, die sich sanft wellten, hielt er an, und sie stiegen aus.

Am Waldrand lag ein gefällter Eichenstamm, auf dem sie Platz nahmen. Versunken sahen sie eine Weile über das Land hinweg, das von der Sonne beschienen dalag.

»Seit gestern sieht die ganze Welt für mich anders aus«, murmelte er.

»Schöner?«, fragte sie und sah ihn an.

»Ja, schöner.« Er wandte sich ihr zu. »Ich glaube, das habe ich Ihnen zu verdanken.«

»Waren Sie so traurig?«, fragte sie leise.

Er seufzte ein wenig auf.

»Traurig, ja, das auch. Ich war mutlos und fühlte mich von Gott und der Welt verlassen. Jetzt halten Sie mich sicher für einen Träumer.«

»Nein, das tue ich nicht. Jeder Mensch hat einmal solche Stimmungen. So ging es mir, als meine Mutter vor einem Jahr starb. Da glaubte ich, ich könnte nie mehr froh werden.«

Er sah sie voller Mitgefühl an.

»Aber Ihren Vater haben Sie noch?«

»Ja, meinen Vater und meinen Bruder Gott sei Dank.«

»Und dieser Schlossverwalter in Erlau ist Ihr Onkel?«, wollte er wissen.

»Ach, die Verwandtschaft ist etwas weitläufiger, aber ich war sehr glücklich, von ihm eingeladen zu werden. Das Schloss ist herrlich. Herr Wehnert, also mein Verwandter, ist von Baron Waldstein engagiert worden. Seit einem Jahr besitzt der Baron das Schloss.«

»Hat man Ihnen etwas vom früheren Eigentümer berichtet? So nebenher?«

»Ja, es soll dem Grafen Tihany gehört haben, der offenbar in Geldschwierigkeiten geraten war. Das müssen Sie ja wissen, wenn Sie auf Tihany arbeiten, nicht wahr? Der alte Graf soll vor Kur­zem gestorben sein.«

Er hatte ganz zart den Arm um sie gelegt, und da er nicht antwortete, sagte sie auch nichts mehr.

Sie duldete diese Berührung, ja, sie sehnte sich danach, in seinen Armen zu liegen und alles um sich herum zu vergessen.

Sie spürte eine süße Willenlosigkeit in sich aufsteigen und lehnte, ohne sich dessen bewusst zu werden, den Kopf an seine Schulter.

Der Druck seines Armes wurde stärker, und sein Gesicht neigte sich dem ihren zu.

»Wie heißen Sie?«, fragte er kaum hörbar.

Sie zögerte eine Sekunde. Dann nannte sie ihren Vornamen und wartete mit wild pochendem Herzen seine Reaktion ab. Aber er blieb ganz unbefangen.

»Elga«, wiederholte er, »wie schön. Der Name passt zu Ihnen.«

Ihre Augen tauchten ineinander, und plötzlich fühlte Elga seine Lippen auf ihrem zitternden Mund. Seine Arme umschlangen sie, und sie spürte dicht an seiner Brust das Pochen seines Herzens.

Sie schloss die Augen, weil ihr fast schwindlig wurde vor Glück. Er murmelte zärtlich ihren Namen und küsste sie wieder und wieder. Und sie wehrte sich nicht. Im Gegenteil, sie erwiderte seine Küsse mit verhaltener Leidenschaft. Es war ihr ganz gleich, was er von ihr denken mochte.

»Wie heißen Sie?«, fragte sie ganz zaghaft, als er sie einmal für Sekunden losließ. Er lachte.

»Du darfst mich jetzt doch nicht mehr mit Sie anreden. Also, ich heiße Sandor. Willst du noch mehr wissen?«

Sie schüttelte lächelnd den Kopf.

»Es ist mir ganz gleich, wer du bist. Ich mag dich. Das allein ist wichtig.«

Er nahm sie wieder in die Arme.

»Ich möchte dich jeden Tag sehen. Darf ich das?«

»Wenn du willst, ja!«

Wieder küssten sie sich und sahen sich verliebt an.

Er wollte wissen, wo sie zu Hause sei, und sie erzählte ihm, dass sie aus der Stadt käme und ihr Vater an einer Bank arbeite, während ihr Bruder Jura studiere und bald mit dem Studium zu Ende sei. Das stimmte alles, wenn auch nicht so ganz.

Sie merkte, dass er nicht im Leises­ten misstrauisch wurde, und war zufrieden.

Von diesem Tag an waren sie unzertrennlich. Sie waren beide wie verzaubert, und die ganze Welt war von einem rosaroten Schimmer überzogen.

Baronesse Elga berichtete alles nach Hause, aber ihr Vater blieb trotzdem voller Sorge und Misstrauen.

Graf Tihany hatte ihr noch nicht gesagt, wer er war. Er kämpfte ein paar Tage lang mit sich, bis ihm bewusst wurde, dass es für ihn kein anderes Mädchen mehr geben konnte als Elga. Die Liebe hatte ihn gepackt wie ein Sturmwind.

Niemals hätte er es für möglich gehalten, dass eine Frau ihn so in ihren Bann schlagen könnte. Er hatte das Gefühl, ohne sie nicht mehr leben, nicht mehr atmen zu können.

Der Gedanke, Tihany aufzugeben, kam ihm keine Sekunde mehr. Im Gegenteil, seine Hoffnung wuchs wieder. Mit Elga würde er alles schaffen, dessen war er sicher.

*

Wie jeden Tag holte er sie auch heute vor dem Portal von Erlau ab.

Sie sah wieder entzückend aus, als sie auf der Brücke erschien, und er ging ihr rasch entgegen.

»Was sagen deine Verwandten, wenn du dauernd weg bist?«, fragte er besorgt.

Er drückte sie an sich. Lachend stiegen sie in seinen Wagen und fuhren los. Diesmal schlug er eine bestimme Fahrt­richtung ein. Sie merkte es, aber sie sagte nichts.

Erst als sie sich dem Parktor von Tihany näherten, fragte sie: »Wo fährst du hin, Sandor?«

»Nach Tihany. Ich muss es dir endlich zeigen.« Er blickte kurz zu ihr hin, lächelte und fuhr mit der freien Hand über ihre Wange. »Du brauchst keine Angst zu haben, der Besitzer wird uns nicht hinauswerfen. Schließlich arbeite ich ja hier.«

»Wer ist der neue Besitzer? Und ist er hier?«

»Der jetzige Besitzer ist der einzige Sohn des verstorbenen Grafen Stefan Tihany. Er heißt Sandor, und er sitzt neben dir.«

Elga schluckte. Sie saß reglos da. Aber nicht vor Erstaunen, sondern weil sie jetzt wirklich nicht wusste, was sie tun sollte.

Er fasste ihr Schweigen als Bestürzung auf. Er hielt ganz unvermittelt an, als sie bereits die Einfahrt erreicht hatten, und legte den Arm um sie.

»Ich weiß, jetzt bist du natürlich bestürzt. Aber ich wünsche sehr, dass es dich nicht stört, Elga. Glaube mir, ein Graf ist ein Mensch wie alle anderen auch. Und wenn es ihm nicht besonders gut geht, dann nützt ihm das ganze alte Schloss nicht viel. Dann muss er eben arbeiten, um sein Leben zu fristen.«

Sie sah ihn an. »Geht es dir so sehr schlecht?«, fragte sie, und als er die echte Sorge in ihrem Gesicht las, durchflutete ihn ein starkes Glücksgefühl. Er küsste sie auf den Mund.

»Mach dir keine Gedanken darüber. Ich werde es schon schaffen. Jetzt wo ich so glücklich bin, dass ich dich gefunden habe, jetzt sieht alles ganz anders aus, viel leichter. Und ich habe doppelt so viel Energie. Das hast alles du mit mir gemacht.«

Er küsste sie noch einmal, ehe er weiterfuhr.

Elga zitterte vor Aufregung. Hoffentlich kannte sie niemand von seinem Personal. Sie war erst erleichtert, als er nebenbei erwähnte, dass nur ein älteres Ehepaar im Schloss anwesend sei.

Er half ihr beim Aussteigen. Sie ging mit weichen Knien neben ihm her. Es gab Momente, in denen sie bereit war, ihm die ganze Wahrheit zu gestehen. Aber sie wusste, dass der Traum dann zu Ende war.

Sie hörte noch deutlich die Sätze seines Briefes, die seine Stiefmutter ihr vorgelesen hatte. Wenn nur die Gräfin nicht auftaucht, dachte sie, von neuem Schrecken erfüllt.

Graf Sandor nahm sie bei der Hand, weil er ihr Zögern wieder falsch deutete.

»Komm, hab keine Angst! Niemand tut dir etwas.«

Er lachte sie fröhlich an, und sie lächelte zaghaft.

Die große Halle empfing sie, deren architektonische Schönheit Elga entzückte. Aber sie wirkte etwas leer, wie auch der große Salon, in den er sie führte.

»Hast du Möbel verkaufen müssen, weil es dir nicht gut geht?«, fragte sie. Und dann schmiegte sie sich an ihn und fuhr fort: »Bitte, sei nicht böse, dass ich solch neugierige Fragen stelle. Aber alles, was dich angeht, ist mir wichtig.«

Er drückte sie voller Zärtlichkeit an sich.

»Das soll es doch auch. Ich freue mich darüber.«

»Zeigst du mir das ganze Schloss?«, fragte sie, und er lachte.

»Wenn du willst. Aber zahlreiche Räume sind nicht bewohnt und voll von Staub. Ich bewohne nur einige Zimmer.«

»Gibt es auch große Säle?«

»Natürlich. Musiksaal, Festsaal und Tanzsaal. Früher wurden hier große Feste veranstaltet. Aber sie sind alle nicht mehr vollständig eingerichtet.«

Seine Züge verdüsterten sich, und er schwieg voller Grimm.

»Komm«, bemerkte er schließlich, »wir machen einen kleinen Gang durch den Park. Ich werde Frau Braun sagen, dass sie uns in einer Stunde den Kaffee auf der Terrasse serviert. Vielleicht hat sie irgendetwas gebacken, ich weiß es nicht. Und später zeige ich dir meine privaten Räume, einverstanden?« Er küsste ihre Schläfe.

»Ich bin mit allem einverstanden, was du vorschlägst. Ich habe noch nie so schöne Ferien verbracht.«

»Musst du sonst schwer arbeiten? Im Büro oder in einem Geschäft?«, fragte er.

»Ich versorge den Haushalt meines Vaters.«

»Oh, also ein liebes Hausmütterchen. Kannst du auch kochen?«, lachte er sie an.

»Natürlich! Ich mache alles, wenn es darauf ankommt.«

Sie sah ihn freimütig an, und er küss­te sie entzückt.

»Ich glaube, du bist genau das, was ich mir immer gewünscht habe.«

Arm in Arm betraten sie die große Steinterrasse und stiegen die Treppe zum Park hinab. Er war nicht mehr so verwildert wie vorher. Herr Braun hatte eine Menge getan.

Elga war entzückt von den herrlichen alten Bäumen und den weiten Rasenflächen. Steinerne Götter blickten aus Baumgruppen vor.

»Dies alles zu erhalten kostet mich eine Stange Geld. Ich kann es mir im Augenblick noch nicht leisten«, erklärte Sandor betrübt.

»Ich finde trotzdem alles schön«, sagte sie weich.

Er führte sie zu einer verschwiegenen Bank, wo er sich als Junge immer versteckt hatte, wenn man ihn suchte. Sie war nur von einer schmalen Stelle aus zu sehen, und sie mussten beide unter Ästen hindurchkriechen, um diese Bank zu erreichen. Als sie sich wieder aufrichteten, fielen sie sich lachend in die Arme.

Graf Sandor presste Elga so fest an sich, dass sie leise aufschrie.

»Mein Süßes«, flüsterte er heiß. Seine Lippen fuhren liebkosend über ihr Gesicht. »Ich habe schreckliche Angst, dass du mir wieder weglaufen könntest«, murmelte er, »dass ich vielleicht nur geträumt habe und es eines Tages ein bitteres Erwachen für mich gibt.«

Sie sah ihn an. Aus ihren Augen leuchtete ihm so viel Liebe entgegen, dass er stumm wurde vor Seligkeit.

»Ich laufe dir niemals weg, niemals!«, versicherte sie ernst.

»Du machst mich unendlich glücklich«, flüsterte er.

Sie nahm auf der Bank Platz, und er hielt ihre Hand fest in der seinen.

»Du sollst alles von mir wissen«, erklärte er. Und er erzählte von seiner glücklichen Jugend unter der Obhut einer verständnisvollen, liebevollen Mutter. Er berichtete von den Festen, die auf Tihany und in Erlau stattgefunden und die er als Kind mit staunenden Augen miterlebt hatte. Sorgen waren ihm fremd gewesen. Die Mutter hatte ihn so abgöttisch geliebt, dass sie alles von ihm fernhielt.

»Vielleicht war das falsch«, meinte er, »aber sie hat mir eine unbeschwerte Kindheit geschenkt.«

Dann berichtete er von dem schrecklichen Tag, an dem die Mutter nach kurzer schwerer Krankheit starb. Sechzehn war er damals gewesen, und er hatte es nicht fassen können, dass sein Vater sich so schnell darüber hinwegtröstete und bald danach eine neue Frau Einzug im Schloss hielt, die viel jünger war als sein Vater und die nichts anderes im Sinn hatte, als Vater und Sohn zu entzweien.

»Ich studierte damals, und die Briefe meines Vaters wurden immer seltener und immer kühler. Und meine Stiefmutter tat alles, um zu verhindern, dass ich nach Hause kam. Darum ging ich nach meinem Studium nach Kanada, erfüllt von Heimweh und der Sehnsucht nach früherem Glück.«

Elga hatte tief erschüttert zugehört. Ihr Kopf lehnte an Sandors Schulter. Ohne dass es ihr bewusst wurde, rannen Tränen über ihr Gesicht. Er sah es und hob ihren Kopf.

»Elga«, murmelte er tief bewegt, »fühlst du so sehr mit mir?«

Sie nickte stumm. »Wie musst du in dem fremden Land gelitten haben.«

Er küsste sie innig. »Ja, ich war einsam. Ich fand dort keinen rechten Kontakt. Die Menschen sind wortkarg, aber ich wäre trotzdem nicht zurückgekommen, denn mich rief keiner. Niemand hatte Sehnsucht nach mir. Mein Vater lebte nur für seine aparte zweite Frau. Du müsstest sie sehen, Elga, sie sieht gut aus, aber sie ist kalt und berechnend. Immer wieder bin ich beinahe bereit, ihr zu verzeihen, aber dann spüre ich wieder, dass sie nur auf ihre eigenen Vorteile bedacht ist.«

Er schwieg eine Weile, und Elga war bemüht, ihre innere Erregung zu meis­tern. Auch ihr war die Gräfin nicht besonders sympathisch. Aber warum versuchte sie, ihren Stiefsohn mit einer reichen Frau zu verheiraten? Fühlte sie sich mitschuldig daran, dass Tihany so vernachlässigt worden war, dass Sandor zu kämpfen hatte, um zu bestehen?

Graf Sandor erwachte plötzlich aus seinem Grübeln. Er packte Elga an der Hand.

»Komm«, murmelte er rau, »ich zeige dir das Schlossinnere. Ich führe dich durch alle Räume, damit du siehst, was mir von unserem früheren Reichtum geblieben ist. Und morgen werde ich mit dir über die Felder fahren, die nicht bestellt werden können, weil es mir an Landarbeitern fehlt und weil ich das Geld für die Saat und für Düngemittel nicht aufbringe. Die Hälfte des wertvollen Viehbestandes wurde verkauft, das Personal im Schloss entlassen, weil die junge Frau Gräfin nicht in der Einsamkeit leben wollte. Darum wurde Erlau verkauft, damit sie sich ein Stadtpalais leisten konnte, um dort ihre Feste zu feiern.«

Er zog die bebende Elga mit sich. Sie brachte kein Wort heraus, sie fürchtete sich sogar vor ihm wegen des heiligen Zorns, der ihn erfasst hatte.

Ihr Gewissen meldete sich. Sie schämte sich, dass sie ihm eine solch billige Komödie vorspielte, dass sie in Erlau wohnte, während er es hergeben musste seiner eitlen Stiefmutter wegen. Aber sie wusste gleichzeitig, dass sie ihm nur helfen konnte, wenn sie ihm noch eine Zeit lang über ihre Person im Unklaren ließ.

Sie hatten das Schloss wieder erreicht. Er hielt immer noch ihre Hand und führte sie durch die Räume, die nicht benutzt wurden, weil er kein Personal für ihre Pflege hatte.

Staunend schritt Elga neben ihm her. Gewiss, die imposante Pracht der Räume war geblieben, aber Sandor machte sie überall darauf aufmerksam, dass Gemälde, Teppiche, Möbel und sonstige wertvolle Gegenstände fehlten.

