Читать книгу Der kleine Fürst Staffel 5 – Adelsroman - Viola Maybach - Страница 9
Оглавление»Um es kurz zu machen, Fritz: Wir wissen nicht weiter«, sagte Adalbert von Barrentrop zu Baron Friedrich von Kant. Er war an diesem Samstag allein nach Schloss Sternberg gekommen, nachdem er zuvor telefonisch um ein Gespräch unter vier Augen mit dem Baron gebeten hatte. »Caroline ist mit ihren Nerven am Ende, und wenn ich ehrlich sein soll: Bei mir ist es genauso. Wir haben vier Kinder, drei von ihnen haben ihren Weg gefunden, aber ausgerechnet unsere Jüngste bereitet uns seit Jahren vor allem Kummer.«
»Wir haben Julietta sehr lange nicht gesehen«, erwiderte der Baron nachdenklich. »Aber sie war doch ein reizendes Kind, Bert!«
Die buschigen Augenbrauen seines Besuchers zogen sich in die Höhe. »War sie das?«, brummte er. Adalbert war ein massiger Mann, der sich dennoch erstaunlich schnell und elegant bewegte. Er war gut zehn Jahre älter als Friedrich von Kant, im vergangenen Jahr hatte er seinen einundfünfzigsten Geburtstag gefeiert. Seine dichten dunklen Haare waren nur von vereinzelten Silberfäden durchzogen, die ebenfalls dunklen Augen schienen einem sehr viel jüngeren Mann zu gehören. »Du wirst es nicht glauben, aber ich habe tatsächlich Mühe, mich daran zu erinnern. Alles wird jetzt so überlagert von dem täglichen Ärger, den Julietta uns bereitet ...«
Er brach ab und starrte mit leerem Blick vor sich hin. »Doch, sie war ein süßes Kind«, sagte er endlich. »Und so anhänglich …« Er seufzte schwer. »Davon ist jedenfalls nichts mehr übrig, das darf ich dir versichern. Sie war eine schlechte Schülerin, das Abitur haben die Lehrer ihr mehr oder weniger geschenkt. Nicht, dass sie dumm wäre, keinesfalls. Nein, es war einfach so, dass die Schule sie nicht interessiert hat. Nichts interessiert sie. Sie will sich keine Gedanken über ihre Zukunft machen, sie hat kein Benehmen, sie wird sofort aufsässig, wenn wir mit ihr ein ernsthaftes Gespräch führen wollen.«
»Wie alt ist sie jetzt?«
»Sie wird bald zweiundzwanzig«, antwortete Adalbert. »Und glaub mir: Jeden Tag fragen Caroline und ich uns, was wir falsch gemacht haben.«
»Nichts wahrscheinlich«, erwiderte Friedrich. »Wir haben uns das bei Konrad auch schon gelegentlich gefragt, ohne eine Antwort zu finden. Er ist wohl einfach schwieriger vom Charakter her als seine Schwester, und bei euch wird es ähnlich sein.«
»Drei Kinder, die einigermaßen problemlos aufwachsen«, murmelte Adalbert, »und die Jüngste schlägt völlig aus der Reihe. Wir haben damit nicht gerechnet, Fritz. Als die Schwierigkeiten mit Julietta anfingen, dachten wir, das hört schnell wieder auf – so war es bei ihren Geschwistern. Die hatten natürlich auch alle mal Phasen, in denen es nicht ganz so glatt lief. Aber die Phasen sind vorübergegangen. Bei Julietta scheint es jeden Tag schlimmer zu werden.«
»Und wie könnten wir euch helfen?«, fragte der Baron, denn ihm war klar geworden, dass es darum ging bei diesem Gespräch.
»Kann sie hier bei euch vielleicht eine Art Praktikum machen?«, fragte Adalbert mit einer Stimme, die plötzlich zaghaft klang. »Pferde sind das Einzige, wofür sie sich interessiert, wenn sie sich auch bisher geweigert hat, ernsthaft darüber nachzudenken, ob aus diesem Interesse ein Beruf werden könnte. Sie muss aber etwas lernen, Fritz, denn wir werden ihr keine Reichtümer vererben können, und sie wird mehr oder weniger für sich selbst aufkommen müssen. Aber wenn wir versuchen, ihr das zu vermitteln, hört sie einfach nicht zu.«
»Verstehe«, murmelte der Baron. Er mochte Adalbert von Barrentrop, den er seit langem kannte, den Wunsch nicht abschlagen, aber nach allem, was er zuvor gehört hatte, drängte es ihn nicht unbedingt, einen Störenfried auf Schloss Sternberg aufzunehmen. Das Leben hier war auch so schon aufregend genug, sie brauchten wahrhaftig keine unwillige junge Frau, die Sternberg als eine Art Strafkolonie ansah.
Adalbert verstand nur zu gut, was in seinem alten Freund vorging.
»Wenn es überhaupt nicht geht«, sagte er schnell, »dann schickt ihr sie zurück, Fritz. Caroline und ich wollen natürlich auf gar keinen Fall, dass sie hier Unfrieden sät. Wenn wir nicht wirklich am Ende mit unserem Latein wären, hätte ich dich niemals um diesen Gefallen gebeten, das darfst du mir glauben.«
»Gestattest du, dass ich Sofia rufe? Sie muss an dieser Entscheidung ohnehin beteiligt sein«, erklärte der Baron.
»Natürlich, das ist mir klar. Ich wollte nur zuerst mit dir allein sprechen. Für den Fall, dass du mein Ansinnen von vornherein abgelehnt hättest, fand ich es unnötig, auch noch Sofia mit unseren Problemen zu behelligen.«
Friedrich fragte also den langjährigen Butler auf Sternberg, Eberhard Hagedorn, wo sich die Baronin gerade aufhielt, und nachdem er die gewünschte Auskunft erhalten hatte, machten sich die beiden Männer auf den Weg zur hinteren Terrasse, wo Sofia von Kant mit zufriedenem Lächeln ihren Privatgarten überblickte, den sie dem großen Schlosspark abgerungen hatte.
Sie begrüßte Adalbert mit einer herzlichen Umarmung, anschließend erklärte Friedrich ihr das Problem. Wie üblich fällte seine Frau eine schnelle Entscheidung: »Natürlich versuchen wir das, Bert, vorausgesetzt, unser Stallmeister ist einverstanden!«, sagte sie. »Aber wenn es nicht geht, ist Julietta sehr schnell wieder bei euch, das muss dir bitte klar sein. Eine junge Frau, die unser Leben durcheinanderbringt, können wir nicht gebrauchen.«
Adalbert atmete erleichtert aus. »Ich wäre euch bis an mein Lebensende dankbar«, sagte er. »Caroline ebenfalls.«
»Sofia hat Recht«, erklärte Friedrich, »ohne Zustimmung unseres Stallmeisters werden wir ein solches Experiment nicht wagen. Wenn Julietta kommt, wird es vor allem Herr Wenger sein, der mit ihr zu tun hat – eine solche Entscheidung können wir ohne seine Zustimmung nicht treffen.«
»Wäre es möglich, gleich mit ihm zu sprechen?«, fragte Adalbert.
»Natürlich, ich verstehe, dass du so bald wie möglich Klarheit haben willst.«
»Eine Frage noch, bevor ihr geht«, sagte die Baronin. »Wird sich denn Julietta überhaupt hierher schicken lassen, Bert? Wenn sie so aufsässig ist, wird sie sich doch vermutlich einfach weigern, und zwingen kannst du sie ja schlecht.«
Adalberts Gesicht verschloss sich, seine lebhaften Augen schienen sich zu verschleiern. »Es ist ihre letzte Chance, Sofia. Wenn sie nicht zustimmt, werden wir sie bitten, das Elternhaus zu verlassen und sich irgendwo eine Wohnung zu suchen. Dann muss sie sehen, wie sie allein zurechtkommt. Wir können nicht länger dulden, dass sie unser aller Nerven strapaziert.«
Sofia sah ihn betroffen an. »So schlimm ist das?«
»Ja«, bestätigte er mit müder Stimme, »so schlimm ist das!«
*
Julietta von Barrentrop kam wie üblich zu spät zum Essen, dachte aber nicht daran, sich zu entschuldigen, obwohl ihre Mutter an diesem Tag ganz allein am Tisch saß. Ihr Vater war schon sehr früh aufgebrochen – zu einem Geschäftstermin, obwohl Samstag war. Sie erwartete eine Rüge ihrer Mutter, doch Caroline von Barrentrop sagte gar nichts, als ihre Jüngste ihr gegenüber Platz nahm.
