Читать книгу Der kleine Fürst Staffel 5 – Adelsroman - Viola Maybach - Страница 6
Оглавление»Schön, dass Sie vorbeigekommen sind, Clara«, sagte Irina Mahler zu ihrer jungen Besucherin. »Ich weiß das zu schätzen, in Ihrem Alter hat man wenig Zeit, daran erinnere ich mich gut.« Sie lächelte. »Und normalerweise hat man auch eher Interesse am Umgang mit Gleichaltrigen. Umso mehr freue ich mich über Ihren Besuch.«
»Sie tun ja fast so, als könnten Sie meine Großmutter sein, Frau Mahler«, lachte Clara von Bethmann. »Dabei sind Sie höchstens zwanzig Jahre älter als ich.«
Irina Mahler war Mitte Vierzig, was man ihr nicht ansah, obwohl sie die grauen Strähnen in ihren tiefschwarzen Haaren nicht färbte. Sie trug sie in einem exakt geschnittenen Pagenkopf mit langem Pony – und allein diese Frisur gab ihr etwas Verwegenes und betonte ihr klassisches Profil, zu dem nur die vollen Lippen nicht ganz passen wollten. Sie verliehen ihrem Gesicht, das sonst vielleicht ein wenig streng gewirkt hätte, eine unerwartet pikante Note.
»Zwanzig Jahre können sehr viel sein.«
»Ich empfinde den Altersunterschied zwischen uns als nicht besonders groß. Jedenfalls habe ich mich noch nie, nicht ein einziges Mal, in Ihrer Gegenwart gelangweilt, während mir das mit Gleichaltrigen schon oft passiert ist.«
»Dieses Kompliment gebe ich zurück, Clara. Und nun sagen Sie mir, wohin Sie fahren wollen.«
»Zu einer Auktion!« Claras dunkle Augen begannen zu leuchten, sie strich sich mit einer Hand die ebenfalls dunklen Haare nach hinten – es war eine für sie typische Geste. Ihre Schönheit, hatte Irina schon öfter gedacht, wurde erst richtig sichtbar, wenn Clara redete und sich bewegte. Sie tat das Eine wie das Andere elegant und geschmeidig, es war eine Freude, ihr zuzusehen und dazuzuhören. »Sie wissen ja, dass ich nach dem Tod meiner Eltern ihren Antiquitätenhandel mit dem zugehörigen Ladengeschäft übernommen habe, und ich hoffe, ich kann auf der Auktion einige schöne Stücke erbeuten. Seit Tagen bin ich schon ganz aufgeregt deshalb.«
»Sie sind noch so jung«, stellte Irina fest, »aber trotzdem kommt es mir so vor, als seien Sie bereits eine Expertin für wertvolle alte Stücke.«
»Ich habe Kunstgeschichte studiert«, erklärte Clara. »Außerdem haben mich alte Sachen schon immer fasziniert, und meine Eltern und auch meine Großeltern haben diese Liebe früh erkannt und gefördert.« Clara sah sich in Irinas elegant möbliertem Salon um und lächelte ihre Gastgeberin an. »Und diese Liebe war es ja schließlich auch, die dazu geführt hat, dass Sie und ich uns kennengelernt haben. Sie haben erlesene Stücke in Ihrer Wohnung, Frau Mahler.« Irina hatte sich eines Tages in Claras Geschäft eingefunden, die beiden so unterschiedlichen Frauen waren schnell miteinander ins Gespräch gekommen.
»Ja, ich weiß.« Auch Irinas Blick streifte jetzt über die kostbaren Möbel und Bilder. »Alles Erbstücke, mit denen meine Familie schon immer gelebt hat. Zu jedem kann ich eine Geschichte erzählen.«
Clara hoffte, das werde die Ältere auch tun, denn sie hörte ihr gerne zu. Irina Mahler war in Frankreich zur Welt gekommen, hatte sie einmal erzählt, als Tochter eines vermögenden kunstsinnigen Ehepaars, das sie schon als kleines Mädchen mit auf weite Reisen genommen hatte. Sie konnte erstaunliche Geschichten aus fernen Ländern erzählen und hatte Clara schon mehrmals damit verblüfft, dass sie mehrere Sprachen fließend sprach: Neben Französisch, Englisch und Deutsch auch Russisch und Italienisch. Nun lebten ihre Eltern schon lange nicht mehr, und sie hatte sich in Deutschland niedergelassen, in der schönen Landschaft rund um Schloss Sternberg, wo auch Clara lebte.
»Wollen Sie mich nicht begleiten?«, fragte Clara. »Ich bleibe zwei Tage, dann komme ich zurück.«
»Nein, wirklich nicht, danke für das Angebot, aber ich bleibe lieber hier. Außerdem habe ich alles, was ich brauche, noch mehr will ich mir nicht anschaffen, und ich möchte auch nicht in Versuchung geführt werden.«
Clara wunderte sich nicht über diese Ablehnung. Die weitgereiste Irina Mahler führte jetzt ein außerordentlich zurückgezogenes Leben, und sie schien nichts zu vermissen. Ein paar wenige Freunde hatte sie, mit denen sie sich regelmäßig traf, aber bei gesellschaftlichen Anlässen sah man sie nie. »Ich mache mir nichts daraus«, hatte sie einmal auf eine entsprechende Frage Claras geantwortet, »und warum soll ich dann meine Zeit damit verschwenden?«
»Schade«, seufzte Clara. »Es wäre viel netter gewesen, nicht allein da herumzulaufen. Außerdem bin ich sicher, dass Sie mir noch einige wertvolle Tipps hätten geben können, wo ich bieten und wo ich es lieber lassen soll.«
»Meine liebe Clara, wenn es einen Menschen gibt, der meine Tipps nicht braucht, dann sind Sie das«, stellte Irina mit einem kurzen Auflachen fest. »Werden Sie Bekannte treffen?«
»Ja, auf jeden Fall die Sternberger, mit denen habe ich telefoniert, sie werden kommen, weil ein altes Schmuckstück angeboten wird, das einer Fürstin von Sternberg gehört haben soll – einer Vorfahrin des kleinen Fürsten.«
»Der kleine Fürst«, murmelte Irina nachdenklich. »Das ist ein seltsamer Name für einen Fünfzehnjährigen. Am Anfang konnte ich gar nicht verstehen, warum der Junge so genannt wird, aber mittlerweile habe ich es verstanden, glaube ich: Er ist noch nicht volljährig und daher noch kein Fürst.«
»Sie wissen ja, dass seine Eltern letztes Jahr tödlich verunglückt sind«, sagte Clara. »Früher haben die Leute hier in der Gegend immer gesagt: ›Der große und der kleine Fürst‹, wenn sie von Christian und seinem Vater gesprochen haben. Nun gibt es nur noch ihn, und der Name ist ihm geblieben. Aber mit dem Tag seiner Volljährigkeit, schätze ich, wird er verschwinden, denn dann wird Prinz Christian von Sternberg der nächste Fürst von Sternberg sein.«
»Armer Junge«, murmelte Irina. »Mit fünfzehn Jahren seine Eltern zu verlieren, muss furchtbar sein.«
»Er hat trotzdem noch Glück gehabt, Frau Mahler. Er konnte ja im Schloss bleiben, weil seine Tante Sofia mit ihrer Familie ebenfalls schon lange dort lebt. Und er versteht sich besonders mit seiner Cousine Anna sehr gut. Jedenfalls hilft ihm der Zusammenhalt der Familie, die Trauer über seinen Verlust zu bewältigen.« Clara sah auf die Uhr. »Ich sollte aufbrechen«, seufzte sie. »Heute Abend kann man sich alles, was morgen versteigert wird, noch einmal ansehen. Ich hatte bisher nur einen Katalog, da bekommt man zwar einen ersten Eindruck, aber mehr auch nicht.«
»Ich hoffe, Sie berichten mir«, erklärte Irina, während sie Clara hinausbegleitete.
Clara versprach das, verabschiedete sich mit einer herzlichen Umarmung, setzte sich in ihren Wagen und fuhr davon.
Irina Mahler aber kehrte nachdenklich in ihre Wohnung zurück. Sie musste aufpassen, dass sie sich der jungen Frau nicht allzu sehr öffnete, weil sie sie gern hatte. Mit einem Seufzer betrachtete sie ihr Bild in dem schweren Spiegel, der über einem Rokokotischchen hing, wandte sich jedoch nach wenigen Sekunden ab und ging zum Fenster, wo sie lange auf die Straße hinuntersah, in Gedanken sehr weit weg.
*
»Wenn du mitfährst, komme ich auch mit«, beschloss Anna von Kant, die dreizehnjährige Cousine Christian von Sternbergs. »Ich finde Auktionen zwar stinklangweilig, aber die Sache mit dem Collier ist schon interessant.«
Christian und sie standen vor einem Portrait der Fürstin Josefine von Sternberg – es war im Jahre 1756 gemalt worden und zeigte die Fürstin mit eben dem Collier, das jetzt auf der Auktion des berühmten Auktionshauses Arndt & Semmeling versteigert werden sollte. Wieso es sich nicht mehr im Besitz der Familie Sternberg befand, hatte sich bislang nicht einwandfrei feststellen lassen.
»Ja, das finde ich auch«, erwiderte der kleine Fürst. »Außerdem ist das doch mal was Neues für uns, Anna.«
»Und Konny wird sich freuen, wenn er machen kann, was er will«, stellte sie fest. »Er hat ja schon gesagt, dass er nicht mitkommt.« Ihr Bruder Konrad empfand sich mit seinen sechzehn Jahren als erwachsen, was ihn eine Zeitlang veranlasst hatte, Dinge zu tun, die er für »erwachsen« hielt: Er hatte unter anderem zu viel Alkohol getrunken, die Schule geschwänzt und sich die falschen Freunde gesucht. Das schien vorbei zu sein, doch noch immer sorgten sich die Eltern, Baronin Sofia und Baron Friedrich von Kant, um ihn und fürchteten, dass er in seine früheren schlechten Gewohnheiten zurückfallen könnte.
»Na ja, er wird schon nichts anrichten«, meinte Christian und löste endlich seinen Blick von Josefine von Sternberg. Das nahm sein junger Boxer Togo zum Anlass, seine Bedürfnisse anzumelden. Er begann zu winseln und Christians Hand zu lecken, bis dieser sagte: »Schon gut, Togo, wir gehen ja noch ein bisschen raus. Kommst du mit, Anna?«
Seine Cousine warf einen Blick aus dem Fenster, sah den bewölkten Himmel, aus dem es den ganzen Tag über ständig getröpfelt hatte, und schüttelte den Kopf. »Nee, lieber nicht. Bis später, Chris.«
»Also dann, auf geht’s, Togo!«, sagte der kleine Fürst.
Togo jagte die breite Treppe hinunter und war natürlich zuerst unten vorm großen Eingangsportal. Eberhard Hagedorn, der langjährige Butler auf Schloss Sternberg, erschien. »Wollen Sie jetzt mit dem Hund nach draußen, Prinz Christian? Es wird mit Sicherheit gleich regnen.«
»Dann kommen wir schnell wieder, Herr Hagedorn, aber der arme Togo hatte heute überhaupt noch keinen Auslauf, und ich habe es ihm versprochen.«
»Wenn das so ist«, erwiderte der Butler lächelnd, »ein Versprechen muss man natürlich halten.« Er öffnete die Tür und entließ die beiden in den frischen Frühlingstag. Exakt fünf Minuten später ging ein wahrer Wolkenbruch nieder, der Prinz und sein Hund kehrten jedoch erst zurück, als der Regen wieder aufgehört hatte.
»Wir haben uns in einem der Pferdeställe untergestellt, Herr Hagedorn«, erklärte Christian. »Sie sehen, wir sind fast gar nicht nass geworden.« Er sah den vor Nässe zitternden Togo an und lächelte verlegen. »Na ja, ein bisschen vielleicht doch.«
»Ich übernehme Togo«, schlug Eberhard Hagedorn vor, »und Sie ziehen sich bitte um, Prinz Christian.«
Der kleine Fürst kam nicht einmal auf die Idee zu widersprechen. Herr Hagedorn war eine Autorität im Schloss – und ausnahmslos waren seine Vorschläge klug und wohl durchdacht. Es war also auch klug, ihnen zu folgen.
*
Graf Leonid von Zydar spürte die Blicke, die verstohlen auf ihm ruhten, durchaus, doch er gab vor, nichts davon zu bemerken. Seit er St. Petersburg verlassen hatte und nach Deutschland übergesiedelt war, stieß er überall auf Neugierde, zugleich aber auch auf Ablehnung. Er galt als »undurchsichtig«, so hatte es erst kürzlich wieder in einer Zeitschrift gestanden. Diesen Ruf besaß er allein deshalb, weil er in der luxuriösen Villa, die er erworben hatte, ein zurückgezogenes Leben führte und nicht jedem Auskunft darüber gab, woher er kam und warum er ausgerechnet hier
im Sternberger Land zu leben wünschte.
Einer der wenigen Menschen, mit denen er sich angefreundet hatte, war Johannes von Thalbach. Der fünfzigjährige Bankier und er hatten zahlreiche gemeinsame Interessen – und vor allem gehörte Johannes nicht zu den Menschen, die ständig Fragen stellen. Sie konnten entspannt miteinander schweigen, während sie eine gute Flasche Wein tranken, und außerdem war Johannes häufig in Petersburg gewesen, er wusste also, was Leonid vermisste – und was er gern hinter sich gelassen hatte. Er war sofort bereit gewesen, Leonid zu dieser Auktion zu begleiten, und er war es jetzt auch, der ihm eine Hand auf den Arm legte und fragte: »Leo? Darf ich dir Sofia und Friedrich von Kant vorstellen? Sie leben auf Sternberg, und ich hörte soeben, dass ihr euch bisher nicht begegnet seid.«
Leonid drehte sich um und sah sich zwei forschenden Augenpaaren gegenüber. Sofia von Kant lächelte ihn an. »Wir freuen uns, Sie kennenzulernen, Graf von Zydar«, sagte sie freundlich.
Der Baron schloss sich seiner Frau an, und Leonid stellte erstaunt fest, dass er die beiden sympathisch fand. Sie blickten ihn offen an, sie schienen nicht einmal auf die Idee zu kommen, ihn sofort mit neugierigen Fragen zu bombardieren, und ihm fiel ferner auf, dass sein Freund Johannes offenbar auf gutem Fuß mit den Sternbergern stand. Nun schoben sich zwei Jugendliche in Leonids Blickfeld: ein etwa fünfzehnjähriger Junge mit schmalem, gut geschnittenem Gesicht und glatten, ziemlich langen dunklen Haaren und ein etwas jüngeres blondes, niedlich aussehendes Mädchen.
»Dies ist unser Neffe, Prinz Christian von Sternberg«, stellte Baron Friedrich vor, »und das ist Anna, unsere Tochter.«
»Freut mich, eure Bekanntschaft zu machen«, erklärte Leonid. »Oder sollte ich besser ›Sie‹ sagen?«
»Nicht nötig«, erklärte Christian. »Nicht, Anna?«
Anna zögerte.
»Wenn Sie uns mit ›Sie‹ anreden, wirken wir erwachsener«, sagte sie. »Das fände ich gar nicht so schlecht – jedenfalls hier. Außer uns sind ja überhaupt keine Jugendlichen da.«
»Anna hat Recht«, fand Christian. »Also könnten Sie uns hier vielleicht siezen?« Großzügig setzte er nach kurzer Pause hinzu: »Woanders können Sie uns natürlich duzen.«
»Selbstverständlich.« Leonid hatte Spaß an den beiden, weil sie so offen sagten, was sie wollten. Überhaupt schien diese Familie – Christian gehörte mittlerweile offensichtlich dazu, natürlich wusste Leonid vom tödlichen Unfall seiner Eltern – eine erfreuliche Ausnahme unter all den eingebildeten und verwöhnten Adeligen zu bilden, die er bisher kennengelernt hatte. »Es wird mir ein Vergnügen sein«, setzte er hinzu.
»Haben Sie schon das Collier gesehen?«, fragte Anna.
Leonid wusste sofort, von welchem Collier sie sprach. »Das von Ihrer Urahnin, Christian?«, fragte er.
Der Junge nickte.
»Ja, es ist da hinten in einer der Vitrinen ausgestellt«, erklärte Leonid. »Wenn Sie wollen, zeige ich es Ihnen.«
Als Anna und Christian mit dem russischen Grafen zu der betreffenden Vitrine gegangen waren, sagte Baronin Sofia erstaunt zu Johannes: »Aber er ist reizend, Jo! Wieso reden denn alle schlecht über ihn? Wenn du wüsstest, was für Gerüchte über Leonid von Zydar in Umlauf sind …«
»Oh, das weiß ich ziemlich genau, Sofia«, entgegnete Johannes von Thalbach. »Und was viel schlimmer ist: Er weiß es auch. Alles Unsinn, das darfst du mir glauben.«
Sie folgten den anderen langsam, denn natürlich wollten auch Sofia und Friedrich das Collier genau in Augenschein nehmen. Als sie sich der Vitrine näherten, hörten sie den jungen russischen Grafen sagen: »Es ist ein außergewöhnlich schönes Collier, es hätte mich interessiert, wer es verkauft, aber leider bekommt man darüber keine Auskunft. An seiner Echtheit kann jedenfalls kein Zweifel bestehen. Wissen Sie, warum es seinerzeit verkauft worden ist?«
»Nein, wir haben in unserem Familienarchiv nach Hinweisen gesucht, aber nichts gefunden«, erklärte Christian. »Hoffentlich können wir es zurückholen. Wir haben ein Bild auf Sternberg, da trägt Fürstin Josefine dieses Collier. Ich konnte es bis eben noch nicht richtig glauben, aber es ist genau das hier.« Er wies auf die Vitrine und das in ihr ausgestellte Schmuckstück.
In einer Ecke des Saales wurden Bilder ausgepackt und aufgehängt, die ebenfalls zur Versteigerung vorgesehen waren.
»Meine Güte, noch mehr Sachen«, murmelte die Baronin. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass das so eine große Auktion wird.«
»Sie entschuldigen mich?«, bat Leonid. »Ich interessiere mich für die Bilder und würde sie mir gerne ansehen.«
»Ich komme nach, Leo«, sagte Johannes.
Der junge Graf nickte und schlenderte davon, die Zurückgebliebenen wandten sich wieder dem Collier zu. »Eins muss euch aber klar sein«, sagte der Baron nach einer Weile, »wenn der Preis allzu sehr in die Höhe getrieben wird, müssen wir aussteigen.«
»Ich glaube, wir kriegen es, Onkel Fritz«, sagte der kleine Fürst. »Das habe ich im Gefühl.«
Baron Friedrich lachte und legte seinem Neffen einen Arm um die Schultern. »Dann wollen wir hoffen, dass dein Gefühl dich nicht täuscht, Chris. Und jetzt, schlage ich vor, stärken wir uns, bevor die Schlacht beginnt. Was haltet ihr davon?«
Niemand erhob Einspruch, und so suchten sie ein Lokal in der Nähe auf, denn bis zum Beginn der Auktion blieben ihnen noch fast zwei Stunden Zeit.
*
Clara sah das Porträt einer Frau in den Dreißigern – und hielt den Atem an. Sicherlich, die Frisur war eine andere, die Haare waren noch pechschwarz, ohne graue Strähnen, aber die Frau auf dem Bild ähnelte Irina Mahler so sehr, dass sie den Blick nicht abwenden konnte. Sie las, was unter dem Bild stand: »Porträt einer Unbekannten« – mehr nicht. Auch über den Maler und die Herkunft des Bildes war offenbar nichts bekannt, es war nur eine ungefähre Jahreszahl vermerkt, die durchaus stimmen konnte. Ihr Herz klopfte wie wild, ihr Entschluss stand bereits fest: Dieses Bild wollte sie haben, und sie würde es Irina Mahler schenken. Natürlich war nicht sie die Frau, die da gemalt worden war, aber sie würde die Ähnlichkeit erkennen und sich über das Bild sicherlich freuen. Und da es offenbar kein bekannter Maler war, konnte es auch nicht allzu teuer sein.
Und selbst wenn, dachte Clara, dann schadet es auch nichts, ich bin ja nicht arm. Rasch sah sie sich um, niemand achtete auf sie. Sie durfte ihr Interesse an dem Bild nicht so deutlich zeigen, sonst kam vielleicht jemand anders auf die Idee, es sich ebenfalls genauer anzusehen und später dafür mitzubieten. Je unauffälliger sie sich verhielt, desto besser. Sie schlenderte weiter. Ein dunkelhaariger Mann mit markanten Gesichtszügen stand einige Bilder weiter, ganz in den Anblick dessen, was er betrachtete, vertieft. Sie hatte ihn nie zuvor gesehen, obwohl sie ihr Gedächtnis gründlich durchforstete. Aber wenn sie ihm bereits einmal begegnet wäre, hätte sie ihn sicherlich nicht wieder vergessen, denn er war eine auffallende Erscheinung, hochgewachsen und elegant.
Hinter sich hörte sie eine Frau tuscheln: »Das ist er, der Dunkle da vorn.«
»Wer denn?«, fragte eine zweite Stimme.