Sie war empört über die Geschmacklosigkeit und Dreistigkeit der Gräfin, sich Dinge anzueignen, die ihr nicht gehörten.

»Du musst alles zurückfordern, Sandor«, beschwor sie ihn, »jedenfalls all die Dinge, die aus der Familie deiner Mutter stammen.«

»Das habe ich schon getan, und sie hat es mir sogar zugesagt. Aber ich warte seit Wochen darauf.«

»Du musst dir einen Anwalt nehmen, Sandor!«, drängte Elga ihn. Er lachte bitter auf.

»Wovon sollte ich den bezahlen? Außerdem ist es mir unangenehm, einen Prozess gegen meine Stiefmutter anzustrengen. Ich hoffe immer noch, dass sie mir mein Eigentum zurückgibt.«

Elga war nicht so ganz davon überzeugt, aber sie schwieg vorerst. Sie glaubte, langsam dahinterzukommen, wieso die Gräfin ihren Stiefsohn mit einer reichen Frau verheiraten wollte. Dann brauchte sie selbst nichts zurückzugeben und hatte vielleicht sogar noch Anteil an dem neuen Reichtum.

Sie standen jetzt auf dem Parkett des großen Tanzsaales, dessen stuckverzierte Decke mit herrlichen Fresken bemalt war und von der fünf Kristallleuchter herabhingen.

An den Wänden, die in Abständen von hohen Spiegeln bedeckt waren, reihten sich damastbezogene Sitzbänke mit zierlichen Wandtischen.

»Ich habe immer heimlich meine Mutter bewundert, wenn sie hier tanzte«, erinnerte sich Sandor wehmütig, »Ich weiß noch, sie trug auf dem letzten Ball ein himmelblaues Seidenkleid, das sich weit bauschte, wenn sie im Walzerschritt vorbeischwebte.«

Selbstvergessen stand Graf Sandor da. Elga starrte ihn voller Mitgefühl an, und plötzlich hing sie an seinem Hals und küsste ihn immer wieder.

»Ich liebe dich, Sandor, ich liebe dich«, stammelte sie.

»Elga«, murmelte er rau und presste sie an sein Herz. »Ich werde erst wieder glücklich sein, wenn ich mit dir hier tanzen darf.«

Langsam gingen sie zurück, Arm in Arm.

Als sie die Halle betraten, kam gerade Frau Braun aus den Wirtschaftsräumen herauf. Sie trug ein Tablett mit Kaffeegeschirr.

»Wo soll ich es hintragen, Herr Graf?«, fragte sie und starrte Elga wie eine Erscheinung an.

»Das ist Frau Braun«, stellte Sandor sie vor. Dann nahm er Elgas Hand und sagte: »Das ist Fräulein Elga. Wehnert?«, fügte er fragend hinzu und sah Elga an.

Sie nickte stumm. Die Kehle war ihr wie zugeschnürt.

Frau Braun lächelte ihr freundlich zu. Elga nahm ihr spontan das Tablett ab.

»Das mache ich schon«, bemerkte sie.

Sandor fand ihre Aufmerksamkeit reizend.

Er ging mit auf die Terrasse. Elga deckte den Tisch so geschickt, dass er keinen Blick von ihr ließ. Sie schnitt den Kuchen an und goss ihm Kaffee ein. Er küsste dankbar ihre Hand.

»Es ist wunderbar, mit dir zusammen zu sein«, murmelte er zärtlich.

Es war ein herrlicher Tag. Elga blieb bis zum späten Abend. Sie räumte den Tisch wieder ab und deckte später den Abendbrottisch im kleinen Esszimmer. Dann saßen sie auf der Terrasse und hielten sich umschlungen.

»Was werden deine Verwandten nur denken. Du bist kaum bei ihnen«, stellte Sandor lächelnd fest.

»Ich habe gesagt, dass ich später komme. Das ist nicht schlimm. Sie haben beide viel zu tun, denn sie treffen die Vorbereitungen für die Ankunft der Familie von Waldstein. Schade, ich hätte dir das Schloss gern einmal von innen gezeigt.«

»Nein«, entgegnete er hart, »ich werde die Räume der Familie von Waldstein nicht betreten.«

»Hast du etwas gegen sie?«

»Das nicht. Ich kenne sie ja nicht. Aber du musst verstehen, dass mich die Erinnerung quält.«

Sie stand auf und küsste ihn.

»Ich verstehe«, murmelte sie weich.

Er brachte sie am späten Abend nach Erlau zurück, und er holte sie am Morgen wieder ab.

Elga hatte mit ihrem Vater telefoniert und ihm wiederum Bericht erstattet. Er war sprachlos, und er warnte sie am Ende vor einer bitteren Enttäuschung, wenn der Graf hinter ihr Geheimnis käme.

»Ich komme in fünf Tagen und werde mir den jungen Herrn einmal ansehen«, meinte er energisch.

*

Die nächsten Tage waren für die beiden Liebenden der Himmel auf Erden. Elga half Sandor bei seinen schriftlichen Arbeiten, sie machte ihm ein paar vernünftige Vorschläge, was die Führung des Haushaltes betraf, und sie brachte noch einige weitere Räume in einen wohnlichen Zustand.

Er war begeistert von ihrem Geschick und ihrer Klugheit. Er nahm sie in die Arme und sagte: »Ich lasse dich nie wieder fort! Du musst deinem Vater schreiben, dass du bei mir bleiben wirst!«

Sie lachte nur dazu, und wenn er in sie drang, meinte sie: »Wir werden sehen.«

Er hatte sie auch zum Gutshaus gefahren und sie den Lindemanns vorgestellt. Elgas Angst war unbegründet gewesen, denn die Lindemanns kannten sie nicht.

Nach ein paar Tagen hatte Elga einen vollkommenen Überblick über die Verhältnisse in Tihany. Sie war ein gescheites Mädchen. Sie sah, dass ihr geliebter Sandor auf diese Weise nie zu etwas kommen würde.

An einem Abend saßen sie wieder zusammen. Es war etwas kühler, und sie hatten es sich im Gartensalon bequem gemacht.

»Sandor«, nahm Elga einen energischen Anlauf, »wenn du deinen Besitz in den früheren Zustand versetzen willst, musst du einen größeren Kredit aufnehmen. Anders ist es nicht möglich. Erst wenn du genug Leute hast und die notwendigsten Geräte kaufen kannst, rentiert sich das alles.«

Er sah sie überrascht an.

»Aber wo soll ich um Himmels willen einen Kredit herbekommen?«

»Von einer Bank natürlich«, erwiderte sie sachlich. »Selbstverständlich verlangt eine Bank Sicherheiten, wenn sie so große Beträge zur Verfügung stellt. Aber du hast ja dein Schloss und deine Grundstücke anzubieten, falls du nicht in der Lage bist, diesen Kredit zurückzuzahlen. Und du wirst in der Lage sein, wenn der ganze Betrieb richtig läuft.«

»Du sprichst, als wärst du vom Fach, Liebes«, staunte er verwirrt.

»Mein Vater arbeitet in einer Bank«, sagte sie knapp, »da bekommt man ja manches mit. Du musst das tun.«

»Welche Bank sollte mir da wohl helfen«, murmelte er immer noch zurückhaltend.

»Am besten, du gehst zu Baron Waldstein. Der hat eine Bank.«

Er ließ sie augenblicklich los.

»Wie kommst du auf den Baron Waldstein? Kennst du ihn denn?«

»Nein! Aber mein Verwandter kennt ihn gut. Er sagt, der Baron sei ein Ehrenmann, vornehm und großzügig. Er kennt deine Verhältnisse, Sandor. Er hat mit deinem Vater wegen Erlau verhandelt. Du bist ihm also durchaus vertraut. Und das ist ein großes Plus.«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Sandor benommen. »Dass gerade du mir solch einen Rat gibst.«

»Warum wundert dich das?«, wollte sie erstaunt wissen.

Er sprang auf und ging ein paarmal erregt auf und ab. Sie beobachtete ihn unmerklich. Ihr Herz pochte wild. Wenn er nur nicht misstrauisch wird, dachte sie voller Bangen.

»Meine Stiefmutter will mich unbedingt mit einer reichen Frau verheiraten«, erklärte er, »und sie hat auch bereits ein passendes Objekt gefunden, wie ich aus allem heraushörte. Es ist die Tochter dieses Barons Waldsteins. Ein mondänes Mädchen, von Luxus umgeben, eine Modepuppe, die überhaupt nicht zu mir passt. Eitel und hohl. Sie würde nicht wie du sofort zugreifen, wenn es etwas zu tun gibt. Sie würde in den Tag hineinleben, und ich käme mir wie verschachert vor. Ich könnte keine Achtung vor mir selber mehr haben.«

»Kennst du die Baronesse?«, fragte Elga bebend.

»Nein, ich will solch ein Geschöpf auch nicht kennenlernen.«

»Man sollte über Menschen nie ein Urteil fällen, wenn man ihn nicht kennt, Sandor.«

»Ach, du Dummes! Du verteidigst diese Dame auch noch.« Er trat rasch zu ihr, nahm ihren Kopf in seine Hände und drückte einen Kuss auf ihren Mund. »Verstehst du, dass es mir unangenehm ist, zu diesem Baron zu gehen? Schon allein wegen der Tochter?«

»Was hat die Tochter mit einem solchen Bankkredit zu tun. Du gehst nicht als Privatmann zu dem Baron, sondern als Kunde seiner Bank.«

»Ich kenne dich nicht wieder, Elga. Du bist so energisch, so kühl und sachlich.«

»Ich bin es nur, weil ich dir helfen will, Sandor. Nur weil ich dich liebe! Ich habe nächtelang darüber nachgedacht. Und dies ist der beste Rat, den ich dir geben kann.«

Er setzte sich wieder und vergrub das Gesicht in den Händen.

»Vielleicht hast du wirklich recht«, murmelte er.

Als sie am Abend nach Erlau zurückfuhren, hatte sie ihn so weit, dass er den Baron Waldstein in dessen Bank aufsuchen wollte. Baronesse Elga rief noch am gleichen Abend zu Hause an.

»Papa«, rief sie aufgeregt in den Apparat, »du musst noch einen Tag länger zu Hause bleiben. Sandor kommt zu dir als Kunde in die Bank. Du musst ihm einen Kredit geben, damit er seinen Besitz wieder in die Höhe bringen kann. Als Sicherheit hast du doch das Schloss und seinen Grundbesitz.«

Baron Waldstein schnappte nach Luft.

»Bist du des Teufels, Kind? Was machst du nur für Sachen? Das ist unmöglich! Wie denkst du dir das?«

»Papa, du musst ihm helfen! Ich liebe ihn, und ich will, dass er endlich wieder glücklich wird.«

»So, du liebst ihn, aber er wird dir etwas anderes erzählen, wenn er erfährt, wer du bist.«

»Das ist mir ganz gleich. Es ist doch kein Risiko für dich, Papa. Wenn er diesen Kredit hat, kann er so wirtschaften, dass etwas dabei herauskommt. Er ist so fleißig, Papa, aber ihm fehlen die Leute, die Maschinen und die Düngemittel.«

»Man hat das Gefühl, als ob man mit einem Landwirtschaftsexperten sprä­che«, erwiderte der Baron, verblüfft über das Wissen seiner Tochter.

»Ja, ich habe mir auch alles genau angesehen. Und Liebe bringt eben alles fertig, Papa. Bitte bleib, bis Sandor kommt. Und sei lieb zu ihm, bitte! Er ist wunderbar. Du wirst entzückt von ihm sein.«

»Na, da bin ich aber nicht so ganz sicher.«

»Also du empfängst ihn, Papa?«

»Was soll ich denn anderes tun, wenn meine Tochter mir die Pistole auf die Brust setzt.«

Ein Jubelschrei war die Antwort.

»Du bist der beste Vater, den es auf der Welt gibt!«, rief Elga erfreut. »Das werde ich dir nie vergessen, Papa.«

»Ich will es hoffen«, sagte der Baron.

Elga wäre am liebsten durch das ganze Schloss getanzt, so glücklich war sie.

*

Baron Waldstein empfing den jungen Grafen schon zwei Tage später in seiner Privatbank, einem kleinen Palast aus Stahl und Glas.

Der Baron war Menschenkenner, und darum war ihm der Graf sofort sympathisch. Die anfängliche leichte Verlegenheit des Grafen überbrückte er mit herzlicher Zuvorkommenheit.

Ehe der Graf überhaupt sein Anliegen vorbringen konnte, hatte der Baron ihm einen bequemen Sessel hingeschoben. »Ich hatte die feste Absicht, Sie zu besuchen, Graf Tihany. Und zwar komme ich mit meiner Familie in den nächs­ten Tagen nach Erlau. Natürlich würde ich mich auch sehr freuen, wenn Sie einmal ins Jagdschloss kämen. Ich glaube, Sie werden sehr angetan sein von der neuen Ausstattung und den kleinen Veränderungen, die ich vornehmen ließ.«

»Ja, natürlich«, murmelte der junge Mann. Der Baron machte einen ausgezeichneten Eindruck auf ihn, und es fiel ihm schwer, diesem Mann übelzunehmen, dass er jetzt Schloss Erlau besaß.

»Der Tod Ihres Herrn Vaters hat mich natürlich sehr getroffen«, fuhr der Baron fort, »ich war oft in Tihany wegen der Verkaufsverhandlungen. Ich habe Ihrer Frau Stiefmutter einen Besuch abgestattet, da ich leider wegen einer Auslandsreise nicht an der Trauerfeier teilnehmen konnte. Dort hätten wir uns sicher schon kennengelernt.«

»Wahrscheinlich«, sagte Sandor ein wenig hilflos. Dann nahm er allen Mut zusammen und trug sein Anliegen vor.

Man merkte ihm an, wie schwer es ihm fiel, den Bittenden zu spielen. Der Baron hatte Mitleid mit ihm, aber er konnte ihm unmöglich sagen, dass er schon alles wusste.

»Ich habe alle Unterlagen mitgebracht, nachdem ich auch mit meinem Gutsverwalter gesprochen habe«, erklärte Graf Sandor, »daraus können Sie sich ein genaues Bild meiner augenblicklichen Verhältnisse machen.«

»Das wird sich schon ermöglichen lassen, Graf. Sicherheiten können Sie meiner Bank ja ohne Weiteres bieten. Außerdem kenne ich Ihren Besitz und ich weiß, was er wert ist. Natürlich werde ich mir die Unterlagen heute noch genau ansehen, denn immerhin muss sich ein Kredit in dieser Höhe auch für Sie lohnen.«

»Das habe ich alles durchdacht. Ich überlasse jedoch Ihnen als Fachmann die Entscheidung.«

Der Baron lächelte seinen Besucher herzlich an.

»Es freut mich, dass Sie mir solches Vertrauen schenken.«

»Ich müsste Ihnen das Gleiche sagen«, erwiderte Graf Sandor. Er erhob sich. »Wann darf ich mit Ihrer Entscheidung rechnen, Baron?«

»Morgen schon, wenn es Ihnen recht ist. Ich rufe Sie an, oder noch besser, kommen Sie morgen um die gleiche Zeit wieder hier vorbei. Bis dahin habe ich alle Vorbereitungen für den Kreditantrag getroffen und wir können die Sache perfekt machen.«

»Das wäre sehr schön.« Graf Tihany atmete auf.

»Wohnen Sie bei Ihrer Frau Stiefmutter?«, fragte der Baron höflich.

»Nein! Sie weiß nicht, dass ich hier bin. Ich möchte auch nicht, dass sie es erfährt. Wir haben kein besonders gutes Verhältnis zueinander. Es bestand noch niemals. Ich habe mich nur aus diesem Grund im Ausland aufgehalten.«

»Ich füge mich vollkommen Ihren Entschlüssen, Graf. Ich kann Ihre Empfindungen durchaus verstehen. Also bis morgen. Ich freue mich, Sie kennengelernt zu haben, und sähe Sie gern und bald als Gast auf Schloss Erlau. Natürlich tut es mir leid, Ihnen diesen Besitz weggekauft zu haben. Aber Ihr Vater befand sich, wie er mir sagte, in großen Schwierigkeiten und da …«

»Ja, ich weiß«, murmelte Graf Sandor dumpf. »Ich trage Ihnen nichts mehr nach. Ich habe mich damit abgefunden, dass Erlau nicht mehr zu Tihany gehört. Ich werde von jetzt an meine ganze Aufgabe darin sehen, den Stammsitz der Familie zu erhalten.«

»Wenn Sie bei dieser Aufgabe meinen Rat brauchen, stehe ich gern zu Ihrer Verfügung.«

Nach der Verabschiedung des Grafen rief Baron Waldstein seine Tochter an.