Julietta hatte es nicht für nötig gehalten, sich nach ihrem ausgedehnten Ritt umzuziehen; der Geruch nach Pferdestall war deutlich wahrnehmbar. Ihre hübschen blonden Haare waren zerzaust, das Gesicht sah erhitzt aus, und Caroline vermutete, dass sie sich, um ihre Unabhängigkeit zu beweisen, nicht einmal die Hände gewaschen hatte – sie sahen jedenfalls so aus. Aber auch dazu sagte sie kein Wort.
Julietta warf ihr einen verunsicherten Blick zu. Das veränderte Verhalten ihrer Mutter gab ihr zu denken, deshalb fragte sie mit aggressivem Unterton. »Was ist los?«
Caroline zog erstaunt die Augenbrauen in die Höhe. Sie war eine elegante Blondine mit porzellanblasser Haut und schönen blauen Augen. Von allen Kindern sah Julietta ihr am ähnlichsten, was man jedoch kaum bemerkte, da es ihr gleichgültig zu sein schien, was sie anzog, ihre blonden Haare niemals geschnitten wurden und sie selbstverständlich nicht einmal einen Lippenstift benutzte. »Was soll los sein?«, fragte Caroline ruhig.
»Na ja, du guckst so komisch«, sagte Julietta. »Außerdem meckerst du sonst doch auch ständig an mir rum, wieso sagst du jetzt nichts?«
»Weil ich es aufgegeben habe«, antwortete Caroline und aß weiter.
»Toll, Mama. Dann lasst ihr mich ab jetzt also einfach in Ruhe?«, fragte Julietta, die einen Arm bis zum Ellbogen auf den Tisch legte und mit dem anderen das Essen in sich hineinschaufelte. Um ihre Mutter zu provozieren, kaute sie außerdem noch besonders geräuschvoll.
Caroline schien die Frage nicht gehört zu haben, sie setzte ihre Mahlzeit fort.
»Was soll das, Mama!« fuhr Julietta auf. »Redest du jetzt nicht mehr mit mir? Das ist doch albern, ich habe dir schließlich nichts getan.«
Caroline hob den Blick und sah ihre Tochter an. Sehr langsam ließ sie ihre Augen über das wandern, was sie sah: die unmögliche Haltung, die dreckige Kleidung, das zottelige Haar. »Das sehe ich anders«, sagte sie schließlich. Dann schob sie ihren Teller von sich und stand auf. »Du entschuldigst mich sicher«, sagte sie liebenswürdig. »Guten Appetit wünsche ich dir weiterhin.« Mit diesen Worten verließ sie das Speisezimmer. Draußen traf sie auf die Haushälterin Hanna Lewens, die ihr einen fragenden Blick zuwandte.
Caroline nickte leicht, legte einen Finger auf die Lippen und zog sich in ihren Privatsalon zurück, während Hanna Lewens lächelnd in die Küche zurückkehrte. Sie arbeitete schon so lange bei den Barrentrops, dass sie nicht nur eine Angestellte, sondern auch eine Vertraute war – und so teilte sie die Besorgnis ihrer Arbeitgeber um die jüngste Tochter.
Wie bisher konnte es jedenfalls mit Julietta nicht weitergehen.
*
Robert Wenger hatte gerade einen neuen Pferdepfleger zusammengestaucht, der seiner Ansicht nach nicht sorgfältig genug gearbeitet hatte, als Baron Friedrich mit seinem Besucher erschien. »Herr Wenger, haben Sie einen Augenblick Zeit für uns?«
»Natürlich, Herr Baron.« Der Stallmeister war ein noch junger, gut aussehender Mann, der ein strenges Regiment führte. Doch trotz seiner Strenge war er bei seinen Untergebenen beliebt, denn er bemühte sich um Gerechtigkeit und gab jemandem, der einen Fehler gemacht hatte, immer eine zweite Chance.
Friedrich stellte die beiden Männer einander vor, dann begaben sie sich zu dritt in das kleine Büro des Stallmeisters.
»Es geht um meine jüngste Tochter, Herr Wenger«, begann Adalbert. »Sie macht uns großen Kummer.« Er schilderte, allerdings bedeutend zurückhaltender als zuvor, Juliettas schwierigen Charakter und endete mit der Frage: »Könnten Sie sich vorstellen, unsere Tochter einige Monate lang als Praktikantin aufzunehmen?«
Robert Wenger warf seinem Arbeitgeber einen raschen forschenden Blick zu. Er begriff sofort, dass Baron Friedrich sich verpflichtet fühlte, einem alten Freund zu helfen und dass es deshalb schwierig sein würde, diesem Wunsch nicht zu entsprechen. Dennoch gab er mit ruhiger Stimme zu bedenken: »Sie könnte hier einiges durcheinanderbringen. Wir züchten Pferde, Herr von Barrentrop – und zwar sehr wertvolle Pferde. Die brauchen Ruhe und professionellen Umgang. Ein Zuchtbetrieb verträgt keine Störungen, das muss ich in aller Deutlichkeit sagen. Und eigensinniges oder egoistisches Verhalten verträgt er auch nicht.«
Adalbert hatte nicht mit so deutlichen Worten von Seiten eines Angestellten gerechnet, aber er merkte, wie sehr Baron Friedrich dem jungen Stallmeister vertraute. Dafür gab es offenbar gute Gründe. »Das ist mir klar«, erwiderte er. »Alles, worum ich bitte, ist eine Chance für meine Tochter. Vielleicht habe ich einen falschen Eindruck erweckt: Sie hat einen guten Kern, nur gelingt es uns schon länger nicht mehr, bis zu diesem Kern vorzustoßen. Meine Frau und ich glauben, dass sie eine Veränderung braucht, damit sie an der Reaktion von anderen Menschen merkt, dass sie den falschen Weg eingeschlagen hat. Wenn wir ihr das sagen, nimmt sie es nicht einmal mehr wahr, weil sie es schon viel zu oft gehört hat.«
»Von mir aus können wir es versuchen«, erklärte Robert Wenger nach einigen Sekunden des Nachdenkens. »Allerdings muss ich die Möglichkeit haben, dieses Experiment zu beenden, wenn ich es für geboten halte. Ich weiß, das ist viel verlangt, und natürlich können Sie, Herr Baron, mir einfach eine Anweisung erteilen – aber ich trage hier eine große Verantwortung, das sollten Sie bedenken.«
»Einverstanden!«, rief Adalbert. »Wenn Sie es wenigstens versuchen, Herr Wenger!«
»Ich bin auch einverstanden«, setzte Friedrich hinzu. »Nur sollten Sie in diesem Fall nicht von Anfang an so streng sein wie sonst, Herr Wenger.«
Der Stallmeister lächelte. »Ach, so streng bin ich auch wieder nicht, wenn ich sehe, dass jemand entwicklungsfähig ist. Aber eins würde mich interessieren, Herr von Barrentrop: Wie wollen Sie denn Ihre Tochter dazu bringen, hierher zu kommen? Das wird sie doch nicht freiwillig tun, oder?«
»Ich habe ein Druckmittel, Herr Wenger, und das gedenke ich anzuwenden, wenn sie versucht, sich zu weigern. Jedenfalls danke ich Ihnen außerordentlich für Ihr Entgegenkommen – und dir auch, Fritz. Ich weiß durchaus, was das bedeutet.«
Als sich der Baron mit seinem Gast verabschiedet hatte, sah Robert Wenger den beiden nach. »So ein Mist«, murmelte er. »Eine verzogene Göre, die nicht arbeiten will und wahrscheinlich nur Flausen im Kopf hat – womit habe ich das verdient?« Aber als er gleich darauf einen der Ställe betrat und die schönen Tiere sah, die dort standen, vergaß er Julietta von Barrentrop schnell wieder.
Sollte sie erst einmal kommen, dann würde er weitersehen.
*
»Und was ist an ihr so schrecklich?«, erkundigte sich Christian von Sternberg bei seiner Tante Sofia und seinem Onkel Friedrich, nachdem die beiden ihm und ihren Kindern Anna und Konrad den Grund von Adalberts Besuch erläutert hatten.