»Na, der Graf aus St. Petersburg, Leonid von Zydar.«
Von dem freilich hatte auch Clara schon gehört, er galt als undurchsichtig und wenig vertrauenswürdig. Als hätte er gespürt, dass man über ihn sprach, wandte er jetzt den Kopf und blickte Clara direkt an. Kohlschwarze Augen, dachte Clara, und ein Blick, als wollte er einem auf den Grund der Seele gucken.
Sie wandte sich eilig ab. Die übrigen Bilder konnte sie sich auch später noch ansehen, beschloss sie, wenn der russische Graf nicht mehr in der Nähe war. Sie fand ihn … beunruhigend.
Gleich darauf erblickte sie Baronin Sofia von Kant, die ihr zuwinkte. Clara war froh, ein bekanntes Gesicht erspäht zu haben und machte sich auf den Weg, die Baronin und ihre Familie zu begrüßen.
*
»Ich bin fertig, Frau Mahler«, sagte Lili Ganghofer. »Oder haben Sie noch etwas für mich zu tun?«
»Nein, ich denke nicht, Lili«, erwiderte Irina lächelnd. Die zwanzigjährige junge Frau kam jeden Vormittag zu ihr, um den Haushalt zu besorgen und zu kochen. Danach ging sie nach Hause, um dort das Gleiche zu tun. Sie war schüchtern, redete nicht viel, arbeitete dafür aber umso mehr. Irina war heilfroh, sie gefunden zu haben. Lili störte sie nicht, irgendwie schaffte sie es immer, ihre Arbeit so zu tun, dass Irina kaum etwas davon mitbekam.
»Wenn Sie einmal Urlaub machen möchten, Lili, dann müssen Sie mir das sagen – für eine Weile könnte ich sicherlich allein zurechtkommen, obwohl ich für den Haushalt leider überhaupt kein Talent habe.«
»Urlaub?«, fragte Lili geradezu erschrocken. »Ich möchte keinen Urlaub machen, Frau Mahler.«
»Dann bin ich froh, denn mit Ihnen ist mein Leben viel schöner als ohne Sie, aber das wissen Sie ja, Lili.«
Lili, die sonst kaum den Mund aufmachte, sagte daraufhin einen erstaunlichen Satz: »Mein Leben ist mit Ihnen auch viel schöner, Frau Mahler.«
»Tatsächlich? Aber Sie arbeiten doch so viel hier!«
»Das ist leichte Arbeit«, fand Lili, »außerdem ist Ihre Wohnung so schön, ich bin gerne hier. Hier kann ich mich erholen von … von zu Hause.«
Irina ließ das Buch sinken, das sie gerade übersetzte – sie tat das nur für sich, weil es ihr Freude machte und weil es von dem Buch noch keine Übersetzung ins Deutsche gab. Vielleicht würde sie es einem Verlag anbieten, wenn sie fertig war. »Tatsächlich?«, fragte sie.
Lilis runde Wangen waren mittlerweile feuerrot. »Ich habe fünf jüngere Geschwister«, erklärte sie, »meine Eltern arbeiten beide, weil das Geld sonst nicht reicht – und Platz haben wir in dem winzigen Häuschen sowieso nicht genug. Immer ist es laut, weil eins der Kinder eigentlich immer schreit und tobt. Sie sind alle viel jünger als ich, zwei von ihnen gehen noch nicht einmal zur Schule, und die anderen kommen nicht gut mit, weil es bei uns keine Ruhe zum Lernen gibt. Ich war auch eine schlechte Schülerin früher, aber jetzt habe ich die Schule zum Glück hinter mir, und im Haushalt bin ich gut. Das ist sowieso das, was ich am liebsten mache – Haushalt und Kochen.«
Sie brach ab, betrachtete verlegen ihre roten, rissigen Hände. »Unsere Möbel sind alt und angestoßen. Bei Ihnen dagegen ist alles schön, und es ist ruhig. Niemand schreit, niemand macht etwas kaputt, niemand weint. Ich kann arbeiten, wie ich es für richtig halte, und dabei stört mich kein Mensch. Etwas Schöneres kann ich mir nicht vorstellen. Wenn ich Urlaub hätte, könnte ich sowieso nicht wegfahren. Dann müsste ich den ganzen Tag zu Hause sein …« Sie brach ab. »Ich … ich sollte wieder an die Arbeit gehen«, murmelte sie und floh.
Danach konnte Irina sich nicht mehr auf ihr Buch konzentrieren. Sie kommt schon seit einem Jahr zu mir, und ich hatte keine Ahnung, wie ihr Leben aussieht, dachte sie erschüttert. Es wird Zeit, dass ich aufhöre, ständig um mich selbst und mein eigenes Schicksal zu kreisen.
Sie dachte noch länger über das nach, was Lili ihr soeben erzählt hatte – und am Ende fasste sie einen Entschluss.
*
Leonid blieb vor dem Bild, das seine Aufmerksamkeit fesselte, nicht länger stehen als vor allen anderen Bildern auch. Nichts an seinem Gesicht verriet sein Interesse an diesem speziellen Gemälde, obwohl ihn der Anblick der abgebildeten Frau wie ein Blitzschlag getroffen hatte. Die Bildlegende gab keine brauchbaren Informationen her, aber die brauchte er auch nicht, er kannte das Bild gut genug.
Verstohlen sah er sich um. Die unbekannte Schöne, die sich das Bild vorhin ebenfalls angesehen hatte, stand jetzt bei den Sternbergern, die sie offenbar gut kannte, der herzlichen Begrüßung nach zu urteilen. Ihr Blick war kühl gewesen, vielleicht sogar ein wenig herausfordernd. Natürlich, sie wusste, wer er war, und sie hatte bereits eine festgefügte Meinung über ihn – wie viele andere Menschen auch, denen er noch nie begegnet war. Sie war eine bemerkenswerte Schönheit, das war ihm nicht entgangen, besonders, wenn sie sich bewegte, denn das tat sie mit großer Eleganz und Geschmeidigkeit.
Kümmere dich nicht weiter um sie, Leonid, sagte er streng zu sich selbst. Du kannst keine Ablenkung gebrauchen, du musst dich auf dein Ziel konzentrieren, und diesem Ziel bist du heute ganz offensichtlich einen Schritt näher gerückt.
»Wen guckst du denn so interessiert an?«, erkundigte sich Johannes von Thalbach und folgte seinem Blick. »Etwa die schöne Clara von Bethmann?«
»Ist das die Dunkelhaarige da drüben, die mit den Sternbergern spricht?«, fragte Leonid betont beiläufig.
»Ja, das ist sie, und du brauchst gar nicht den Gleichgültigen zu spielen, ich habe dich beobachtet, mein Freund.«
Leonid lächelte. »Ertappt«, gab er zu. »Sie hat so einen funkelnden Blick – und sie bewegt sich wie eine Raubkatze. Das war es wohl vor allem, was mir aufgefallen ist.«
Johannes versagte sich eine Erwiderung, er lächelte nur still in sich hinein.
*
Das Collier war zunächst heiß umkämpft, doch ganz plötzlich sprangen die Konkurrenten von Baron Friedrich von Kant ab – sie hatten wohl begriffen, wie ernst es ihm war. Als der Auktionator nach einem gedehnten: »Zum Ersten … zum Zweiten … meine Damen und Herren, letzte Möglichkeit für dieses wundervolle Collier …. niemand mehr? Zum Dritten!« den Hammer niedersausen ließ, hatte Friedrich um einiges weniger bieten müssen als befürchtet. Nun strahlte er, nahm Küsse und Glückwünsche seiner Familie entgegen und freute sich, dass es ihm gelungen war, ein ehemals zum Sternbergschen Vermögen zählendes Schmuckstück zurückzukaufen.
Eigentlich gab es danach keinen Grund mehr, der Auktion noch länger beizuwohnen, doch da Clara bei etlichen Stücken eifrig mitbot, beschlossen sie, zumindest noch eine Weile zu bleiben und ihr Gesellschaft zu leisten.
Zu Sofias und Friedrichs Erstaunen stieg Clara auch bei einem Portrait ein, das zwar gut gemalt war und eine sehr schöne Frau zeigte, doch der Wert des Bildes schien unklar zu sein, konnte doch weder der Maler angegeben werden, noch wusste man, wer die abgebildete Frau war. Noch erstaunlicher war, dass Graf Leonid ebenfalls mitbot. Innerhalb kürzester Zeit waren alle anderen Interessenten ausgestiegen und verfolgten mit wachsender Verwunderung das Duell zwischen der schönen Clara und dem russischen Grafen. Es dauerte nicht lange, da war die gebotene Summe bereits Schwindel erregend hoch, doch weder Clara noch Leonid machten Anstalten, sich zurückzuziehen.
»Clara!« Sofia legte ihr behutsam eine Hand auf den Arm. »Das ist völlig verrückt! Lass ihn das Bild doch kaufen – warum willst du so viel Geld dafür ausgeben?«
Clara schien die Baronin nicht einmal zu hören, sie gab ein neues Gebot ab. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Augen sprühten zornige Funken. Er machte sich über sie
lustig, dieser russische Graf! Auf Geld kam es ihm offenbar nicht an, aber er wollte unbedingt als Sieger aus diesem Duell hervorgehen, doch genau das war auch ihr Ziel.
Er ging jetzt gleich um zehntausend hoch mit seinem neuen Gebot, und plötzlich wurde es mucksmäuschenstill im Saal, während sich alle Augen auf Clara richteten. Wie würde sie reagieren? Längst hatte der Preis des Bildes jede vernünftige Grenze überschritten, nie im Leben war es so viel wert, wie nun einer von ihnen dafür würde bezahlen müssen.
Mit einem Mal stellte sich bei Clara Ernüchterung ein. Es war eine verrückte Idee gewesen, dieses Portrait Irina Mahler zu schenken, mehr nicht. Es wäre schön gewesen, ihrer älteren Freundin eine Überraschung zu bereiten – aber dermaßen viel Geld war diese Überraschung dann wohl doch nicht wert. Sie schüttelte also nur den Kopf, und damit ging das Bild an Leonid von Zydar, der seinen Sieg mit unbewegtem Gesicht quittierte. Dennoch hätte sie ihm am liebsten eine Ohrfeige verpasst vor lauter Zorn darüber, dass er ihr diese Freude kaputt gemacht hatte. Was konnte er schon für ein Interesse an dem Bild haben?
»Nicht traurig sein, Clara«, bat die Baronin, als wenig später eine Pause ausgerufen wurde.
»Traurig? Das bin ich nicht, ich bin wütend. Er hat doch gemerkt, wie wichtig mir das Bild ist – warum konnte er es mir nicht überlassen?«
»Vielleicht ist es ihm auch wichtig«, gab der kleine Fürst zu bedenken.
Clara sah ihn erstaunt an, schüttelte dann jedoch den Kopf. »Das glaube ich nicht«, erklärte sie.
»Aber sicher sein kannst du nicht. Vielleicht wollte er es genau so gern haben wie du.«
Doch Clara schüttelte erneut den Kopf, sie hielt das für ausgeschlossen. Der russische Graf hatte nur gewinnen wollen, das war ihre feste Überzeugung. Sie schimpfte nach allen Regeln der Kunst über ihn, was Sofia und Friedrich aber eher amüsierte, sie kannten ja Claras Temperament. Und da ihr nun die Laune gründlich verdorben worden war, hatte sie es plötzlich eilig, die Auktion zu verlassen. Abgesehen von dem Bild hatte sie alles bekommen, was sie hatte haben wollen, und so gab es keinen Grund, noch länger zu bleiben.
Als sie sich bereits von der jungen Frau verabschiedet hatten, nahm die Baronin sie noch einmal beiseite. »Willst du uns nicht bald wieder einmal besuchen, Clara?«, fragte sie. »Wir würden uns freuen, und du warst lange nicht mehr bei uns. Heute hatten wir ja kaum Gelegenheit, in Ruhe miteinander zu reden.
Clara nickte. »Das ist eine gute Idee, danke für die Einladung, Sofia.«
»Komm doch gleich am nächsten Wochenende«, schlug Sofia vor. »Mir scheint, du könntest eine kleine Luftveränderung gut gebrauchen.«
»Es tut mir leid, dass ich meinem Unmut so deutlich Ausdruck verliehen habe«, sagte Clara, nun doch ein wenig verlegen. »Aber ich habe einen solchen Zorn auf diesen … auf diesen …«
»Schon gut«, versuchte Sofia sie zu besänftigen. »Also bis zum nächsten Wochenende, Clara.«
»Danke, Sofia.« Clara gab der Baronin einen Kuss und machte sich auf den Weg zum Ausgang. Als sie an Graf Leonid vorbeikam, würdigte sie ihn zunächst keines Blickes, dann jedoch blieb sie stehen und fauchte ihn an: »Sie sind einfach ein kulturloser Banause! Ihnen ging es doch in Wirklichkeit überhaupt nicht um das Bild, sondern Sie wollten bloß zeigen, dass Sie sich nicht von einer Frau besiegen lassen. Wie jämmerlich!« Mit diesen Worten rauschte sie hinaus.
*
»Warum wollte sie das Bild unbedingt haben?«, wunderte sich Anna. »Da war doch bloß eine Frau drauf, die kein Mensch kannte.«
»Vielleicht wusste Clara ja, wer die Frau war«, vermutete der kleine Fürst. »Und der russische Graf wusste es vielleicht auch.«
»Glaubst du?« Annas Augen fingen an zu glitzern, wie immer, wenn sie ein Geheimnis vermutete. Sie dachte über Christians Worte nach und nickte schließlich. »Das könnte sein, Chris. Oder eigentlich muss es so sein, mir fällt keine andere Erklärung ein.«
»Ich habe gehört, dass Tante Sofia Clara eingeladen hat fürs nächste Wochenende, da können wir sie fragen.«
»Sie wird es uns bestimmt nicht verraten«, meinte Anna. »Sonst hätte sie es uns doch heute schon erzählen können, warum sie so hinter dem Bild her war.«
Johannes von Thalbach tauchte auf. »Habt ihr Graf Leonid gesehen?«
»Eben war er noch hier«, meinte Anna. »Er hat mit Papa geredet, ich glaube, sie sind nach draußen gegangen.«
»Danke, Anna.« Johannes verschwand.
»Versuchen wir, es rauszukriegen?«, fragte Anna.
»Du meinst, auch wenn Clara uns nichts erzählen will?«
Anna nickte.
»Interessieren würde es mich schon«, sagte Christian langsam. »Aber weißt du was, Anna? Genauso gern möchte ich herausfinden, warum der russische Graf das Bild unbedingt haben wollte.«
Sie sahen die Baronin winken, und das war das vorläufige Ende ihres Gesprächs über das rätselhafte Bild, das trotz seines vermutlich bescheidenen Werts eine Rekordsumme auf dieser Auktion erzielt hatte.
*
»Warum besuchen Sie uns nicht mal, lieber Graf?«, fragte Friedrich. Er war mit Leonid ins Gespräch gekommen – über Pferde. Erfreut hatte er festgestellt, dass der junge Russe davon erstaunlich viel verstand. Leonid wiederum hatte sich sofort für Friedrichs Pferdezucht auf Sternberg interessiert.
»Ja, warum nicht?«, wiederholte Leonid nachdenklich. »Ich bin kein sehr geselliger Mensch, Baron von Kant, das hat sich sicherlich schon bis zu Ihnen herumgesprochen.«
»Gerüchte interessieren uns nicht«, erklärte Friedrich. »Man hört so vieles, und so weniges davon stimmt. Wir hätten viel zu tun, wenn wir uns mit dem auseinandersetzen würden, was die Leute erzählen.«
Ein erstaunter Blick traf ihn. »Mit dieser Haltung dürften Sie ziemlich allein dastehen«, meinte Leonid.
»Mag sein. Wir halten es jedenfalls so, und dabei werden wir auch bleiben. Auf diese Weise lebt es sich nämlich entspannter.«
Leonids dunkle Augen lächelten. »Sie glauben nicht, wie gern ich solche Worte höre.«
»Sie nehmen meine Einladung also an? Ich kann es nur wiederholen: Unsere Pferde allein sind einen Besuch wert.«
»Daran zweifele ich nicht, aber ich würde dennoch nicht kommen, wenn mir die Besitzer der Pferde unsympathisch wären«, erwiderte der junge Graf charmant. »Ja, ich komme sehr gern, Baron von Kant, aber vielleicht sollten Sie zuvor Ihre Gattin fragen, ob diese Einladung auch in ihrem Sinne ist.«
»Das muss ich nicht, denn das weiß ich auch so«, erklärte Friedrich.
»Da bist du ja!«, rief Johannes von Thalbach. »Ich suche dich schon überall, Leo. Du weißt, dass wir noch eine Verabredung haben?«
»Nein, das hatte ich vergessen«, gab Leonid zu. »Dann darf ich mich jetzt von Ihnen verabschieden, Baron von Kant?« Die beiden Männer wechselten einen kräftigen Händedruck, auch Johannes verabschiedete sich, dann gingen sie.
Friedrich machte sich auf die Suche nach seiner Frau. »Ich habe den russischen Grafen fürs nächste Wochenende zu uns eingeladen, Sofia«, sagte er, als er sie gefunden hatte. »Er hat zugesagt. Dir war er ja auch sympathisch, und da dachte ich, du bist mit dieser Einladung sicherlich einverstanden.«
Sie sah ihn so entgeistert an, dass er unsicher wurde. »Was ist denn?«, fragte er alarmiert. »Habe ich doch einen Fehler gemacht? Er meinte noch, ich solle dich lieber fragen, aber …«
Sie unterbrach ihn mit den Worten: »Und ich habe Clara eingeladen, Fritz. Die beiden werden sich gegenseitig die Augen auskratzen, wenn sie bei uns aufeinandertreffen.«
»Wir können es ihr sagen, dann kommt sie eben eine Woche später«, schlug der Baron vor. »Den Grafen würde ich ungern wieder ausladen, wir kennen ihn nicht gut genug, finde ich. Aber Clara würde doch Verständnis haben, meinst du nicht?«
Sofia hatte sich wieder gefangen, sie lächelte jetzt.
»Wir tun gar nichts, wir lassen sie beide kommen. Vielleicht klärt sich bei der Gelegenheit, warum sie so verrückt auf dieses Bild waren, Fritz. Ich muss nämlich gestehen, dass ich das schon gern gewusst hätte.«
»Das kann uns aber mächtigen Ärger bereiten«, warnte der Baron.
»Und wenn schon«, erwiderte seine Frau vergnügt. »Dann ist endlich mal wieder ordentlich Leben im Schloss.«
Er lachte, nahm sie in den Arm und küsste sie. »Auf deine Verantwortung, Sofia!«
»Auf meine Verantwortung«, bestätigte sie – und damit war der Fall erledigt.
*
Das Häuschen sah alt und mitgenommen aus, die Armut seiner Bewohner war ihm an allen Ecken und Enden anzusehen. Hier war ein Stück vom Putz abgeplatzt, dort fehlte eine Steinplatte in der ohnehin schiefen Treppe. Das Geländer, das zur verzogenen Haustür führte, war rostig, die
Fensterläden hingen schief in den Angeln. Das Dach war irgendwann notdürftig geflickt worden, aber einem kräftigen Regenschauer hielt es sicherlich nicht stand – geschweige denn einem richtigen Sturm.
Langsam ließ Irina ihre prüfenden Blicke über das Haus wandern, in dem Lili Ganghofer mit ihren Eltern und Geschwistern lebte. Es bot, alles in allem, einen wahrhaft traurigen Anblick. Sie hörte Kinderstimmen durch die undichten Fenster und holte tief Luft, dann klingelte sie.
Gleich darauf wurde die Haustür aufgerissen, ein Junge von etwa zehn Jahren erschien und starrte Irina an wie eine Erscheinung. Ihr wurde bewusst, wie fehl am Platze sie hier wirken musste in ihrer eleganten Kleidung. Der Blick des Jungen glitt von ihr ab zu ihrem Wagen, den sie am Straßenrand geparkt hatte. »Ist das Ihr Schlitten?«, fragte er ehrfürchtig.
»Ja, das ist mein Wagen«, antwortete sie. »Ich bin Irina Mahler, deine Schwester Lili arbeitet bei mir.«
»Hat sie was ausgefressen?«, erkundigte er sich interessiert. Dann wurde ihm offenbar klar, was das bedeuten konnte, und besorgt schob er eine zweite Frage nach: »Schmeißen Sie sie raus?«
»Um Himmels Willen, nein, ohne sie käme ich überhaupt nicht zurecht.«
Jetzt erschien Lili hinter ihrem jüngeren Bruder, sie wurde knallrot, als sie so unvermutet ihrer Arbeitgeberin gegenüberstand. »Frau Mahler … ist etwas passiert?«
»Alles in Ordnung«, erklärte Irina. »Darf ich hereinkommen? Ich möchte etwas mit Ihnen besprechen.«
»Hereinkommen?« Lili sah aus, als sei sie einer Ohnmacht nahe. »Aber …«
»Sie geniert sich«, erklärte der Junge. »Sie hat uns schon oft erzählt, wie schön es bei Ihnen ist – und bei uns ist immer Chaos, weil wir zu wenig Platz haben.«
»Sei still, Patrick«, wies Lili ihn zurecht. Ihre Gesichtsfarbe erinnerte jetzt an die einer reifen Tomate.
»Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen, Lili«, sagte Irina rasch. »Es interessiert mich überhaupt nicht, ob bei Ihnen Chaos herrscht. Ich will nur mit Ihnen reden – und mit Ihren Geschwistern eigentlich auch. Ihre Eltern sind wohl noch nicht zu Hause?«
»Die arbeiten noch«, erklärte der Junge, von dem Irina jetzt
wusste, dass er Patrick hieß.
Nun erschienen auch die weiteren Geschwister, die Lili hastig und noch immer verlegen vorstellte: die fünfjährigen Zwillinge Mara und Tom, die zwölfjährige Sandra und der achtjährige Oliver.
Alle staunten Irina unverhohlen an.
Endlich hatte sich Lili durchgerungen, ihren Besuch ins Haus zu bitten. »Wir müssen in die Küche gehen, da ist am meisten Platz«, sagte sie.
Dort stand in der Tat ein großer zerschrammter Holztisch, an dem offenbar gerade Hausaufgaben gemacht wurden. Lili stellte Teewasser auf und bat ihre Geschwister, eine Ecke des Tischs freizuräumen, was sie bereitwillig taten. Es kam nicht allzu oft vor, dass sie Gäste hatten – und eine so elegante und offensichtlich wohlhabende Frau wie Irina hatte ihr kleines Haus noch nie betreten.
Schnell erkannte Irina, dass es zwar chaotisch aussah, aber nicht schmutzig, und das war ohne Zweifel Lili zu verdanken.
Der Tee war gut und stark, sie tranken ihn aus angestoßenen Tassen, andere gab es vermutlich nicht. Auf Irina ruhten sechs aufmerksame Augenpaare, in allen stand die Frage: Was willst du hier, warum bist du gekommen?
»Seid ihr gut in der Schule?«, erkundigte sie sich zum allgemeinen Erstaunen bei Sandra, Oliver und Patrick, obwohl sie ja die Antwort schon wusste, von Lili.
»Nee«, gab Patrick ganz unumwunden zu. Er wirkte am wenigsten eingeschüchtert. »Hier kann man nicht in Ruhe lernen – nie. Und weil wir sowieso schlecht mitkommen, macht die Schule auch keinen Spaß.«
»Würdest du denn gern in Ruhe lernen?«
»Ich weiß nicht«, murmelte Patrick, plötzlich verlegen. »Ich weiß gar nicht richtig, wie das geht.«
Unerwartet meldete sich die zwölfjährige Sandra zu Wort. »Ich möchte das schon gern«, sagte sie leise. »Dann könnte ich vielleicht doch Tierärztin werden.«
Ihr achtjähriger Bruder Oliver fing an zu lachen. »Du und Tierärztin! Dafür muss man studieren, Sandra.«
»Ich bin gekommen, um euch einen Vorschlag zu machen«, sagte Irina ruhig. »Ich lerne mit euch, jeden Tag nach der Schule, während eure jüngsten Geschwister noch im Kindergarten sind.«
»Das geht nicht«, sagte Lili nach einer Weile verwirrt.
»Natürlich geht das«, entgegnete Irina. »Von jetzt an wird jeden Tag zwei bis drei Stunden bei mir zu Hause in Ruhe gelernt – und dann wollen wir doch mal sehen, ob ihr nicht richtig gute Schüler werdet.«
»Aber …«, begann Lili erneut, doch Sandra unterbrach ihre ältere Schwester. Sie hatte vor Aufregung rote Wangen bekommen. »Wir dürfen zu Ihnen kommen? In die schöne Wohnung?«, fragte sie.
»Ja, das dürft ihr, aber ich verlange von euch, dass ihr fleißig arbeitet – so wie eure große Schwester. Sie ist der fleißigste Mensch, den ich kenne.« Irina wandte sich an Lili. »Sie sind nachmittags hier, Lili, und von jetzt an haben Sie hier wenigstens ein paar Stunden Ruhe. Sie können also auch einmal etwas anderes tun, als zu arbeiten – und ich hoffe, diese Gelegenheit nehmen Sie wahr.«
»Aber warum wollen Sie das für uns tun?«, stammelte Lili.
Irina lächelte. »Erstens, weil ich Sie gern habe. Und zweitens, weil mir klar geworden ist, dass ich zu jung bin, um gar nichts zu tun. Ich erwarte nicht, dass mein Vorschlag sofort angenommen wird. Sie sollten sich vielleicht auch mit Ihren Eltern besprechen, Lili – es kann ja sein, dass sie Einwände haben. Wenn sie mit mir reden möchten, stehe ich natürlich jederzeit zur Verfügung.«
»Ich will Ihren Vorschlag annehmen«, sagte Sandra sofort.
Patrick schlug sich auf ihre Seite. »Ich auch – sonst sehe ich ja Ihre tolle Wohnung nicht.«
»Und du, Olli?«, fragte Lili den Achtjährigen.
Oliver ließ sich Zeit mit der Antwort – er war ohnehin, wie Irina bereits bemerkt hatte, der Ruhigste von allen, von den fünfjährigen Zwillingen abgesehen, die dem Gespräch mit offenen Mündern gefolgt waren, aber bisher nichts gesagt hatten.
»Gestern hat der Marco zu mir gesagt, dass ich zu blöd zum Rechnen bin«, antwortete Oliver endlich. »Ich möchte das gerne lernen, damit er so was nie wieder sagen kann und damit er nie wieder über mich lacht.«
In die darauf folgende Stille hinein stellte Irina fest: »Ich schätze, das lässt sich machen. Aber wie gesagt, Ihre Eltern, Lili …«
Die Neunzehnjährige fasste einen schnellen Entschluss. »Sie sind garantiert einverstanden«, sagte sie. »Alles, was die Kinder angeht, überlassen sie sowieso meistens mir, weil sie abends viel zu kaputt sind, um sich noch groß Gedanken darüber zu machen.«
»Dann wäre das ja geklärt«, meinte Irina. »Fangen wir gleich morgen an?«
Die drei, an die diese Frage gerichtet war, nickten.
Als Irina sich verabschieden wollte, brachte Lili sie allein zur Tür – sie scheuchte ihre Geschwister, die sie alle begleiten wollten, zurück in die Küche. »Das können wir nie wieder gutmachen, Frau Mahler«, sagte sie. »Nie wieder.«
»Das sollen Sie ja auch gar nicht, Lili. Und Sie schicken wir irgendwann auf eine gute Schule, damit Sie das mit dem Kochen von Grund auf lernen. Sie haben mir doch neulich mal gesagt, dass Sie das am liebsten machen.«
Lilis Gesicht war schon wieder feuerrot. »Ich muss Geld verdienen, Frau Mahler, meine Eltern schaffen das nicht allein, und mein Vater hat sowieso schon gesundheitliche Probleme. Er macht sich ständig Sorgen, weil er sieht, dass das Haus langsam zerfällt, und wir können es nicht machen lassen.«
»Das Haus gehört Ihnen?«
»Zum Glück, ja, es war das Haus meiner Großeltern, von denen hat mein Vater es geerbt. Aber Sie haben ja gesehen, in welchem Zustand es ist.«
»Ja, das habe ich«, erklärte Irina. »Das Dach muss gemacht werden.«
»Und die Heizung ist alt, der Putz bröckelt, von unten zieht Feuchtigkeit in die Mauern – das ist ein Fass ohne Boden«, murmelte Lili. »Und es tut mir weh, wenn ich sehe, wie sich meine Eltern kaputt machen, damit wir durchkommen. Ich kann nicht aufhören, Geld zu verdienen, Frau Mahler – und die Stelle bei Ihnen ist das Beste, was uns passieren konnte.«
Noch lange gingen die Bilder des schäbigen Häuschens Irina nicht aus dem Kopf. Sie schämte sich beinahe, als sie ihre großzügige, elegante Wohnung betrat, wo auch für eine siebenköpfige Familie Platz gewesen wäre. Nun, sie würde von jetzt an dafür sorgen, dass es den Ganghofers besser ging.
*
»Wollen wir uns am Wochenende sehen?«, fragte Johannes von Thalbach.
Zu seinem nicht geringen Erstaunen erwiderte Leonid: »Stell dir vor, ich habe andere Pläne. Friedrich von Kant hat mich nach Sternberg eingeladen, und ich habe zugesagt.«
»Du?« Johannes konnte sein Erstaunen nicht verbergen. »Das glaube ich nicht, Leo. Du meidest doch jede Gesellschaft – und nun fährst du zu Leuten, die du praktisch nicht kennst?«
»Sie waren mir sympathisch«, erklärte Leonid. »Und du scheinst sie auch zu mögen, da hatten sie bei mir gleich einen Sympathievorsprung. Außerdem ist es vielleicht an der Zeit, mich wieder ein bisschen mehr den Menschen zuzuwenden.«
»Was hat Clara von Bethmann eigentlich zu dir gesagt, bevor sie gegangen ist? Ich sah, dass sie stehenblieb.«
Leonid lachte. »Sie hat mich nach allen Regeln der Kunst beschimpft. Unter anderem hat sie mich, wenn ich mich recht erinnere, einen kulturlosen Banausen genannt.«
»Wieso denn das?«, wunderte sich Johannes.
»Weil ich ihr das Bild vor der Nase weggeschnappt habe. Sie hat mich verdächtigt, dass es mir gar nicht um das Bild ging, sondern nur darum, über sie zu siegen.«
»Mit dieser Ansicht steht sie ja nicht allein«, stellte Johannes vorsichtig fest. »Die habe ich später von mehreren Seiten gehört.«
»Tatsächlich?« Leonid zog die Augenbrauen hoch, er wirkte verstimmt, doch gleich darauf hellte sich sein Gesicht wieder auf. »Und wenn schon«, sagte er. »Was kümmert es mich, was die Leute reden.«
»Ich nehme an, mir willst du auch nicht erzählen, warum du dieses Bild für einen so horrenden Preis erworben hast?«
Leonids Blick wurde nachdenklich. »Nein«, antwortete er endlich. »Das will ich nicht, Jo, entschuldige bitte. Es ist etwas sehr … Persönliches.«
»Das dachte ich mir schon«, erwiderte Johannes und wechselte umgehend das Thema. Es lag ihm fern, seinen jüngeren Freund unter Druck zu setzen. »Da du also nach Sternberg fährst, werde ich mich ganz und gar dem Nichtstun hingeben.«
Leonid lächelte. »Das glaube ich dir nicht, du wirst zumindest eine Wanderung machen, schätze ich.«
»Möglich«, gab Johannes zu.
Sie saßen bei einem Glas Wein in Leonids Wohnung. Das Bild, das der junge Graf ersteigert hatte, war nirgends zu sehen. Er wollte es offenbar nicht aufhängen, stellte Johannes fest. Wenig später verabschiedete er sich. »Viel Spaß auf Sternberg, Leo. Wir sehen uns dann nächste Woche.«
Als er im Wagen saß, stellte er fest, dass ihm die Sache mit dem Bild nicht aus dem Kopf ging. Normalerweise war er nicht besonders neugierig, aber in diesem besonderen Fall hätte er doch gern gewusst, was für ein Geheimnis sich hinter dieser seltsamen Auktionsgeschichte verbarg.
Leider würde er es vermutlich nie erfahren.
*
»Das gibt Ärger, Tante Sofia«, vermutete der kleine Fürst, als die Baronin beim Abendessen erzählt hatte, wer am Wochenende auf Sternberg erwartet wurde.
»Möglich«, gab Sofia zu, »aber wir wollten weder Clara noch den Grafen aus St. Petersburg wieder ausladen. Also werden wir sehen, was passiert.«
»Clara setzt sich gleich wieder ins Auto und fährt nach Hause«, meinte Anna. »Oder sie dreht ihm den Hals um.«
»Anna!«, mahnte die Baronin.
»Ist doch wahr, Mama. Hast du nicht gesehen, wie sie ihn angegiftet hat auf der Auktion? Sie hasst ihn.«
»Du übertreibst«, wies nun auch der Baron seine Tochter zurecht.
Konrad war dem Gespräch bisher stumm gefolgt. »Ich habe offenbar doch was verpasst«, stellte er jetzt fest. »Da muss ja richtig was los gewesen sein.«
»So könnte man es sagen, ja«, murmelte der Baron. »Graf Leonid hat einen Phantasiepreis für ein eher unspektakuläres Bild bezahlt. Nun ja, an Geldmangel leidet er offenbar nicht, es wird ihm nicht weh getan haben. Clara war jedenfalls der Ansicht, dass er nur mitgesteigert hat, um sie zu ärgern.«
»Es verspricht also, ein interessantes Wochenende zu werden«, stellte Konrad fest. »Kann ich Laura einladen?«
»Und ich Sabrina?«, fragte Anna nach einem schnellen Seitenblick zu Christian hinüber – ihre beste Freundin Sabrina war nämlich seine erste Liebe, was außer ihr jedoch niemand wusste.
»Gern«, antwortete die Baronin. »Es kann nicht schaden, wenn die beiden Hitzköpfe nicht mit uns allein sein werden.«
»Ist dieser russische Graf denn auch hitzköpfig – so wie Clara?«, fragte Konrad.
»Nicht ganz so, oder, Fritz?«
»Auf mich hat er einen sehr beherrschten Eindruck gemacht«, antwortete Baron Friedrich nach kurzem Überlegen. »Aber wie er reagiert, wenn man ihn reizt, das kann ich natürlich nicht sagen.«
»Interessant, interessant«, murmelte Konrad vergnügt. »Vielleicht gibt es ja richtig Zoff hier auf Sternberg, das wäre mal etwas Anderes.«
Seine Mutter bedachte ihn mit einem Kopfschütteln. »Also, auf ›Zoff‹, wie du es ausdrückst, können wir hier gut verzichten«, stellte sie fest.
Der Baron schloss sich dieser Ansicht nachdrücklich an.
*
Sandra, Oliver und Patrick Ganghofer hatten nach den ersten Tagen ihre Scheu abgelegt. Nun betraten sie Irinas großzügige und schöne Wohnung bereits mit einer gewissen Selbstverständlichkeit. Sie stellten Fragen zu einzelnen Gegenständen und lauschten Irinas Erklärungen aufmerksam. Und vor allem: Sie waren, nach anfänglichen Schwierigkeiten, mit Begeisterung bei der Sache, sobald es ums Lernen ging.
Das lag, wie Irina wohl wusste, auch an ihrem pädagogischen Geschick. Sie freute sich darüber, dass sie offenbar nichts verlernt hatte und dass es ihr noch immer gelang, ihre Schüler für den zu vermittelnden Stoff zu begeistern – so, wie es damals auch gewesen war, als sie noch jeden Tag unterrichtet hatte. Zum anderen aber waren diese drei jüngeren Geschwister von Lili gerade ausgehungert nach Wissen. Sie steckten voller Neugier auf die Welt und waren offenkundig froh, dass sich endlich jemand die Zeit nahm, ihnen alles so zu erklären, dass sie es auch verstanden.
Die Klügste war Sandra, das war offensichtlich – und sie war auch die Fleißigste, weil sie ein Ziel hatte, das bisher unerreichbar fern gewesen war, doch jetzt mit einem Mal nicht mehr ganz so utopisch zu sein schien. Wenn eine Frau wie Irina Mahler sich bereit erklärte, sie zu unterrichten – was eigentlich ganz und gar unwahrscheinlich war – warum sollte dann nicht auch Sandras Traum, Tierärztin zu werden, sich erfüllen können?
Oliver konnte schlecht rechnen und schreiben. Das lag vor allem daran, dass er langsam war und den Erklärungen des Lehrers häufig nicht schnell genug folgen konnte. Nun aber, da sich Irina auf seine Geschwindigkeit einstellte, machte er so rasante Fortschritte, dass selbst Irina nur staunen konnte.
Patrick war klug, aber er ließ sich leicht ablenken, seine Gedanken sprangen hierhin und dorthin. Irina hatte mit ihm die meiste Mühe, aber auch er zeigte nach einigen Tagen eine deutlich erhöhte Bereitschaft, sich zu konzentrieren, sah er doch, dass seine schlechten schulischen Leistungen keineswegs auf einem Naturgesetz beruhten, sondern dass es in seiner Macht lag, daran etwas zu ändern.
Auch mit den Eltern hatte Irina in der Zwischenzeit gesprochen: Beide waren jünger als sie selbst, sahen aber älter aus. Der Vater müde und abgekämpft, mit Anflügen von Verzweiflung in den Augen, die Mutter blass und schmal, mit einem Gesicht, in das die Sorgen vorzeitig tiefe Furchen gegraben hatten. Sie waren verlegen gewesen, dankbar, aber auch unsicher, was sie von dieser eleganten Frau halten sollten, die ihnen da so plötzlich half, ohne dass es einen greifbaren Grund dafür zu geben schien.
»Es ist ganz einfach«, hatte Irina irgendwann gesagt. »Ihre Lili ist das Beste, was mir überhaupt passieren konnte. Sie macht mir das Leben so angenehm, dass ich das mit Geld überhaupt nicht bezahlen kann. Also habe ich das Bedürfnis, ihr Leben auch ein wenig zu verbessern. Außerdem bin ich nicht arm, ich muss nicht einmal arbeiten, um gut leben zu können. Und da Lilis Leben unter anderem dadurch erschwert wird, dass Ihr kleines Haus zerfällt, wenn nichts daran gemacht wird, möchte ich Ihnen gern das Dach decken lassen.«
Die beiden hatten erschrocken abgewehrt. »Wir stehen ohnehin schon in Ihrer Schuld, das geht nicht, Frau Mahler …«
Aber Irina hatte nicht nachgegeben. »Sie schulden mir gar nichts, Frau Ganghofer, Herr Ganghofer. Aber Ihrer Lili schulden Sie eine Zukunft – und Ihren anderen Kindern auch. So weit ich dazu beitragen kann, möchte ich das tun. Und ich hoffe sehr, dass der Tag kommt, an dem Sie beide weniger arbeiten müssen als jetzt.«
»Das Dach«, hatte Lilis Vater zaghaft erwidert, »also, der Kalli Runold, der würde uns das gern machen, zusammen mit ein paar Kollegen, er hat es uns schon mehrmals angeboten – wir müssten nur das Material bezahlen, Lohn wollte er nicht haben, aber wir mussten trotzdem ablehnen. Wenn Sie uns wirklich helfen wollen, Frau Mahler, dann rede ich noch einmal mit ihm. Vielleicht …«
»Warum will er Ihnen das Dach denn umsonst machen? Gibt es einen Grund dafür? Sind Sie mit ihm befreundet?«
Ein rascher Blick zwischen den Eheleuten, dann die leise Antwort: »Er ist in Lili verliebt, glauben wir – aber wir wissen nicht, wie Lili dazu steht, sie redet nicht über solche Dinge, und fragen wollen wir sie nicht.«
»Überlassen Sie die Angelegenheit mir, ich kümmere mich darum.«
Beide hatten beim Abschied Tränen in den Augen gehabt.
»Wieso haben Sie eigentlich so viel Geld, Frau Mahler?«, fragte der vorlaute Patrick in Irinas Gedanken hinein.
»Meine Familie ist reich«, erklärte Irina mit ernstem Gesicht. »Ich habe das Geld geerbt.«
»Das ist ungerecht, dass Sie so viel haben und wir so wenig«, fand der Junge.
Sie konnte ihm nur zustimmen.
Als sich die drei von ihr verabschiedeten, sagte Sandra schüchtern: »Es ist schön bei Ihnen, Frau Mahler. Und wir sind froh, dass wir kommen dürfen.«
Die Jungen nickten eifrig, und Irina breitete die Arme aus, um alle drei an sich zu drücken. Dann drehte sie sich um und ging rasch zurück ins Haus, bevor sie ihre Tränen sahen.
Wenig später verließ sie das Haus und suchte jenen Kalli Runold auf, von dem Herr Ganghofer gesprochen hatte. Der junge Mann gefiel ihr auf Anhieb, und es war nicht schwer zu erkennen, wie gern er Lili hatte. »Eigentlich müsste der Dachstuhl erneuert werden«, sagte Kalli. »Aber das würde ja vom Material her noch viel teurer, deshalb habe ich vorgeschlagen, wenigstens die nötigsten Reparaturarbeiten zu übernehmen, damit es nicht ständig hineinregnet.«
Nach dieser Bemerkung sprach Irina mit seinem Chef und erteilte ihm ganz förmlich einen Auftrag. Kalli strahlte über das ganze Gesicht, als sie sich wenig später verabschiedete. »Die Lili hat schon immer gesagt, dass Sie ’ne ganz tolle Frau sind, Frau Mahler, aber ich habe es ehrlich gesagt bisher nicht so richtig glauben können. Dabei hätte ich wissen müssen, dass die Lili weiß, was sie sagt.«
»Muss ich noch einmal Druck machen bei Ihrem Chef?«
»Keine Sorge, das übernehme ich!«
Noch lange, nachdem Irina wieder zu Hause war, hatte sie das glückstrahlende Gesicht des jungen Mannes noch vor Augen.