»Es ist alles in Ordnung«, sagte er, »morgen bekommt er seinen Kredit. Ich werde seine Unterlagen genau prüfen, aber die Sache wird schon klappen.«

»Oh, Papa«, rief Elga. »Ich bin außer mir vor Freude! Wie gefällt er dir?«

»Hm! Ich kann dich völlig verstehen, mein Kleines. Trotzdem verrenne dich nicht zu sehr in diese Sache, denn ihr Ausgang ist noch ungewiss.«

Aber Elga hörte nur halb auf diese Mahnung. Sie schickte dem Vater tausend Küsschen durchs Telefon und wartete nun fieberhaft auf das Zusammentreffen mit Sandor, der gegen Abend zurückkommen und sie auf der Rückfahrt von der Stadt in Erlau abholen wollte.

Sie hielt sich vom späten Nachmittag an im Park von Erlau auf, um das Geräusch seines Wagens nicht zu verpassen.

Als sie es endlich vernahm, rannte sie zum Torbogen und kam atemlos auf der Brücke an, genau in demselben Moment, in dem er hielt und ausstieg.

Sie flog ihm um den Hals. Niemand war weit und breit zu sehen.

»Hattest du Erfolg?«, fragte sie, und es gelang ihr wirklich gut, die Ahnungslose zu spielen.

»Ja«, sagte er aufatmend und presste sie an sich. »Ich danke dir für diesen guten Rat, Elga. Es war wirklich das Vernünftigste, was ich tun konnte. Ich wäre bestimmt nicht darauf gekommen.«

»Weil du zu stolz warst«, flüsterte sie und schmiegte sich an ihn.

»Ja, das spielte natürlich mit. Ich bekomme den Kredit. Morgen schon. Der Baron ist ein ungewöhnlich sympathischer Mann. Ich muss ihm Abbitte leis­ten. Er war gleich sehr nett zu mir und überbrückte meine Verlegenheit. Ich wurde sogar nach Erlau eingeladen. Hoffentlich hat er dabei keine Hintergedanken.«

»Weshalb? Etwa wegen seiner Tochter?«

»Möglich wäre es schon. Allerdings traue ich diesem Mann so etwas nicht zu. Und für seine Tochter wird er bestimmt einen ebenso reichen Mann aussuchen.«

Sie küsste ihn. »Mach dir darüber jetzt keine Gedanken, Sandor. Nimm das Geld und lege es in deinem Besitz so gut an, dass ein Gewinn dabei herausspringt.«

»Was bist du für ein kluges Mädchen«, murmelte er zärtlich. »Ach weißt du, ich fühle mich wie von einem Alb befreit. Ich werde gleich alles mit Lindemann besprechen. Es gibt in den nächsten Wochen sehr viel zu tun.«

Er legte den Arm um sie, und sie gingen auf dem breiten Waldweg spazieren. Graf Sandor unterbreitete Elga seine Pläne, und sie warf ab und zu einen Ratschlag hin, den er sofort akzeptierte. Dann fuhr er nach Tihany zurück.

Elga blieb in Erlau, denn er wollte den ganzen Abend mit Lindemann über die neuen Maßnahmen sprechen.

Am nächsten Tag bekam er seinen Kredit von der Bank. Baron Waldstein empfing ihn wieder persönlich, und die beiden Herren unterhielten sich eine ganze Weile über verschiedene Themen, in denen sie einer Meinung waren. Beide fanden sie sich noch sympathischer als am Tag zuvor.

*

Zwei Tage später zog Baron Waldstein mit der Hausdame, Fräulein Achenbach, und seinem Sohn Albert in Erlau ein.

Alles war festlich für den Empfang vorbereitet. Auch Elga war anwesend. Sie hatte sich etwas ausdenken müssen, damit Sandor ihr heutiges Fernbleiben nicht falsch deutete.

Ihr völlig verändertes Wesen fiel ihrem Bruder und Fräulein Achenbach auf, und der Baron sah sich genötigt, natürlich mit dem Einverständnis Elgas, den beiden reinen Wein einzuschenken über das Abenteuer, in das sich Elga eingelassen hatte.

Fräulein Achenbach meinte zuversichtlich, es würde wohl doch alles zu einem glücklichen Ende führen. Der Baron konnte nicht ganz zustimmen. Auch Albert, der seine Schwester zunächst wie ein Weltwunder betrachtete, hatte Bedenken, dass der Graf alles in den falschen Hals bekommen werde, wie er sich drastisch ausdrückte.

Trotzdem stießen alle mit Elga an und wünschten ihr ein gutes Ende ihrer Romanze mit dem Grafen.

Graf Sandor saß an diesem Tag über den Haushaltsplänen, die er zusammen mit Herrn Lindemann ausarbeitete. Ab und zu sah er verträumt zum Fenster hinaus. Er dachte an Elga, und die Tatsache, dass er sie heute nicht sehen würde, weckte eine verzehrende Sehnsucht in ihm. Aber er verstand natürlich, dass sie sich an einem Tag ihren Verwandten widmen musste, die sicher ohnehin schon schiefe Gesichter gemacht hatten.

»Übrigens ist meine Tochter gestern gekommen«, erzählte Herr Lindemann in einer Verschnaufpause, »sie würde sich sehr freuen, Sie wiederzusehen, Herr Graf. Meine Frau erlaubt sich daher, Sie zum Abendessen einzuladen. Würde es heute gehen?«

»Ja, das geht. Natürlich! Auch ich freue mich auf Fräulein Margret. Ich bin gespannt, wie sie aussieht.«

»Sie werden staunen.«

Herr Lindemann hätte gern Näheres über die junge Dame gewusst, die in letzter Zeit so oft an der Seite des Grafen zu sehen gewesen war, aber er erlaubte sich nicht, indiskrete Fragen zu stellen. Jedenfalls war das junge Mädchen nicht aus dieser Gegend, und wo er sie kennengelernt hatte, blieb ebenfalls ein Rätsel.

Vielleicht war es nur eine kleine Zufallsbekanntschaft, die nicht von Dauer war, obwohl Herr Lindemann zugeben musste, dass das fremde Fräulein bezaubernd aussah. Aber meine Margret war ebenfalls ein hübsches Mädchen, und er war neugierig, wie sie dem Grafen gefallen würde.

Inzwischen war man im Gutshaus eifrig dabei, das Abendessen zu richten und im Esszimmer festlich den Tisch zu decken. Das Letztere war Aufgabe von Margret Lindemann, die es mit besonderem Eifer tat.

Ihr Vater hatte ihr alles Wissenswerte über den Grafen erzählt. Es tat ihr schrecklich leid, dass er solche Schwierigkeiten zu überwinden hatte, und sie wollte ihn heute Abend fragen, ob sie ihm während ihrer Ferien im Schloss etwas helfen könnte.

»Sie kommen!«, rief die Mutter plötzlich ins Zimmer hinein. »Bist du auch fertig, Mädel?«

»Natürlich«, erklärte Margret und legte die Schürze ab.

Als sie in den Flur trat, kam der Vater schon mit dem Graf Sandor herein. Margret wurde sehr verlegen, als sie ihn erblickte. Er ging rasch auf sie zu und begrüßte sie.

»Das kleine Mädchen von damals ist tatsächlich nicht wiederzuerkennen«, lachte er, »eine junge, sehr hübsche Dame ist aus ihm geworden.«

Margret wurde über und über rot.

»Sie übertreiben, Herr Graf«, sagte sie.

»Haben wir uns nicht früher mit du angeredet?«, fragte er, und sie nickte verschämt.

»Dann wollen wir das aber auch beibehalten«, meinte er entschlossen. »Also, Margret, ich freue mich sehr, dich wiederzusehen, und ich würde es sehr begrüßen, wenn wir die alten guten Freunde blieben, die wir als Kinder gewesen sind. Einverstanden?«

»Ich bin sehr glücklich darüber«, versicherte Margret mit einem schwärmerischen Blick auf ihn.

Herr Lindemann hatte schon eine Flasche Wein geöffnet, und lachend nahm man an der Tafel Platz, die Margret sehr hübsch dekoriert hatte.

Es kam keine Langeweile auf, denn die jungen Leute unterhielten sich sehr gut. Sie tauschten Kindheitserinnerungen aus, und Graf Sandor, der richtig aus sich herausging, erzählte von seinen Erlebnissen in Kanada.

So gelöst hatten die Lindemanns den Grafen seit seiner Anwesenheit auf Tihany noch nicht gesehen, und sie schrieben es ihrer reizenden Tochter zu.

Es war lange nach Mitternacht, ehe der Graf nach Tihany hinüberfuhr.

Margret hatte ihm ihre Hilfe angeboten, aber er hatte lachend abgewehrt.

»Vielleicht in einer Woche. Aber zunächst musst du dich einmal ausruhen und richtig Ferien machen.«

Sie fügte sich ungern, sie wäre viel lieber schon am nächsten Tag in Tihany erschienen.

*

Graf Sandor wartete am nächsten Tag voller Sehnsucht auf Elga.

Er wäre ihr gern entgegengefahren, aber sie hatte ihm gesagt, dass die Familie Waldstein in Erlau ankommen werde. Einer solchen Begegnung wollte er schon aus Taktgefühl ausweichen.

Mit der Morgenpost erhielt er bereits eine förmliche Einladung zu einem Gartenfest nach Erlau. Demnach war die Familie Waldstein bereits eingetroffen.

Er las die Einladung mehrmals. Sie war sehr herzlich gehalten, und er überlegte nicht lange, ob er sie annehmen sollte. Mit einer Absage würde er den Baron, der ihm so spontan geholfen hatte, zutiefst kränken.

Aber wie sollte er der Familie von vornherein klarmachen, dass er an der Tochter nicht im Entferntesten interessiert war? Wie konnte er geschickt jede Spekulation in dieser Richtung zunichte machen?

Nach einigem Nachdenken kam ihm eine glänzende Idee. Aber er wollte Elgas Kommen abwarten, bis er sie in die Tat umsetzte.

Er hatte plötzlich keine Ruhe mehr, sondern verließ das Schloss und ging die lange Allee zum Parktor hinunter.

Im Park waren zwei junge Leute beschäftigt, die er zusammen mit einem halben Dutzend Landarbeitern engagiert hatte. Im kommenden Monat sollten auch noch zwei Hausmädchen ihre Stellung im Schloss antreten.

Er hatte das Tor noch nicht erreicht, als Elga mit ihrem Rad ankam. Das Rad hatte einen neuen Reifen, den Herr Wehnert aufgesetzt hatte.

Weil sie von den Parkarbeitern beobachtet wurden, war die Begrüßung sehr förmlich, und sie gingen nebeneinander zum Schloss, wie es sich für wohlerzogene junge Leute gehörte. Aber schon in der Halle lagen sie sich in den Armen, als hätten sie sich seit Monaten nicht gesehen.

Graf Sandor zog Elga gleich mit in sein Arbeitszimmer. Er zeigte ihr die Einladung nach Erlau und entwickelte ihr den Plan, den er sich ausgedacht hatte.

»Ich nehme dich mit, Liebes. Dann weiß man gleich, dass ich nicht mehr zu haben bin. Ich stelle dich als meine zukünftige Frau vor.« Er riss sie an sich. »Denn wir gehören doch für immer zusammen, nicht wahr?«

»Für immer«, antwortete sie erstickt.

Er küsste sie inbrünstig.

»Wenn du nach Hause fährst, musst du alles gleich deinem Vater sagen, und ich komme dann später nach und halte ganz formell um deine Hand an.«

»Ja«, hauchte sie zitternd.

»Du besorgst dir ein hübsches Kleid. Es wird ein Geschenk von mir sein. Und dann fahren wir zusammen zu dem Gartenfest in Erlau. Ach, eigentlich bin ich sehr froh, dass ich Schloss Erlau bald von innen sehen darf. Ich kann im Grund froh sein, dass Baron Waldstein es gekauft hat. Ein anderer Besitzer würde mich vielleicht gar nicht hineinlassen. Natürlich muss ich den Baron fragen, ob ich eine Dame, die mir sehr nahesteht, mitbringen darf.«

»Ja, das musst du tun«, flüsterte Elga. »Am besten, du rufst den Baron sofort an und gibst auch gleich deine Zusage. Wenn du alles schriftlich machen willst, wird es zu knapp mit der Zeit.«

»Du hast wieder einmal wie immer recht.«

Er küsste sie noch einmal und ging an den Schreibtisch, auf dem das Telefon stand.

Elga sank in einen Sessel und beobachtete ihn mit bangem Herzklopfen.

Spätestens auf diesem Gartenfest wird er alles wissen, dachte sie, und die Angst schnürte ihr die Kehle zu.

Es schien eine Weile zu dauern, bis ihr Vater an den Apparat kam. Bestimmt war er selber perplex über dieses Ansinnen, wusste er doch, dass es sich bei der Dame nur um seine Tochter handeln konnte.

Auf Sandors Gesicht erschien ein sehr glückliches Lächeln. Er bedankte sich mehrfach bei dem Baron und lud ihn seinerseits ein, nach dem Gartenfest einmal nach Tihany zu kommen, um sich anzusehen, was mit Hilfe des Kredits bereits erreicht worden sei.

Dann kam Sandor freudestrahlend auf Elga zu und zog sie an sich.

»Ich darf dich mitbringen! Ich bin restlos glücklich! Jetzt wird keiner von der Familie Waldstein noch damit rechnen, dass ich an der Baronesse Interesse habe. Der Baron wird vielleicht ganz froh sein, in mir keinen Freier zu sehen. Wollen wir morgen in die Stadt fahren und ein Kleid für dich kaufen?«

»Wenn du willst«, brachte sie mühsam heraus.

»Natürlich will ich! Pass auf, du wirst die Königin des Festes sein! Niemand ist so schön wie du es bist. Selbst diese Baronesse nicht, auch wenn sie in Samt und Seide erscheint.«

Elga konnte dazu nur matt lächeln. Sie war froh, als er dieses Thema endlich abbrach.

»Ich muss noch eine Stunde am Schreibtisch arbeiten«, erklärte er.

Sie schlug sofort vor, unten in der Halle den Blumen frisches Wasser zu geben und etwas Staub zu wischen.

»Wunderbar«, sagte er, »ich bekomme eine perfekte Hausfrau!«

Er küsste sie noch einmal und ließ sie gehen. Die Tür zum Arbeitszimmer ließ er weit offen, um zu fühlen, dass Elga ihm nahe war.

Sie begann die Blumen neu zu ordnen und hatte sich ein Staubtuch gegriffen, denn sie kannte sich inzwischen ja überall aus. Die einzigen Geräusche kamen unten aus den Wirtschaftsräumen, in denen Frau Braun tätig war.

Elga war unkonzentriert. Sie fühlte, dass die Angst nicht von ihr wich. Ihr Vater würde ihr schwere Vorwürfe machen, und das war auch berechtigt.

Es war unmöglich, Sandor während des Gartenfestes vor allen Gästen zu kompromittieren. Er musste die Wahrheit vorher erfahren, wenn sie ihn nicht in tödliche Verlegenheit bringen wollte. Es blieben ihr nur noch ein paar Tage.

Mein Gott, dachte sie, wie sage ich es ihm?

Da draußen im Park die Rasenmäher in Betrieb waren, hatte Elga das Nahen eines Wagens überhört. Und in dem gleichen Augenblick, in dem Graf Sandor sein Arbeitszimmer verließ, um Elga zu bitten, ihm bei den schriftlichen Arbeiten zu helfen, betrat Gräfin Coletta Tihany die Halle.

Einen Moment stand sie wie angewurzelt und starrte Elga wie eine Geis­tererscheinung an. Dann stürzte sie auf die völlig verdatterte Elga zu und rief: »Baronesse! Nein, welch eine große Überraschung, Sie hier zu sehen! Ich wusste ja überhaupt nicht, dass Sie meinen Stiefsohn bereits kennen. Wie konnte er mir das verheimlichen!«

Elga wollte ihr ein Zeichen machen, dass sie schweigen sollte, aber es war bereits zu spät.

Auf der oberen Treppenstufe war Graf Sandor aufgetaucht. Er hatte die Worte seiner Stiefmutter gehört und blieb erstarrt stehen. Als sie ihn sah, eilte sie zur Treppe.

»Sandor, ich finde es nicht nett von dir, dass du mir verschwiegen hast, Baronesse Waldstein zu kennen. Und zwar offenbar so gut, dass sie in Tihany schon wie zu Hause ist.«

Sie drohte beiden scherzhaft mit dem Finger und bemerkte dann erst, dass beide aschfahl geworden waren und sich nur mühsam aus ihrer Erstarrung lösten.

»Baronesse Waldstein«, murmelte da Sandor tonlos und kam langsam die Stufen herunter.

Elga eilte schreckensbleich auf ihn zu.

»Sandor«, brach es aus ihr hervor, aber er schnitt ihr mit einer herrischen Geste das Wort ab.

»Ist das wahr?«, fragte er.

»Bitte, lass dir alles erklären!«, bat sie flehend.