»Das würde mich auch interessieren«, setzte der sechzehnjährige Konrad hinzu. »Wenn sie sie wegschicken, muss sie ja richtig furchtbar sein.«
»Sie scheint sich nicht anpassen zu können«, antwortete die Baronin nach kurzem Zögern. »Das macht das Zusammenleben mit anderen natürlich schwierig. Außerdem will sie nichts lernen, sie hat sich schon in der Schule nicht angestrengt, und jetzt macht sie genauso weiter. Die Barrentrops sind aber nicht vermögend, ihre Kinder müssen also ihren Lebensunterhalt selbst verdienen.«
»Eine richtige Zicke also?«, stöhnte Konrad. »Warum muss sie ausgerechnet zu uns kommen?«
»Weil Adalbert nicht wusste, wen er sonst um Hilfe bitten sollte«, antwortete der Baron. »Ich erwarte von euch, dass ihr euch ihr gegenüber nicht anmerken lasst, was wir euch jetzt erzählt haben. Sie wird ein Praktikum als Pferdepflegerin machen.«
»Na, die wird sich umgucken, wenn sie mit Herrn Wenger zu tun hat«, kicherte die dreizehnjährige Anna. »Hoffentlich denkt sie nicht, sie könnte machen, was sie will.«
»Das wird er ihr ziemlich schnell austreiben«, vermutete die Baronin.
»Und dann wird sie ziemlich schnell wieder von hier verschwinden«, setzte Christian hinzu. »Wenn sie bisher immer nur gemacht hat, was sie wollte, warum sollte sie sich dann bei uns anders verhalten?«
»Das ist die Frage«, erklärte der Baron. »Es wäre jedenfalls schön, wenn wir den Barrentrops helfen könnten bei diesem Problem – und solltet ihr dazu beitragen, wären wir euch dankbar.«
»Wenn sie blöd ist, will ich aber nichts mit ihr zu tun haben«, murrte Konrad.
»Sie ist nicht blöd, Konny!«, wies die Baronin ihren Sohn zurecht. »Sie ist wild und ungebärdig, hat wohl auch keine guten Manieren – aber ich denke, das übersehen wir zunächst einfach. Jeder Mensch hat eine Chance verdient, oder nicht?«
»Na, sie hatte aber bisher doch schon einige Chancen, oder nicht? Immerhin ist sie schon einundzwanzig«, entgegnete Konrad.
Der Baron kürzte die Diskussion mit der Feststellung ab: »Wenn ihre Eltern sie dazu bringen, dieses Praktikum anzutreten, wird sie kommen, und wir werden uns ein Bild von ihr machen. Bis dahin können wir nur Vermutungen anstellen. Ich schlage vor, dass wir auf den Tag ihres Eintreffens warten.«
»Ich finde das interessant«, verkündete Anna, die selten einer Meinung mit ihrem Bruder war.
Christian, ihr Cousin, schlug sich, wie so oft, auf ihre Seite. »Ich auch«, sagte er. »Vielleicht ist sie sogar ganz nett.«
Konrad warf ihnen einen verächtlichen Blick zu. Christian war ein Jahr jünger als er, Anna drei – für ihn waren sie noch Kinder, während er sich selbst eigentlich schon für erwachsen hielt. »Dann könnt ihr euch ja mit ihr anfreunden, wenn ihr wollt«, stellte er fest, »aber ohne mich, das sage ich euch gleich. Wo wohnt sie denn überhaupt?«
»In einer unserer Suiten, denn auch wenn sie in den Ställen arbeitet, bleibt sie unser Gast«, erklärte die Baronin.
»Das heißt, sie isst immer mit uns?«, fragte Konrad entsetzt. »Wir werden nie mehr unter uns sein? Das ist nicht euer Ernst, oder?«
Sofia und Friedrich wechselten einen kurzen Blick. Das war in der Tat ein Problem, über das sie bisher noch nicht nachgedacht hatten. Zwar weilten häufig Besucher auf Schloss Sternberg, doch blieben sie selten länger als einige Tage. In diesem Fall freilich musste man mit Monaten rechnen, falls sich Julietta einigermaßen einfügte. Das konnte sich durchaus zu einer Belastung für das Familienleben auswachsen.
»Wartet doch erst einmal ab«, ließ sich jetzt Christian vernehmen. »Vielleicht ist sie nach ein paar Tagen wieder weg, dann haben wir uns umsonst Gedanken gemacht.«
»Und wenn nicht?«, fragte Konrad. »Dann müssen wir jedes Mal, wenn wir ohne sie reden wollen, extra einen Termin für ein Gespräch ausmachen. Das ist eine schwachsinnige Idee!« Er funkelte seine Eltern zornig an.
»Ganz Unrecht hast du nicht, Konny«, gab die Baronin zu, »aber ich bin Christians Ansicht: Wir warten ab. Vielleicht entwickelt sich Juliettas Aufenthalt bei uns anders, als wir es uns jetzt ausmalen.«
Doch Konrad ließ sich nicht besänftigen, er murrte weiter vor sich hin, bis der Baron energisch ein anderes Thema anschnitt, das schließlich auch seinen Sohn ablenkte. Eins aber stand nach diesem Gespräch bereits fest: Einfach würde die nächste Zeit auf keinen Fall werden.
*
»Das mache ich nicht!«, erklärte Julietta rundheraus. »Ich lasse mich doch nicht einfach verschicken wie ein Stück Vieh. Ich bleibe hier.«
»Ganz sicher nicht«, erklärte Caroline sanft, aber unnachgiebig. »Wir haben dir oft genug gesagt, dass du hier nicht ewig herumlungern kannst, ohne zu arbeiten oder eine Ausbildung zu machen, Julietta.«
»Ich arbeite!«, erklärte die junge Frau zornig, wobei sie ihre langen blonden Haare mit einer ungestümen Kopfbewegung nach hinten warf. »Ich bewege die Pferde – oder etwa nicht?«
»Ja, aber nur, soweit es dir Spaß macht. Sobald du ernsthaft mit einem Pferd arbeiten sollst, findest du Ausreden, weil es dir zu anstrengend ist. Du musst etwas lernen, Julietta.«
»Ich weiß, wie man mit Pferden umgeht, mehr muss ich nicht lernen, ich könnte überall arbeiten.«
»Gut«, sagte Adalbert mit gefährlich ruhiger Stimme, »dann packst du noch heute deine Sachen und suchst dir irgendwo eine Arbeit. Nimm dir dann dort eine Wohnung und sieh zu, wie du zurecht kommst. Das wird dir dann ja keine Probleme bereiten.«
Julietta starrte ihren Vater an. »Ihr wollt mich rauswerfen?«, fragte sie ungläubig.
»Deine Mutter und ich sehnen uns nach einem ruhigen Leben, nachdem wir vier Kinder großgezogen haben«, erklärte Adalbert. »Über dich ärgern wir uns Tag für Tag, wie du weißt, und wir möchten dich einfach nicht länger um uns haben, Julietta. Deine Geschwister haben das Haus längst verlassen, nur du bist noch hier. Unser letztes Angebot, das du annehmen oder ablehnen kannst, ist dieses Praktikum auf Sternberg. Gehst du darauf nicht ein, wirst du deine Sachen packen und ab sofort selbstständig an einem Ort deiner Wahl leben.«
»Ich glaube es einfach nicht!«, sagte Julietta mit heiserer Stimme. »Ihr seid meine Eltern, und ihr tut mir so etwas an?«
»Wir tun dir gar nichts an«, entgegnete Caroline, die merkte, dass die Nerven ihres Mannes bereits wieder zum Zerreißen gespannt waren. »Du tust uns etwas an, Julietta. Wie dein Vater schon sagte: Wir sehnen uns nach Ruhe. Die werden wir nicht finden, so lange du mit uns unter einem Dach wohnst. Es ist aber nicht nur in unserem, sondern auch in deinem Interesse, dass du endlich etwas mit deinem Leben anfängst.«
»Was redet ihr denn?«, rief Julietta aufgebracht. »Mein Leben ist vollkommen in Ordnung, ich fühle mich wohl hier, ich will hier bleiben!«
»Das mag sein, aber wir wollen dich hier nicht mehr haben«, erwiderte ihre Mutter.
Ganz plötzlich füllten sich Juliettas Augen mit Tränen des Zorns. »Das wird euch noch leid tun!«, flüsterte sie. »Ihr jagt eure eigene Tochter weg, das werdet ihr bereuen.«
»Wir jagen dich nicht weg, wir bieten dir ein Praktikum auf Sternberg an, das über die größte Pferdezucht weit und breit verfügt. Wir haben dir oft genug gesagt, dass du nicht für immer hier bleiben kannst. Seit deinem Abitur sind zwei Jahre vergangen, in denen du nichts gelernt, nichts getan hast, außer zu reiten, wenn du Lust dazu hattest. Das reicht nicht, Julietta. Es reicht ganz und gar nicht«, erklärte Adalbert. »Denk in Ruhe über unser Angebot nach, bevor du es ausschlägst, und dann sag uns morgen, wie deine Entscheidung lautet. Solltest du das Angebot nicht annehmen, wirst du innerhalb einer Woche ausziehen. Das ist mein letztes Wort.«
»Und meins auch«, setzte Caroline hinzu. Gemeinsam mit ihrem Mann verließ sie den Raum. Sie zitterte am ganzen Leib, es war ihr schwer gefallen, Julietta gegenüber hart zu bleiben, aber sie war froh, es geschafft zu haben. Wenn ihre Jüngste den richtigen Weg von allein nicht fand, musste sie eben dazu gezwungen werden.