*
Johannes blieb erstaunt vor dem Antiquitätengeschäft stehen, in dessen Innerem er die schöne Dunkelhaarige sah, die auf der Auktion das gleiche Bild wie Leonid hatte ersteigern wollen. Clara von Bethmann, jetzt erinnerte er sich auch wieder an ihren Namen. Sie verhandelte gerade mit einem Kunden, so dass er nicht befürchten musste, von ihr entdeckt zu werden – falls sie sich überhaupt an ihn erinnerte, auf der Auktion waren ja sehr viele Leute gewesen. Hatte sie das Porträt der Unbekannten in diesem Laden verkaufen wollen? Wohl kaum – er besah sich die Auslagen und stellte fest, dass ihr Angebot ausgesprochen hochklassig war.
Der Kunde verließ den Laden. Nun war guter Rat teuer. Sollte er hineingehen und riskieren, dass sie ihn wiedererkannte und sich daran erinnerte, dass er ein Freund desjenigen Mannes war, der ihr das Porträt weggeschnappt hatte? Schließlich hatten Leonid und er bei
der Auktion zusammengesessen und …
Die Türglocke bimmelte schon wieder, rasch trat er einen Schritt zurück. Als er sich vorsichtig vorbeugte, stellte er fest, dass sie den Laden schloss. Johannes kniff sich in den Arm und gratulierte sich zu seinem Glück. Jetzt konnte er ihr folgen und fand vielleicht noch mehr heraus. Sein Jagdinstinkt war erwacht. Dieses Porträt barg ein Geheimnis, das hatte er sofort gespürt, und jetzt bot sich ihm unter Umständen die Möglichkeit, es aufzudecken.
Sie fuhr zügig, er folgte ihr in gebührendem Abstand. Schließlich stellte sie den Wagen ab und steuerte auf einen sehr schönen Altbau zu – er erinnerte sich an die aufwendige Sanierung des Hauses, in dem einige Luxuswohnungen entstanden waren. Sie klingelte, danach wartete sie.
Wenige Minuten später kam eine Frau aus dem Haus, bei deren Anblick Johannes der Atem stockte: Es war eindeutig die auf dem Gemälde abgebildete Frau. Sie war älter geworden, ihre Haare waren nicht mehr tiefschwarz, und auch die Frisur hatte sich verändert, aber es war dieselbe Frau. Sie umarmte ihre Besucherin liebevoll, dann machten sie sich zu Fuß auf den Weg Richtung Ortsmitte.
Johannes blieb noch einige Sekunden, wo er war, bevor er aus dem Auto stieg und den beiden folgte. Er kam sich ein wenig lächerlich vor bei diesem Detektivspiel, andererseits trieb ihn die Neugier an. Er war gespannt, was am Ende bei seiner Schnüffelei herauskommen würde.
*
»Schön, dass Sie so früh kommen konnten«, freute sich Baron Friedrich am Freitagnachmittag, nachdem er Leonid begrüßt hatte.
Dieser sah sich staunend um. »Ich hatte mir das Sternberger Schloss nicht so groß vorgestellt«, gestand er, »und das umgebende Gelände auch nicht. Das ist ja ein riesiges Areal.«
»Das ist es«, gab der Baron zu. »Möchten Sie gleich eine Führung haben oder soll Ihnen Herr Hagedorn zuerst Ihre Suite zeigen?«
Eberhard Hagedorn hielt sich im Hintergrund und wartete auf ein Zeichen des Barons.
»Wenn Sie bereit sind, mich gleich herumzuführen, wäre mir das am liebsten«, erklärte Leonid.
Friedrich nickte dem Butler zu, der sich daraufhin zurückzog. »Dann kommen Sie«, bat er. »Fangen wir mit den Pferdeställen an?«
»Gern, ja.«
Bevor sie die Ställe erreichten, sagte Friedrich: »Es hat eine kleine Kommunikationspanne zwischen mir und meiner Frau gegeben – aber da wir, um sie zu beheben, entweder Sie oder unseren anderen Gast hätten wieder ausladen müssen, haben wir beschlossen, es darauf ankommen zu lassen. Im Klartext: Während ich Sie eingeladen habe bei der Auktion, hat meine Frau ebenfalls eine Einladung ausgesprochen – an Clara von Bethmann.«
Leonid reagierte erst nach einigen Sekunden – und zwar mit schallendem Gelächter. »Sie wird nicht begeistert sein, lieber Herr von Kant!«
»Davon gehen wir auch aus, meine Frau und ich«, musste Friedrich zugeben.
Leonid lachte noch immer. »Wahrscheinlich fährt sie gleich zurück nach Hause«, vermutete er. Dann wurde er ernst. »Na ja, vielleicht auch nicht. Sie wirkte durchaus kampflustig.«
»Ich hoffe natürlich, dass es hier nicht zu einem Kampf kommt«, erklärte der Baron schmunzelnd.
Leonids dunkle Augen funkelten jetzt vor Vergnügen. »Warten wir es ab, Herr von Kant.«
Danach wandte sich das Gespräch den Pferden zu, denn sie betraten den ersten Stall. Aber obwohl sie sich lebhaft unterhielten, bemerkte Friedrich doch, dass sein junger Gast nicht ganz bei der Sache war. Ob das mit Claras bevorstehender Ankunft zu tun hatte?
Er war mittlerweile aufrichtig gespannt auf den Augenblick, da diese beiden eigensinnigen Menschen erneut aufeinandertreffen würden.
Während Baron Friedrich diesen Überlegungen nachhing, stellte Leonid zu seiner Überraschung fest, dass er sich auf Clara von Bethmanns Kommen freute. Sie hatte ihm ihren Zorn ungefiltert entgegengeschleudert, das hatte ihm imponiert. Und sie war zweifellos eine der schönsten Frauen, die er je gesehen hatte.
Nur leider konnte er ihr nicht die Wahrheit sagen, um ihren Zorn zu besänftigen – und das fand er nun fast ein wenig bedauerlich.
*
Clara sann auf der Fahrt nach Sternberg dem Gespräch mit Irina Mahler nach, mit der sie vor ihrer Abreise noch einen Spaziergang gemacht hatte. Ihre ältere Freundin hatte ihr einiges zu erzählen gehabt. Offenbar unterrichtete sie seit einigen Tagen die Geschwister ihrer Haushaltshilfe, damit sie besser in der Schule mitkamen. »Aber warum tun Sie das, Frau Mahler?«
Die überraschende Antwort hatte gelautet: »Weil es mir Freude bereitet – und weil es den Kindern und vor allem meiner Lili hilft.«
Lili hatte Clara schon bei einigen Besuchen gesehen: ein schüchternes junges Mädchen, das sich am liebsten unsichtbar gemacht hätte – das zumindest war Claras Eindruck von ihr gewesen. Dass sie ausgezeichnete Arbeit leistete, hatte Irina Mahler schon öfter erwähnt, und man sah es der Wohnung auch an. Alles blitzte vor Sauberkeit, wann immer Clara dort gewesen war.
Sie war noch zu keinem abschließenden Urteil über Irina Mahlers Handlungsweise gekommen, als Schloss Sternberg vor ihr auftauchte. Dieser erste Blick auf das Schloss, das majestätisch auf seinem Hügel thronte, war immer wieder erhebend und verscheuchte alle anderen Gedanken aus ihrem Kopf. Wenige Minuten später stellte sie ihren Wagen ab und stieg aus.
Im selben Moment wurde die große Flügeltür geöffnet, und die Baronin erschien, um sie zu begrüßen. »Es ist jedes Mal überwältigend, Sofia«, sagte Clara, »wenn man Schloss Sternberg nach längerer Zeit wiedersieht. Ich vergesse immer, wie groß und prächtig es ist.«
Sofia umarmte die junge Besucherin, dann veränderte sich plötzlich ihr Gesichtsausdruck, und Clara fragte: »Was ist denn?«
Da die Baronin nicht antwortete, sondern in einer Mischung aus Verlegenheit und Unbehagen auf einen Punkt hinter Claras Rücken starrte, drehte sie sich schließlich um. Die beiden Männer, die direkt auf sie zukamen, waren Baron Friedrich von Kant und Graf Leonid von Zydar.
Clara schnappte nach Luft. Hastig drehte sie sich wieder zu Sofia um. »Was soll das?«, fragte sie. »Wieso ist dieser Mensch hier?«
»Es war ein Versehen«, murmelte die Baronin, weiter kam sie jedoch nicht mit ihren Erklärungen, denn Friedrich und Leonid hatten sie nun erreicht.
»Willkommen auf Sternberg, Clara«, sagte der Baron.
Sie erwiderte den Gruß kühl, gleich darauf bohrte sich ihr Blick in den des russischen Grafen. »Wenn ich gewusst hätte, dass ich Sie hier treffe«, sagte sie kalt, »wäre ich nicht gekommen.«
»Das tut mir sehr leid«, erwiderte Leonid mit formvollendeter Höflichkeit. »Ich hatte gehofft, Ihr Zorn auf mich hätte sich in der Zwischenzeit ein wenig gelegt.«
»Keinesfalls.« Sie wandte sich an Sofia und Friedrich. »Und von euch hätte ich erwartet, dass ihr mich informiert, denn ihr hättet wissen können, dass ich auf dieses Zusammentreffen keinen Wert lege. Ich dachte, wir seien Freunde. Geht man so mit Freunden um?«
»Clara«, sagte die Baronin bittend, »wir wollten weder dich noch Graf Leonid wieder ausladen – wir hatten uns auf euch beide gefreut. Und da ich dich eingeladen hatte und Fritz den Grafen, ohne uns abzusprechen, mussten wir eine Entscheidung treffen. Wir haben also beschlossen, es darauf ankommen zu lassen, ob ihr euch die Augen auskratzt oder nicht.«
»Ich werde mit Sicherheit nichts dergleichen tun«, erklärte Leonid mit seinem charmantesten Lächeln. »Das verspreche ich hiermit hoch und heilig. Ich werde mich außerdem bemühen, Ihren Zorn nicht von neuem auf mich zu ziehen, Frau von Bethmann.«
Am liebsten hätte Clara ihm die Augen tatsächlich ausgekratzt, denn wenn sie sich nach diesen Worten wieder in ihr Auto setzte und zurückfuhr, war sie diejenige, die sich kindisch benahm, während er als großzügiger Charmeur dastand. Sie schwor sich im Stillen, es ihm heimzuzahlen an diesem Wochenende. Er sollte nur ja nicht glauben, dass sie sich so leicht von ihm verwirren ließ. »Wir werden sehen, ob Ihnen das gelingt«, bemerkte sie kühl. »Und ihr beide, Sofia und Fritz, habt einiges gutzumachen. Ich hatte mich auf ein Wochenende mit euch gefreut, und nun muss ich mich mit jemandem an einen Tisch setzen, der mir auf den ersten Blick unsympathisch war.«
»Aber Clara!«, rief die Baronin peinlich berührt, doch Clara beeindruckte das nicht.
»Das habt ihr gewusst, Sofia. Also beschwert euch jetzt nicht darüber, dass ich unhöflich bin. Oder sagt mir, wenn euch meine sofortige Abreise doch lieber wäre.«
»Das kommt nicht in Frage«, rief Leonid. »Wenn jemand abreist, dann bin ich das. Ich hatte keine Ahnung, dass Sie mir den Erwerb des Bildes so übelgenommen haben, Frau von Bethmann.«
Sie glaubte ihm kein Wort. Um ihm jedoch keine weitere Gelegenheit zu geben, sich als perfekten Gentleman darzustellen, beschloss sie, die Debatte zu beenden: »Wir werden beide hier bleiben, und Sofia und Fritz die Suppe auslöffeln lassen, die sie sich eingebrockt haben«, sagte sie mit kühlem Lächeln.
Der Baron lachte. »Gut, dazu sind wir bereit, nicht, Sofia? Ich schlage vor, dass wir jetzt endlich hineingehen.«
Niemand widersprach ihm. Die Baronin freilich war ein wenig blass um die Nase, als sie gleich darauf das Schloss betraten. Das Wochenende ließ sich schwieriger an als erwartet.
*
Johannes verbarg sich noch eine ganze Weile hinter einer Litfaßsäule, nachdem die Frau mit dem Pagenkopf wieder in dem eleganten Altbau verschwunden war, in dem sie offenbar wohnte. Clara von Bethmann war längst abgefahren, er hatte keinen Sinn darin gesehen, ihr noch länger zu folgen, denn nicht sie war es ja, für die er sich interessierte, sondern diese Frau hier.
Sein Herz klopfte wie wild. Auf der Auktion war ihm keine vernünftige Erklärung dafür eingefallen, warum Clara von Bethmann das Bildnis einer Unbekannten hatte ersteigern wollen – ebenso rätselhaft war ihm Leonids Interesse daran geblieben, doch mittlerweile sah die Sache natürlich ganz anders aus. Er war von einer verrückten Idee ausgegangen, jetzt schien es einen ganz realen Hintergrund zu geben, auch wenn er ihn noch nicht durchschaute. Eins freilich war ihm klar geworden: Wenn Clara von Bethmann einen guten Grund für ihr Interesse gehabt hatte, dann war es bei Leonid mit Sicherheit ebenso. Dann kannte auch er diese Frau. Und wenn das so war, dann musste er, Johannes, zu allererst herausfinden, wer sie war.
Seine Überlegungen sprangen hin und her, er stellte Theorien auf, verwarf sie wieder, stellte eine neue auf, verwarf auch sie. Und endlich wagte er sich hinter seiner Säule hervor und lief auf das Haus zu, um die Namen auf den Klingelschildern zu studieren. Doch sehr weit kam er nicht, denn nirgends stand ein ausgeschriebener Name, überall las er nur Initialen, wie es bei Leuten üblich war, die nicht von jedem sofort ausfindig gemacht werden wollten. Hatte die Frau etwas zu verbergen?
Noch während er sich fragte, welche der Initialen wohl ihre waren, wurde die Tür ganz plötzlich geöffnet, und die Frau, um die die ganze Zeit über seine Gedanken gekreist waren, stand vor ihm. »Ich beobachte Sie schon eine ganze Weile«, sagte sie mit erzwungener Ruhe. »Wer sind Sie und was wollen Sie hier?« Ihre Augen bohrten sich in seine, er erkannte, dass sie ernsthaft erzürnt war. »Antworten Sie – oder ich rufe die Polizei. Sie sind meiner Freundin und mir in die Stadt gefolgt, und jetzt lungern Sie immer noch hier vor dem Haus herum. Wollen Sie mich ausspionieren?«
»Nein!«, beteuerte Johannes. Sie hatte ihn überrumpelt, er war nicht einmal auf die Idee gekommen, dass sie ihn bemerkt haben könnte. Und er hatte auch nicht mit einem so durchdringenden Blick aus bemerkenswert klugen Augen gerechnet. Ihr Gesicht war nicht mehr jung, aber noch immer bemerkenswert schön. »Entschuldigen Sie bitte, gnädige Frau«, fuhr er fort, nachdem er sich gesammelt hatte. »Es ist nur so, ich war gerade auf einer Auktion. Dort kam ein Bild unter den Hammer – das Porträt einer Unbekannten. Sie sind dieser Frau wie aus dem Gesicht geschnitten. Jünger zwar – und mit anderer Frisur, aber als ich Sie sah, wusste ich sofort, dass Sie es sein müssen. Reiner Zufall …« Er wollte Clara von Bethmanns Interesse an dem Bild nicht erwähnen, und seinen Freund Leonid wollte er erst recht nicht ins Spiel bringen. Ihm schien, als wäre es besser, zunächst einmal möglichst wenig preiszugeben. Später vielleicht …
»Und Sie erwarten allen Ernstes, dass ich Ihnen diese Geschichte glaube?«, fragte sie. »Wie sah das Bild aus?«
Er beschrieb es ihr in allen Einzelheiten, und ihm entging nicht, dass sich ihr Gesicht veränderte, während er sprach. Sie kennt das Bild, dachte er. Sie kennt es!
»Frau von Bethmann war auch auf dieser Auktion«, sagte sie endlich langsam. »Sie hat dieses Bild also auch gesehen?«
Ihr Blick war noch immer misstrauisch.
Er entschloss sich, seine Vorsicht über Bord zu werfen und ihre Frage ehrlich zu beantworten. Mit einem Mal wünschte er sich nichts mehr, als dass sie Vertrauen zu ihm fasste und ihm einen Einblick in ihr Leben gestattete. Wie gern hätte er sich mit ihr in ein Café gesetzt, mit ihr geredet, sie ausgefragt, von sich erzählt. Sie war so … er fand sie überwältigend. »Ja«, sagte er endlich. »Sie wollte es sogar unbedingt ersteigern, aber sie hat es nicht bekommen, jemand anders hat es ihr weggeschnappt, für einen absurd hohen Preis.«
»Wer?«, fragte sie. Ihre Stimme klang verändert, ihr Gesicht war jetzt sehr blass.
»Leonid von Zydar«, antwortete Johannes. »Wir haben uns angefreundet. Er stammt aus St. Petersburg, hat aber vor einiger Zeit seinen Wohnsitz nach hier verlegt. Ich habe ihn sehr gern.«
»Weiß jemand, dass Sie mir heute gefolgt sind?«
»Aber nein, ich habe Ihnen doch gesagt: Es war reiner Zufall!«, beteuerte Johannes. »Hätte ich nicht Frau von Bethmann in ihrem Geschäft gesehen …«
»Dieses verflixte Bild!«, murmelte sie, dann nahm sie seinen Arm und bevor er sich darüber wundern konnte, hatte sie ihn bereits ins Haus gezogen. »Erzählen Sie bitte niemandem von dieser Begegnung«, raunte sie ihm zu. »Wollen Sie mir das versprechen?«
Er zögerte. »Ich kenne Sie doch überhaupt nicht«, erklärte er dann. »Warum sollte ich Ihnen überhaupt etwas versprechen? Außerdem wüsste ich gern, was hinter dieser Geschichte mit dem Bild steckt, um das sich zwei Menschen einen so erbitterten Kampf geliefert haben.«
Sie nickte langsam. »Das verstehe ich«, sagte sie. »Aber ich brauche noch Zeit, ich habe nicht damit gerechnet, dass mich jemand findet, nach so langer Zeit …« Erschrocken verstummte sie, als sie erkannte, dass sie im Begriff war, zu viel zu verraten. »Geben Sie mir noch ein paar Tage«, bat sie, »und kommen Sie nächste Woche wieder – aber erst abends, ich bin sonst nicht allein. Am Dienstag?«
Johannes zögerte noch immer. »Wer sagt mir, dass ich Ihnen trauen kann? Vielleicht verschwinden Sie auf Nimmerwiedersehen, und ich erfahre Ihre Geschichte nie. Oder Sie sind eine gesuchte Verbrecherin, der ich dabei behilflich bin, sich vor der Polizei zu verstecken.«
Sie sah ihn an mit einem Blick, den er sein Leben lang nicht vergessen würde. »Ich bin keine Verbrecherin, aber ich verstecke mich tatsächlich. Und ich verspreche Ihnen hiermit in die Hand, dass ich Ihnen am Dienstag meine Geschichte erzählen werde.« Sie streckte ihre rechte Hand aus.
Johannes ergriff sie. Er hätte nicht sagen können, wieso er sicher war, dass sie ihn nicht anlog, aber er war es. »Ich glaube Ihnen«, sagte er ruhig. »Aber Sie müssen mir noch verraten, wo ich klingeln muss. Ich kenne ja noch nicht einmal Ihren Namen.«
»Irina Mahler«, antwortete sie. »I. M. – das bin ich.«
»Dann bis Dienstag, Frau Mahler.«
Sie nickte und öffnete die Tür wieder. Er war schon einige Schritte gegangen, als sie ihn fragte: »Was machen Sie beruflich,
Herr …?«
»Ich bin der Thalbach«, antwortete er. »Mir gehört die Thalbach-Bank.«
Sie nickte nur, lächelte ihm noch einmal zu und schloss dann eilig die Tür.
Johannes hatte das Gefühl, dass ihm etwas die Kehle zusammenschnürte. Ich werde mich doch nicht in eine Frau verlieben, die ganz offensichtlich einiges zu verbergen hat, dachte er. Doch im tiefsten Inneren seines Herzens wusste er, dass er genau das bereits getan hatte.
*
»Jetzt zum Wochenende wollt ihr mit dem Dach anfangen?«, fragte Lili verwundert, als Kalli am frühen Freitagabend mit seinen Kollegen anrückte.
»Sonderschicht, kriegen wir extra bezahlt vom Chef«, erklärte Kalli. »Wir setzen euch einen neuen Dachstuhl drauf – und wir machen ihn ein bisschen höher als den alten, dann gibt es nämlich unterm Dach noch Platz für zwei oder drei zusätzliche Zimmer. War die Idee von deiner Frau Mahler – die ist echt ’ne tolle Frau.«
»Aber das geht nicht«, stammelte Lili, »das ist doch viel zu teuer, Kalli! Das können wir niemals abarbeiten.«
»Müsst ihr auch nicht. Sie hat gesagt, du tust so viel für sie, das kann sie dir mit Geld sowieso nicht bezahlen.«
Sie standen jetzt allein, seine Kollegen bereiteten alles vor, um das Gerüst aufzustellen, das sie für die Arbeiten am Dach brauchten.