»Ich will wissen, ob das wahr ist!«, schrie er unbeherrscht.

Elga senkte den Kopf und schwieg.

»Natürlich ist sie die Baronesse Waldstein«, bemerkte die Gräfin kopfschüttelnd, »wie kannst du daran zweifeln! Hast du das etwa nicht gewusst?«

»Nein, ich habe es nicht gewusst«, sagte er heiser, »aber jetzt weiß ich alles. Jetzt ist mir klar, dass diese gemeine Komödie von dir eingefädelt und gemeinsam mit ihr ausgeführt wurde.«

»Deine Stiefmutter hat nichts damit zu tun«, rief Elga aufgelöst. »Hör mir doch zu, Sandor! Bitte!«

Sie wollte auf ihn zustürzen, aber er ging mit steifen Schritten und ohne sie eines Blickes zu würdigen zum Portal.

»Ich glaube einer Frau wie Ihnen kein Wort mehr, Baronesse. Ich bitte Sie, unverzüglich mein Haus zu verlassen! Mehr habe ich Ihnen nicht mehr zu sagen.«

»Sandor, bist du verrückt!«, schrie die Gräfin, »du kannst doch eine Baronesse Waldstein nicht hinauswerfen wie eine Diebin!«

»Bemühen Sie sich nicht, Gräfin«, erwiderte Elga jetzt mit ernster Würde, »ich gehe von selbst.«

Sie schritt an Sandor vorbei, voller Anmut und Hoheit. Und er blickte mit zusammengebissenen Zähnen an ihr vorbei.

»Baronesse«, rief die Gräfin aufgebracht, »warten Sie! Ich fahre Sie nach Erlau! Ich wollte ohnehin dort einen Besuch machen.« Sie eilte hinter Elga her. An der Tür blieb sie stehen und sah Sandor kurz an. »Du bist wahnsinnig«, zischte sie, »das wäre die Partie deines Lebens!« Heftig atmend ging sie hi­naus.

Wie in einem Traum hörte er das Abfahren des Wagens. Dann war wieder alles still, und nur das ferne Surren der Rasenmäher drang dumpf bis in die Halle.

Es dauerte eine Ewigkeit, bis Graf Sandor bewusst wurde, was geschehen war, dass sich sein ganzes Leben mit einem Schlag verändert hatte, dass er aus dem rosaroten Himmel des Glückes in schwärzeste Finsternis gestürzt war.

Er bedeckte mit beiden Händen seine Augen. Das konnte nicht wahr sein! Elga, seine geliebte Elga, ohne die er nicht mehr leben konnte, sollte die reiche Baronesse Waldstein, die Luxusdame im weißen Straßenkreuzer sein? Unvorstellbar!

Er stöhnte auf. Was ihm unfassbar schien, musste er als Tatsache hinnehmen. Elga hatte ein böses Spiel mit ihm getrieben. Wahrscheinlich steckte seine Stiefmutter dahinter, auch wenn diese es leugnete und Elga sich zu deren Verteidigung aufgeschwungen hatte. Er glaubte das ganze Spiel zu durchschauen. Man wollte ihn durch den Kredit an die Baronesse Waldstein binden.

Wusste etwa auch der Baron von allem? Hatte er ihm daher so bereitwillig Geld geliehen? War es ein Komplott von allen dreien?

Warum ihn seine Stiefmutter so reich verheiraten wollte, wurde ihm mit einem Schlag klar. Sie hoffte ihn dadurch für immer mundtot zu machen, falls er die Wertsachen aus dem mütterlichen Besitz zurückforderte. Wahrscheinlich hatte sie deshalb der Baronesse Schützenhilfe geleistet.

Man wollte ihn von allen Seiten einfangen. Die Baronesse wollte gern Gräfin werden und damit auch den weiteren Besitz der Tihanys in ihre Hände bekommen. Sie rechneten alle damit, dass er nie imstande sein würde, diesen Riesenkredit zurückzuzahlen. Durfte er dieses Geld jetzt überhaupt noch behalten?

Alles in ihm bäumte sich dagegen auf, dass er den Waldsteins auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war. In seinem Herzen war nur noch Platz für seinen gekränkten Stolz und seine Rachegefühle. Alles andere drängte er mit Macht zurück.

Er durfte nicht mehr an die Stunden, an die Tage und Wochen mit Elga denken. Sie musste für ihn gestorben sein. Es war ein Traum gewesen, ein süßer Traum, der nie mehr wiederkehren würde.

Er stürzte wieder nach oben und wollte weiterarbeiten. Aber die Buchstaben tanzten vor seinen Augen. Er sprang wieder auf und ging ans Fenster. Verloren starrte er in den Park. Die Erinnerung an die Spaziergänge mit Elga überfiel ihn, und er knallte das Fenster wieder zu.

Mit keinem Menschen konnte er über das sprechen, was ihn in tiefster Seele bewegte und quälte. Er war wiederholt versucht, den Baron anzurufen, ihm zu sagen, dass er selbstverständlich nicht käme, und dass er das Geld, soweit es noch nicht investiert war, umgehend zurückgeben werde. Aber dann konnte er sich doch nicht dazu aufraffen.

Wenn er jetzt den Kredit zurückgab, stand er wieder vor der gleichen verzweifelten Situation wie am Anfang. Und jetzt alles hinwerfen? Alles? Womöglich auch Tihany aufgeben müssen für immer? An diesem Verlust würde er zugrunde gehen, das wusste er. Dann musste er also auch den Kredit behalten.

Er presste die Hände gegen die hämmernden Schläfen. Hatte er jetzt aber noch die Kraft und die Energie, seinen Besitz wieder hochzubringen? Jetzt, wo er sich verraten und schmählich betrogen fühlte?

Er verrannte sich immer mehr in die Idee, dass Elga alles mit seiner Stiefmutter ausgedacht hätte. Wer von beiden die treibende Kraft gewesen war, wusste er nicht. Aber das war ja auch gleichgültig. Sie sollten sich beide nun gründlich irren, wenn sie glaubten, ihn auf derart raffinierte Weise einfangen zu können.

Ich muss jetzt etwas anderes sehen und hören, dachte er, sonst werde ich verrückt. Lindemanns fielen ihm ein. Es gab sowieso eine Menge mit dem Verwalter zu besprechen. Vielleicht fand er bei diesen einfachen, natürlichen Menschen seinen Seelenfrieden wieder.

Im Gutshaus wurde er mit überströmender Herzlichkeit empfangen. Man merkte ihm zwar nach einer Weile an, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmte, aber man wagte nicht, ihn zu fragen. Und er selbst behielt sein Geheimnis für sich.

Er blieb auch zum Essen bei Lindemanns, denen es eine Ehre war, den Grafen zu bewirten. Und er gestattete Fräulein Margret, am nächsten Tag im Schloss zu helfen.

*

Baronesse Elga hatte aufgelöst das Schloss Tihany verlassen und war zu der Gräfin in den Wagen gestiegen. An ihr Rad hatte sie nicht mehr gedacht; mochte es stehen, wo es wollte.

Auf alle Fragen der Gräfin, was denn eigentlich geschehen sei, gab Elga nur eine Antwort: »Bitte, fragen Sie nichts, Gräfin.«

Da gab Gräfin Tihany es auf, obwohl sie vor Neugierde fast verging.

»Sandor muss den Verstand verloren haben«, stieß sie hervor, aber Elga ging auf nichts ein.

Auf Erlau angekommen, stürzte die Baronesse sofort in ihr Zimmer, nachdem sie Frau Wehnert gebeten hatte, die Gräfin ihrem Vater zu melden.

Baron Waldstein war ein wenig verwirrt über den Besuch der Gräfin. Aber als sie ihm sagte, dass sie auf Tihany gewesen und Zeuge einer schrecklichen Szene gewesen sei, und sie sich verpflichtet gefühlt hatte, Baronesse Elga nach Erlau zu fahren, wusste er alles. Sie wusste sich immer gut herauszureden, und der Baron nahm ihr das auch ohne Weiteres ab.

Er war bestürzt und ließ sich rasch erzählen, was vorgefallen sei und dass die Wahrheit durch die ahnungslose Gräfin vorzeitig entdeckt worden sei.

»Ich habe Elga sofort gewarnt«, erklärte er, »sie hat sich eben in den jungen Grafen verliebt, und dagegen ist kein Kraut gewachsen.«

»Aber das ist doch wunderbar!«, rief die Gräfin entzückt. »Nur dass mein Stiefsohn sich so angestellt hat, ist ärgerlich! Anstatt glücklich zu sein! Ich sagte Ihnen ja, Baron, er ist ein schwieriger Mensch. Was machen wir da nur?«

»Am besten gar nichts, Gräfin. Das ist einzig und allein Sache der beiden jungen Leute. Ich werde versuchen, meine Tochter zu beruhigen. Das ist alles, was ich tun kann. Und ich bitte Sie dringend, Ihren Stiefsohn nicht zu beeinflussen! Man beißt bei jungen Leuten meist auf Granit, wenn man sich in ihre Angelegenheiten mischt.«

»Meinen Sie wirklich, Baron? Es fällt mir schwer, tatenlos zuzusehen, wie Sandor sich sein Glück verscherzt.« Sie seufzte auf und warf einen schmachtenden Blick auf den Baron. »Übrigens danke ich Ihnen herzlich für die Einladung zum Gartenfest. Ich freue mich sehr darauf. Kommt Sandor auch?«

»Nach den neuesten Ereignissen glaube ich das nicht mehr.«

Er musste notgedrungen die Gräfin zum Kaffee einladen, was sie sofort annahm.

Während Fräulein Achenbach sie auf die Gartenterrasse bat, wo der Tisch bereits gedeckt war, eilte er zu seiner jungen Tochter. Voll Sorge betrat er ihre Räume.

Baronesse Elga hatte sich inzwischen wieder gefasst. Jedoch waren noch deutliche Tränenspuren auf ihren Wangen zu entdecken.

Baron Waldstein ging auf sein Kind zu und drückte es ans Herz.

»Ich habe gewusst, dass es so kommen würde, Elgakind. Du hättest auf mich hören sollen!«

»Schuld ist nur die Gräfin! Ich hätte es ihm bis zum Gartenfest behutsam beigebracht. Aber sie platzte mit ihrem Wissen heraus und benahm sich wie ein Elefant im Porzellanladen.«

»Du kannst ihr keine Schuld geben. Sei nicht ungerecht, Elga! Er hätte in jedem Fall so reagiert. Welcher Mann läss­t sich schon gern an der Nase he­rumführen. Er muss doch jetzt denken, dass wir ihn alle nur einfangen wollen.«

»Was soll ich denn tun, Papa? Ich bin so unglücklich wie nie in meinem Leben.«

»Verständlich, mein Kind. Aber tun kannst du gar nichts. Er weiß ja jetzt alles. Und wenn er glaubt, dass du ihn liebst und dass du alles nur getan hast, um ihm zu helfen, wird er von selber kommen. Nur zwingen darfst du ihn zu nichts.«

»Er glaubt mir nichts mehr«, murmelte Elga.

»Dann waren seine eigenen Gefühle nicht stark genug. Dann solltest du nun schleunigst deine Koffer packen und für ein paar Wochen wegfahren, und zwar so weit wie nur möglich.«

Elga schwieg betroffen. Dann sagte sie: »Wir wollen das Gartenfest abwarten, Papa.«

»Ich hoffe es inbrünstig. Er muss doch fühlen, dass ich nicht mit ihm gespielt habe.«

»Diese Ansicht teile ich, Kind. Bitte, fasse dich aber vorerst in Geduld. Er braucht wahrscheinlich einige Zeit, um zu erkennen, dass du alles aus Liebe getan hast.«

»Das wollte ich ihm alles sagen, Papa, aber er ließ mich gar nicht zu Wort kommen. Er warf mich buchstäblich aus dem Haus.«

»Diese spontane Reaktion kann man durchaus verstehen. Aber vielleicht tut es ihm schon leid.« Er küsste seine Tochter. »Geh ein wenig in den Park, Kind. Willst du mit uns Kaffee trinken? Die Gräfin musste ich einladen. Sie war ja so nett, dich hierherzubringen. Wir sitzen auf der Terrasse.«

»Nein, lass mich noch ein Weilchen hier, Papa. Ich brauche etwas Zeit, um mich zu fassen.«

»Na gut, wie du meinst, mein Liebes. Bis nachher also.«

Der Baron nickte seiner Tochter noch einmal zu und ging. Elga blieb allein. Sie kam erst wieder nach unten, als sie gegen Abend den Wagen der Gräfin abfahren hörte.

Ihr Vater hatte seinem Sohn Albert und Fräulein Achenbach, seiner Hausdame, erzählt, was vorgefallen war, und zum ersten Mal unterließ Baron Albert, sein Schwesterchen scherzhaft aufzuziehen. Im Gegenteil, er fühlte mit ihr und legte mit brüderlicher Zärtlichkeit den Arm um sie, um ihr auf diese Weise seine Verbundenheit zu zeigen.

Die Gräfin fuhr wieder nach Tihany. Trotz der Ermahnung des Barons wollte sie nichts unversucht lassen, um ihren Stiefsohn zur Vernunft zu bringen.

Aber der junge Graf war nicht anwesend. Man sagte ihr, dass er im Gutshaus bei den Lindemanns wäre. Daher musste die Gräfin unverrichteter Dinge abziehen, denn mit den Lindemanns wollte sie nichts zu tun haben. Es hatte früher zu oft Reibereien zwischen ihr und Herrn Lindemann gegeben.

Hoffentlich verscherzte sich Sandor nicht alles und kam wenigstens zu dem Gartenfest nach Erlau.

*

Kurz bevor Graf Sandor sich an diesem Abend von den Lindemanns verabschiedete, um nach Tihany zurückzufahren, kam ihm eine Idee. Und die entsprang seinem leicht benebelten Zustand, denn er hatte reichlich dem gu­ten Wein zugesprochen, den Herr Lindemann kredenzt hatte. Und das alles nur, weil Graf Sandor seinen Schmerz im Alkohol ertränken wollte.

»Da fällt mir etwas ein«, sagte er, als er sich bereits erhoben hatte. Sein Blick glitt über Fräulein Margret. »Hättest du Lust, Margret, am Samstagabend mit mir zu einem Gartenfest zu gehen? Baron Waldstein gibt in Erlau ein Gartenfest. Und ich habe mir ausbedungen, dass ich dazu eine Dame mitbringe, was mir sofort erlaubt wurde. Es wäre eine nette Abwechslung für dich. Kommst du also mit?« Er wandte sich an die verblüfften Eltern. »Sie gestatten doch, dass ich Ihre Tochter mitnehme?«

»Aber gern, Herr Graf«, stammelte Herr Lindemann, dem sofort klar wurde, dass die Sache mit der unbekannten jungen Dame wohl ein jähes Ende gefunden haben musste.

Auch Frau Lindemann hatte nichts dagegen. Sie brauchte nur ihre Magret anzusehen, um zu erkennen, dass diese vor Glück ganz verlegen geworden war.

»Ich freue mich so«, stotterte sie. »Oh, Mutti, was ziehe ich da bloß an?«

»Sehen Sie, Herr Graf«, lachte Herr Lindemann, »das sind die einzigen Sorgen der jungen Damen. Du hast doch so viele hübsche Kleider, Margret.«

»Aber zu diesem Fest muss sie etwas Neues haben«, erklärte Frau Lindemann, und Margret nickte eifrig. »Wir fahren morgen früh in die Stadt und kaufen was für dich.«

Graf Sandor starrte einen Augenblick ins Leere. Hatte er nicht auch morgen mit Elga in die Stadt fahren wollen, um ein Kleid zu kaufen für sie?

»Ja«, hörte er sich sagen, »kaufen Sie Ihrer Tochter ein besonders schönes Kleid, Frau Lindemann. Auf meine Rechnung bitte. Ich möchte, dass Fräulein Margret nicht hinter den anderen Damen zurücksteht.«

Alle drei starrten ihn an, aber er sah weg. Wenn sie wüssten, dachte er, dass Rachegefühle und Bitterkeit mich erfüllen. In Tihany hörte er, dass seine Stiefmutter noch einmal dagewesen sei. Ein grimmiges Lächeln spielte um seine zusammengepressten Lippen. Sie würden sich alle wundern! Ein Graf Tihany ließ sich niemals kaufen! Auch nicht, wenn ein süßer Traum dabei zerrann und sein Herz vor Weh brach.

*

Jagdschloss Erlau lag – von unsichtbaren Scheinwerfern angestrahlt – in magischem Licht da, als sich die Gäste nacheinander einfanden. Man ging zu Fuß über die steinerne Brücke in den Innenhof, der wie ein Märchen aus uralten Zeiten anmutete.

Hier im Innenhof begrüßte der Hausherr an der Seite seiner Tochter und seines Sohnes die Gäste.