Julietta aber schäumte vor Wut. Sie fühlte sich nicht nur erpresst, sondern auch ungerecht behandelt, und sie konnte ihr eigenes Leben wahrhaftig nicht so sehen wie ihre Eltern es taten. Alles war doch in bester Ordnung! Was wollten sie denn nur von ihr – dass sie sich anpasste und tat, was alle taten? Sie selbst fühlte sich als Rebellin, und sie würde sich nicht unterjochen lassen, auf keinen Fall!
»Auf keinen Fall!«, murmelte sie, aber es gelang ihr nicht, die Furcht, die sich in ihr ausbreitete, unter Kontrolle zu bekommen. Ihre Eltern hatten durchaus den Eindruck gemacht, als sei es ihnen ernst gewesen mit ihren Ankündigungen. Wenn sie tatsächlich darauf bestanden, dass sie auszog …
Wilde Angst schnürte ihr plötzlich die Kehle zusammen. Sie wollte nicht ganz allein irgendwo wohnen, und natürlich wusste sie, dass sie nicht einfach irgendwo arbeiten konnte, sie hatte keinerlei Zeugnisse vorzuweisen, keine Ausbildung, gar nichts. Sie hatte bisher noch keinen ernsthaften Gedanken an die Möglichkeit verschwendet, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, sondern sich einfach darauf verlassen, dass sie bei ihren Eltern würde bleiben können. Nun aber sah es so aus, als hätte sie sich in diesem entscheidenden Punkt schlicht verrechnet.
Sie lief nach draußen, quer über den Hof auf die Ställe zu. Sie würde einen langen Ausritt machen und dabei ihre Gedanken sortieren! Die besten Ideen kamen ihr sowieso immer beim Reiten.
*
Robert Wenger sah den schmalen Dunkelhaarigen, der in der Tür seines Büros stand, fragend an. Er hatte den Mann noch nie zuvor gesehen und fragte sich, ob er eine Stelle suchte. Aber so wirkte er nicht, er stand selbstbewusst auf der Schwelle und lächelte freundlich. »Ich bin Dr. Claven«, sagte er. »Ich vertrete Dr. Küppers, der sich ja unglücklicherweise ein Bein und einen Arm gebrochen hat und deshalb nicht arbeiten kann. Und da ich noch nie hier war, dachte ich, ich stelle mich kurz vor, damit Sie wissen, mit wem Sie es in den nächsten Wochen zu tun haben.«
Robert stand auf und reichte dem jungen Tierarzt die Hand. »Sehr erfreut, Herr Doktor, ich bin Robert Wenger, der Stallmeister auf Sternberg.«
Arndt von Claven lächelte. »Ich weiß, von Ihnen habe ich schon einiges gehört – vor allem, dass man besser gute Arbeit leistet, wenn man es mit Ihnen zu tun hat. Erlaubt es Ihre Zeit, mich ein wenig herumzuführen oder komme ich ungelegen?«
»Nein, nein, gar nicht. Es ist mir auch lieber, wenn Sie sich schon einmal einen ersten Eindruck verschafft haben, das können Sie mir glauben.«
Robert fand den jungen Tierarzt sympathisch, und so nahm er sich mehr Zeit, als er es normalerweise getan hätte. Dr. Claven stellte viele Fragen, bewunderte einige der Pferde und stellte schließlich fest: »Das ist hier ein viel größerer Zuchtbetrieb, als ich dachte, Herr Wenger. Eine Menge Arbeit.«
»Ja, für alle Beteiligten«, gab Robert zu, »aber wir haben ausreichend Personal – jedenfalls wenn der Krankenstand nicht allzu hoch ist. Und alle sind mit Begeisterung bei der Sache, das spielt ebenfalls eine große Rolle.«
»Kann ich mir vorstellen, ja. Einige trächtige Stuten haben Sie auch.«
»In ein paar Wochen ist es so weit. Die Erste wird sicherlich Salva sein. Könnte sein, dass Sie das noch erleben.«
»Nichts dagegen«, lächelte Arndt von Claven. »Sagen Sie, was muss ich über die Schlossbewohner noch wissen? Ich bin neu hier in der Gegend, ich weiß nur, dass eine Familie von Kant auf Sternberg wohnt.«
»Und Prinz Christian von Sternberg, der Neffe der Frau Baronin«, ergänzte Robert. »Seine Eltern sind vor einigen Monaten bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben gekommen, Sie haben vielleicht davon gehört – das Fürstenpaar von Sternberg.«
»Natürlich, jeder hat davon gehört«, erwiderte der Tierarzt. »Wie alt ist Prinz Christian jetzt?«
»Er ist fünfzehn.«
»Armer Kerl«, murmelte Arndt. »Sagen Sie, ist er derjenige, den man unten im Ort ›der kleine Fürst‹ nennt?«
»Sie haben ja doch schon eine ganze Menge mitbekommen«, stellte Robert fest. »Ja, das ist er.«
»Und wieso? Ich meine, wenn er doch Prinz ist – wieso heißt er dann ›der kleine Fürst‹?«
»Wenn er achtzehn ist, also volljährig, wird er der nächste Fürst von Sternberg sein. Solange er das noch nicht ist, trägt er diesen Spitznamen. Oder besser gesagt: diesen Kosenamen. Prinz Christian ist sehr beliebt.«
»Den Eindruck hatte ich auch, ja. Danke für die Informationen, Herr Wenger. Wenn Sie mich brauchen sollten: Sie wissen ja, wo ich zu finden bin. Ansonsten komme ich regelmäßig alle zwei Wochen vorbei und sehe, ob alles in Ordnung ist. Einverstanden?«
»So hat es Dr. Küppers auch gehalten«, erklärte Robert. »Bis zu Ihrem nächsten Besuch, Herr Doktor.«
Sie wechselten einen kräftigen Händedruck, dann eilte Arndt zu seinem Kombi, der groß genug war, um ein verletztes Tier zu transportieren, sofern es sich nicht um ein Pferd oder eine Kuh handelte.
Robert sah ihm lächelnd nach. Netter Mann, der Vertreter von Dr. Küppers – mit dem kam er sicher gut zurecht.
*
Ausnahmsweise war Julietta pünktlich zum Frühstück erschienen. Es kam ihrer Mutter sogar so vor, als hätte sie sich flüchtig die Haare gekämmt. Überdies war sie blass, ihr Gesicht wirkte verschlossen. Bevor jemand das Wort an sie richten konnte, sagte sie: »Ich gehe nach Sternberg, damit ihr nicht länger behaupten könnt, dass ich nicht bereit bin zu arbeiten, oder dass ich nichts lernen will – das stimmt nämlich nicht.«
Es blieb mehrere Sekunden lang still, dann sagte Adalbert mit ruhiger Stimme: »Ich bin froh über diese Entscheidung. Wann willst du fahren?«
»So schnell wie möglich. Was habt ihr denen eigentlich über mich erzählt?«
»Ich habe ihnen die Situation geschildert, wie ich sie wahrnehme, Julietta«, antwortete Adalbert. »Es ist an dir, sie davon zu überzeugen, dass mein Eindruck falsch ist.«
»Und meiner auch«, setzte Caroline leise hinzu, »denn er deckt sich mit dem deines Vaters.«
»Das heißt, die erwarten jetzt ein richtiges Ungeheuer?«, fragte Julietta empört.
»Unsinn«, erklärte Adalbert. »Sie erwarten eine Praktikantin für den Bereich Pferdepflege, die bisher Schwierigkeiten damit hatte, sich unterzuordnen. Das entspricht doch der Wahrheit?«
Sie schoss einen Blick auf ihn ab, der ihn durchbohrt hätte, wäre er ein Pfeil gewesen, doch statt zu antworten, presste sie fest die Lippen zusammen, damit ihr kein unbedachtes Wort entschlüpfte. Aber ihr Gesicht lief rot an, und ihr war anzusehen, was sie dachte.