»Das geht nicht«, wiederholte Lili. »Sie kann nicht so viel Geld für uns ausgeben. Ich muss ihr das sagen.«
»Lass das sein«, riet Kalli. »Sie macht das auch für sich, Lili. Sie ist allein, sie hat keine Familie, sie bereitet sich damit auch selbst eine Freude.«
Sie erkannte sofort, dass seine Worte viel Wahres enthielten, und so nickte sie nach einer Weile
zögernd. In diesem Augenblick sprang die Haustür auf, und ihre Geschwister stürmten heraus, gefolgt von den Eltern. »Macht ihr das Dach, Kalli?«, fragte Patrick aufgeregt.
»Ja, endlich!«, erklärte Kalli lachend. »Und jetzt muss ich an die Arbeit, wir wollen ja bis morgen Abend möglichst viel geschafft haben.« Er begrüßte die Eltern Ganghofer, bevor er sich zu seinen Kollegen gesellte, um ihnen zu helfen.
Danach staunte die gesamte Familie, in welcher Geschwindigkeit die Männer das Gerüst aufbauten. Lili aber hatte vor allem Augen für Kalli, der gelenkig hinauf- und hinunterturnte und sichtlich Freude an seiner Arbeit hatte. Sie liebte ihn heimlich, aber bisher hatte sie sich dieses Gefühl nie eingestanden, war sie doch der Ansicht gewesen, dass ihre Familie sie noch auf Jahre hinaus brauchen würde. Nun fragte sie sich zum ersten Mal, ob ihr Leben vielleicht doch noch nicht so vorgezeichnet war, wie sie bisher angenommen hatte.
Vielleicht konnte sie das Kochen ja wirklich noch von Grund auf lernen – und …
»Das haben wir dir zu verdanken, Lili«, sagte ihre Mutter leise in ihre Gedanken hinein.
Lili schrak zusammen und errötete, wie so häufig. »Aber nein, Mama«, wehrte sie ab. »Die Frau Mahler ist einfach eine sehr großzügige Frau, das hat mit mir nichts zu tun.«
Frau Ganghofer wusste es besser, doch sie widersprach ihrer Ältesten nicht. Aber sie tat etwas, was sie schon sehr lange nicht mehr getan hatte: Sie nahm Lili in die Arme und drückte sie an sich. »Du bist die beste Tochter, die man sich wünschen kann«, sagte sie. »Der Kalli weiß schon, warum er sich in dich verliebt hat.«
»Mama!« Noch mehr Blut schoss Lili ins Gesicht. »Wie kannst du so etwas sagen?«
»Ich habe Augen im Kopf, Kind«, war alles, was ihre Mutter daraufhin erwiderte – und dazu lächelte sie so, dass ihr müdes Gesicht mit einem Mal wieder viel jünger wirkte.
Lili lächelte auch.
*
Widerwillig stellte Clara fest, dass der russische Graf nicht nur tadellose Manieren hatte, sondern auch fesselnd zu erzählen wusste. Zudem war er intelligent, gut informiert, und nicht wenige seiner Bemerkungen bewiesen, dass er Sinn für Humor hatte. Und natürlich sah er großartig aus mit seinen kohlschwarzen Augen und dem scharfen, männlichen Profil. Wäre nicht diese blöde Geschichte mit dem Bild gewesen, hätte sie ihn sicherlich attraktiv gefunden.
Aber genau dieser Punkt sorgte bei ihr für weitere Verärgerung: Er war höflich zu ihr, bemühte sich immer wieder, sie ins Gespräch zu ziehen, aber als Frau schien er sie nicht einmal wahrzunehmen – als fände er sie nicht im Mindesten attraktiv. Eine solche Behandlung war sie nicht gewöhnt, und sie
missfiel ihr in höchstem Maße. Er versuchte ja nicht einmal, mit ihr zu flirten, warf ihr keine bewundernden Blicke zu – schien ihre Schönheit nicht zu bemerken. Schlimmer noch: Statt sie zu bewundern, scherzte er mit den beiden jungen Mädchen, die ebenfalls zu Besuch auf Sternberg waren, Sabrina von Erbach und Laura von Wredeburg. Beide sahen reizend aus und gingen bereitwillig auf Graf Leonids Scherze ein.
Er war eben, dachte Clara mit erneut aufflammendem Zorn, doch nur ein ziemlich bornierter Mann. Wenn er es schon nötig hatte, mit zwei Teenagern zu flirten …
Leonid hatte unterdessen seinen ganz speziellen Spaß an der Situation. Clara von Bethmann war bezaubernd. Je länger er in ihre vor Zorn sprühenden Augen sah, desto besser gefiel sie ihm, ohne dass er sich das freilich hätte anmerken lassen. Sie ärgerte sich sichtlich, dass es ihr so gar nicht zu gelingen schien, ihn zu beeindrucken, und das erhöhte sein Vergnügen beträchtlich, so dass er noch ein bisschen mehr mit Sabrina und Laura flirtete, die daran ihr unschuldiges Vergnügen fanden.
Zugleich stellte er jedoch auch fest, dass er aufpassen musste, seine übliche Distanz aufrecht zu erhalten, denn zwischendurch begann er davon zu träumen, wie es wäre, Clara in den Armen zu halten und diese herausfordernd sinnlichen Lippen zu küssen. Ob sie dann ihren Widerstand gegen ihn aufgeben würde? Würden ihre Augen sanft werden? Würde sie seinen Kuss erwidern?
Die Stimme der Baronin drang in sein Bewusstsein. Er riss sich zusammen und verscheuchte die träumerischen Trugbilder.
»Was wollen wir denn morgen unternehmen?«, fragte Sofia, der die unterschwelligen Spannungen nicht entgangen waren. Die Jugendlichen schienen sich gut zu amüsieren, aber zwischen Clara und dem Grafen brodelte es. Sie konnte nur hoffen, dass bis zum Sonntag alles gut ging. Es wäre sehr unschön gewesen, wenn es während dieses Wochenendes noch zu einem handfesten Streit zwischen den beiden gekommen wäre.
»Können wir nicht mal wieder ein Picknick machen?«, fragte Anna. »Das Wetter ist doch jetzt so schön geworden – und Herr Wenger hat gesagt, dass einige Pferde Bewegung brauchen. Wir könnten bis zu unserer Lieblingslichtung reiten, alle miteinander!«
Zu Sofias Verwunderung fand dieser Vorschlag einhellige Zustimmung, und so atmete sie auf. Fast alle Menschen, die sie kannte, wurden friedlich, sobald sie auf einem Pferd saßen, also würde am nächsten Tag schon alles gut gehen. Sie konnte ja dafür sorgen, dass Clara und Leonid beim Picknick weit voneinander entfernt saßen.
»Was ist mit dir?«, fragte der Baron leise. »Du machst so ein nachdenkliches Gesicht. Fühlst du dich nicht gut?«
»Alles in Ordnung!«, behauptete sie. »Ich war nur in Gedanken.« Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange.
Wenig später löste sich die Gesellschaft auf. Zu ihrer Erleichterung zog sich Clara umgehend in ihre Suite zurück.
Je weniger sie und Leonid aufeinandertrafen, desto besser!
*
Marie-Luise Falkner, die junge Köchin auf Schloss Sternberg, nahm die Herausforderung an. »Natürlich kann ich bis morgen ein ordentliches Picknick auf die Beine stellen!«, erklärte sie, als Eberhard Hagedorn ihr die Pläne für den nächsten Tag unterbreitete. »Hat das etwa jemand bezweifelt?«
Er hatte gewusst, dass ihr Ehrgeiz geweckt sein würde. »Natürlich nicht, Marie, aber wenn Sie es früher gewusst hätten, wäre es sicher einfacher vorzubereiten gewesen.«
»Aber wenn die Aufgabe schwerer ist, macht es auch mehr Spaß, sie zu lösen.« Sie hatte bereits den abwesenden Blick, den er von ihr kannte, wenn ihr Gehirn auf Hochtouren arbeitete. »Ich kann mich jetzt leider nicht mehr mit Ihnen unterhalten, Herr Hagedorn, sondern muss mich sofort an die Arbeit machen.«
Mit einem zufriedenen Schmunzeln verließ er die Küche wieder. Er war ganz sicher, dass ihr Picknick keine Wünsche offenlassen würde.
Als er sich anschickte, die Eingangshalle zu durchqueren, um noch einmal im Salon nach dem Rechten zu sehen, war ihm, als sähe er zwei Schatten neben einer der Säulen. Da er sich wie üblich beinahe lautlos bewegt hatte, war er noch nicht entdeckt worden. Er trat sofort einen Schritt in das Halbdunkel des Gangs zwischen Küchentrakt und Eingangshalle zurück, um nicht gesehen zu werden. Gleich darauf lösten sich die beiden Schatten von der Säule – einer kehrte in den Salon zurück, der andere huschte die Treppe hinauf. Zuvor hatten sie einander noch einmal zärtlich geküsst.
Eberhard Hagedorn lächelte wehmütig. Sie waren noch so jung! Er erinnerte sich sehr gut an seine erste große Liebe, er war nicht viel älter gewesen als der kleine Fürst jetzt – und er hatte sich nicht vorstellen können, dass diese Liebe jemals enden würde.
Als er gleich darauf den Salon betrat, war Sabrina von Erbach nicht mehr anwesend, der kleine Fürst aber stand mit verträumtem Gesicht an einem der Fenster und sah hinaus in den Park.
»Was hat Frau Falkner zu unseren Plänen gesagt, Herr Hagedorn?«, fragte Sofia.
»Sie ist bereits am Planen, Frau Baronin. Es wird bestimmt ein großartiges Picknick.«
Togo flitzte an dem alten Butler vorbei in den Salon. Christian warf seiner Tante einen entschuldigenden Blick zu. »Ich gehe noch einmal raus mit ihm, Tante Sofia. Komm, Togo.«
Er hatte noch immer einen verträumten Blick.
Eberhard Hagedorn schmunzelte in sich hinein.
*
Leonid hatte noch einen Rundgang durch einen der Pferdeställe gemacht, war hier und da stehengeblieben und hatte ein paar Worte an das große schöne Tier in der jeweiligen Box gerichtet. Er hatte den Stallmeister Robert Wenger getroffen, mit ihm ein wenig gefachsimpelt und höflich gefragt, ob seine Anwesenheit die Pferde auch nicht störe.
»Nein, nein, ich habe ja gesehen, wie Sie mit ihnen umgehen, Graf von Zydar – ich denke sogar, es gefällt ihnen, wenn jemand sich noch ein wenig mit ihnen unterhält. Wir haben manchmal einfach zu wenig Zeit für jedes einzelne Tier«, hatte der junge Stallmeister erwidert.
Langsam setzte Leonid seinen Gang fort. Er war aufgewühlt, und er machte sich nichts vor: Das hing mit der temperamentvollen Clara zusammen. Sie gefiel ihm, und jetzt erst merkte er, wie bedrückend das zurückgezogene
Leben gewesen war, das er sich
seit seiner Übersiedelung nach Deutschland auferlegt hatte. Er war schließlich noch jung, liebte es, zu feiern und zu tanzen – und er sehnte sich außerdem nach der Liebe einer Frau wie Clara. Nach der Liebe einer Frau, die wusste, was sie wollte, die ihren eigenen Kopf hatte, die klug war und schön, wunderschön sogar.
Er hörte ein Geräusch und blieb stehen, während er lauschte. Leises Gemurmel, eindeutig, er war also nicht allein in diesem Stall. Hatte sich vielleicht einer der Pferdepfleger mit seinem Mädchen hier getroffen? Er wollte niemanden aufschrecken – und schon gar kein verliebtes Paar stören, das lag ihm wahrhaftig fern. Er wollte sich gerade umdrehen und den Stall wieder verlassen, als plötzlich eine Stimme fragte: »Hallo? Ist da jemand?«
Es war Claras Stimme, eindeutig. Aber mit wem hatte sie gesprochen? »Ich bin hier«, antwortete er, »Leonid. Ich wollte noch einen Rundgang machen, weil ich noch nicht müde bin. Sind Sie das, Clara?« Er schlenderte jetzt langsam weiter, sorgsam darauf achtend, dass sich sein Herzschlag wieder normalisierte, damit seine Stimme nicht verriet, wie sehr ihn diese unerwartete Begegnung aus dem Gleichgewicht brachte.
»Ja«, antwortete sie spröde.
Gleich darauf stand er vor ihr und sah erst jetzt, dass sie allein war. Beinahe hätte er aufgelacht: Sie hatte mit einem der Pferde gesprochen, genau wie er. »Da sind wir also auf die gleiche Idee gekommen«, stellte er fest.
Sie nickte. »Pferde sind wundervolle Tiere«, erwiderte sie leise. »Eine Mischung aus Kraft und Sanftheit – und klug sind sie außerdem. Ich habe selbst Pferde, und ich könnte schwören, dass sie jedes Wort, das ich zu ihnen sage, verstehen.«
Sie kam ihm noch schöner vor als während des Essens im Salon. Ihr Gesicht leuchtete weiß im Dämmerlicht des Stalls, ihre Augen glänzten, der leicht geöffnete Mund ließ ihre Zähne durchblitzen. Wie zierlich sie war! Erstaunt stellte er fest, dass sie ihm gerade bis zur Schulter reichte, und erneut hatte er mit dem heftigen Wunsch zu kämpfen, sie in seine Arme zu nehmen und zu küssen, bis sie ihren Widerstand gegen ihn aufgab, ihre Lippen sich willig öffneten und ihr Körper sich weich und voller Verlangen an den seinen schmiegte.
Statt diesem Wunsch nachzugeben sagte er: »Ja, so geht es mir auch. Selbst hier, wo ich die Pferde nicht kenne, vermitteln sie mir den Eindruck, meine Worte zu verstehen.«
Ihre Blicke tauchten ineinander, sie lächelte ihn an, und er konnte keinerlei Zorn mehr in ihren Augen entdecken. Mit einem Mal schien alles, was sie trennte, vergessen zu sein. Er fühlte sich ihr nah und war sicher, dass es ihr ebenso erging.
Dann wandte sie sich ab und fragte mit trauriger Stimme: »Warum haben Sie mir das Bild nicht überlassen wollen?«
Er öffnete bereits den Mund, um die Frage zu beantworten, schloss ihn jedoch sofort wieder. »Aus persönlichen Gründen«, sagte er endlich. »Es hatte nichts mit Ihnen zu tun.«
»Und das soll ich Ihnen glauben?«
»Es ist die Wahrheit, Clara, das schwöre ich.«
Jetzt sah sie ihn wieder an. »Ich glaube Ihnen nicht«, stellte sie dann fest, drehte sich um und ließ ihn stehen.
Er widerstand dem Impuls, ihr zu folgen. Die wenigen Augenblicke der Vertrautheit waren schon wieder vorüber – aber was erwartete er? Sie war zornig auf ihn, das würde sie nicht innerhalb weniger Stunden vergessen.
Er blieb noch so lange bei den Pferden, bis er sicher sein konnte, ihr nicht mehr zu begegnen, dann erst kehrte auch er ins Schloss zurück.
*
Lili wurde am Samstagmorgen sehr früh geweckt, von unterdrückten Stimmen und seltsamen Geräuschen, die sie im Halbschlaf nicht zu deuten wusste. Erst als sie Kallis Stimme ganz deutlich sagen hörte: »Sie werden nicht begeistert sein, wenn wir sie so früh wecken, aber wir sollten nicht länger warten«, war sie schlagartig hellwach. Sie sprang mit einem Satz aus dem Bett und sah aus dem Fenster: Tatsächlich, die Dachdecker waren bereits da!
Sie schlüpfte ins Bad, wo sie sich sehr beeilte, dann ging sie nach unten, um Kaffee zu kochen. Wer so früh anfing zu arbeiten, war bestimmt froh über ein warmes Getränk.
Sie war noch nicht ganz fertig, als Patrick erschien. »Die fangen aber früh an«, maulte er. »Ich wollte noch schlafen, aber die haben mich geweckt.«
»Du solltest nicht meckern, sondern lieber froh sein, dass unser Dach gemacht wird«, fand Lili.
Zu ihrer Überraschung widersprach er nicht, sondern stimmte ihr zu. »Bin ich ja auch. Soll ich den Kaffee rausbringen?«
»Ja, tu das – und sei leise. Wir müssen die anderen ja nicht unbedingt aufwecken, wenn sie noch schlafen können.«
Es erwies sich jedoch als unmöglich, bei dem Krach, den die Männer machten, weiterzuschlafen, und so fand sich bald die ganze Familie in der Küche zum Frühstück ein. Alle sahen müde aus, aber vor allem waren sie außerordentlich an dem interessiert, was draußen am Haus vor sich ging. Vor allem die Zwillinge machten sich einen Spaß daraus, von einem Fenster zum nächsten zu laufen, um festzustellen, ob sie einen der Männer sehen konnten. Als ihnen irgendwann Kalli fröhlich zuwinkte, kreischten sie vor Vergnügen.
»Ich sehe mal, ob ich helfen kann«, sagte Lilis Vater nach dem Frühstück. »Die können bestimmt noch jemanden gebrauchen, der mit zupackt.«
Und so war es auch. Als Lili das Haus verließ, um sich auf den Weg zu Irina Mahler zu machen, blieb sie erst einmal stehen, um zu sehen, wie weit die Männer bis jetzt gekommen waren. Sie sah ihren Vater auf dem obersten Gerüst stehen und Kalli eine Plane anreichen. Sie konnte nur staunen: Das Dach war bereits abgedeckt, jetzt wurde das Haus mit einer Plane abgesichert, falls es in den nächsten Tagen regnete. »Das ging aber schnell!«, rief sie nach oben.
Kalli lachte sie an. »Wenn Fachleute an der Arbeit sind, ist das immer so!«, rief er. »Danke für den Kaffee, Lili. Noch besser hätte er nur geschmeckt, wenn du ihn selbst gebracht hättest.«
Lili errötete und setzte sich eilig in Bewegung. »Bis später«, rief sie.
Kallis Antwort kam prompt: »Bis später, Lili!«
*
Das Picknick erwies sich als ausgezeichnete Idee, in dessen Verlauf auch Clara auftaute. Sie vergaß ihren Groll gegen Leonid, wie am Abend zuvor im Pferdestall. Einige Male scherzte sie sogar völlig unbefangen mit ihm – bis ihr Gesicht sich verdunkelte, wenn ihr einfiel, dass sie ihn eigentlich nicht als Freund ansah. Aber sie fragte sich längst, ob er ihr nicht vielleicht die Wahrheit gesagt hatte. Es war doch durchaus möglich, dass er ein persönliches Interesse an dem Porträt der Unbekannten gehabt hatte – was wusste sie schon davon? Außerdem erkannte sie allmählich, dass ihr Zorn auf ihn in keinem Verhältnis zu dem stand, was vorgefallen war. Er hatte sie schließlich weder belogen noch betrogen, sondern einfach nur ihre Pläne durchkreuzt – und sie hatte das Gleiche bei ihm versucht, nur eben ohne Erfolg. Solche Gedanken gingen ihr durch den Kopf, doch noch war sie nicht so weit, dass sie ihm großmütig verzeihen konnte. Immerhin hatte er ihr eine empfindliche Niederlage beigebracht, und sie verlor nicht gern.
Leonid, auf der anderen Seite, fand Clara, je länger er sie beobachtete, sie reden und lachen hörte, desto unwiderstehlicher. Und zum ersten Mal, seit er nach Deutschland gekommen war, überlegte er, wie es wäre, die Wahrheit darüber zu erzählen, warum er hier war. Warum eigentlich nicht, fragte er sich. Was wäre so schlimm daran?
Nichts, antwortete er sich selbst. Es wäre nicht schlimm, aber es würde den Erfolg dessen, was ich mir vorgenommen habe, gefährden.
Er verscheuchte diese Gedanken wieder und fuhr fort, Clara verstohlen zu beobachten, bis er merkte, dass er seinerseits beobachtet wurde, und zwar von Anna und dem kleinen Fürsten. Verflixt noch mal, dachte er, vor diesen
Teenagern muss man sich in Acht nehmen, die sehen und hören viel mehr als sie sollen.
Er ließ sich auf den Rücken fallen und schloss die Augen. Das Essen war köstlich gewesen, es war ein warmer Tag, wohlige Müdigkeit überkam ihn. Beinahe fühlte er sich wie zu Hause.
*
Irina verbrachte den Samstag voller Unruhe. Konnte sie diesem Johannes von Thalbach trauen? Konnte sie ihm die Wahrheit sagen? Er hatte kluge Augen und ein gutes Gesicht, aber wenn sie etwas gelernt hatte in den vergangenen zehn Jahren, dann war es dies: Man konnte einem Menschen, den man nicht kannte, nicht vertrauen, auch wenn er noch so treu guckte.