Baronesse Elga brauchte nicht zu befürchten, dass irgendeine Dame ihr den Rang ablaufen würde. Sie sah in ihrem lindgrünen Duchessekleid, das mit weißen Samtapplikationen verziert war, so zauberhaft aus, dass alle Blicke sekundenlang wie gebannt an ihrem Gesicht und ihrer Gestalt hingen.

Die vergossenen Tränen sah man ihr nicht mehr an, denn sie nährte in ihrem Herzen die Hoffnung, dass heute alles gut werde. Da Sandor Tihany die Einladung nicht abgesagt hatte, war sie gewiss, dass er käme. Und sie wollte gar nichts unversucht lassen, um ihn von ihrer ehrlichen Liebe zu überzeugen. Eine Gelegenheit dazu würde sich heute gewiss finden.

Ihre Ungeduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Die meisten Gäste waren schon da und hatten sich in den Park begeben. Hier hatte man auf einer weiten Rasenfläche kleine Tische aufgestellt, an denen das Abendessen eingenommen werden sollte. Bunte Lampions tauchten die ganze Szene in ein feenhaftes Licht. Durch Trauerweiden hindurch sah man den stillen See silbern schimmern.

In einem steinernen Pavillon, der etwas erhöht lag und dessen Decke von sieben Säulen getragen wurde, saß eine Tanzkapelle in malerischer Tracht, die zarte Weisen spielte.

Die Gäste waren allseits entzückt und ließen es an Lob nicht fehlen.

Gräfin Tihany war eine der Ersten gewesen. Sie sah sehr apart aus und erinnerte in keiner Weise mehr an eine trauernde Witwe. Verschiedene Gäste nahmen ihr das übel, aber sie scherte sich wenig daran. Sie war nur sehr ungehalten, als sie feststellte, dass ihr Stiefsohn noch nicht erschienen war, und blickte, während sie sich mit einigen Herren unterhielt, ständig zum Toreingang.

Graf Tihany war einer der Letzten. Er hatte seinen alten Wagen etwas entfernt in einem Seitenweg geparkt und bot Margret Lindemann den Arm.

»Hast du Angst?«, fragte er mit unsicherer Stimme.

»Ein bisschen schon. Ich war noch nie auf solch einem Fest. Wie herrlich das Jagdschloss aussieht. Man sieht es schon durch die Bäume schimmern.«

Auch er war tief beeindruckt von dem angestrahlten Schloss. Nein, solche Extravaganzen hätte er sich niemals leis­ten können.

Langsam schritt er mit Margret Lindemann über die steinerne Brücke. Seine äußere Ruhe war gespielt. In Wirklichkeit pochte sein Herz wie ein Hammer. Er wusste, dass er in wenigen Minuten Elga gegenüberstehen und dass es ihn übermenschliche Kraft kosten würde, die Stimme seines Herzens zum Schweigen zu bringen.

Mit einem verirrten Lächeln sah er zu Margret hin, deren Hand locker in seinem Arm hing. Sie sah reizend aus in dem himmelblauen Georgettekleid, das sie sich selbst ausgesucht hatte.

Baronesse Elga stand mit ihrem Vater und einigen Gästen noch im Innenhof. Sie erblickte Sandor zuerst, und ihr zweiter entsetzter Blick traf die junge Dame an seinem Arm. Elga war es, als erhielte sie einen Faustschlag ins Gesicht.

Ihr Vater bemerkte ihr Erblassen und wandte sich den Eintretenden zu. Auch er musste einen leichten Schock überwinden, als er den Grafen mit seiner Begleiterin sah. Für ihn war es sofort klar, dass Graf Tihany sein Erscheinen als einen Racheakt ansah. Das war ihm wirklich glänzend gelungen, wie der Baron mit einer bitteren Bewunderung feststellen musste.

Er fasste unwillkürlich nach dem zitternden Arm seiner Tochter, um ihr damit einen gewissen inneren Halt zu geben. Elga sah ihn einen Moment dankbar lächelnd an, aber in ihren Augen las er trotzdem den Schmerz und die Enttäuschung.

Der Baron ging auf die beiden Gäste zu.

»Wie nett, dass Sie meiner Einladung Folge geleistet haben, Graf. Und dies ist die Ihnen so nahestehende junge Dame?«

Ein leiser Spott lag in dieser Frage, was Graf Sandor nicht entging. Er stellte Margret vor, die von der Erscheinung des Barons und der hinter ihm stehenden Baronesse wie geblendet war.

Baron Waldstein stellte seiner Tochter die beiden Gäste vor. Mit keinem Wort ließ er durchblicken, dass er wuss­te, dass sich die jungen Menschen bereits kannten.

Elga hatte sich mit eiserner Energie gefasst. Sie hatte sogar für Margret ein gewinnendes Lächeln, während sie Sandor höflich, aber reserviert die Hand reichte. Er sah sie nur kurz an. Wenn ich sie länger ansehe, dachte er, dann schmilzt mein Groll zusammen, und das darf nicht sein.

Elga hörte aus dem kurzen Gespräch, das ihr Vater führte, dass Fräulein Lindemann die Tochter des Gutsverwalters von Tihany war. Wie schnell er sich getröstet hat, durchzuckte es sie. Sie war froh, dass in diesem Moment die letzten Gäste ankamen und begrüßt werden mussten. Sie spürte, wie Tränen ihren Blick verschleierten und dass es ihr fast unmöglich war, gefasst und sicher zu wirken.

»Ganz tapfer sein, mein Kleines!«, raunte ihr Vater ihr zu und drückte ihre Hand.

Graf Tihany ging mit Margret durch das Tor in den festlich erhellten Park. Lautes Stimmengewirr, untermalt von den Klängen der Tanzkapelle, scholl ihnen entgegen. Sie blieben einige Momente fasziniert stehen.

»Dies ist das schönste Fest, das ich je erlebt habe«, flüsterte Margret und sah ihn an.

Sandor schien nicht ihrer Ansicht zu sein. Er schwieg, als habe er nichts gehört, und sein Gesicht wirkte wie versteinert.

Der Baron kam mit Elga und den letzten Gästen hinter ihnen her.

Da es sich rasch herumsprach, dass der blendend aussehende junge Mann Graf Sandor Tihany war, wurde dieser bald von Leuten umringt, die ihn von früher kannten oder doch wenigstens seine Eltern gekannt hatten. Seine Stiefmutter hatte ihn und seine Begleiterin auch bereits gesichtet.

Sie kam auf ihn zu, drängte ihn für einen Augenblick zur Seite und raunte ihm ins Ohr: »Empörend, wie du dich benimmst!« Dann ließ sie ihn stehen. Margret wurde von ihr wie Luft behandelt.

Diese Bemerkung seiner Stiefmutter schürte nur seinen Groll und bestärkte ihn in der Annahme, dass sie das alles eingefädelt hatte.

Baron Albert sowie Fräulein Achenbach waren ebenfalls schockiert über das Verhalten des Grafen, obwohl er so äußerst sympathisch wirkte. Sie begrüßten ihn jedoch genauso liebenswürdig wie alle anderen Gäste, und ebenso nett wurde auch Margret empfangen.

Der Baron, der zuerst angeordnet hatte, dass Graf Tihany mit am Tisch seiner Tochter sitzen sollte, änderte auf Elgas Bitten hin unauffällig die Tischordnung. So kam Graf Tihany mit Margret an den Tisch, an dem Baron Albert und eine junge Dame sowie einige weitere junge Leute aus den ersten Kreisen der Umgebung und der Stadt Platz genommen hatten.

Graf Tihany war auffallend schweigsam, sodass Baron Albert in der Hauptsache das Gespräch mit den anderen führte. Zum Glück war er ebenso geistreich wie sein Vater, sodass keine Sekunde Langeweile aufkam, sondern die jungen Damen immer etwas zu lachen hatten.

Auch Margret fand den jungen Baron überaus charmant. Ab und zu sah sie auf Graf Tihany, und es war ihr völlig rätselhaft, wieso er heute so in sich gekehrt und wortkarg war. Packte ihn etwa die Trauer, dass ihm Erlau nicht mehr gehörte?

Diener in roter Livree mit Goldbesatz servierten ein lukullisches Abendessen. Aber zwei Menschen rührten davon kaum etwas an. Das waren Elga und Graf Tihany.

Wenn sie sich unbeobachtet fühlten, flogen Blicke hin und her, ohne dass sie sich jemals trafen, denn das vermieden sie beide geflissentlich. Tiefer Groll saß in ihren Herzen. In Elga wühlte zudem noch brennende Eifersucht auf die hübsche Margret Lindemann, die doch von allem nichts ahnte.

Elga hatte einen sehr netten Tischherrn bekommen, den ihr Vater ihr im letzten Moment auserwählt hatte. Er gab sich redliche Mühe, sie zu unterhalten, aber er hatte keinen großen Erfolg.

Graf Tihany sprach dem Sekt mehr zu, als ihm guttat. Er wollte alles in Alkohol ertränken, was ihn so peinigte. Daraufhin wurde er gesprächiger. Er fing an, sich mit Baron Albert zu unterhalten, und fand auch diesen gegen seinen Willen sehr sympathisch.

Dann wieder wanderte sein Blick über den Park, über Elgas zauberhafte Gestalt ein paar Tische weiter und über die Mauern des geliebten Schlosses. Er biss sich auf die Lippen, um einen abgrundtiefen Seufzer zu unterdrücken. Seine Stiefmutter, die nicht weit entfernt saß, würdigte er kaum eines Blickes, und sie verhielt sich ebenso. Sie war maßlos enttäuscht, dass sie nicht am Tisch von Baron Waldstein saß, und das schob sie ihrem verstockten Stiefsohn in die Schuhe.

Am Tisch des Barons saß Fräulein Achenbach, sehr dezent und vornehm im taubenblauen Kleid aus Atlasseide. Die Gräfin konnte die Hausdame nicht ausstehen, und umgekehrt war es genauso, wenn sich auch Fräulein Achenbach niemals eine Äußerung über Gäs­te des Hauses erlaubte.

Nach dem Abendessen begann der Tanz. Dafür war eigens eine Tanzfläche auf einer angrenzenden Wiese errichtet worden, die von bunten Lichtern umsäumt war.

Der Baron eröffnete mit seiner Tochter den Tanz. Er war ein glänzender Tänzer und sah noch fabelhaft aus. Er hielt Elga galant und zärtlich am Arm. Sie schwebte an der Seite des Vaters dahin. Man war allgemein so entzückt von diesem anmutigen Paar, dass niemand es wagte, die Tanzfläche zu betreten, bis der Baron eine auffordernde Handbewegung machte.

Graf Tihany saß wie versteinert da. Er starrte auf das tanzende Paar und leerte sein Glas Champagner in einem Zug. Er war so versunken, dass er kaum bemerkte, wie Baron Albert Margret Lindemann zum Tanz aufforderte. Danach tanzten auch die übrigen jungen Leute an seinem Tisch, sodass er ganz allein dasaß.

Er hörte die Musik wie aus weiter Ferne. Er dachte an das kleine süße Mädchen Elga, das er im Arm gehalten und geküsst hatte. War es dieselbe Frau, die jetzt wie eine Königin über das Parkett glitt, umhüllt von einem rauschenden Ballkleid?

Er zuckte zusammen, als die Paare lachend zu ihren Tischen zurückkehrten.

»Hoffentlich sind sie mir nicht böse, dass ich Ihnen Ihre Tischdame entführt habe«, lachte Baron Albert ihn an. »Ich glaube, Sie haben es nicht einmal bemerkt.«

Er lächelte matt zurück. Margret neigte sich ihm zu. Ihr Gesicht war vom Tanzen und vom Alkohol gerötet.

»Ist dir nicht gut, Sandor?«, fragte sie.

»Warum?«, entgegnete er. »Ich fühle mich ausgezeichnet. Tanzen wir?«

Sie nickte erleichtert. Und von nun an tanzte er jeden Tanz. Ohne eine kleine Pause zu machen, forderte er eine Dame nach der anderen auf. Am meis­ten tanzte er jedoch mit Margret, der sein plötzlich exaltiertes Benehmen genauso unverständlich war wie vorher seine Einsilbigkeit.

Er tanzte nur nicht mit Elga. Sie mied er konstant. Im allgemeinen Trubel des Festes fiel das nur den Eingeweihten auf. Und diese fanden sein Benehmen brüskierend.

Elga litt Höllenqualen. Sie wurde zwar dauernd zum Tanz geholt und die Herren rissen sich geradezu um sie, aber sie wartete ja nur auf den einen, der nicht kam.

Wie hatte sie sich auf dieses Fest gefreut, und nun wünschte sie nichts sehnlicher, als dass es zu Ende ginge. Sie hatte nur noch den einen Wunsch, allein zu sein und sich ganz ihrem Schmerz hinzugeben.

Ihr Vater beobachtete sie, und er litt selbst mit ihr, aber er sah keine Möglichkeit, ihr zu helfen. Sollte ich mich so in diesem jungen Grafen getäuscht haben, dachte er verstört.

Er nahm sich vor, gnadenlos vorzugehen, falls der Graf seinen Rückzahlungsverpflichtungen nicht nachkam.

Genauso kalt, wie der Graf jetzt über den Schmerz Elgas hinwegging.

Wie jedes Fest, so ging auch dieses langsam seinem Ende zu. Graf Tihany war einer der Ersten, die kurz nach Mitternacht aufbrachen. Er fühlte nach dem letzten Tanz eine immer stärker werdende Erschöpfung, und der genossene Alkohol tat sein Übriges.

Plötzlich merkte er, dass er den ganzen Abend nichts anderes getan hatte, als sich selbst und allen anderen eine Komödie vorzuspielen.

Und jetzt hatte er genug. Er wollte fort – fort aus den Mauern dieses alten Schlosses, das ihn auf jedem Schritt an seine glückliche Kindheit erinnerte, und fort aus der Nähe des Mädchens, das er heute aus Rache für vermeintlichen Verrat mit tödlicher Nichtachtung gestraft hatte.

Er fühlte, dass er sich den Waldsteins gegenüber unfair benommen hatte, aber er konnte nicht anders. Seine Gefühle waren mit ihm durchgegangen.

Margret Lindemann war gar nicht entzückt, als er zum Aufbruch mahnte.

»Aber«, sagte sie bestürzt, »es ist doch so schön. Und erst kurz nach zwölf Uhr. Alle bleiben noch. Ich finde es wunderbar.«

»Wenn du bleiben willst«, entgegnete er frostig, »ich fühle mich nicht wohl.«

»Natürlich gehe ich dann mit«, erklärte sie bedrückt, »sicher hast du etwas zuviel getrunken und zu viel getanzt. Übrigens hast du nicht ein einziges Mal mit der schönen Baronesse getanzt, Sandor. Das nimmt man dir sicher übel.«

»So«, murmelte er gedehnt, »das ist mir nicht aufgefallen. Ich werde mich morgen entschuldigen. Ich möchte jetzt gehen. Die Baronesse hat ja genug Tänzer, die sich um sie bemühen.«

Margret starrte ihn an. So kühl und verächtlich hatte sie ihn noch nie sprechen hören. Aber sie musste sich wohl oder übel seinem Wunsch fügen, denn sie war mit ihm gekommen und hatte nur ihm diesen Abend zu verdanken.

Elga und auch ihr Bruder Albert befanden sich gerade auf dem Tanzboden, als sich Graf Tihany mit Margret von dem Baron und Fräulein Achenbach verabschiedete. Der Baron hob leicht verwundert die Augenbrauen, enthielt sich aber jeder Frage.

»Darf ich Sie bitten, Baron, in den nächsten Tagen einmal nach Tihany zu kommen«, murmelte Graf Sandor, »ich würde mit Ihnen gern einige geschäftliche Dinge besprechen. Und Sie hätten Gelegenheit, sich Tihany genauer anzusehen.«

»Ja gern, das lässt sich machen«, sagte der Baron höflich, aber merklich zurückhaltend.

Graf Tihany verließ beinahe fluchtartig das Schloss. Margret konnte ihm gar nicht rasch genug folgen.

»Was hast du, Sandor? Hat es dir gar nicht gefallen? Bitte, verzeih die Frage, ich kann mir denken, dass es dir einfach schrecklich ist, Erlau im Besitz anderer Menschen zu sehen. Ich bin sehr egois­tisch. Ich denke nur an mein eigenes Vergnügen. Ich fand es wunderbar, und ich danke dir sehr dafür.«

»Nichts zu danken«, murmelte er und half ihr beim Einsteigen, »die Hauptsache ist, dass es dir so gut gefallen hat. Du hast entzückend ausgesehen, und das haben auch sicher alle anderen Herren festgestellt.«

»Aber die Schönste war die Baro­nesse. Nur ihre Augen wirkten so melancholisch. Sie wird dir nicht verzeihen, dass du nicht mit ihr getanzt hast. So etwas merkt eine Frau sich.«

Er schwieg dumpf. Sie sah oft zu ihm hin. Sein Profil kam ihr hart und unerbittlich vor. Sie spürte, dass etwas in ihm war, was sie nicht begriff und wo­ran sie keinen Anteil hatte. Das war den ganzen Abend schon so.