Adalbert kümmerte sich nicht darum. Während er mit bedächtigen Bewegungen Butter auf sein Brötchen strich, sagte er: »Wenn du mir sagst, wann du abreisen willst, telefoniere ich gleich nach dem Frühstück mit Friedrich und kündige dein Kommen an.«
»Das kann ich auch allein«, erklärte Julietta patzig. »Ich brauche keinen Babysitter, auch wenn ihr immer so tut.«
»Bitte, dann ruf selbst an – aber vergiss nicht, uns ebenfalls zu informieren und bedank dich für die Möglichkeit, ein solches Praktikum machen zu dürfen. Das ist nicht selbstverständlich, Julietta.«
Sie sprang so heftig auf, dass ihr Stuhl polternd zu Boden fiel. »Willst du mir noch weitere Vorschriften machen, Papa?«, fragte sie aufgebracht. »Dann tu es gleich, damit wir es hinter uns haben!«
Adalbert hob den Blick und sah seine jüngste Tochter so lange schweigend an, bis ihr erneut das Blut ins Gesicht schoss. »Nein«, sagte er dann, »das will ich nicht.« Nach diesen Worten wandte er sich wieder seinem Brötchen zu, und Julietta verließ den Raum, nicht ohne die Tür mit Schwung ins Schloss krachen zu lassen.
»Sie werden sie keine Woche auf Sternberg behalten, Bert«, sagte Caroline leise. »Und wir werden uns schämen, weil sie uns auch noch vor unseren Freunden unmöglich gemacht hat.«
Doch Adalbert war nicht bereit, sich von dieser pessimistischen Einschätzung seiner Frau anstecken zu lassen. »Abwarten und Tee trinken«, erwiderte er gemütlich und griff nach seiner Tasse.
*
Das Telefon klingelte auf Schloss Sternberg, und wie fast immer nahm Eberhard Hagedorn das Gespräch entgegen.
Nachdem er sich gemeldet hatte, sagte eine überraschend dunkle weibliche Stimme: »Hier ist Julietta von Barrentrop, und wer sind Sie? Der Butler?«
Eberhard Hagedorn ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »In der Tat, gnädige Frau«, erwiderte er gelassen, »mein Name ist Eberhard Hagedorn.«
»Kann ich ja nicht ahnen. Ich will den Baron sprechen.«
»Ich werde sehen, ob er Zeit für Sie hat, einen Augenblick bitte.«
»Was soll das denn heißen?« Die dunkle Stimme klang jetzt aufgebracht. »Wollen Sie mich abwimmeln wie jemanden, der Ihnen Staubsauger verkaufen will oder was? Der Baron will garantiert mit mir sprechen, also stellen Sie schon durch.«
»Der Herr Baron möchte sicherlich mit Ihnen sprechen, gnädige Frau, das bezweifele ich nicht, aber er müsste auch Zeit dazu haben«, erwiderte der Butler. »Er hatte mehrere Termine heute, bitte gedulden Sie sich einen Augenblick, ich werde ihn von Ihrem Anruf in Kenntnis setzen.«
»Reden Sie immer so geschwollen daher?« Die junge Anruferin setzte zu einer erneuten Tirade an, die Eberhard Hagedorn jedoch nicht mehr hörte, da er den Knopf drückte, der ihn mit dem Büro von Baron Friedrich verband. Dieser fragte ihn gleich darauf: »Was gibt es denn, Herr Hagedorn? Ich bin mitten in einer Besprechung …«
»Das ahnte ich, Herr Baron, aber Julietta von Barrentrop ist für Sie am Apparat, und sie hat es sehr dringend gemacht.«
»Na gut, das kann ja nicht lange dauern, stellen Sie sie bitte durch!«
Das tat der Butler, und fast bedauerte er es ein wenig, dass er das nun folgende Gespräch nicht hören konnte. Schmunzelnd machte er sich auf den Weg zur Küche. Sollte die junge Frau von Barrentrop tatsächlich, wie man hörte, einige Monate auf Sternberg verbringen, standen ihnen allen wohl interessante Zeiten bevor.
*
»Entschuldigen Sie mich einen Moment, Herr Hagen«, bat der Baron seinen Verwalter Volker Hagen, »aber dieses Gespräch muss ich schnell führen, es kann nicht lange dauern.«
»Ich warte so lange draußen, Herr Baron.«
Friedrich wollte Einspruch erheben, doch der Verwalter hatte das Büro bereits verlassen. »Onkel Fritz?«, klang eine ungeduldige Stimme an Friedrichs Ohr.
»Hallo, Julietta«, erwiderte er.
»Schafft euch mal einen besseren Butler an!«, sprudelte es aus ihr heraus. »Der wollte mich doch glatt abwimmeln, stell dir das mal vor!«
»Er wusste, dass ich in einer Besprechung bin, Julietta, und deshalb wollte er mich nicht stören. Darf ich dich bitten, dich kurz zu fassen? Ich möchte meinen Verwalter nicht gern über Gebühr warten lassen. Also: Worum geht es?«
»Oh.« Sie hatte offenbar mit einer anderen Reaktion gerechnet, fasste sich jedoch schnell wieder. »Ich wollte nur sagen, dass ich zu euch komme, in einer Woche.«
»Du meinst, wenn es uns recht ist«, erwiderte Friedrich ruhig.
Wieder entschlüpfte ihr ein erstauntes: »Oh«, dann setzte sie hinzu: »Aber ihr habt doch gesagt, dass ich bei euch als Praktikantin anfangen kann. Jedenfalls hat Papa das erzählt.«
»Nur über den Beginn deiner Tätigkeit hatten wir uns noch nicht geeinigt. Aber wenn du sagst, dass du in einer Woche anfangen kannst, dann werde ich das so weitergeben an unseren Stallmeister – und auch an Sofia. Sollte uns ein späterer Beginn lieber sein, werden wir uns noch einmal melden. Und jetzt entschuldige mich bitte, wie gesagt, ich bin mitten in einer Besprechung. Grüß deine Eltern, Julietta, bis dann.« Mit einem Knopfdruck beendete Friedrich das Gespräch und rief Volker Hagen wieder zu sich.
»Eine gute Nachricht, Herr Baron?«, fragte der Verwalter, als er Friedrichs Schmunzeln sah.
»Wie bitte? Äh, nein …, nein, eigentlich nicht, Herr Hagen. Ich habe nur gerade versucht, einer jungen Dame mit Umgangsformen, die zu wünschen übrig ließen, eine kleine Lektion zu erteilen.«
»Ihrem Lächeln nach zu urteilen muss es Ihnen gelungen sein.«
»Wir werden sehen«, murmelte der Baron nachdenklich. »Weiter mit den notwendigen Reparaturen, Herr Hagen.«
Sie beugten sich gemeinsam wieder über die Liste, die der Verwalter erstellt hatte. Sie war so lang, dass der Baron bei den Ausgaben, die in nächster Zeit auf sie zukamen, einen tiefen Seufzer unterdrücken musste.
*
Das Haus war voll an diesem Wochenende. Die Nachricht, dass die Jüngste für einige Monate als Praktikantin nach Sternberg gehen würde, hatte Juliettas Geschwister nach Hause eilen lassen.
Der Älteste war Albert mit seinen sechsundzwanzig Jahren. Er würde das Haus eines Tages übernehmen und die Geschäfte seiner Eltern fortführen. Sein Betriebswirtschaftsstudium hatte er abgeschlossen, nun wollte er noch seinen Doktor machen. Albert war ein zurückhaltender junger Mann, der wenig redete, er hörte lieber zu. Ihm entging nur wenig, er war ein scharfer Beobachter und wohl auch deshalb derjenige unter den Geschwistern, denen sich die anderen am ehesten anvertrauten.
Die Nächste war die vierundzwanzigjährige Bettina, eine blonde Schönheit mit zahlreichen Verehrern. Ihr Herz gehörte jedoch einem ihrer Lehrer an der Kunstakademie, der leider verheiratet war. Ihre Eltern hofften inständig, dass sie den Mann bald vergaß und sich in einen anderen verliebte.
Der dreiundzwanzigjährige Johannes stand seiner jüngsten Schwester am nächsten. Er machte eine Ausbildung zum Maschinenbauer, wobei er sich auf medizinische Maschinen spezialisieren wollte. Er hatte Julietta sehr gern, verstand sie aber zunehmend weniger. »Wieso hockst du immer noch hier, statt endlich etwas aus deinem Leben zu machen?«, hatte er sie in den letzten Monaten mehrfach gefragt, ohne eine richtige Antwort zu bekommen.
Natürlich kannten sie ihre jüngste Schwester gut genug, um sie nicht mit Fragen zu bestürmen, auf die sie ohnehin keine Antworten bekommen hätten. Sie wandten sich vielmehr, wenn Julietta nicht in der Nähe war, an die Eltern und versuchten, diesen zu entlocken, wieso sich Julietta plötzlich bereit erklärt hatte, ihr Elternhaus zu verlassen und zumindest einen Schritt in Richtung Ausbildung zu tun.