Irgendwann fiel ihr auf, dass Lili verändert aussah, und das riss sie endlich aus ihren Gedanken. Einmal summte die junge Frau sogar vor sich hin. »Es geht Ihnen also gut, Lili?«, fragte sie.
»Ja, sehr. Entschuldigen Sie bitte, Frau Mahler, ich wollte Sie nicht stören.«
»Setzen Sie sich zu mir und trinken Sie einen Tee mit mir«, schlug Irina vor.
»Aber die Arbeit«, wandte Lili ein, »ich muss noch so viel …«
Irina winkte ab. »Das kann warten, es ist tadellos sauber hier, Lili.«
»Aber ich bin mit dem Kochen noch nicht fertig.«
»Zur Not schaffe ich das auch mal allein. Bitte, machen Sie mir doch die Freude.«
Nie zuvor hatte Lili ihre Arbeit liegen lassen, um Tee zu trinken. Die Situation war so ungewohnt für sie, dass sie zuerst vollkommen verkrampft am Tisch saß. Irina hatte ihre liebe Mühe, bis sie auftaute, dann jedoch erzählte sie lebhaft von den Arbeiten am Haus und davon, wie glücklich die ganze Familie über das neue Dach war. »Sie sind ein sehr guter Mensch, Frau Mahler!«, sagte sie endlich.
»Nein, das bin ich nicht!«, wehrte Irina entschieden ab. »Wirklich nicht. Glauben Sie mir, Lili, ich weiß das besser als Sie.«
Lili schüttelte den Kopf und lächelte. »Ich sage ja nicht, dass Sie nie etwas Falsches getan haben, das macht schließlich jeder. Aber ich weiß, was ich weiß.«
»Wie können Sie so sicher sein?«, fragte Irina. »Ich habe jemanden kennengelernt und grübele die ganze Zeit darüber nach, ob ich dem Mann vertrauen kann oder nicht.«
»Das finden Sie schon heraus«, erwiderte Lili zuversichtlich. »Auf Dauer schafft es, glaube ich, niemand, sich zu verstellen.«
»Ich habe aber keine Zeit, um diesen Mann kennenzulernen«, murmelte Irina. »Das ist mein Problem. Er hat etwas über mich herausgefunden …« Sie verstummte erschrocken. Wie kam sie denn dazu, ausgerechnet Lili Ganghofer ihr Herz auszuschütten?
»Erpresst er Sie?«, fragte Lili erstaunlich ruhig und sachlich.
Diese Ruhe war es wohl, die Irina veranlasste, ihr zu antworten. »Nein. Aber es gibt etwas, das ich für mich behalten möchte – und dieser Mann hat eine Spur gefunden und wird es herausfinden, fürchte ich. Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder, ich gehe weg und zwar schnell. Oder ich weihe ihn ein und verlasse mich darauf, dass er den Mund hält.«
»Sie gehen weg?« Jetzt war es vorbei mit Lilis Ruhe. »Sie meinen, ganz weg von hier?« Unwillkürlich füllten sich ihre Augen mit Tränen. »Aber das geht nicht!«, sagte sie mit geradezu flehender Stimme. »Sie sind doch so wichtig für uns, Frau Mahler. Meine Geschwister gehen zum ersten Mal gern zur Schule, weil sie merken, wie schön es sein kann, etwas zu lernen. Und ich … Wenn Sie nicht mehr hier sind, wo werde ich dann arbeiten? Noch nie ist es mir so gut gegangen wie jetzt, und noch nie …« Sie legte den Kopf auf beide Hände und schluchzte herzzerreißend.
Irina strich ihr behutsam durch die Haare, mit einem Mal wusste sie, was sie tun würde. Sie hatte schon einiges riskiert im Leben, sie würde es wieder tun. Und wenn Johannes von Thalbach sie enttäuschte – nun, dann hatte sie eben eine weitere Lektion gelernt.
»Nicht weinen, Lili«, sagte sie weich. »Ich werde bleiben. Sie haben vollkommen Recht, ich kann jetzt nicht einfach weggehen – nicht gerade jetzt.«
Lili hörte auf zu weinen und hob den Kopf. »Ist das Ihr Ernst?«, fragte sie.
»Aber ja. Es ist schön zu wissen, dass es Menschen gibt, die über mein Weggehen traurig wären – und es ist auch schön zu erfahren, dass ich für andere wichtig bin.«
»Für uns sind Sie sehr, sehr wichtig, Frau Mahler – und nicht nur, weil Sie uns jetzt mit dem Dach helfen. Sie waren schon vorher wichtig.«
»Dann trocknen Sie jetzt Ihre Tränen, Lili. Ich bleibe, das verspreche ich Ihnen.«
Lili wischte sich mit dem Taschentuch über die Augen, dann fragte sie zögernd: »Und … dieser Mann? Wenn er nun doch versucht, Sie zu erpressen mit dem, was er herausgefunden hat? Er könnte drohen, Sie zu verraten, das wäre doch schlimm für Sie, oder? Sie haben gesagt, es gibt etwas, das Sie für sich behalten wollen.«
»Das überlege ich mir, wenn es so weit ist«, erklärte Irina. »Ich werde schon eine Lösung finden, das habe ich bisher immer geschafft.«
Lili leerte ihre Tasse und stand auf. Sie ging aber nicht sofort, sondern blieb neben Irina stehen. »Ich habe Sie sehr, sehr gern, Frau Mahler«, sagte sie feierlich, »und wenn Sie einmal Hilfe brauchen sollten, dann können Sie auf mich immer zählen.« Nach diesen Worten drehte sie sich mit rotem Kopf um und verließ das Zimmer, um ihre Arbeit fortzusetzen.
Nun war es Irina, in deren Augen Tränen schimmerten. Eine Liebeserklärung, dachte sie gerührt. Wie lange ist es her, dass mir jemand eine Liebeserklärung gemacht hat – und dann noch eine so hübsche!
*
Anna sah das Unglück während des Abendessens heraufziehen. Es war ein wunderschöner Tag gewesen, sie hatten den Ausritt genossen, und das anschließende Picknick hatte bei allen großen Anklang gefunden. Selbst Clara und Leonid schienen ihr Kriegsbeil begraben zu haben, aber ganz unbefangen gingen sie nicht miteinander um. Und Anna, die gute Beobachterin, machte sich dazu ihre eigenen Gedanken. Sie wollte mit Christian darüber sprechen, doch sie kam nicht dazu – und das erwies sich abends beim Essen als fatal.
Anna glaubte nämlich, dass Clara und Leonid ineinander verliebt waren, das aber nicht zugeben wollten. Wie sonst war es zu erklären, dass Leonid Clara jetzt mit einem Mal vollkommen übersah und stattdessen ausschließlich mit Sabrina flirtete? Das wiederum bereitete, wie Anna sehr wohl bemerkte, dem kleinen Fürsten geradezu unaussprechliche Qualen der Eifersucht.
Wie gern hätte sie ihm zugerufen: »Aber er macht sich doch gar nichts aus ihr, und Sabrina hat nur Augen für dich, merkst du das denn nicht?« Nein, er merkte es nicht, und deshalb litt er. Da nur Anna von seinen Gefühlen für Sabrina wusste, fiel sonst niemandem etwas auf: Christian war öfter in sich gekehrt und verschlossen – bei einem Jungen, der vor nicht allzu langer Zeit beide Eltern verloren hatte, war das mehr als verständlich, und so beunruhigte es niemanden.
Clara reagierte auf Leonids Verhalten mit erneutem Zorn, wie Anna bemerkte, und so beschloss sie, einzugreifen. Immerhin saß sie neben Leonid. Sie nutzte die Gelegenheit, als Sabrina einmal von ihrem anderen Tischnachbarn Konrad angesprochen wurde, Leonid zuzuraunen: »Hören Sie auf damit, bitte.«
»Womit denn?«, raunte er zurück.
»Mit Sabrina zu flirten. Ich erkläre es Ihnen später.«
Ein erstaunter Blick traf sie, aber dankbar registrierte Anna, dass er ihren Wunsch erfüllte. Daraufhin entspannte sich die Situation ein wenig, aber nicht vollständig – Anna warf sich vor, zu spät gehandelt zu haben.
Nach dem Essen, als die Erwachsenen sich in die Bibliothek zurückzogen, behauptete sie, müde zu sein und gleich schlafen zu wollen. Das tat sie aber nicht, sondern zog sich in eins ihrer vielen Verstecke im Schloss zurück. Leonid hatte ihr noch einen fragenden Blick zugeworfen, vermutlich wartete er auf die versprochene Erklärung.
Da kannst du lange warten, dachte Anna, ich verrate dir Christians Geheimnis bestimmt nicht. Als sie ihren Cousin gleich darauf die Treppe heraufkommen sah, drückte sie sich ein wenig tiefer in ihr Versteck. Ihm folgte – nein, nicht Sabrina, sondern Leonid! Anna hielt den Atem an.
*
»Chris!« Leonid beeilte sich, den kleinen Fürsten einzuholen. »Warte bitte. Jetzt lauf doch nicht weg.«
Der kleine Fürst drehte sich um. »Ich laufe nicht weg«, sagte er traurig. »Ich mag bloß nicht mehr zusehen, wie Sie alle Mädchen einwickeln.«
»Entschuldige bitte – ich habe einen Fehler gemacht.«
»Einen Fehler? Was wollen Sie damit sagen?«
»Ich habe mit Sabrina geflirtet, damit es mir leichter fällt, nicht mit Clara zu flirten – wenn du es genau wissen willst. Das war dumm von mir, es kann zu Missverständnissen führen.«
»Mit Clara?«, fragte Christian erstaunt. »Die ist doch immer noch sauer auf Sie – jedenfalls ab und zu. Manchmal scheint sie das auch zu vergessen.«
»Ja, ich weiß. Und ich bitte dich, für dich zu behalten, was ich dir eben gesagt habe.«
»Ich verstehe das nicht«, erklärte Christian verwirrt. »Wenn Clara Ihnen gefällt, warum flirten Sie dann nicht mit ihr? Warum soll sie das denn nicht wissen?«
»Ja, das habe ich mich heute auch mehrmals gefragt«, murmelte Leonid. »Ich habe eine … eine Aufgabe zu erfüllen hier in Deutschland, und davon sollte ich mich durch nichts ablenken lassen. Wenn ich mich jetzt verliebe, passiert aber genau das.«
»Und darum haben Sie mit Sabrina geflirtet?« Unwillkürlich hatte Christian die Stimme erhoben. »Und wenn sie sich jetzt in Sie verliebt hat? Daran haben Sie wohl überhaupt nicht gedacht, dass das passieren könnte, oder?«
Plötzlich lächelte Leonid. »Nein, das habe ich nicht, denn ich bin sicher, dass es nicht passieren kann. Sabrina hat ihr Herz längst vergeben, das weiß ich. Und jetzt entschuldige mich bitte, es war mir wichtig, mit dir zu reden.«
Anna in ihrem Versteck hielt den Atem an. Ihre Sympathie für Graf Leonid wuchs – er hatte nicht verraten, dass er von ihr einen Hinweis erhalten hatte, das rechnete sie ihm hoch an.
Gleich darauf sah sie Sabrina
die Treppe hinaufeilen – direkt in Christians Arme. Sie schloss die Augen. Was nun folgte, wollte sie weder belauschen noch beobachten. Zumindest für diese beiden war die Welt jetzt wieder in Ordnung, das war die Hauptsache.
*
Die anderen waren schon gefahren, nur Kalli war noch geblieben. Lili und er saßen auf den Treppenstufen, die zur Haustür führten. »Montag geht’s weiter, Lili, das kriegen wir schnell hin. Wenn wir nur hätten decken müssen, wären wir schon nächste Woche fertig geworden, aber ein neuer Dachstuhl kostet natürlich mehr Zeit.«
»Wir sind so froh, dass das jetzt gemacht werden kann«, sagte Lili.
»Die Frau Mahler ist so was wie eine gute Fee, oder?«
»Ja, das habe ich ihr heute auch gesagt.«
Kalli sah sich um. »Hier muss noch viel mehr gemacht werden als das Dach, Lili.«
»Ich weiß, aber mein Vater hat schon gesagt, dass er auf keinen Fall noch mehr Hilfe von Frau Mahler annehmen will.«
Kalli nickte. »Ich habe mit ihm gesprochen. Ein paar Kumpels von mir verstehen was vom Verputzen, wenn ich mit denen rede, helfen die uns. Dein Vater ist ja auch ein guter Handwerker. Der Putz muss nämlich runter, und die Mauern müssen von unten trockengelegt werden, das können die auch.«
»Aber wir können das nicht annehmen, Kalli. Wir können uns nicht revanchieren.«
»Aber ich«, erklärte Kalli. »Ich habe anderen schon oft geholfen, von daher bin ich jetzt auch mal an der Reihe – die würden das ja für mich machen.«
»Aber du hast doch gar nichts davon.«
Kalli griff nach ihrer Hand und hielt sie fest. »Heiratest du mich, Lili?«
Sie wurde feuerrot. »Ich muss doch meinen Eltern noch helfen, wie sollen die denn ohne mich zurechtkommen?«
»Sollen sie ja gar nicht«, erklärte Kalli. »Ich hätte da eine Idee – ist noch nicht ganz ausgegoren, aber ich kann sie dir ja mal erzählen, ja?«
Sie nickte, froh, dass sie nichts sagen musste, sondern erst einmal weiter zuhören konnte.
»Das Dachgeschoss«, erklärte Kalli. »Ich meine, euer neues Dachgeschoss – das soll ja sowieso ausgebaut werden, da könnten wir beide wohnen, dann ist unten trotzdem noch mehr Platz als jetzt, weil du ja nicht mehr da schlafen musst. Für die ersten Jahre reicht uns das – und wenn deine Geschwister größer sind und deine Eltern keine Hilfe mehr brauchen, bauen wir uns vielleicht selbst ein kleines Haus. Wie findest du das?«
Sie war sprachlos, aber zugleich so glücklich, dass sie ihren Kopf an seine Schulter sinken ließ. »Das klingt wie ein Märchen«, sagte sie leise. »Aber natürlich müsste ich zuerst meine Eltern fragen, ob sie einverstanden sind.«
Kalli lachte leise. »Bei deinem Vater habe ich schon vorgefühlt, er hätte nichts dagegen, Lili.« Mit einer Zartheit, die man ihm gar nicht zutraute, wenn man ihn sah, legte er eine Hand unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht an.
Als er sie küsste, kam es Lili so vor, als käme sie nach einer langen Reise durch fremde Länder endlich wieder nach Hause.
*
»Zwischendurch dachte ich, wir könnten vielleicht doch noch Freunde werden, Clara«, sagte Leonid, als er neben Clara die Treppe hinaufstieg – die Gästesuiten lagen oben. »Aber ich glaube, ich habe mich getäuscht. Sie werden mir niemals verzeihen, dass ich dieses Bild erworben habe und nicht Sie – oder irre ich mich?«
Ihr Gesicht war verschlossen, ihr Blick kühl. »Nein«, antwortete sie, »Sie irren sich nicht, aber ich gehe nicht davon aus, dass Sie sehr unter meinem Missfallen leiden werden.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Ich habe Sie beobachtet heute Abend, das war sehr aufschlussreich. Ich dachte nämlich zwischendurch auch, dass Sie vielleicht netter sind, als ich ursprünglich angenommen hatte. Doch bin ich jetzt zu der Überzeugung gelangt, dass mein erster Eindruck genau richtig war.« Ihr Lächeln war eisig. »Und jetzt wünsche ich Ihnen eine gute Nacht, wir sehen uns sicher morgen früh noch – ich werde allerdings zeitig abreisen.«
Er wollte sie noch nicht gehen lassen, wusste aber nicht, was er noch hätte sagen können, ohne ihren Zorn weiter anzufachen. Sie sah so ungeheuer reizvoll aus in ihrem roten Kleid, das ihre helle Haut ebenso hervorhob wie die dunklen Haare. Und dann ihr Mund …
Er wusste hinterher nicht zu sagen, wie es kam, dass sie plötzlich in seinen Armen lag. Jedenfalls
küsste er sie voller Verlangen – war es doch das, wovon er seit dem vergangenen Tag träumte! Und tatsächlich öffnete sich ihr Mund, ihre Lippen waren weich und hungrig, ihre Arme schlossen sich um seinen Hals, ihr biegsamer Körper …
Sie stieß ihn mit unerwarteter Kraft von sich, gleich darauf versetzte sie ihm eine scharfe Ohrfeige. »Ich hätte es wissen müssen!«, fauchte sie. »Sie sind ein Mann ohne Respekt und ohne Manieren!«
Der Schlag war hart gewesen, seine Wange schmerzte. Als er seine Fassung einigermaßen zurückgewonnen hatte, war von Clara nichts mehr zu sehen.
*
Irina machte am Sonntag einen Spaziergang zum Haus der Ganghofers – und was sie sah, erfreute sie sehr. Es würde nicht mehr lange dauern, dann hatte die Familie ein schönes neues Dach und mehr Platz noch dazu. Da sie keine Aufmerksamkeit erregen wollte – wenn Lili sie gesehen hätte, wäre sie sicherlich hereingebeten worden – wandte sie sich bald wieder ab und schlug den Weg zur Innenstadt ein. Sie war unruhig, am liebsten hätte sie ihr Gespräch mit Johannes von Thalbach noch heute geführt, statt bis Dienstag zu warten.
Und warum auch nicht? Kurz entschlossen rief sie ihn an. Seine Stimme klang hocherfreut, als sie ihren Namen genannt hatte. »Wie schön, dass Sie sich melden, Frau Mahler!«, sagte er. »Ich hätte Sie beinahe auch schon angerufen, um Sie zu bitten, schon heute mit mir zu reden. Es ist noch so lang bis Dienstag.«
»Können Sie zu mir kommen?«
»Jetzt gleich?«
»Am liebsten ja.«
»In einer Stunde bin ich bei Ihnen.«
Sie kehrte also nach Hause zurück, kochte Tee und wartete ungeduldig. Er kam sogar ein bisschen früher – und er hatte es sich nicht nehmen lassen, vorher noch Blumen zu kaufen. Sie bat ihn, Platz zu nehmen, mit einem Mal war sie nervös. Worauf ließ sie sich ein? Was, wenn sie eine falsche Entscheidung traf? So lange lebte sie jetzt schon dieses Leben, für das sie sich entschieden hatte …
Er nahm ihr die Last des Anfangs ab, indem er ihr eine Frage stellte: »Sind Sie mit meinem Freund Leonid verwandt, Frau Mahler?«
»Ja, das bin ich. Wie haben Sie das herausgefunden? Hat er von … von mir gesprochen?«
»Nein, er gibt wenig von sich preis, und ich habe mir von Anfang an gedacht, dass er gute Gründe dafür hat. Ich habe einfach gehofft, dass er mich eines Tages, wenn er mich besser kennt, ins Vertrauen ziehen wird, aber mir war immer klar, dass ich mir dieses Vertrauen erst verdienen muss.«
»Wie haben Sie es denn dann herausgefunden?«
»Durch Nachdenken. Und durch dieses Bild auf der Auktion. Es ist mir erst gestern eingefallen, dass Sie einander ähnlich sehen – jedenfalls sieht die Frau auf dem Bild Leonid ähnlich, falls ich mich richtig daran erinnere. Er hat es nicht aufgehängt, ich habe es mir nicht noch einmal ansehen können, und natürlich wollte ich ihn nicht darum bitten, es mir zu zeigen.«
»Ich habe die Frisur geändert, damit die Ähnlichkeit nicht mehr so auffallend ist«, sagte sie leise. »Aber als ich von Ihnen hörte, dass Leonid hier ist und dass Sie ihn gut kennen, da wusste ich im Grunde schon, dass ich mit Ihnen reden muss.«
»Und warum nicht mit Leonid?«, fragte er behutsam.
Ihr Blick schweifte zum Fenster, verlor sich in der Ferne, und er konnte ihr ansehen, dass sie zwar noch bei ihm saß, aber in Gedanken weit, weit weg war. Er sagte nichts, um sie zurückzuholen, denn er war sicher, sie würde sich nach einer Weile von selbst wieder auf seine Anwesenheit besinnen.
So war es dann auch. Sie lächelte entschuldigend und begann mit ihrem Bericht. Die Geschichte spielte, was Johannes nicht sonderlich wunderte, in St. Petersburg.
*
Kalli verlor keine Zeit. Am Sonntag erschien er in seinem besten Anzug bei Ganghofers und bat um eine Unterredung mit Lilis Eltern. Die fand im Wohnzimmer statt. Lilis jüngere Geschwister versuchten selbstverständlich zu lauschen, mussten aber enttäuscht aufgeben. »Sie reden so leise«, murrte Patrick, »dass man nichts versteht. Ich wette, das machen sie absichtlich. Weißt du, warum Kalli da drin ist, Lili? Und warum er sich verkleidet hat?«
»Er hat sich nicht verkleidet, er trägt einen Anzug«, erklärte Lili und behauptete dann mit glühenden Wangen, keine Ahnung zu haben, welcher Grund Kalli hergeführt haben könnte.