Sandor brachte sie nach Hause. Er schloss ihr die Haustür auf und gab ihr die Hand. Wenn sie mehr erwartet hatte, so sah sie sich getäuscht.

»Darf ich morgen wieder nach Tihany kommen und helfen?«, fragte sie.

»Natürlich!«, antwortete er. Dann wünschte er ihr eine angenehme Nacht und stieg wieder in seinen Wagen.

Sie sah ihm nach und seufzte unmerklich. Was ist nur mit ihm los, dachte sie.

Als sie am nächsten Morgen ihren Eltern von dem Verlauf des Festes erzählte, waren auch diese etwas enttäuscht, dass Graf Tihany so früh gegangen war und dass er so verändert gewesen sei.

»Er wird dem jungen schönen Mädchen nachtrauern, das er einige Male hier bei sich hatte«, warf Frau Lindemann hin. Worauf ihre Tochter blass wurde und sich genau danach erkundigte.

»Warum hast du mir davon nichts erzählt?«, fragte sie vorwurfsvoll.

»Ich dachte, diese Geschichte sei vorbei. Anscheinend ist die junge Dame wieder weg und hat nichts mehr von sich hören lassen.«

Margret wurde nachdenklich. Da spukte also eine andere Frau in seinem Kopf herum. Und sie hatte sich eingebildet, dass sein ganzes Interesse ihr galt, dass er sie aus diesem Grund mitgenommen habe. In Wirklichkeit wollte er nur vergessen, aber es war ihm nicht gelungen.

Diese Erkenntnis tat weh. Ich darf mir keine Illusionen machen, sagte sie sich, und meine Eltern sollten sich auch keine machen.

Trotzdem ging sie an diesem Tag wieder ins Schloss. Vielleicht kommt er doch einmal darüber hinweg, dachte sie weiter. Ich werde ihm jedenfalls helfen, so gut ich kann.

Er freute sich, als sie kam, aber die Trauer in seinen Augen war noch nicht gewichen. Ihr gegenüber ließ er sich nichts anmerken. Er forderte sie sogar zu einem Ritt über die Felder auf, um nach den Arbeiten zu sehen, und sie sagte mit Freuden zu.

*

Zwei Tage später fuhr die elegante Limousine des Barons Waldstein durch das Parktor von Tihany und hielt vor der Freitreppe. Ihr entstiegen der Baron und sein Sohn Albert. Beide betrachteten eingehend die Vorderfront des Schlosses und den davorgelagerten Park.

»Da gibt es noch viel zu tun für den Grafen«, meinte Albert. »Bereust du, dass du ihm das Geld gegeben hast, Papa?«

»Keineswegs. Die Gegenwerte stehen ja hier vor mir. Ich werde den Grafen behandeln wie einen Bankkunden, nicht wie den Mann, den meine Tochter unglücklich liebt. Übrigens sah die kleine Lindemann, die er da bei sich hatte, entzückend aus. Er bringt es fertig und heiratet sie, nur um meine Elga zu ärgern.«

»Ja, das sähe ihm ähnlich. Die kleine Lindemann gefiel mir auch, Papa. Sie ist so natürlich. Schade, dass sie so früh mit ihm verschwinden musste.«

Die beiden Herren stiegen die Freitreppe zum Portal hinauf. In der Halle empfing sie angenehme Kühle. Elga hatte ihrem Vater schon erzählt, wie viel Wertgegenstände die Gräfin ihrem Stiefsohn heimlich weggenommen hatte, und er fand es bestätigt, als er seinen Blick durch die Halle schweifen ließ.

Aus einem der angrenzenden Räume kam plötzlich Fräulein Margret. Sie wurde rot, als sie die beiden Herren erblickte, die über ihr Auftauchen nun ebenfalls leicht schockiert waren.

»Ich helfe hier«, erklärte sie, »erst zum nächsten Ersten kommen Hausgehilfen. Ich kenne mich hier aus. Schon seit meiner Kindheit.«

»Aha!«, sagte Baron Waldstein. »Ist der Graf zu Hause, mein Fräulein? Ich hoffe, das Fest ist Ihnen gut bekommen.«

Margret nickte eifrig und versprach, den Grafen sofort zu rufen.

Sandor kam wenige Augenblicke später. Er schien verlegen und rang nach Worten, um seine Besucher zu begrüßen. Er bat den Baron und dessen Sohn, mit ihm durch das Schloss zu gehen. Aber der Baron sagte, seinen Sohn interessiere das nicht allzu sehr. Er würde lieber einen Spaziergang im Park machen.

Albert warf ihm einen dankbaren Blick zu.

So ging Graf Tihany mit Baron Waldstein allein durch die Räume, während Baron Albert Margret fragte, ob sie ihn begleiten wolle. Nach kurzem Zögern sagte sie zu, und sie gingen in den Park. Kurz darauf hörte man Margret lachen über die witzigen Bemerkungen, die Albert wieder einmal von sich gab.

»Baron«, begann Graf Tihany, kaum dass sie ein paar Räume besichtigt hatten, »ich muss Sie um Verzeihung bitten, dass ich mich auf Ihrem Gartenfest etwas taktlos und unverständlich benommen habe. Aber ich muss Ihnen etwas eingestehen. Ich kenne Ihre Tochter …, ich …« Er hielt inne, weil der Baron ihn mit einer Handbewegung unterbrach.

»Ich bin orientiert, Graf. Ich habe meiner Tochter heftige Vorwürfe gemacht. Aber was nutzt das alles, wenn ein Menschenskind sich Hals über Kopf verliebt hat? Nichts!«

Graf Tihany schluckte und schwieg betroffen.

»Wenn es Sie überhaupt noch interessiert, Graf«, fuhr der Baron überlegen fort, »will ich Ihnen kurz berichten, woher Elga Sie kannte.«

Er erzählte von der Begegnung auf der Post.

»Bei Elga war es sozusagen Liebe auf den ersten Blick. Sie hoffte, Sie bei Ihrer Stiefmutter zu sehen, und kam extra deswegen von Erlau nach Hause zurück. Nun, Sie blieben diesem Abendessen bei der Gräfin fern und schrieben ihr auch, warum. Diesen Brief las die Gräfin meiner Tochter vor, und Elga war sicher, dass Sie sie ablehnten, wenn Sie wüssten, wer sie war. Sie wollte Ihnen mit diesem Schwindel beweisen, dass sie ein natürlicher Mensch ist, der sich nicht scheut, zu arbeiten.

Ich habe sie von Anfang an gewarnt, aber es war schon zu spät. Und den Kredit haben Sie natürlich auch zum Teil der Fürsprache meiner Tochter zu verdanken. Aber ich bitte Sie inständigst, darüber hinwegzusehen! Elga wollte Ihnen die Wahrheit schonend und vor allem noch vor dem Gartenfest beibringen. Sie hoffte, dass Sie ihr verzeihen würden. Ihre Stiefmutter ist dazwischengekommen, was niemand ahnen konnte.

Sie sind mit Recht empört, das kann ich Ihnen nachfühlen. Und Ihr Verhalten auf dem Gartenfest hat uns auch gezeigt, dass für Sie diese Angelegenheit erledigt ist. Wir akzeptieren Ihren Entschluss. Sie brauchen sich mir und meiner Familie gegenüber keinesfalls verpflichtet zu fühlen, nur weil Ihnen meine Bank einen Kredit eingeräumt hat.«

Er sah den jungen Grafen an und stellte befriedigt fest, dass seine Worte ihn wie Peitschenhiebe trafen.

»Ich habe meiner Tochter dringend geraten, die Konsequenzen aus Ihrem Verhalten am Abend des Gartenfestes zu ziehen«, fuhr der Baron sicher und weltmännisch fort, »und Elga hat mir versprochen, es zu tun. Sie wird in der kommenden Woche zu Verwandten ins Ausland reisen. Damit ist Ihnen und auch meiner Tochter ein peinliches Wiedersehen erspart. Ich hoffe, dass ich völlig in Ihrem Sinn die Sache ins Reine gebracht habe. Das Ganze war der unüberlegte und gewagte Schritt eines jungen verliebten Mädchens, das auf diese Weise Gegenliebe erzwingen wollte. Ich habe ihr das gesagt und hinzugefügt, dass jeder Mensch eben einmal eine solche Enttäuschung erleben muss, um reifer zu werden. Ich setze alle Hoffnung in die Vernunft meiner Tochter und hoffe, dass sie bei ihrer Rückkehr aus dem Ausland das Ganze überwunden hat. Elgas kleiner Schwindel Ihnen gegenüber und Ihre Rache auf dem Gartenfest, ich glaube, das gleicht sich nun aus, Graf. Wir sollten nicht mehr darüber sprechen. Übrigens ist die kleine Lindemann ganz reizend. Eine Jugendliebe, wie ich vermute?«

Graf Tihany war noch wie benommen von dem eben Gehörten. Er zuckte zusammen, als der Baron diese Frage an ihn richtete.

»Nein«, stammelte er, »wir kennen uns nur von Kindheit an.«

Ein Kloß saß in seiner Kehle, sodass er die Worte nur stockend herausbrachte. Er wollte noch weitersprechen, aber der Baron wechselte sofort auf das geschäftliche Thema über und kam mit keiner Silbe mehr auf die Sache zurück. Er besah sich den Zustand des Schlosses, stellte Fragen und riet dem Grafen, dies oder jenes zu tun.

Dann bat er, sich die Grundstücke ansehen zu dürfen. Und jedes Mal wenn der Graf während der Fahrt durch das Gelände anfangen wollte, auf das Fest und seine Empfindungen für Elga zurückzukommen, stellte der Baron eine sachliche Frage über Ackerbestellung oder Viehzucht.

Graf Tihany spürte betroffen, dass der Baron an die Sache mit seiner Tochter offenbar nicht mehr erinnert werden wollte. Er war wie erschlagen und antwortete manchmal so zerstreut und ungeschickt, dass der Baron ihn verwirrt ansah.

Die Besichtigung dauerte den ganzen Vormittag. Und als sie schließlich beendet war, hielten sie Ausschau nach Baron Albert und Fräulein Lindemann. Diese waren jedoch nicht zu finden, und der Graf musste schließlich Herrn Braun in den Park schicken, um nach den beiden zu suchen.

Baron Waldstein konnte sich eines amüsierten Lächelns nicht erwehren, was er jedoch geschickt verbarg. Der Graf kam ihm ziemlich konsterniert vor.

Ob es nun wegen Fräulein Lindemann war oder wegen Elga, konnte er nicht entscheiden.

Endlich, nach einer halben Stunde tauchten die beiden mit hochroten Köpfen und unter mehrmaligen Entschuldigungen auf. Fräulein Lindemann war verlegen und senkte den Blick. Baron Albert jedoch berichtete, dass sie eine kleine Kahnfahrt auf dem künstlichen Teich unternommen hätten und vorher im Park spazieren gewesen wären.

»Ein schöner Besitz«, sagte er zu Graf Tihany.

Die Waldsteins verabschiedeten sich sofort. Graf Tihany brachte sie bis zu ihrem Wagen. Er wollte noch etwas sagen, eine Erklärung abgeben, aber der Baron ließ ihn absichtlich nicht dazu kommen.

»Wenn Sie geschäftliche Fragen haben, Graf, stehe ich zu Ihrer Verfügung«, sagte er beim Einsteigen. »In drei Wochen bin ich wieder in meiner Bank zu sprechen. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Aufbauarbeit hier.«

Wie benommen ging der Graf zurück. Margret stand in der Halle.

»Bist du mir böse?«, fragte sie zaghaft, als er sie zerstreut ansah.

»Warum?«, wollte er wissen.

»Nun, ich dachte, weil ich spazieren war, anstatt etwas zu tun.«

Er lachte knapp auf.

»Aber du hast doch Ferien. Außerdem kannst du tun, was du willst. Der junge Baron ist nett, nicht wahr?«

»Ja, sehr. Er hat bedauert, dass ich so früh vom Fest wegging. Ich sagte ihm, dir sei nicht wohl gewesen.« Sie trat nahe zu ihm. »Sandor, darf ich mir erlauben zu fragen, was mit dir los ist? Ist es eine andere Frau? Sage es mir bitte.«

»Ich kann nicht darüber sprechen. Bitte, nimm es mir nicht übel«, entgegnete er und wandte sich ab.

»Aber es ist eine andere Frau, nicht wahr?«

Er gab keine Antwort, sondern ging die Treppe hinauf zu seinem Arbeitszimmer. Margret sah ihm nach. Sie glaubte jetzt genug zu wissen.

Sandor saß hinter seinem Schreibtisch und hatte den Kopf in die Hände gestützt. Jedes Wort des Barons hatte ihn wie ein Hieb getroffen. Erst jetzt wurde ihm klar, dass er sich in Erlau unmöglich benommen hatte, dass er seinem Zorn und seiner Rache freien Lauf gelassen und sich damit Elgas Liebe restlos verscherzt hatte.

Sie hatte ihn geliebt, jetzt wusste er es aus dem Mund ihres Vaters. Sie hatte sich in ihn verliebt, ehe seine Stiefmutter überhaupt davon wusste. Aber konnte er denn anders reagieren auf diesen vermeintlichen Verrat?

Durfte er Elga fortlassen, ohne vorher noch einmal mit ihr gesprochen zu haben? Konnte er noch die vage Hoffnung hegen, dass die Familie Waldstein ihm verzeihen werde?

*

Die nächsten beiden Tage waren für Graf Sandor furchtbar. Er sprach kaum ein Wort, ließ sich nur kurz auf seinem Grundbesitz sehen und ging aufgewühlt in seinen Privaträumen umher, um zu einem Entschluss zu kommen.

Am dritten Tag in aller Frühe, setzte er sich in seinen Wagen und fuhr nach Erlau. Mochte kommen, was wolle, er war bereit, sich zu demütigen.

Vor der steinernen Brücke hielt er und stieg aus. Das Hauptportal war noch geschlossen. War sein Eindringen am frühen Morgen nicht taktlos und eines Grafen unwürdig? Solche Gedanken waren ihm auf der Fahrt nicht gekommen, weil ihn die Unruhe getrieben hatte.

Einige Momente stand er unschlüssig da, dann hörte er plötzlich Schritte.

Kurz darauf wurde das Portal von innen geöffnet, und Herr Wehnert er­schien vor ihm.

»Herr Graf?«, fragte er verdutzt, »ist etwas geschehen?«

»Nein, nein, ich möchte …, ich bin nur gekommen, um Baronesse Elga zu sprechen. Ich weiß, es ist nicht die vorgeschriebene Besuchszeit, aber …«

»Da kommen Sie gerade noch rechtzeitig. Die Baronesse reist heute Morgen ab. Ich bin soeben dabei, ihre Koffer im Wagen zu verstauen.«

Graf Tihany wurde aschfahl.

»Kann ich sie sprechen?«, stammelte er aufgelöst.

Herr Wehnert ging vor ihm her durch den Torbogen in den Innenhof. Hier stand schon der weiße Traumwagen, über den er sich so erbost hatte, bereit zur Abfahrt.

»Ich werde Sie der Baronesse melden«, sagte Herr Wehnert und bat ihn, in der Halle zu warten.

Für Graf Tihany schien es eine ganze Ewigkeit zu dauern, bis Wehnert zurückkam und ihn in den oberen Salon bat.

Während er mit weichen Knien im Salon wartete, schöpfte er ein wenig neue Hoffnung, denn wenn Elga nichts mehr von ihm wissen wollte, hätte sie ihn bestimmt nicht empfangen. Andererseits war sie vielleicht nur darauf aus, jetzt an ihm Rache zu üben für die Nichtachtung, die er ihr beim Gartenfest gezeigt hatte.

Er trat an eines der Fenster, die zum Park hinunterschauten. Dort kamen gerade zwei Reiter im sanften Galopp zum Torbogen. Es waren der Baron und sein Sohn. Im Innenhof angekommen, überließen sie die Pferde einem Stallknecht.

»Wir haben Besuch«, erklärte Herr Wehnert, der dabei war, die Koffer der Baronesse im Wagen zu verstauen. »Der Graf möchte die Baronesse sprechen.«

»Und?« entfuhrt es Baron Waldstein, »empfängt sie ihn denn?«

»Ja, er wartet im oberen Salon auf sie.«

»Hm!« Baron Waldstein sah seinen Sohn fragend an.

Über Alberts Gesicht zuckte ein kleines Lächeln.

»Na, dann packen Sie am besten die Koffer wieder aus, Wehnert«, sagte er gedehnt.

»Meinst du wirklich?«, fragte sein Vater ratlos.