Doch Caroline und Adalbert hielten sich bedeckt. Sie wollten keinen weiteren Druck auf Julietta ausüben, und das schon gar nicht auf dem Umweg über die Geschwister.
Beim Abendessen am Samstag aber platzte Johannes. »Warum erzählt uns eigentlich niemand, wie es zu diesem Praktikum auf Sternberg gekommen ist?«, rief er. »Ihr tut so verdammt geheimnisvoll!«
Julietta, die ihre Geschwister nur kurz begrüßt hatte und dann wieder verschwunden war, sah auf. »Wer tut geheimnisvoll?«, fragte sie. »Wen habt ihr denn gefragt? Mich jedenfalls nicht.«
»Dann erzähl du uns, wieso du jetzt ein Praktikum machst!«
In die plötzlich aufgekommene Stille hinein ließ Julietta ihre Antwort tropfen: »Weil ich erpresst worden bin.« Jedes einzelne Wort betonte sie. Nach einer kurzen wirkungsvollen Pause fuhr sie anklagend fort: »Mama und Papa hätten mich weggejagt, wenn ich nicht nach Sternberg gegangen wäre – so sieht das aus. Sie haben mir überhaupt keine Wahl gelassen.«
Niemand sagte ein Wort, bis Johannes seinen Vater fragte: »Stimmt das, Papa?«
»Es stimmt«, bestätigte Adalbert gelassen. »Wir haben uns lange genug angesehen, wie Julietta ihre Zeit vergeudet – das wollten wir uns nicht länger antun. Sie ist frei zu gehen, wohin sie will und ihr Geld zu verdienen, wie es ihr beliebt, aber wir möchten uns unser Leben jetzt anders einrichten. Sie ist volljährig, sie kann tun und lassen, was sie möchte – aber nicht mehr unter unseren Augen.«
»Das wurde ja auch mal Zeit«, stellte Bettina fest. »Ihr habt euch das viel zu lange mit angesehen.«
»Du natürlich wieder!«, fuhr Julietta sie an. »Du fällst mir ja sowieso in den Rücken, wo du nur kannst.«
»Das stimmt doch gar nicht«, versuchte Albert seine Schwestern zu beschwichtigen.
»Natürlich stimmt es!«, rief Julietta erregt. »Das war doch gerade wieder ein Beweis.«
»Wir haben uns alle schon mal Gedanken um dich gemacht, Julietta«, fuhr Albert unbeirrt fort. »Und um es ehrlich zu sagen: Keiner von uns versteht, was du eigentlich willst. Andere in deinem Alter sind schon halb fertig mit ihrem Studium, du machst einfach gar nichts.«
»Es ist mein Leben«, beharrte Julietta. »Ich kann damit machen, was ich will.«
Zum ersten Mal ergriff Caroline das Wort. Sie erhob nicht einmal die Stimme, dennoch hörten ihr alle zu.
»Niemand hindert dich daran, Julietta«, sagte sie ruhig. »Aber du solltest es nicht auf Kosten anderer tun.«
Wieder einmal sprang Julietta auf und verließ vorzeitig eine Mahlzeit. Das war in letzter Zeit öfter vorgekommen.
»Ich möchte wissen, was in ihrem Kopf vorgeht«, murmelte Bettina. »Kann mir das mal jemand erklären? Sie kann doch nicht ihr Leben lang hier wohnen bleiben und nichts tun außer reiten und ab und zu mal einen Stall ausmisten! Was ist denn nur los mit ihr?«
Sie bekam keine Antwort, auch Caroline und Adalbert versuchten nicht, eine Erklärung zu finden. Ihnen war Julietta ja ebenfalls ein Rätsel – vielleicht war sie sich sogar selbst eins.
*
»Herr Hagedorn«, sagte die Baronin einige Tage später, »es ist möglich, dass es in der nächsten Zeit ein wenig schwierig für uns alle wird – und ganz besonders für Sie.«
»Frau Baronin?«, fragte er höflich.
Es fiel Sofia schwer, dieses Gespräch zu führen. Auch wenn sie zu Eberhard Hagedorn unbedingtes Vertrauen hatte, so kam es ihr doch falsch vor, ihn vor einem Gast zu warnen, den sie erwarteten. Aber sie fühlte sich verpflichtet, ihn auf das vorzubereiten, was ihnen vermutlich bevorstand. »Wir erwarten ja einen Gast«, begann sie, brach jedoch gleich wieder ab, da sie nicht wusste, wie sie fortfahren sollte. Schließlich war es nicht ihre Absicht, Julietta bloßzustellen oder sie vor dem Personal herabzusetzen.
»Ich weiß, Frau Baronin, die junge Frau von Barrentrop«, erwiderte Eberhard Hagedorn unverändert gelassen. »Machen Sie sich bitte darüber keine Gedanken, ich bin sicher, Frau von Barrentrop wird sich hier einleben, wenn sie erst einmal einige Tage bei uns ist.«
Sie bewunderte ihn wieder einmal für sein wunderbares Taktgefühl. Natürlich, sie musste ihm überhaupt nichts sagen, er war ohnehin immer über alles informiert. Wie er das machte, war sein Geheimnis, aber es gab niemanden auf Sternberg, der besser Bescheid wusste über das, was hier vor sich ging, als der alte Butler.
»Ich danke Ihnen«, sagte sie leise. »Und ich hoffe sehr, dass Sie Recht behalten.«
»Machen Sie sich bitte keine Sorgen, Frau Baronin. Dem Zauber von Sternberg hat auf Dauer noch niemand widerstehen können, das wissen Sie doch – Frau von Barrentrop wird es ebenso ergehen.«
Als er das Zimmer verlassen hatte, dachte sie über seine Worte nach. ›Der Zauber von Sternberg‹ – wie hübsch er das gesagt hatte! Sie lächelte unwillkürlich.
*
»Lass uns nicht so weit weggehen, Chris«, bat Anna, als Christian und sie mit Christians Boxer Togo einen Spaziergang machten. »Ich will Juliettas Ankunft auf keinen Fall verpassen. Vielleicht benimmt sie sich ja gleich am Anfang schon daneben.«
»Du redest wie Konny«, stellte Christian mit leicht tadelndem Unterton fest. »Ich dachte, du findest es interessant, dass sie kommt?«
»Tu ich ja auch«, erwiderte sie leicht gekränkt.
»Na also«, sagte er versöhnlich. »Was hast du davon, wenn sie sich daneben benimmt? Das ist doch nur unangenehm. Ich fände es viel besser, wenn sie richtig nett wäre – schließlich bleibt sie lange hier. Und sie ist ja nicht viel älter als wir.«
»Sie ist über zwanzig«, entgegnete Anna in einem Tonfall, der besagte, dass Julietta damit zu den wirklich alten Damen gehörte. »Jedenfalls wird sie sich bestimmt nicht mit uns abgeben, du weißt doch, wie Frauen in dem Alter sind. Die denken nur an ihre Schönheit und daran, wie sie sich einen Mann angeln können.«
»Ich hatte aber nicht den Eindruck, dass es bei Julietta auch so ist«, meinte Christian.
Sie kamen nicht dazu, ihre Debatte fortzusetzen, denn ein Wagen kam langsam die Auffahrt herauf.
»Das ist sie!«, stieß Anna hervor. »Das muss sie sein, Chris.«
Togo jagte bereits davon, auf den Wagen zu. Er ließ es sich niemals nehmen, neue Gäste auf seine eigene Art zu begrüßen.
Anna und Christian beeilten sich, ihm zu folgen. »Der Wagen ist ja total dreckig«, stellte Anna fest.
Das hatte Christian ebenfalls schon festgestellt. Es war ein kleines rotes Auto, dem nun eine junge Frau mit langen blonden Haaren entstieg, die ihr recht wirr vom Kopf abstanden. Sie trug Jeans und ein Hemd, das ihr einige Nummern zu groß war, dazu derbe Schuhe. Sie holte einen Rucksack aus dem Kofferraum und schickte sich an, auf das Schlossportal zuzugehen, als Anna laut rief: »Julietta?«
Die junge Frau drehte sich um. Eine Hand legte sie schützend über die Augen, um besser sehen zu können. »Ach, ihr seid das«, sagte sie. »Anna und Konny, oder? Es muss mindestens zehn Jahre her sein, dass ich zum letzten Mal hier war.«
»Ich bin Christian, nicht Konny«, stellte der kleine Fürst klar. »Willkommen auf Schloss Sternberg, Julietta.«
»Bist du immer so förmlich? Hallo, ihr beiden.«
»Hallo«, erwiderte Anna. »Chris war nicht förmlich, nur höflich.«
»Und was soll das heißen? Dass ich unhöflich war? Du liebe Güte, das fängt ja gut an hier. Das ist ja fast noch schlimmer als bei uns zu Hause!« Julietta hätte wohl noch mehr gesagt, wenn nicht das Eingangsportal von innen geöffnet worden und Eberhard Hagedorn erschienen wäre. »Willkommen auf Schloss Sternberg, Frau von Barrentrop«, sagte er höflich, woraufhin Julietta entnervt ausrief: »Geht das jetzt so weiter? Muss ich mir diesen Satz von jedem Menschen anhören, dem ich begegne?«
»Ich fürchte, gnädige Frau, ich verstehe nicht, was Sie meinen«, erwiderte Eberhard Hagedorn.