»Vielleicht will er das Dach jetzt doch nicht machen«, befürchtete Sandra. »Weil es zu viel Arbeit ist.«
»Oder er will Geld«, raunte Oliver düster. »Dann lassen Sie uns mit der Plane hier sitzen, und wenn der nächste Sturm kommt, fliegt uns alles um die Ohren.«
Die Zwillinge machten ängstliche Gesichter, wenn es so weiter ging, erkannte Lili, würden sie anfangen zu weinen.
»Es hat nichts mit dem Dach zu tun«, sagte sie daher.
Patricks Blick war misstrauisch. »Woher willst du das wissen, wenn du keine Ahnung hast, warum er hier ist?«
»Vielleicht ist er meinetwegen hier«, murmelte Lili verlegen.
»Wieso das denn?«, fragte Oliver. »Hast du ihm was getan?«
»Eigentlich nicht, nein, aber …«
Ganz plötzlich fiel bei Sandra, die das immer röter werdende Gesicht ihrer Schwester nicht aus den Augen gelassen hatte, der Groschen. »Er ist in dich verliebt!«, platzte sie lauthals heraus.
»Sei doch still!«, fuhr Lili sie an.
Während noch Oliver, Patrick und die Zwillinge die Blicke zwischen ihren beiden älteren Schwestern hin- und herwandern ließen, wurde die Wohnzimmertür geöffnet, und ein strahlender Kalli trat heraus, gefolgt vom lächelnden Ehepaar Ganghofer. »Kinder«, rief der Familienvater, »jetzt wird Verlobung gefeiert!«
Kalli umarmte Lili stürmisch und küsste sie vor ihren kichernden Geschwistern. »Dürfen die das, Mama?«, erkundigte sich die kleine Mara mit großen Augen bei ihrer Mutter.
»Ja, das dürfen sie, Mara – wenn man verliebt ist, darf man sich auch küssen.«
Die Kinder bekamen Apfelschorle, für die Erwachsenen hatte Kalli extra eine Flasche Sekt besorgt. »Mitten am Tag«, sagte Frau Ganghofer besorgt, »da bekomme ich bestimmt einen Schwips.«
Den bekam sie tatsächlich, was besonders die Kinder entzückte, denn das war etwas ganz Neues: Eine Mutter, die nicht arbeitete, sich keine Sorgen machte, sondern einfach nur mit ihnen zusammen am Tisch saß und dabei lachte und scherzte, hatten sie bisher noch nie erlebt. Und als sie dann noch hörten, dass Lili und Kalli unters Dach ziehen würden, kannte der Jubel keine Grenzen. Das war ja beinahe so, als bekämen sie noch einen großen Bruder dazu!
Lili und Kalli waren bemerkenswert still. Aber was sollten sie auch reden, wo es doch reichte, sich tief in die Augen zu sehen, sich an den Händen zu halten und ab und zu einen verstohlenen Kuss zu tauschen? Das Reden überließen sie gern den anderen, sie selbst hatten genug damit zu tun, ihr Glück zu genießen.
*
»Danke«, sagte Anna zu Leonid, als sie für einige Augenblicke allein mit ihm war.
Er sah sie erstaunt an, schien zu überlegen, was sie meinen könnte, dann erwiderte er: »Ich habe dir zu danken. Schlimm genug, dass mir eine Dreizehnjährige sagen muss, ich solle mich nicht wie ein Idiot benehmen.«
»Das habe ich aber nicht gesagt«, protestierte Anna.
»Nein, du warst höflicher.«
»Haben Sie mit Clara geredet, bevor sie abgefahren ist?«
»Nein – ich denke, es war besser so. Sie ist sehr böse auf mich. Und ich muss mir zuerst überlegen, was ich eigentlich will und was nicht.«
»Sie sind doch in sie verliebt, oder nicht?«
»Du bist ein erstaunliches Mädchen, Anna.«
»Ich kann nur gut beobachten. Also, sind Sie’s?«
»Erstaunlich und hartnäckig«, murmelte er. »Ja, es könnte sein, dass ich mich in sie verliebt habe.«
Anna nickte. »Dann sagen Sie es ihr, ich glaube nämlich, sie ist auch in Sie verliebt.«
»Ach was«, murmelte er.
»Was Anna sagt, stimmt«, sagte eine Stimme hinter ihnen.
Leonid fuhr herum. Es war der kleine Fürst, der unbemerkt nähergekommen war. »Noch jemand, der gut beobachten kann?«, fragte Leonid. Er hätte gern spöttisch und überlegen geklungen, doch das misslang ihm.
Anna und Christian wechselten einen Blick, der ihm nicht entging. »Was guckt ihr euch so an? Wisst ihr mehr als ich?«
»Wir wissen meistens mehr als die anderen«, erklärte Anna.
Sie wurden von Baron Friedrich unterbrochen, der darauf bestand, dass Leonid noch blieb. »Ich habe Ihnen noch so viel zu zeigen, Sie können einfach noch nicht abreisen, mein Lieber!«
Leonid folgte ihm nur zu gern. Er fühlte sich den beiden Jugendlichen an diesem Tag nicht gewachsen.
*
»Und was wollen Sie jetzt tun?«, fragte Johannes, als Irina ihre Geschichte beendet hatte.
»Ich weiß es noch nicht. Mir war immer klar, dass ich mit Entdeckung rechnen musste, aber in den letzten Jahren habe ich viel weniger an diese Möglichkeit gedacht als zu Beginn. Ich habe mich sicher gefühlt.«
»Und Sie haben nie wieder etwas von Ihrer Familie gehört?«, fragte Johannes weiter.
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Nein«, flüsterte sie, »aber ich hoffe, sie sind glücklich miteinander.«
»Wie haben Sie das nur durchgehalten?«, fragte er erschüttert.
»Es war gar nicht so schwer, ich wusste ja, warum ich gegangen bin. Ich hätte uns alle ins Unglück gestürzt, Herr von Thalbach, glauben Sie mir. Und wenn die Liebe groß genug ist, dann kann man jedes Opfer bringen.«
»Und Sie denken nicht, dass Leonid jetzt die Wahrheit erfahren sollte? Er ist ja nun keine siebzehn mehr.«
»Ich weiß nicht, ob es gut wäre. Es würde einige seiner Illusionen zerstören.«
Johannes dachte nach. »Ich glaube mittlerweile, dass er Ihretwegen hierhergekommen ist«, sagte er.
»Möglich wäre es«, gab sie zu. »Wir hatten ein sehr enges Verhältnis zueinander.«
»Er hat sicherlich versucht herauszufinden, warum Sie plötzlich verschwunden sind – und ich glaube nicht, dass er sich mit den Erklärungen abgefunden hat, die seine Eltern ihm angeboten haben.«
»Ich würde so gern wissen, wie es ihnen geht«, flüsterte sie.
Johannes beugte sich vor. »Reden Sie mit Leonid«, bat er mit ernster Stimme. »Wenn er tatsächlich Ihretwegen hier ist, dann bedeutet das, er muss Sie vorher gesucht haben – und es kann nicht einfach gewesen sein, Ihre Spur bis nach Deutschland zu verfolgen.«
»Aber dann wird alles wieder aufgewühlt«, sagte sie, während sie aufstand und zum Fenster ging. »Wissen Sie, ich bin jetzt seit über zehn Jahren hier, ich möchte die Vergangenheit ruhen lassen.«
»Lieben Sie den Mann denn immer noch?«, fragte Johannes. Allein der Gedanke bereitete ihm Qualen. Diese ungemein gebildete, attraktive Frau hatte ihn vom ersten Moment an gefesselt – und die Vorstellung, sie vielleicht kennenlernen, ihr näherkommen zu dürfen, elektrisierte ihn. Aber wenn sie noch immer in einer alten Liebe gefangen war – einer Liebe, die einen großen Teil ihres bisherigen Lebens überschattet hatte, dann durfte er sich wohl keine Hoffnungen machen, die Bekanntschaft mit ihr vertiefen zu können.
Sie antwortete ihm erst nach längerem Zögern. »Nein«, sagte sie. »Eine Liebe, die keinerlei Nahrung findet, ist zum Sterben verurteilt – außerdem habe ich Jahre später endlich verstanden, dass diese Liebe wohl auch nur Illusion war, sie hätte dem Alltag sicherlich nicht standhalten können. Aber damals habe ich so empfunden, und deshalb musste ich gehen.«
»Sprechen Sie mit Leonid«, wiederholte Johannes. »Etwas quält ihn, und ich glaube nun, dass es dieser ungeklärte Teil seiner Vergangenheit ist.«
Sie nickte. »Ich denke darüber nach, mehr kann ich Ihnen im Augenblick nicht versprechen. Würden Sie mich jetzt bitte allein lassen? Unser Gespräch hat mich angestrengt.«
Er beugte sich tief über die Hand, die sie ihm reichte. »Ich danke Ihnen dafür, dass Sie mir Ihr Vertrauen geschenkt haben.«
»Sie werden doch mit niemandem darüber reden?« Forschend ruhte ihr Blick auf ihm.
»Natürlich nicht, das wissen Sie. Darf ich mich wieder bei Ihnen melden?«
»Nein, bitte nicht. Ich werde Sie anrufen.«
»Bestimmt?«
»Ich verspreche es Ihnen.«
Er verließ das Haus mit gesenktem Kopf. Ihm war kalt, trotz des warmen Tages – das musste an ihrer Geschichte liegen. Er drehte sich nicht noch einmal um, obwohl er es gern getan hätte, um zu sehen, ob Irina am Fenster stand und ihm nachsah, aber er bezähmte sich.
Hoffentlich entschied sie sich, mit Leonid zu sprechen, denn sonst, das ahnte er jetzt, würden sie beide keinen Frieden finden, weder sie noch der junge russische Graf.
*
»Ein seltsames Wochenende war das«, bemerkte der Baron, als alle Gäste das Schloss wieder verlassen hatten. »Und Clara hat sich wirklich zickig benommen, finde ich – so nachtragend kenne ich sie gar nicht.«
Anna und Christian wechselten einen Blick, sagten jedoch nichts.
Die Baronin erwiderte nachdenklich: »Sah es nicht zwischendurch so aus, als hätten sie das Kriegsbeil endlich begraben? Ich hatte zumindest diesen Eindruck, aber dann sind sie gleich wieder aufeinander losgegangen … Also, ich muss schon sagen, ganz klug bin ich aus dem Verhalten der beiden nicht geworden. Und er hat eindeutig zu viel mit Sabrina geflirtet. Wenn Sabrinas Eltern das mitbekommen hätten, dürfte sie sicherlich nie wieder herkommen.«
»Das fehlte noch«, murmelte Anna.
»Ja, eben. Er ist doch ein erwachsener Mensch – wieso verhält er sich dann so? Zum Glück schien Sabrina nicht sonderlich an ihm interessiert zu sein, und das hat er ja irgendwann auch gemerkt. Abgesehen davon fand ich ihn außerordentlich nett und charmant – ich kann mir jetzt noch weniger erklären, warum so viel über ihn geredet wird. Klug ist er außerdem, man kann sich gut mit ihm unterhalten. Schade eigentlich, dass Clara und er einander nicht ausstehen können, sie wären das ideale Paar.«
Nun konnten Anna und der kleine Fürst doch nicht länger an sich halten. »Aber Mama!«, rief Anna. »Sie sind doch ineinander verliebt – alles andere war nur gespielt! Das konnte doch ein Blinder sehen! Nicht, Chris?«
Sofia wartete die Antwort ihres Neffen nicht ab. Sie zog die Augenbrauen bis zum Haaransatz hoch. »Ich bin nicht blind, aber gesehen habe ich trotzdem nichts«, erklärte sie.
Konrad schlug sich auf die Seite seiner Mutter. »Ich auch nicht – und ich glaube, ihr wollt euch bloß wieder wichtig machen. Ihr wittert doch überall Liebespaare, auch wenn überhaupt keine in der Nähe sind.«
Früher hätte Anna sich vielleicht provozieren lassen, doch diese Zeiten waren schon lange vorbei. Alles, was sie sagte, war: »Ihr werdet ja sehen.«
»Und du, Chris? Denkst du das auch?«, erkundigte sich der Baron jetzt.
Der kleine Fürst nickte, was Konrad zu einer weiteren spitzen Bemerkung veranlasste: »Natürlich, ihr seid euch doch sowieso immer einig.«
»Hör auf, Konny«, wies die Baronin ihn zurecht. »Denk lieber daran, wie oft die beiden in der Vergangenheit schon Recht hatten mit ihren Vermutungen.«
Doch das wollte Konrad nicht hören. Missmutig wandte er sich ab.
Auch die anderen schwiegen jetzt. Ja, es war ein seltsames Wochenende gewesen – und noch war ja ungeklärt, was es mit dem Bild der unbekannten Frau auf sich hatte, um das der Streit zwischen Clara und Leonid überhaupt erst entbrannt war. Als Anna und Christian später mit Togo noch eine Runde durch den Schlosspark drehten, kam Anna darauf zu sprechen. »Was glaubst du, wer die Frau auf dem Bild ist, Chris?«
Der kleine Fürst hatte über diese Frage auch schon nachgedacht. »Ich weiß es nicht, aber ich finde, dass sie Leonid ein bisschen ähnlich sah.«
Anna starrte ihn an, dann rief sie: »Genau! Und ich habe das nicht gemerkt – Chris, du bist genial, dabei bin doch eigentlich ich die gute Beobachterin!«
Togo, der nicht begriff, warum Anna so laut wurde, fing an zu bellen, und sie hatten alle Mühe, ihn wieder zu beruhigen. Danach ging ihnen auf, dass ihnen diese zweifellos gute Beobachtung leider auch nicht weiterhalf, die Rätsel, die diese Geschichte aufgab, zu lösen.
*
»Danke, Lili«, sagte Irina einige Tage später müde und ohne den Blick zu heben, nachdem die junge Frau eine Tasse Tee vor sie auf den Tisch gestellt hatte.
»Sie dürfen sich nicht so quälen«, erwiderte Lili. »Wenn ich Ihnen doch nur helfen könnte, Frau Mahler! Sie haben so viel für mich und meine Familie getan, und jetzt muss ich mit ansehen, wie es Ihnen schlecht geht. Das ist … das ertrage ich nicht.«
Jetzt sah Irina doch auf. »Entschuldigen Sie, Lili, ich sollte mich nicht so gehen lassen, aber meine Vergangenheit ist plötzlich wieder lebendig geworden, und nun plage ich mich mit Geistern herum.«
Bevor Lili etwas erwidern konnte, klingelte es an der Tür. Irina fuhr zusammen und wurde aschfahl. »Sehen Sie nach, wer da ist«, bat sie.
Lili kam gleich darauf zurück. »Es ist Frau von Bethmann.«
Langsam kehrte die Farbe in Irinas Wangen zurück. Sie stand auf und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen. »Bitten Sie sie herein, Lili. Ich … komme gleich.«
Als sie zehn Minuten später wieder erschien, war ihr der überstandene Schrecken nicht mehr anzusehen, und ein schnell aufgetragenes Make-up überdeckte die Spuren von Müdigkeit und Tränen. »Clara«, sagte sie, »Wie schön, Sie zu sehen.«
Clara umarmte sie. Normalerweise wäre ihr die Traurigkeit in den Augen ihrer älteren Freundin sicherlich aufgefallen, sie hätte die belegte Stimme bemerkt, das bemühte Lächeln, doch an diesem Tag war sie mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. »Ich muss mit Ihnen reden, Frau Mahler«, sagte sie. »Es hat mit mir zu tun – und mit einem Mann, den ich eigentlich gar nicht kenne, der mich aber trotzdem wahnsinnig macht. Darf ich Ihnen davon erzählen?«
Irina nickte, sie war sogar froh über Claras Ansinnen. Es schien sich um eine Liebesgeschichte zu handeln, die würde sie ablenken – und zugleich musste sie selbst erst einmal nichts sagen, sondern nur zuhören. »Erzählen Sie, Clara.«
Aber schon nach Claras erstem Satz wusste sie, dass es mit dem ruhigen Zuhören nichts werden würde: »Der Mann ist ein Graf aus St. Petersburg, er heißt Leonid von Zydar. Ich habe Ihnen neulich nichts von ihm erzählt – und auch nichts von dem Bild, das ich auf der Auktion entdeckt habe. Eine Frau war darauf, die Ihnen sehr ähnlich sah, und deshalb wollte ich das Bild unbedingt haben, um es Ihnen zu schenken. Und dann kam dieser russische Graf und hat es mir
weggeschnappt. Was aber das Schlimmste an der Sache ist: Ich glaube, ich habe mich in ihn verliebt, denn als ich nach Sternberg kam, war er auch da, stellen Sie sich das vor! Und jetzt muss ich dauernd an ihn denken, dabei nimmt er mich überhaupt nicht ernst …«
Irina schloss zwischendurch die Augen. Johannes von Thalbach hatte Recht: Sie musste sich zuerst mit Leonid aussprechen. Das Bild hatte genug Ärger und Verwirrung gestiftet, es wurde Zeit, dass sie dem ein Ende bereitete.
»Was soll ich denn jetzt tun?«, fragte Clara am Ende ihrer langen Rede und richtete ihre Augen hoffnungsvoll auf Irina.
»Warten«, antwortete Irina mechanisch. Als sie die Enttäuschung in Claras Augen sah, setzte sie hinzu: »Ich kenne Graf Leonid, Clara, mehr kann ich dazu im Augenblick noch nicht sagen. Er hatte also durchaus einen Grund, das Bild haben zu wollen – genau wie Sie.«
»Sie kennen ihn?«, fragte Clara entgeistert. »Aber woher denn? Sie gehen doch fast nie aus – und er ist noch gar nicht lange hier.«
»Ich kenne ihn von früher«, erwiderte Irina. »Und jetzt bitte ich Sie um Geduld – ich kann Ihnen noch nicht mehr erzählen, zuerst muss ich mit ihm reden. Er weiß nicht, dass ich hier lebe.«
Clara biss sich auf die Lippen. »Ich komme mir so dumm vor«, sagte sie leise. »Ich habe ihn fürchterlich beschimpft wegen des Bildes. Später, auf Sternberg, sind wir uns dann plötzlich einmal sogar sehr nahe gekommen, aber
dann …« Sie stockte, ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich wollte mich überhaupt nicht in ihn verlieben!«, klagte sie. »Wieso ist mir das dann trotzdem passiert?«
Irinas Blick wurde leer. »So ist das eben manchmal mit der Liebe«, erwiderte sie. »Man will sie gar nicht haben, aber sie kommt trotzdem.«
Sie fasste ihren Entschluss, bevor Clara sich schließlich verabschiedete.
*
»Erklär mir, warum wir jetzt unbedingt nach Sternberg fahren müssen, Leo«, bat Johannes. Irina Mahler hatte sich nicht mehr bei ihm gemeldet – und mit Leonid hatte sie bisher auch nicht gesprochen, dessen war er sicher, denn sonst hätte sein Freund sich anders verhalten. Mehrmals schon war er versucht gewesen, ihr einen Überraschungsbesuch abzustatten, so groß war seine Angst, dass sie beschlossen hatte, erneut zu verschwinden. Im Verschwinden hatte sie ja Übung …
Aber er hatte sich beherrscht und dazu gezwungen, zu warten, bis sie auf ihn zukam. Sie hatte es ihm versprochen, und er wollte gern glauben, dass sie ein Mensch war, der hielt, was er versprach.
»Ich habe das verflixte Bild im Kofferraum«, erklärte Leonid. »Und ich habe beschlossen, dir und den Sternbergern zu erzählen, was es damit auf sich hat. Bisher habe ich meine Nachforschungen allein angestellt, aber jetzt scheine ich gegen eine Wand zu laufen – ich komme nicht weiter. Und da ihr die einzigen Menschen seid, denen ich hier vertraue, möchte ich euch einweihen. Das ist alles. Ich erhoffe mir eure Hilfe, nicht mehr und nicht weniger.«
Johannes biss sich auf die Lippen. Musste er jetzt nicht eigentlich sagen, dass er die Geschichte bereits kannte, die Leonid erzählen würde – wenn auch aus einer anderen Perspektive? Er fühlte sich hin- und hergerissen zwischen seiner Freundschaft zu dem jungen Grafen und dem Schweigeversprechen, das er Irina Mahler gegeben hatte. Er fühlte sich beiden verpflichtet, konnte aber nicht in beiden Fällen das Richtige tun. Endlich fragte er: »Wissen Sofia und Fritz, dass wir kommen?«
»Ja, und diese klugen Kinder, die mehr beobachten, als einem lieb sein kann, wissen es auch. Ich will, dass sie dabei sind.«
Johannes schwieg eine Weile, dann fragte er: »Was ist eigentlich an diesem Wochenende auf Sternberg passiert, dass du seitdem so gereizt bist? Und was sollte die Bemerkung eben mit den Kindern, die zu viel beobachten?«
»Passiert, passiert!«, murmelte Leonid. »Sie hat mir den Kopf verdreht, das ist passiert. Seit dieser Auktion läuft einfach alles schief, Jo – vorher hatte ich keine Probleme, und jetzt habe ich gleich einen ganzen Haufen davon. Und nicht genug damit, dass ich dauernd an sie denken muss, diese Kinder – es sind ja gar keine Kinder mehr, sie sind Teenager, Anna und Christian – die haben das auch noch mitgekriegt! Dabei habe ich versucht, mir nichts anmerken zu lassen.«
»Langsam, langsam«, bat Johannes. »Ich kann dir im Augenblick nicht ganz folgen. Wer hat dir den Kopf verdreht?«
»Clara von Bethmann!« Leonid spuckte den Namen aus, als handelte es sich um etwas Giftiges. »Verdreht mir den Kopf, dass ich mich nicht mehr konzentrieren kann. Etwas Schlimmeres hätte mir überhaupt nicht passieren können!«
»Sie war auch auf Sternberg?«, fragte Johannes verwundert. »Das wusste ich ja gar nicht.«
»Sie war doch das Problem!« Da Johannes noch immer ein verwirrtes Gesicht machte, riss Leonid sich zusammen und erzählte endlich der Reihe nach, wie sich das Wochenende abgespielt hatte. »Jetzt weißt du Bescheid«, brummte er schließlich. »Bitte, sag mir, dass ich verrückt bin, damit ich mir diese Frau aus dem Kopf schlage.«
»Aber ich denke ja gar nicht daran!«, entgegnete Johannes. »Ich fand sie sehr attraktiv – und sehr temperamentvoll. Sie würde vermutlich gut zu dir passen.«
Leonid stieß einen langen Seufzer aus. »Sie ist hinreißend, Jo – und sie kann mich absolut nicht ausstehen.«
Das konnte Johannes sich nicht vorstellen, doch das sagte er nicht laut. Zuerst, dachte er, klären wir mal diese Familiengeschichte, und dann sehen wir weiter.