»Ist doch ganz klar«, lachte Albert, »sei unbesorgt, Papa! Du hast ihn doch so fertiggemacht, wie du mir erzähltest, dass er jetzt zu Kreuze kriecht.«

Sie wären beide gern Zeugen der Unterhaltung gewesen, die im Salon stattfand, aber die war nicht für fremde Ohren bestimmt.

Baronesse Elga machte es Graf Sandor nicht leicht. Zu tief hatte er sie auf dem Gartenfest verwundet, in das sie alle Hoffnungen gesetzt hatte.

Was will er überhaupt, hatte sie gedacht, als er ihr gemeldet worden war. Sie war bereits im hellen Reisekostüm und zögerte, ob sie ihn empfangen sollte. Dann ging sie hoheitsvoll in den Salon. Er stand am Fenster und schnellte herum, als er ihre Schritte hörte. Zögernd kam er auf sie zu.

»Elga«, murmelte er mit belegter leiser Stimme.

Sie blieb stehen. »Fassen Sie sich nur kurz, Graf«, sagte sie kühl, »ich habe nicht viel Zeit.«

Einen Moment lang blieb er wie erstarrt vor ihr stehen. Er versuchte in ihren Augen zu lesen, aber sie hatte sich vollkommen in der Gewalt und gab seinem forschenden Blick nicht nach.

»Ich weiß, ich habe mich schändlich benommen auf dem Gartenfest«, brach es jetzt aus ihm hervor, »und ich kann verstehen, dass du mir sehr zürnst. Aber ich war blind, Elga, blind vor Zorn und Enttäuschung über die Komödie, die du mir vorgespielt hast. Jetzt erst denke ich anders darüber. Jetzt weiß ich, dass es keinen anderen Weg von dir zu meinem Herzen gab als den, den du gegangen bist. Der Baronesse im weißen Traumwagen hätte ich die kalte Schulter gezeigt. Heute weiß ich auch, dass du mit meiner Stiefmutter nichts zu tun hattest. Dein Vater hat es geschafft, mir die Augen zu öffnen und mich zur Vernunft zu bringen. Du hast alles nur aus Liebe zu mir getan, und ich Narr habe dich von mir gestoßen, weil mein Stolz und meine Eitelkeit verletzt waren.«

Er kam auf sie zu und fasste sie beschwörend an den Schultern.

»Du darfst nicht wegfahren, Elga! Du würdest mich damit in tiefste Verzweiflung stürzen. Ich habe genauso gelitten wie du, glaube mir! Ich weiß nicht mehr, wie ich die Tage verbracht habe. Dieses Gartenfest war entsetzlich für mich, auch wenn ich so tat, als sei ich froh und glücklich. Meine Gedanken waren nur bei dir«

In ihrem Gesicht war immer noch die Abwehr zu lesen, obwohl sie sich dem Griff seiner Hände nicht entzog. »Und Fräulein Lindemann?«, fragte sie rau.

»Wir kennen uns seit unserer Kindheit! Sie ist ein nettes Mädchen, dessen Freundschaft mir lieb und wert ist. Mehr nicht, Elga! Nichts ist zwischen mir und Margret vorgefallen. Sie weiß, dass eine andere Frau in meinem Leben existiert, nur hat sie keine Ahnung, wer es ist. Elga, kannst du mir verzeihen. Ich liebe dich und habe nie aufgehört, dich zu lieben! Auch nicht in dem Augenblick, in dem ich durch meine Stiefmutter die Wahrheit erfuhr und dich aus dem Schloss warf. Da war mein enttäuschtes Herz nur verschüttet unter Zorn. Sag mir, was ich tun soll, um deine Vergebung zu erlangen und deine Liebe zurückzuerobern! Bitte!«

Langsam zog er sie näher an sich, bis er das Pochen ihres Herzens spürte.

Elga sah ihn an. Langsam schwand der herbe Zug in ihrem Gesicht, und ihre Augen bekamen den alten Glanz und die Wärme, die ihm früher daraus entgegengeleuchtet hatte.

»Was soll ich tun, wenn du mich so bittest«, flüsterte sie, »mein Herz hat seine Antwort längst bereit. Glaubtest du wirklich, meine Liebe wäre so rasch gestorben? Ich wollte nur fliehen vor dir, vor meinem eigenen Herzen. Ich konnte ja nichts anderes mehr tun, als auf deine Entscheidung zu warten. Du hast es mir schwergemacht, und als du zum Gartenfest mit Fräulein Lindemann erschienst, glaubte ich, es sei alles vorbei.«

Tränen traten in ihre Augen bei diesen Worten.

Sandor schloss ihr den Mund mit einem Kuss.

»Nicht weitersprechen«, bat er dann inbrünstig. »Ich weiß, wie schäbig ich mich benommen habe. Ich schäme mich entsetzlich, auch vor deinem Vater, der mir nur Gutes getan hat. Ich fürchte, er wird mir nicht verzeihen.«

Elga lächelte. »Das lass meine Sorge sein. Wartest du hier im Salon, bis ich sie alle vorbereitet habe? Vor allem muss ich Wehnert bitten, meine Koffer wieder heraufzutragen!«

Er nickte selig, riss sie noch einmal in seine Arme und bedeckte ihr Gesicht mit brennenden Küssen.

»Mir ist, als sei ich neu geboren«, sagte er.

Elga eilte die Wendeltreppe hinab in die Halle. Dort war alles still, und sie wollte gerade hinaus zu ihrem Wagen gehen, als ihr Bruder, noch im Reitdress, aus einem der angrenzenden Räume kam.

»Wohin, Schwesterlein?«, fragte er da hintergründig.

»Ich wollte Wehnert nur bitten, meine Koffer wieder auszuladen. Ich …«

»Alles schon erledigt, mein Kind«, sagte Albert galant. »Was macht er denn, der Herr Graf? Hast du ihn am Boden zerstört?« Er lachte schelmisch.

Elga stand einen Moment verdattert da. Dann stürzte sie mit einem Jauchzen auf Albert zu und fiel ihm um den Hals.

»Du Gauner«, rief sie, »du hast wieder alles spitzbekommen!«

»Das macht mein sechster Sinn«, sagte Albert scherzend und gab der geliebten Schwester einen zärtlichen Kuss. »Alles in Ordnung?«

Sie nickte glücklich. »Meinst du, dass Papa ihm auch so rasch verzeiht?«, fragte sie dann besorgt.

»Das muss dein Sandor selber erledigen. Melde ihn bei Papa an. Er wird dann wohl wissen, was er zu sagen hat. So leicht darfst du es ihm nicht machen. Übrigens bin ich heilfroh, dass ihr euch doch wiedergefunden habt. Dein Sandor wäre fähig gewesen, in einer Art Panikstimmung die kleine reizende Lindemann zu heiraten.«

»Hätte dir das so leidgetan?«, fragte Elga erstaunt.

»Und ob! So, nun geh zu Papa! Der wartet doch selber schon ungeduldig auf den Ausgang deiner Unterhaltung mit Graf Tihany. Er ist mit Fräulein Achenbach im Frühstückszimmer. Vor der brauchst du keine Geheimnisse zu haben.«

»Habe ich auch nicht«, rief Elga und stürmte ins Frühstückszimmer.

Baron Waldstein brauchte seine kleine Tochter nichts zu fragen. Ihre strahlenden Augen verrieten ihm alles. Sie fiel ihm wortlos um den Hals, und er tat einen tiefen befreiten Atemzug. Fräulein Achenbach hatte vor Rührung Tränen in den Augen.

»Ich habe doch gewusst, dass alles gut ausgehen wird«, meinte sie, und keiner konnte ihr widersprechen.

»Sandor wartet im Salon, um mit dir sprechen zu können, Papa. Bitte, lass ihn nicht mehr fühlen, dass er sich nicht gut benommen hat.«

»Sei unbesorgt, Kleines. Was ich ihm zu sagen hatte, habe ich bereits in Tihany getan. Du siehst, dass es auf sehr fruchtbaren Boden gefallen ist. Jetzt werde ich ihm nur noch warm ans Herz legen, dass er meine kleine Elga niemals mehr traurig machen darf.«

Und das tat der Baron, nachdem er den Salon betreten hatte und Graf Tihany nach einer reuevollen Bitte um Verzeihung um die Hand seiner Tochter Elga anhielt.

Graf Tihany war glücklich, dass der Baron so charmant über die alte Geschichte hinwegging und ihn gleich danach fragte, ob er schon gefrühstückt habe, er würde ihn herzlich dazu einladen.

Graf Sandor sagte nicht nein, dazu war er viel zu selig.

Fräulein Achenbach hatte in weiser Voraussicht noch ein Gedeck auflegen lassen. Sie begrüßte den Grafen gewinnend wie immer und verhielt sich so diskret, dass er davon überzeugt war, sie wisse von dem Vorangegangenen gar nichts.

Auch Albert kam hinzu und gratulierte seinem zukünftigen Schwager herzlich, nicht ohne ein paar witzige Bemerkungen zu machen, die auch die letzten Reste heimlichen Grolls hinwegspülten.

Die Einladungen zur Verlobung des Grafen Sandor von Tihany und der Baronesse Elga von Waldstein ergingen bereits in den nächsten Tagen an Verwandte, Freunde und Bekannte.

Kaum jemand konnte sich erklären, wie es zu dieser plötzlichen Verlobung gekommen war, nachdem der Graf auf dem Gartenfest sich gar nicht um die Baronesse gekümmert hatte.

Noch bevor die Einladung zur Verlobung abgeschickt war, hatte Graf Sandor Margret Lindemann alles erzählt. Er hoffte sehnlichst, dass sie sich nicht darüber gräme, und war zutiefst erleichtert, als sie ihm herzlich gratulierte.

Ihre Eltern erfuhren es eine Stunde später, als Margret zum Mittagessen nach Hause kam.

»Das war die Baronesse Waldstein?«, staunte ihre Mutter. »Nun ja, sie sah ja nach etwas Besonderem aus.«

Herr Lindemann seufzte auf.

»Jetzt ist der Graf aus allen Sorgen heraus. Die Baronesse ist eine glänzende Partie. Ja, so ein mittelloses Mädchen wie dich konnte er ja auch nicht heiraten.«

»Er liebt die Baronesse, Vater«, verteidigte Margret den Grafen. »Und wenn ihr glaubt, ich sei nun todunglücklich, dann irrt ihr euch. Ich freue mich sogar schon auf die Verlobung, denn wir alle drei sind eingeladen. Das hat mir Sandor schon verraten. Die Einladung wird morgen mit der Post kommen.«

»Wir alle drei? Du musst dich verhört haben, Kind.«

»Nein, ich habe richtig gehört. Baron Waldstein freut sich, euch näher kennenzulernen. Und Graf Sandor hätte seine Verlobung sowieso nicht ohne uns gefeiert.«

Am nächsten Tag kam tatsächlich die schriftliche Einladung, die von den beiden Lindemanns mehrfach gelesen wurde, bis sie begriffen, dass es stimmte. Nun begann eine aufgeregte Debatte, was für ein Geschenk man dem jungen Paar machen solle und was die beiden Damen zur Verlobung anziehen sollten. Dies war das beherrschende Thema der nächsten Tage.

Der Gräfin Coletta Tihany überbrachte ihr Stiefsohn persönlich die Einladung zu seiner Verlobung.

Die Gräfin empfing ihn zuerst erstaunt und voller Ungnade. Erst als sie den Grund erfuhr, hellten sich ihre Züge auf, und sie fiel ihrem Stiefsohn mit einem Seufzer der Erleichterung um den Hals.

Dann redete sie ununterbrochen und machte ihm klar, dass sie der Urheber seines Glückes sei.

Graf Sandor war viel zu selig, als dass er sich mit ihr in einen Disput da­rüber eingelassen hätte. Sie wollte alles ganz genau wissen, aber er berichtete nur in groben Zügen.

Sein zukünftiger Schwiegervater hatte ihm geraten, diesen Besuch bei der Stiefmutter zu machen.

»Mein lieber Sandor«, hatte er gesagt, »nun dringen Sie endlich nachdrücklich drauf, die Wertobjekte von Ihrer mütterlichen Seite her zurückzubekommen. Sonst heiratet Ihre attraktive Stiefmutter eines Tages ganz überraschend, und dann sind Sie diese Dinge für immer los. Oder sie verkauft etliches davon, wenn sie in Geldverlegenheit ist. Drohen Sie ihr, falls nicht anders möglich, mit einem Gerichtsverfahren. Das hilft, glauben Sie mir! Ich kenne mich in solchen Dingen aus.«

Und Sandor war diesem Rat gefolgt. Seine Stiefmutter war zuerst ein wenig pikiert, als er wieder davon anfing. Dann sah sie sich jedoch in die Enge getrieben und gab nach.

»Ich hätte dir schon mit der Zeit alles zurückgegeben«, log sie, »aber ich verstehe, dass du deiner Braut einen angemessenen Rahmen schaffen willst. Der Baron lässt sich bestimmt nicht lumpen und gibt seiner Tochter eine prächtige Mitgift. Du bist ein Glückspilz, Sandor.«

Sie willigte schließlich wehmütig ein, dass Sandor bereits am nächsten Tag die Wertsachen aus dem Besitz seiner Mutter nach Tihany zurückbrachte. Dazu gehörte auch der Schmuck seiner Mutter, den am Hochzeitstag Elga in Empfang nehmen sollte, da ihn nur die jeweilige Herrin von Tihany tragen durfte.

*

Gräfin Coletta war bei der Verlobung die Tischdame von Baron Waldstein. Sie hatte keine Kosten gescheut, um in einem Modellkleid aus Paris zu erscheinen, in dem das Schwarz nur noch dezent zum Ausdruck kam. Sie war ihrem Ziel ein gewaltiges Stück näher gekommen. Das verriet ihr sieghaftes Lächeln, als sie zusammen mit dem Baron die Gäste in Erlau begrüßte.

Da die Tage schon etwas kühler geworden waren, hatte man das Fest ins Schloss verlegt.

Unter den vielen freudig erregten Gästen befanden sich auch die Lindemanns. Zuerst noch ein wenig scheu, nahm ihnen Baron Waldstein jedoch sehr bald ihre Gehemmtheit und machte ihnen ein paar reizende Komplimente über ihre Tochter, die im zitronengelben Tüllkleid wie ein bunter Schmetterling wirkte.

Margret war sofort von Baron Albert mit Beschlag belegt worden, und die Lindemanns sahen ihre Tochter an seinem Arm entschwinden. Er hatte ihr gleich nach der Begrüßung eröffnet, dass sie seine Tischdame sei, was sie mit holdem Erröten zur Kenntnis nahm.

Die höchste Bewunderung der Gäste jedoch galt dem Brautpaar. Elgas zarte Gestalt umhüllte ein Kleid aus weißem Organza, der mit plastischen weißen Mageriten und rosa Apfelblüten verziert war.

Das Haar trug sie leicht aufgesteckt, und ein Diadem aus Blüten war darin drapiert. Ihr Glück spiegelte sich in ihren Augen wider.

Langsam gewöhnten sich auch Lindemanns an die erlesene Pracht, die hier auf Erlau entfaltet wurde. Sie sahen sehr oft zu ihrer Tochter hinüber und waren ein wenig ratlos, dass Margret so heiter und gelöst war und mehrfach das Glas hob, um ihnen zuzupros­ten. Dann starrten sie auf den jungen Baron, der sich so zwanglos mit ihrer jungen Tochter unterhielt, und sie wunderten sich, wieso er ausgerechnet sie zu seiner Tischdame gewählt hatte. Ob das Graf Tihany veranlasst hatte?

Hoffentlich machte sich Margret jetzt nicht wieder falsche Hoffnungen und wurde wieder enttäuscht. Darum war es ganz gut, dass ihre Ferien bald zu Ende waren und sie in die Stadt zurückkehren musste. Dort würde sie am ehes­ten ihre Illusionen vergessen. So dachten die Lindemanns. Aber Margret wies den Gedanken an das Ende ihrer Ferien weit von sich. Sie freute sich wie ein Kind auf den Beginn des Balls, den das verlobte Paar mit einem langsamen Walzer eröffnete.

Endlich konnte Elga in den Armen Sandors dahingleiten. Ringsum standen die Gäste und sahen ihnen entzückt zu. Aber sie selber hatten das Gefühl, ganz allein zu sein, nur die Nähe des anderen zu spüren und nur dessen Augen zu sehen, die das gleiche Glück ausstrahlten, das man selber empfand.

Erst den zweiten Tanz durften sie alle tanzen, und Gräfin Tihany glitt in den Armen von Baron Waldstein über das Parkett. Sie schmiegte sich absichtlich an ihn, und alles, was sie sagte, hatte einen besonderen Sinn, den er erst ganz allmählich mit Erstaunen erfasste. Sollte es die Gräfin etwa auf eine zweite Ehe mit ihm abgesehen haben? War sie darum so intensiv bemüht gewesen, ihren Stiefsohn auf Elga aufmerksam zu machen?