»Ich habe Julietta auch schon willkommen geheißen, Herr Hagedorn«, erklärte Christian.
»Dann entschuldigen Sie die Wiederholung«, bat der Butler, noch immer formvollendet höflich. »Darf ich Ihnen Ihr Gepäck abnehmen?«
»Das kann ich allein tragen oder sehe ich so schwach aus, dass Sie denken, ich würde unter der Last zusammenbrechen?«
Anna und Christian wechselten einen kurzen Blick. Diese Kostprobe genügte bereits, um ihnen einen Vorgeschmack auf das Kommende zu geben.
Eberhard Hagedorn ließ sich auch jetzt nicht aus der Fassung bringen. Er bat Julietta einzutreten und geleitete sie in den Salon, in dem die Baronin auf das Eintreffen des Gastes wartete.
»Julietta, wie schön, dich zu sehen«, sagte Sofia lächelnd. »Bitte, setz dich zu mir und trink eine Tasse Tee mit mir. Und ihr«, wandte sie sich an Anna und Christian, die dem Gast gefolgt waren, »könnt euch später mit Julietta unterhalten, ich wäre jetzt gern mit ihr allein.« Mit langen Gesichtern traten die beiden den Rückzug an – so hatten sie sich das nicht vorgestellt.
»Kaffee wäre mir lieber«, erklärte Julietta ungeniert und ließ sich in einen Sessel fallen, der der Baronin gegenüber stand. Sie streckte die Beine lang aus und rutschte nach unten.
»Wenn du liegen möchtest«, sagte Sofia kühl, »solltest du das Sofa wählen.«
Julietta sah sie verständnislos an, ohne ihre Position zu verändern, so dass Sofia sich genötigt sah, deutlicher zu werden.
»Würdest du dich bitte hinsetzen?«, fragte sie. »Ich bin es nicht gewöhnt, dass jemand vor mir liegt, während ich mich mit ihm unterhalte.«
Julietta wurde tatsächlich rot, während sie sich nach oben schob. »Tut mir leid«, murmelte sie.
Sofia machte Eberhard Hagedorn, der an der Tür gewartet hatte, ein Zeichen und bat ihn, dem Gast Kaffee zu servieren, dann wandte sie sich wieder Julietta zu. »Du wirst hier ein Praktikum als Pferdepflegerin machen, gleichzeitig aber auch unser Gast sein, Julietta«, sagte sie ruhig. »Ich erwarte von dir, dass du dich an die Sitten in unserem Hause anpasst. Das ist eine Frage der Höflichkeit und des Respekts.«
Wieder wurde Julietta rot. Sofia sah ihr an, dass sie eine heftige Erwiderung auf der Zunge hatte, die sie jedoch hinunterschluckte. Gleich darauf servierte Eberhard Hagedorn den Kaffee. Als er sich zurückgezogen hatte, sagte Julietta: »Ihr habt mich alle jetzt schon verurteilt, stimmt’s?«
»Verurteilt?«, fragte Sofia. »Wieso sollten wir? Wir kennen dich doch gar nicht, Julietta.«
»Aber du hast gleich an mir herumgemeckert, Tante Sofia. Kaum hatte ich das Schloss betreten, da ging es schon los.«
»Das liegt aber nicht an meinen Vorurteilen, sondern an deinem Benehmen, Julietta«, erklärte die Baronin mit ruhiger Stimme. »Ich hätte noch sehr viel mehr sagen können, glaub mir, nur habe ich mir gedacht, dass du wohl auch unsicher bist, und ich habe beschlossen, das als Entschuldigung gelten zu lassen.«
»Als Entschuldigung? Aber wofür denn? Ich tue doch überhaupt nichts.«
»Lass uns ein anderes Mal darüber sprechen«, schlug Sofia vor. »Fritz meinte, du würdest sicher gern so schnell wie möglich einen Rundgang durch die Ställe machen. Herr Wenger, unser Stallmeister, erwartet dich, sobald du deine Sachen ausgepackt hast. Oder hast du andere Wünsche? Dann können wir Herrn Wenger gern Bescheid sagen.«
Julietta erwiderte zunächst einmal nichts, sondern biss sich fest auf die Lippen, und mit einem Mal erkannte Sofia, dass die junge Frau den Tränen nahe war. Sie führt sich so auf, damit man ihr nicht zu nahe kommt, dachte sie. Zugleich scheint ihr nicht einmal klar zu sein, wie schlecht ihre Manieren tatsächlich sind. Da haben wir uns aber einiges aufgehalst mit diesem Besuch.
»Bitte, sag mir, was du möchtest, Julietta«, bat sie sanft.
Die junge Frau riss sich zusammen. »Ich packe meine Sachen aus, und dann gehe ich hinüber zu den Ställen, Tante Sofia«, sagte sie. Sie leerte ihre Tasse – das Schlürfen überhörte Sofia – und stand auf. »Bis nachher dann«, nuschelte sie.
Auch Sofia erhob sich. »Ich hoffe, du wirst dich bei uns wohlfühlen, Julietta«, sagte sie ernst, aber in freundlichem Ton.
Julietta nickte nur, ihre Augen glänzten verdächtig feucht. Dann wandte sie sich um und lief zur Tür. Dort jedoch hielt sie inne, um sich noch einmal zu Sofia umzudrehen. »Danke!«, stieß sie hervor, dann verließ sie den Salon.
Sofia ging zum Fenster, um einen Blick in den Schlossgarten zu werfen. Die nächsten Wochen würden nicht einfach werden, so viel stand bereits fest.
*
»Was ist, Caro?«, fragte Adalbert seine Frau, als er sie endlich in einem Raum gefunden hatte, der kaum je benutzt wurde. Das ganze Haus hatte er bereits vergeblich nach ihr abgesucht. »Wieso sitzt du ausgerechnet hier?«
Er war nicht sicher, ob sie seine Fragen gehört hatte. »Wahrscheinlich ist sie spätestens Ende der Woche wieder hier«, erwiderte sie und griff nach seiner Hand. »Wenn sie sich dort so benimmt, wie sie es hier tut, Bert, werden sich die Sternberger das nicht lange gefallen lassen.«
»Hör auf zu unken«, bat er. »Sofia und Fritz sind erfahrene Eltern – und ich baue auch auf die jüngere Generation auf Sternberg. Du weißt doch, wie Teenager sind, die können ganz schön unbarmherzig sein. Wenn die es schaffen, Julietta einen Spiegel vorzuhalten, wird sie vielleicht doch nachdenklich. Sie kann, glaube ich, gar nicht richtig abschätzen, wie ihr Verhalten wirkt, im Grunde genommen ist sie ein verschrecktes Kind. Sie weiß noch immer nicht, was sie will, das verunsichert sie, aber sie will es nicht zugeben. Sie spielt die Abgeklärte, Harte, aber wir wissen doch beide, dass sie das nicht ist.«
»Ich denke auch, dass sie verunsichert ist, aber muss sie sich deshalb so aufführen?«, fragte Caroline.
»Es ist ihr Versuch, uns zu zeigen, dass sie erwachsen ist, weil sie nach ihren eigenen Regeln lebt«, antwortete er nach längerem Nachdenken. »Aber vielleicht irre ich mich auch. Ich liebe unsere Jüngste, Caro, und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass sie endlich zu sich selbst findet. Sie macht ja nicht nur uns das Leben schwer, sondern auch sich selbst.«
»Und jetzt den Sternbergern, Bert.«
Er lachte plötzlich. »Ja, davon gehe ich auch aus, aber, wie gesagt, ich denke, sie halten eine Weile durch. Vielleicht nicht bis zum Ende eines regulären Praktikums, aber einige Wochen traue ich ihnen schon zu.«
»Wir werden sehen«, seufzte Caroline. Sie stand auf und umarmte ihren Mann.
Adalbert hielt sie fest. Hoffentlich, dachte er, schicken sie Julietta nicht tatsächlich schon nach einer Woche nach Hause! Aber das sagte er nicht laut. Seine Frau machte sich ohnehin schon zu viele Sorgen, die wollte er nicht durch das Geständnis vergrößern, dass er diese Sorgen klammheimlich teilte.