Wenig später tauchte Schloss Sternberg vor ihnen auf, und er lehnte sich zurück und genoss die Aussicht, wie er es jedes Mal tat.
*
»Sofia, ich bin’s, Clara. Seid ihr noch böse auf mich, weil ich euch das Wochenende verdorben habe?«
Die Baronin lachte. »Nein, natürlich nicht, Clara, du kennst uns doch. Solche Dinge kommen vor, man darf nicht immer erwarten, dass alle Gäste miteinander harmonieren. Es hat uns nur für dich leid getan, du hast angespannt gewirkt.«
»Das war ich auch«, gestand Clara. »Um genau zu sein, ich bin es immer noch.«
»Warum denn?«, forschte die Baronin nach.
»Ich …«, Clara stockte. »Sofia, könnte ich noch einmal zu euch kommen? Ich halte es allein in meiner Wohnung nicht aus – und ich muss mit Menschen reden, die ich gern habe, die mich verstehen.«
»Natürlich kannst du kommen, Clara, jederzeit, wenn du denkst, es würde dir bei uns besser gehen.«
»Ich hätte schon letztes Wochenende gern mit dir geredet, aber ich war so durcheinander, und es waren ja auch so viele Leute da …«
Sofia lächelte in sich hinein. Außer Clara waren drei weitere Gäste auf Sternberg gewesen – also wahrhaftig nicht »viele Leute«. »Wann willst du kommen?«, fragte sie.
»Heute Nachmittag«, sagte Clara. »Ich habe noch ein paar Dinge zu erledigen, aber wenn es euch wirklich nicht stört, mache ich mich gleich anschließend auf den Weg.«
Mit dieser Antwort hatte Sofia nicht gerechnet, sie war von einem Besuch irgendwann in den nächsten Tagen ausgegangen. Heute allerdings … Johannes von Thalbach und Graf Leonid mussten jeden Augenblick eintreffen – das ergäbe dann also das zweite ungeplante Zusammentreffen von Clara und Leonid. Aber wenn Anna und
Christian mit ihren Vermutungen Recht hatten, war das ja vielleicht durchaus wünschenswert?
»In Ordnung, Clara«, sagte sie nach kurzem Überlegen. »Wir freuen uns auf dich.«
Sie hatte das Gespräch kaum beendet, als Eberhard Hagedorn die Ankunft von Johannes und Leonid meldete.
*
»Es sieht toll aus, Kalli«, sagte Lili, nachdem sie mit ihrem Verlobten zusammen das Haus einmal umrundet und den neuen Dachstuhl von allen Seiten bewundert hatte. »Eigentlich viel zu schön und viel zu neu für unser schäbiges altes Häuschen.«
»Das bleibt nicht mehr lange so!«, erklärte Kalli. »Wart’s nur ab, die Jungs stehen schon alle in den Startlöchern. Am Wochenende fangen wir mit den Mauern und dem Verputz an.«
»Aber das Dach ist doch noch gar nicht gedeckt!«, rief Lili.
»Bis dahin schon«, lachte Kalli. Er strahlte vor Stolz – und vor Verliebtheit, und Lili fragte sich manchmal sorgenvoll, ob so viel Glück, wie sie es gerade empfand, nicht zu viel für einen einzelnen Menschen war. Hätte sie nur Irina Mahler ein wenig davon abgeben können!
»Was ist?«, fragte Kalli besorgt. »Du machst auf einmal so ein trauriges Gesicht.«
»Wegen Frau Mahler«, erklärte Lili. »Ich mache mir Sorgen um sie.«
Kalli zog sie an sich. »Du hast ein gutes Herz, Lili.«
»Das hat Frau Mahler auch – und Kummer noch dazu. Ich habe im Augenblick überhaupt keinen Kummer, ich bin nur glücklich.«
»Meinetwegen?«, neckte er sie.
Ihr Gesicht glühte schon wieder, als sie nickte.
Er küsste sie und ließ sich auch nicht dadurch beirren, dass Patrick lauthals schrie: »Sie knutschen sich schon wieder ab!« Als Lili ihn zurückschieben wollte, hielt er sie fest und flüsterte: »Daran werden sie sich gewöhnen müssen, Lili. Außerdem dauert es nicht mehr lange, dann wird Patrick selbst knutschen – und wir werden uns rächen.«
Sie musste lachen, dadurch verflog ihre Verlegenheit. Nun war sie es, die ihn küsste, ihrem jüngeren Bruder zum Trotz. Kalli hatte Recht: Ihre Geschwister mussten sich daran gewöhnen!
*
»Ich bin’s«, sagte Irina. »Ich bin jetzt bereit, mit Leonid zu sprechen, aber ich weiß nicht einmal, wo und wie ich ihn erreichen kann, Herr von Thalbach.«
Johannes war so glücklich, ihre Stimme zu hören, dass er zunächst nur lächelte, statt etwas zu erwidern. Sie hatte ihr Versprechen gehalten und ihn angerufen!
»Herr von Thalbach? Sind Sie noch dran?«
»Ja, natürlich, ich freue mich so sehr, dass Sie mich anrufen, Frau Mahler, das kann ich Ihnen gar nicht sagen. Und nun werden wir beide ein wenig konspirativ vorgehen – zufällig bin ich nämlich gerade mit Leonid auf Schloss Sternberg. Und zufällig hat er das Bild bei sich, weil er uns alle um Mithilfe bei der Suche nach Ihnen bitten möchte.«
»Oh«, sagte Irina.
»Setzen Sie sich ins Auto und kommen Sie her«, drängte er. »Den Rest übernehme ich.«
»Herkommen? Nach Sternberg? Aber …«
»Überlassen Sie das mir. Werden Sie den Weg finden?«
»Natürlich, Sternberg ist doch überall ausgeschildert, so weit ist es außerdem nicht. Aber ich bin nicht sicher, ob das eine gute Idee ist.«
»Haben Sie Vertrauen zu mir?«, fragte Johannes. »Obwohl wir uns noch nicht besonders gut kennen?«
Ihre Antwort kam von Herzen. »Ja, das habe ich.«
»Dann setzen Sie sich in Ihr Auto und kommen Sie her.«
Sie schwieg mehrere Sekunden lang, bis sie endlich sagte: »Gut, ich komme.«
Nach dem Gespräch fällte Johannes blitzschnell einige Entscheidungen. »Anna, Christian, wartet bitte einen Augenblick.«
»Aber Leonid will uns gleich was erzählen – zu dem Bild, und das wollen wir hören. Wir haben nicht viel Zeit, Jo«, erklärte Anna.
»Die braucht ihr auch nicht.« Johannes lächelte. »Ich will euch auch was erzählen – und auch zu dem Bild. Außerdem brauche ich eure Hilfe, wir müssen Leonids Erklärungen ein bisschen hinauszögern – schafft ihr das?«
»Und wieso?«, wollte der kleine Fürst wissen.
Er erklärte ihnen die Lage. Es dauerte nicht lange, bis ihre Augen strahlten wie vier kleine Sonnen.
*
»Ihr habt die Auktion ja alle miterlebt und wisst daher, dass ich für dieses Bild einen horrenden Preis bezahlt habe«, sagte Leonid, als sich Familie von Kant, Christian und sein Freund Johannes endlich in einem der Salons versammelt hatten. Es hatte noch einige Aufregung um Togo gegeben, weshalb Leonid ein wenig hatte warten müssen, bis sie vollzählig gewesen waren. »Es gab einen guten Grund, weshalb ich das Bild unbedingt haben wollte, denn es zeigt meine Tante Anastasia Irina, die vor rund elf Jahren spurlos aus St. Petersburg verschwunden ist.«
»Wie bitte?«, rief Sofia. »Kannten Sie denn das Bild, Leonid?«
Der junge Graf nickte. »Ja, natürlich kannte ich es. Mein Vater hat es gemalt, er hat uns alle gemalt. Er war begabt, aber die künstlerische Laufbahn blieb ihm versagt, weil er sich um die Geschäfte der Familie kümmern
musste. Darunter hat er sehr gelitten. Das Bild hing jahrelang bei uns in der Wohnung, was meine Mutter immer eifersüchtig gemacht hat, denn sie hat sich nicht gut mit ihrer Schwester verstanden, die beiden waren zu gegensätzlich. Eines Tages war das Bild dann verschwunden. Mein Vater hatte es abgehängt mit der Begründung, es sei nicht gut genug, um ständig betrachtet zu werden. Er hat es verschenkt, und irgendwie muss es hierher gelangt sein.«
»Und was ist mit Ihrer Tante passiert?«, fragte Friedrich.
»Ich weiß es bis heute nicht, aber ich bin fest entschlossen, es herauszufinden. Sie war meine Lieblingstante, die jüngste Schwester meiner Mutter. Ich glaube, dass meine Eltern etwas über ihr Verschwinden wussten, aber wenn ich sie danach gefragt habe, sind sie mir ausgewichen. Und da sie im letzten Jahr beide kurz nacheinander gestorben sind, kann ich sie nicht mehr danach befragen. Als Tante Ina – sie mochte den Namen Anastasia nicht, ihr Rufname war Irina, wir haben sie nur Ina genannt – also, als sie verschwand, war ich siebzehn Jahre alt. Nach dem Tod meiner Eltern bekam ich plötzlich einen Hinweis, dass sie noch lebt – und zwar in Deutschland. Deshalb bin ich hergekommen, aber ich habe keine weitere Spur von ihr gefunden. Das Bild war der erste Hinweis darauf, dass sie vielleicht doch hier irgendwo in der Nähe lebt.«
Eberhard Hagedorn erschien und flüsterte Johannes etwas ins Ohr. Dieser nickte daraufhin und verließ den Salon mit schnellen Schritten. Er kam zurück, als Leonid gerade sagte: »Ich brauche Hilfe bei meiner Suche, das weiß ich jetzt – und da ich mich hier als Freund aufgenommen fühle …« Er brach ab, als er die Frau erblickte, die hinter Johannes eintrat.
Alle anderen drehten sich um, und da war sie, die Frau von dem Gemälde, für das der junge Graf so viel Geld bezahlt hatte. »Tante Ina!«, sagte Leonid mit erstickter Stimme. Dann stürzte er vorwärts, direkt in die weit geöffneten Arme seiner so lange schmerzlich vermissten Tante.
Nachdem sich die erste Aufregung gelegt hatte, sagte die Baronin energisch: »Wir lassen Sie jetzt allein – ich nehme an, Sie möchten Ihre Geschichte nur Leonid erzählen, Irina.«
Doch Irina schüttelte den Kopf. »Bleiben Sie«, bat sie. »Sie sind Leos Freunde.«
Leonid schloss sich dieser Bitte an, und so sagte Irina ganz ruhig: »Mein Teil der Geschichte ist schnell erzählt. Ich habe deinen Vater über alles geliebt, Leo – und er hat sich auch in mich verliebt. Ich wusste, wenn ich bleibe, zerstöre ich die Ehe deiner Eltern. Und da ich mit meiner Schwester, deiner Mutter, nicht reden konnte und dein Vater mir mein Vorhaben sicherlich auszureden versucht hätte, bin ich gegangen. Deinem Vater habe ich alles in einem Brief erklärt und ihn angefleht, meine Schwester nicht unglücklich zu machen. Und deiner Mutter habe ich geschrieben, dass ich gehe, weil mir zu Hause alles zu eng geworden ist. Du weißt, wir haben uns nicht besonders gut verstanden, sie und ich, eigentlich haben wir nur gestritten. Ich dachte, sie wird mich kaum vermissen.« Nun hatte sie Tränen in den Augen. »Sag mir, wie es ihnen geht!«
»Sie sind beide gestorben, im letzten Jahr, Tante Ina, kurz hintereinander.«
Als sie das hörte, schlug Irina beide Hände vor ihr Gesicht. »Und ich wusste nichts davon!«, flüsterte sie. »Woran sind sie gestorben?«
»Mama ist krank geworden, und Papa hat dann einen Herzinfarkt erlitten.«
»Hat deine Mutter es erfahren?«
»Ich glaube nicht, nein.« Leonid war nicht weniger erschüttert als seine Tante. »Sie waren glücklich miteinander – ich erinnere mich jetzt, dass Papa nach deinem Verschwinden eine Zeitlang sehr in sich gekehrt war, aber dann hat er sich verändert. Er war sehr liebevoll zu Mama, die beiden hatten dann ein viel innigeres Verhältnis als früher.«
»Das hatte ich gehofft«, flüsterte Irina. »Deshalb bin ich gegangen.« Sie weinte still, dann trocknete sie ihre Tränen. »Unsere Liebe hatte keine Zukunft, das weiß ich heute. Wenn ich geblieben wäre, hätte sie die Ehe deiner Eltern zerstört – und uns trotzdem unglücklich gemacht. Ich musste gehen – und zwar so, dass ich keine Möglichkeit hatte, zurückzukehren.«
Nach diesen Worten wurde es still im Salon. Selbst Konrad, sonst nie um einen frechen Spruch verlegen, blieb stumm und war sichtlich bewegt. Annas Augen wanderten von Irina zu Leonid und wieder zurück, der kleine Fürst betrachtete versonnen das Bild, während Johannes von Thalbach gegen den Wunsch ankämpfen musste, Irina in seine Arme zu ziehen und ihr zu sagen, was er für sie empfand.
Irgendwann räusperte sich der Baron, doch er kam nicht dazu, etwas zu sagen, denn Eberhard Hagedorn erschien an der Tür und sagte mit gedämpfter Stimme: »Frau Baronin, Herr Baron, soeben ist Frau von Bethmann eingetroffen.«
Leonid fuhr herum, gab einen seltsamen Laut von sich und wandte sich dann mit fragendem Blick an Sofia. »Was … wie …?«, stammelte er.
»Clara ist gekommen?«, rief Irina.
»Du kennst sie?«, fragte Leonid.
»Aber ja, wir haben einander sehr gern«, antwortete Irina.
»Aber wie … wieso?« Leonids Blick irrte zurück zu Sofia, es war offensichtlich, dass er die Welt nicht mehr verstand.
Bevor Sofia etwas erwidern konnte, sagte der kleine Fürst: »Am besten wäre es, glaube ich, wenn Sie allein hinausgehen und Clara begrüßen würden, Leo.«
Irina wischte sich die Tränen ab und sagte mit einem Lächeln: »Das ist ein sehr guter Vorschlag. Nun geh schon, Leo!«
Verwirrt verließ er den Salon.
*
Clara wunderte sich, dass niemand kam, um sie zu begrüßen. Sie hatte sich doch angekündigt! Aber vielleicht kam sie jetzt doch ungelegen? Andererseits war sie von Eberhard Hagedorn wie üblich mit ausgesuchter Höflichkeit empfangen worden.
Als sie Schritte hinter sich hörte, drehte sie sich um – und erstarrte. Denn der Mann, der auf sie zukam, war nicht etwa Baron Friedrich, es war Leonid von Zydar, jener junge russische Graf, der sie seit der Auktion so beschäftigte. »Ich wusste nicht, dass Sie kommen würden«, sagte er anstelle einer Begrüßung. Sein Blick war ernst, ein wenig traurig und ohne jeden Spott – das war das Erste, was ihr auffiel.
»Und ich wusste nicht, dass Sie hier sind«, erwiderte sie.
»Meine Tante hat gesagt, dass Sie sich kennen.«
»Ihre Tante?«
»Anastasia Irina Gräfin von Crolowin – hier in Deutschland hat sie sich Irina Mahler genannt.«
»Ihre Tante«, murmelte Clara. »Deshalb wollten Sie das Bild haben!«
»Ja, deshalb. Ich war auf der Suche nach ihr – und nun habe ich sie ganz plötzlich gefunden. Ich hatte natürlich keine Ahnung, dass Sie sie auch kennen. Und dass mein Freund Jo sie ausfindig gemacht hat. Hätte ich offen über meine Suche nach ihr gesprochen, hätte ich sie wohl viel früher gefunden.«
»Wieso wussten Sie denn nicht, wo sie sich aufhielt?«
»Das ist eine lange Geschichte, ich erzähle sie Ihnen später, ja?«
Clara nickte. »Es tut mir leid«, sagte sie, »dass ich Sie so beschimpft habe.«
»Mir tut es leid, dass ich Ihnen nicht gleich gezeigt habe, wie … wie hinreißend ich Sie finde, Clara. Schon bei der Auktion, als Sie so zornig auf mich waren, hatte ich nur einen Wunsch …«
»Welchen?«, fragte Clara.
»Sie haben mir schon einmal eine Ohrfeige gegeben, als ich mir diesen Wunsch erfüllt habe«, erinnerte er sie.
Sie trat einen Schritt näher. »Versuchen Sie es doch noch einmal«, flüsterte sie.
Er konnte den Blick nicht von ihren Lippen abwenden, die sich zu einem verlockenden Lächeln verzogen, und im nächsten Moment riss er sie in seine Arme und küsste sie so leidenschaftlich, dass Anna und Christian in ihrem Versteck den Atem anhielten. »Der geht ja vielleicht ran!«, flüsterte Anna.
»Und ihr scheint es zu gefallen«, flüsterte Christian zurück.
Er hatte Recht: Clara erwiderte den Kuss des Grafen nicht weniger leidenschaftlich. Ganz offensichtlich hatten die beiden Liebenden die Welt um sich herum vergessen.
Anna und Christian verließen ihr Versteck. Um Clara und Leonid musste man sich allem Anschein nach keine Sorgen mehr machen.
*
Später an diesem Tag machte sich der kleine Fürst auf den Weg zu dem kleinen Hügel am hinteren Ende des Schlossparks, kurz bevor der Wald begann. Dort, auf dem Familienfriedhof, hatten seine Eltern ihre letzte Ruhe gefunden, und dort besuchte er sie jeden Tag.
Togo kannte den Weg, er wusste immer, wann Christian auf den Hügel wollte, und so lief er munter voran. Wie üblich lag er schon vor der Gruft, als Christian eintraf. »Heute habe ich euch viel zu erzählen«, sagte er in Gedanken zu seinen Eltern. »Ich glaube, es wird euch gefallen zu hören, dass sich Clara und der Graf aus St. Petersburg endlich gefunden haben. Anna und ich wussten ja schon vorher, dass sie ineinander verliebt waren, aber Tante Sofia wollte uns nicht glauben. Und dann ist da noch die Geschichte mit Leonids Tante …«
Er ließ sich Zeit bei diesem Besuch, es gefiel ihm, auf diese Weise an seine Eltern zu denken, sich vorzustellen, wie sie ihm dort, wo sie sich jetzt befanden, zuhörten – und er war sicher, dass sie sich für alles, was er ihnen zu erzählen hatte, interessierten. Endlich sagte er: »Das war alles, wir sehen uns morgen wieder.«
Sobald er laut redete, war dies das Signal für Togo, aufzuspringen und zurückzulaufen. Wie üblich folgte Christian ihm langsamer. Er stand noch auf dem Hügel und sah hinunter in den Schlosspark, als er in einiger Entfernung zwei Menschen entdeckte. Zuerst dachte er, es seien Clara und Leonid, doch dann stellte er fest, dass es sich um Irina und Johannes handelte. Er drehte sich noch einmal zur Gruft um. »Das gibt auch eine Liebesgeschichte«, murmelte er.
Im selben Moment blitzte die Sonne auf, die sich bis dahin hinter Wolken verborgen hatte. Christian nahm es als Zeichen seiner Eltern und lächelte. »Ich wusste, das würde euch freuen!«
Unten im Park zog Johannes Irina in seine Arme und küsste sie, während der kleine Fürst langsam den Hügel hinunterschlenderte.
– ENDE –