Baron Waldstein lenkte geschickt auf ein anderes Thema über und nahm sich vor, auf der Hut zu sein. Er war zwar reich, aber er hatte nicht die geringste Lust, sein Geld an eine Frau zu verschwenden, die es mit vollen Händen ausgab.

Die Gräfin hing den ganzen Abend wie eine Klette an ihm. Anscheinend hatte sie die Absicht, die Gäste darauf vorzubereiten, dass demnächst ihre Verlobung mit Baron Waldstein erfolgen würde. Sie glaubte sehr geschickt und sehr klug zu handeln. Aber Baron Waldstein war noch viel klüger und geschickter als sie. Das sollte sich nach einiger Zeit herausstellen. An diesem Abend jedoch genoss die Gräfin ihren Erfolg.

Die Lindemanns hatten es sich auf einem Empiresofa bequem gemacht und schauten dem Leben und Treiben im Ballsaal zu. Baron Waldstein unterhielt sich des Öfteren mit ihnen, was sie als besondere Ehre ansahen. Auch Graf Sandor und seine Verlobte leisteten ihnen ab und zu Gesellschaft.

Am meisten interessierte sie natürlich, was Margret tat. Und da stellten sie nun fest, dass sie fast ausschließlich mit dem jungen Baron Waldstein tanzte. Wie sollte man das verstehen? Ja, drängte sich ihre Tochter etwa dem Baron auf?

Als Margret in einer Tanzpause zu ihnen kam und sie mit leuchtenden Augen anlachte, machten sie ihr leise Vorwürfe.

»Aber ich kann doch nichts dafür, wenn Baron Albert immer mit mir zusammen tanzt!«, sagte sie trotzig.

»Baron Albert? Ja, nennst du ihn denn schon beim Vornamen?«

Der Vater war schockiert.

»Wir haben Brüderschaft getrunken. Er bat mich darum. Und sein Vater ist auch sehr nett zu mir.«

»Um Gottes willen, Kind, bilde dir bloß nichts ein! Sonst gibt es wieder eine arge Enttäuschung!«

»Ich glaube nicht«, entgegnete Margret lachend und verschwand wieder, ehe die Eltern darauf antworten konnten.

Das Fest dauerte bis in die Morgenstunden, und alle Gäste harrten so lange aus, weil die Zeit nur so dahinflog und keiner vorzeitig aufbrechen wollte.

»Ich bin morgen schon wieder nach Erlau zu einem Ausritt eingeladen worden«, erklärte Margret ihren Eltern bei der Heimfahrt. »Und das würde der Baron bestimmt nicht tun, wenn ich nur ein Abenteuer für ihn wäre.«

Diesem Argument konnten sich die Lindemanns nicht ganz verschließen. Aber sie schwiegen vorerst dazu.

*

In der folgenden Zeit wurde in Tihany auf Hochtouren gearbeitet. Neues Personal war eingezogen, und die noch brachliegenden Felder wurden von neuen Landarbeitern mit den modernsten Maschinen bestellt.

Im Schloss selbst wurden Verschönerungsarbeiten vorgenommen, sowohl innen wie außen. Der Park wurde neu gestaltet und die Springbrunnenanlage repariert. Die Möbel, die Sandor von seiner Stiefmutter zurückerhalten hatte, wurden von ihm und Elga zusammen aufgestellt.

Ihre privaten Räume durfte sie sich nach eigenem Geschmack einrichten. Die Rechnung ging an ihren Vater, der sich überhaupt ungewöhnlich großzügig gezeigt hatte.

In einem Vierteljahr sollte auf Tihany die Hochzeit des jungen Paares stattfinden, und bis dahin musste alles auf Hochglanz gebracht sein.

Gräfin Coletta erschien öfter, als es ihrem Stiefsohn lieb war. Sie wollte selbst Anweisungen geben, aber das lehnte Sandor entschieden ab. Daraufhin verzog sie sich leicht gekränkt.

Margret war in die Stadt zurückgekehrt, um ihr Studium fortzusetzen. Aber Baron Albert telefonierte täglich mit ihr und besuchte sie übers Wochenende. Sie schrieb alles ihren Eltern, die aus dem Staunen nicht herauskamen.

Sechs Wochen später sorgte die Familie von Waldstein noch einmal für eine Überraschung. Allen Freunden und Bekannten flatterte eine Nachricht ins Haus, die nicht bei allen freudiges Erstaunen auslöste. Vor allem nicht bei Gräfin Coletta. Sie las die gedruckte Karte eine ganze Weile fassungslos vor Entsetzen und Empörung.

Dann ließ sie sich von ihrem Chauffeur nach Tihany fahren und betrat mit fliegendem Atem die Halle des großen Schlosses.

Graf Sandor war in seinem Arbeitszimmer, als ihm die Stiefmutter gemeldet wurde.

Sie warf ihm die Karte, die sie erhalten hatte, auf den Schreibtisch und stieß hervor:

»Hast du das gelesen? Waldstein hat in aller Heimlichkeit in Lugano seine Hausdame geheiratet! Das muss doch auch bei dir eingeschlagen haben wie eine Bombe. Gott, die armen Kinder! Sie sind sehr entsetzt. Das hat diese raffinierte Person ja glänzend eingefädelt. Fährt mit ihm nach Lugano und zwingt ihn zur Heirat. Niemals hätte ich gedacht, dass ein Mann wie der Baron auf so etwas hereinfällt. Eine Hausangestellte! Ich bin außer mir! Wusstest du davon?«

»Er deutete etwas an, als er abfuhr. Elga und Albert wussten natürlich viel mehr. Aber ich verstehe nicht, wieso du dich so darüber aufregst. Fräulein Achenbach ist ein feiner, liebenswerter Mensch. Baron Waldstein hat eine gute Wahl getroffen. Er braucht nicht auf das Geld zu sehen, und der Adelstitel ist ihm gleichgültig, wenn es um die Wahl des Partners geht.«

»Ausgerechnet du musst diese Person noch in den Himmel heben! Wo ich dir so geholfen habe.«

»Bleibe bitte bei den Tatsachen. Deine Aufregung bleibt mir unbegreiflich. Niemand hat dir etwas weggenommen.«

»So? Meinst du?«, warf sie spitz ein. »Dann will ich dir sagen, dass ich fest damit gerechnet habe, dass der Baron mir eines Tages einen Antrag macht. Es deutete vieles darauf hin.«

Er starrte sie sekundenlang an. Dann erklärte er dumpf: »Deine Trauer um meinen Vater muss wirklich nicht sehr tief gewesen sein, sonst könntest du gar nicht so rasch nach seinem Tod auf derartige Gedanken kommen. Ich glaube auch nicht, dass Baron Waldstein einer Dame begründete Hoffnungen macht und sie dann nachher sitzen lässt, um sich einer andern zuzuwenden. Und welcher Mann von Geschmack würde auch um eine Frau werben, deren Mann erst vor Kurzem gestorben ist.«

»Du hast völlig überholte Ansichten«, entgegnete die Gräfin erbost. »Jedenfalls werde ich unter diesen Umständen nicht zu deiner Hochzeit erscheinen. Es tut mir leid, aber das kann man mir nicht zumuten. Es fehlt nur noch, dass der junge Waldstein die kleine Lindemann zu seiner Frau macht.«

»Du gewöhnst dich am besten jetzt schon an diesen Gedanken, denn ich glaube sicher, dass Baron Albert es mit Margret ernst meint. Und hast du etwas gegen Margret? Sie ist ein liebes, sympathisches Mädchen.«

»Ach ja, ich vergaß, dass selbst du schon mit ihr ausgegangen bist«, höhnte die Gräfin bitterböse. »Nun, mich siehst du weder bei der einen noch der anderen Hochzeit. Ich werde ins Ausland reisen. Ich habe kein Interesse da­ran, noch mehr solcher Überraschungen vorgesetzt zu bekommen.«

»Deine Entschlüsse sind deine eigene Angelegenheit. Ich brauche also mit dir nicht zu rechnen. Dann war dein Besuch ja überflüssig. Ich wünsche dir viel Spaß auf deinen Reisen. Hoffentlich hast du die ersehnten Erfolge.«

Graf Sandor verneigte sich steif und ging hinaus. Seine Stiefmutter sah ihm grimmig nach. Dann warf sie sich wie ein ungezogenes Kind auf einen Diwan und schluchzte trocken auf, weil ihr wieder einmal etwas schiefgegangen war.

Sandor war nicht traurig, dass sie nicht zu seiner Hochzeit kommen wollte. Sie waren sich ja heute noch innerlich fremd.

Nach ihrer Abfahrt begab er sich nach Neuburg, da er dort eine Menge zu erledigen hatte.

Als er zurückkam, hielt er vor dem Tor von Tihany. Der Park bot heute einen anderen Anblick als damals bei seiner Heimkehr. Fontänen des Springbrunnens sprühten, die Blumen des Hochsommers blühten in allen Schattierungen auf kunstvoll angelegten Rabatten, und der Rasen war sorgfältig geschnitten. Durch die Bäume schimmerte die helle Fassade des Schlosses. Die Gerüste waren erst am Tag zuvor entfernt worden, und nun präsentierte sich der Bau in neuem Glanz.

Sandors Herz quoll über vor Glück und Dankbarkeit. Wem anders hatte er das alles zu verdanken als seiner geliebten Elga und ihrem verehrten Vater. Wie töricht hatte er sich gegen sein Glück gewehrt und es beinahe für immer verloren.

Als er die Allee hinabfuhr, sah er Elgas weißen Sportwagen vor der Freitreppe parken.

Er konnte gar nicht schnell genug aus dem Wagen steigen.

In der Halle, die ebenfalls ein neues Gesicht trug, hörte er von oben Elgas Stimme. Sie verhandelte mit einigen Handwerkern. Er rief ihren Namen, und dann kam sie auch schon in fliegender Eile die Treppe herunter und landete in seinen ausgebreiteten Armen.

»Du bist hier, Geliebtes?«, bemerkte er.

»Ja, ich hatte noch einiges zu besprechen. Ich wusste nicht, dass du in der Stadt warst. Vater hat angerufen. Er kommt nächste Woche zurück. Er ist sehr glücklich, und wir freuen uns mit ihm. Eine bessere zweite Frau als Fräulein Achenbach hätte er gar nicht bekommen können. Sie wird uns eine liebe zweite Mutter sein und dir auch, Sandor.«

Er küsste sie. »Das glaube ich bestimmt.«

Er dachte an seine Stiefmutter. Von der hätte man das kaum sagen können. Er erzählte Elga nicht, dass die Gräfin die Einladung zur Hochzeit abgelehnt hatte, und die Gründe dafür verschwieg er ebenfalls. Er wollte Elga auf keinen Fall kränken.

»Du«, flüsterte Elga ihm zu, »ich muss dir noch etwas verraten. Komm, gehen wir in den Park.«

Sie zog ihn einfach mit sich. »Ich habe Albert mitgebracht. Er will das Wochenende in Erlau verbringen und hofft, dass auch Fräulein Lindemann kommt. Und weißt du, wo er jetzt ist?«

»Aber, Liebes, wie soll ich das wissen?«, lachte Sandor, während sie an seinem Arm die Treppe zum Park hinabschritt. Elga lachte mit.

»Mit ein bisschen Phantasie müsstest du eigentlich drauf kommen«, meinte sie schelmisch. »Albert ist bei den Lindemanns. Er will um die Hand von Margret anhalten.« Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Jetzt ist er schon zwei Stunden weg. Ob sich da unerwartete Schwierigkeiten aufgetan haben?«

»Das glaube ich auf keinen Fall. Wir wollen es abwarten. Einmal muss er ja zurückkommen.«

Aber es dauerte noch eine gute Stunde. Sie waren inzwischen ins Schloss zurückgekehrt, um noch einige Räume zu begutachten, die den Hochzeitsgäs­ten zur Verfügung stehen sollten.

Endlich tauchte Albert auf. Er war zu Fuß gegangen, denn er wollte einmal sehen, welchen Weg Margret als Kind immer zwischen Schloss und Gut zurückgelegt hatte. Man merkte ihm an, dass er Alkohol genossen haben musste, denn er trällerte ein Lied. Elga lief ihm entgegen.

»Na, wie war es?«, fragte sie atemlos.

»Alles okay«, erwiderte Albert triumphierend. »Allerdings hat es mich einige Mühe gekostet, die guten Leute davon zu überzeugen, dass ich keinen Aprilscherz mache, wenn ich um die Hand ihrer Tochter anhalte. Aber dann war alles eitel Wonne. Ich wurde umarmt, und gleich darauf standen ein paar Flaschen Wein auf dem Tisch. Wirklich nette Menschen, die Lindemanns, so anständig und natürlich. Sie machen sich nur Sorgen, weil sie ihrer Tochter keine große Mitgift mitgeben können. Ich habe meine ganze Überredungskunst aufgeboten, um ihnen zu versichern, dass mir das ganz schnuppe ist.«

»Du scheinst wieder umwerfend gewesen zu sein«, lachte Elga über die kesse Ausdrucksweise des Bruders. »Weiß Margret übrigens, dass du bei ihren Eltern um sie anhalten wolltest?«

»Sie hat keine Ahnung. Es wird eine Überraschung für sie sein, wenn sie zum Wochenende nach Hause kommt. Ja, mein liebes Schwesterherz, jetzt wird ein Fest das andere jagen. Erst deine Hochzeit, dann meine Verlobung und nicht lange danach die Hochzeit. Allerdings muss Margret erst ihr Schluss­examen machen. Darauf haben ihre Eltern bestanden, was ja ganz vernünftig ist. Aber im nächsten Frühjahr steigt die Hochzeit auf jeden Fall.«

Um es vorwegzunehmen: So überrascht war Margret Lindemann gar nicht, als sie von Alberts Werbung hörte, denn im tiefsten Herzen hatte sie nichts sehnlicher gewünscht, als das. Aber glücklich war sie, unendlich glücklich. Und als Albert am Samstagabend zum Gutshaus herüberkam, diesmal in seinem Wagen, da eilte Margret ihm entgegen und fiel ihm um den Hals, kaum dass er den Wagen verlassen hatte.

*

Lange Jahre hatte Schloss Tihany nicht solch prunkvolles Fest gesehen wie die Hochzeit des derzeitigen Besitzers, Graf Sandor, mit der schönen Baronesse Elga von Waldstein.

Dreihundert Gäste waren geladen. Die Roben der Damen schimmerten in allen Farben der kostbarsten Gewebe. Der Wert des getragenen Schmuckes ging ins Unermessliche, sodass Baron Waldstein vorsichtshalber einen Privatdetektiv engagiert hatte. Außerdem waren strenge Maßnahmen getroffen worden, dass kein Unbefugter das große Schloss und den Park betrat.

Aber davon merkten die Gäste gar nichts. Zur Überraschung Sandors war seine Stiefmutter doch gekommen. Sie brachte es sogar fertig, die neue Baronin Waldstein mit einem gönnerhaften Lächeln zu begrüßen.

Die Gräfin hatte es sich in schlaflosen Nächten überlegt, ob es ratsam sei, sich mit ihrem Stiefsohn vollends zu überwerfen und den mächtigen Baron Waldstein zum Feind zu bekommen. Denn wo war eine bessere Möglichkeit, doch noch zu einem reichen zweiten Mann zu kommen, als auf den Festlichkeiten, die der Baron und später auch seine Kinder veranstalten würden.

»Du hast doch nichts erzählt von meiner ersten Absage und so?«, raunte sie Sandor ins Ohr.

»Was denkst du von mir!«, entgegnete er ruhig, ehe er sich wieder seiner schönen jungen Frau zuwandte, um mit ihr den Hochzeitsreigen zu eröffnen, der in den festlich illuminierten Park führte.

Sandor fuhr zärtlich über Elgas Arm.

»Ich möchte in jeder Minute deine Nähe spüren, Liebstes«, flüsterte er, »weil ich Angst habe, es könnte nur ein Traum sein und beim Erwachen wäre ich einsam und allein.«

»Es ist auch ein Traum«, lächelte sie, »aber ein Traum, der unser ganzes Leben lang andauert.«

In diesem Augenblick stieg die erste Rakete hoch, die zum hellen Entzücken der Gäste ein Feuerwerk zu Ehren des Brautpaares einleitete.

Feurige Garben schossen in den Nachthimmel empor und verglühten über den stillen Wipfeln der Bäume.

Auch Baron Albert und Margret Lindemann schauten andächtig diesem Schauspiel zu und hielten sich fest an den Händen.

Sie wussten, dass auch für sie bald der schönste Tag ihres Lebens kommen würde, an dem sie genauso glücklich sein würden wie Graf Sandor und seine schöne Elga.

Fürstenkrone 11 – Adelsroman

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