»Lass uns etwas essen«, schlug er vor. Eine gute Mahlzeit, hoffte er, würde sie beide auf andere Gedanken bringen.
*
»Ach, Herr Doktor!«, sagte der alte Bauer Renninger. »Was für ein Glück, dass Sie rechtzeitig gekommen sind! Ich hätte das Kalb allein nicht holen können.«
»Das glaube ich allerdings auch, Herr Renninger«, lachte Arndt, während er das zitternde nasse Kalb mit langen kräftigen Strichen trocken rieb. Die Mutter hatte sich schwer getan bei der Geburt, er hatte kräftig nachhelfen müssen, aber nun war das Kalb auf der Erde, und die Mutter erholte sich bereits von den Anstrengungen der letzten Stunden. »Es sieht ziemlich munter aus«, meinte er, »und wird später sicher einmal eine ganz hervorragende Milchkuh.«
»Das muss es auch«, brummte der Bauer. »Wir brauchen Nachwuchs, nachdem uns doch letztes Jahr zwei Kühe verendet sind.«
»Verendet?«, fragte Arndt verwundert. »Sind sie krank geworden?«
Das Gesicht des Alten nahm jetzt einen grimmigen Ausdruck an. »Überhaupt nicht, es waren meine beiden besten Milchkühe. Aber ein paar Buben hier aus dem Ort haben ein Loch in unseren Zaun gerissen, und die Rindviecher wollten wohl mal sehen, wie es auf der anderen Seite aussieht. Sie sind auf die Straße gerannt, direkt in einen Lastwagen hinein. Es war ein richtiges Glück, dass nicht noch mehr passiert ist, der Fahrer ist unverletzt geblieben – aber natürlich hat er einen Schock bekommen. Zwei weitere Kühe wollten auch noch durch das Loch schlüpfen, das konnte ich verhindern.«
»Das war für die Eltern der Buben aber teuer«, vermutete Arndt.
»Ach was«, brummte Bauer Renninger. »Die Eltern haben doch so schon nichts zu beißen, soll ich die auch noch ins Unglück stürzen? Ich hab zwar viel Arbeit, aber wir kommen zurecht, meine Frau, mein Sohn mit seiner Familie und ich. Und ins Grab kann ich doch nichts mitnehmen, Herr Doktor.«
Arndt lächelte dem alten Mann zu, ihm war dessen Haltung außerordentlich sympathisch. Er blieb noch, bis das Kalb versuchte, sich auf seine staksigen Beine zu stellen, was ihm nach mehreren Anläufen schließlich auch gelang. Da stand es nun und wusste noch nicht so recht, wohin es sich wenden sollte, doch ein kleiner Stups seiner Mutter genügte, ihm den Weg zur ersehnten Milch zu weisen.
»Übernächste Woche dürfte die andere Kuh so weit sein, Herr Doktor, aber wenn es keine Probleme gibt, machen wir das allein, da ist mein Sohn auch wieder da – der ist diese Woche unterwegs.«
»Sonst rufen Sie an, dann komme ich, Herr Renninger.«
Arndt und der alte Bauer wechselten einen kräftigen Händedruck, dann setzte sich Arndt in seinen Kombi und rollte langsam vom Hof. Seine Vertretung ließ sich nicht schlecht an, wahrhaftig nicht.
*
»Sind Sie Herr Wenger?«, fragte Julietta, als sie das Büro des Stallmeisters betrat.
»Der bin ich«, bestätigte Robert Wenger. »Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«
»Julietta von Barrentrop. Sie wussten doch, dass ich komme!« Das klang durchaus vorwurfsvoll.
»Julietta also«, wiederholte Robert gelassen. »Ich duze alle, die hier unter meinem Kommando arbeiten, bei dir werde ich keine Ausnahme machen. Wollen wir gleich einen Rundgang machen?«
Sie rührte sich nicht. »Ich will nicht geduzt werden«, sagte sie störrisch.
»Tut mir leid, aber ich bin hier derjenige, der die Regeln macht.«
»Das dürfen Sie überhaupt nicht!«
»Mag sein. Aber es dient der Vereinfachung der Arbeit. Du kannst ja eine Eingabe beim Herrn Baron machen und dich offiziell beschweren. Was ist nun mit dem Rundgang?«
Julietta nickte mit verschlossenem Gesicht. Robert Wenger und sie würden keine Freunde werden, das stand für sie bereits fest.
Robert stand auf. Er wusste, dass er ziemlich einschüchternd wirken konnte, und darauf legte er es jetzt an. Ihm war bereits einiges zu Ohren gekommen über die junge Dame, die vor knapp zwei Stunden auf Sternberg angekommen war – und er wusste, wie wichtig es war, bestimmte Dinge gleich am Anfang zu klären. Wenn sie sich einbildete, sie könnte ihm hier auf der Nase herumtanzen, weil ihre Eltern mit der Familie von Kant befreundet waren, dann musste er ihr diese Idee möglichst schnell austreiben.
»Was kannst du?«, fragte er, während sie den Hof überquerten.
»Was meinen Sie damit?«, fragte sie zurück. »Ich kann reiten und mit Pferden umgehen – mehr muss ich ja wohl nicht können, um hier ein Praktikum zu machen, oder?«
»Du musst einiges mehr können«, bemerkte er gelassen. »Reiten und mit Pferden umgehen kann hier jeder. Verstehst du? Ohne Ausnahme jeder.«
»Aber nicht so gut wie ich«, trumpfte Julietta auf.
»Sei dir nur nicht zu sicher«, warnte Robert. Sie betraten den ersten Stall, und er beobachtete Juliettas Reaktion aus den Augenwinkeln. Sie war gebührend beeindruckt – gut so! An der Art und Weise, wie sie sich jetzt der ersten Box näherte, sah er, dass sie tatsächlich mit Pferden umgehen konnte. Immerhin ein Pluspunkt, vermutlich der einzige, er machte sich in dieser Hinsicht keine Illusionen. Sie würde sofort anecken mit ihrer hochfahrenden Art, er war gespannt auf die Reaktion der anderen Pferdepfleger, wenn er sie vorstellte.
»Du musst zum Beispiel mit deinen Kolleginnen und Kollegen auskommen«, fuhr er fort. »Die arbeiten alle hart und erwarten von dir, dass du das auch tust. Was weißt du über die Pflege von Pferden? Über ihre Nahrung? Über das, was sie brauchen, um sich wohlzufühlen?«
Es stellte sich schnell heraus, dass Julietta nur über begrenzte Kenntnisse verfügte – genauso hatte er sich das vorgestellt. Sie ritt wahrscheinlich leidenschaftlich gern und auch sehr gut, sie hatte eine natürliche Begabung im Umgang mit Pferden, aber um alles, was mühsam zu lernen war oder Anstrengung bedeutete, hatte sie bisher einen großen Bogen gemacht.
»Du bist morgen zum Frühdienst eingeteilt«, sagte er, als sie sich dem zweiten Stall näherten. »Und zwar deshalb, weil ich dann ebenfalls anwesend sein werde und dich einweisen kann. Später wird das unser erster Pferdepfleger übernehmen, aber morgen kümmere ich mich persönlich um dich.«
»Frühdienst?«, fragte Julietta misstrauisch. »Ich bin eine Nachteule, ich arbeite lieber abends.«
»Es geht leider nicht danach, was du am liebsten machst«, erklärte Robert. »Die Pferde müssen versorgt werden, und da ist jeder mal mit dem Frühdienst dran. Sei froh, du machst das ja nur eine Woche, dann hast du es erst einmal hinter dir, weil es jemanden anders trifft. Wir treffen uns um fünf Uhr in meinem Büro.«
Julietta blieb stehen. »Spinnen Sie?«, fragte sie. »Da muss ich ja um halb fünf schon aufstehen.«
»Wenn du noch einmal in einem solchen Ton mit mir sprichst, bist du schneller wieder draußen, als du es dir vorstellen kannst«, erwiderte Robert scharf. »Falls du es noch nicht begriffen hast: Ich bin hier dein Vorgesetzter und erwartet respektvolles Benehmen, so wie ich auch dich respektvoll behandele – obwohl ich mich allmählich frage, womit du das eigentlich verdienst, so wie du dich aufführst.«
Sie hatte eine hitzige Erwiderung auf der Zunge, das sah er, doch sie bezähmte sich. Immerhin, dachte er, sie gibt sich Mühe, das spricht für sie. Milder setzte er hinzu: »In diesem Stall stehen die Pferde, die wir demnächst verkaufen werden.«
Der Anblick der wundervollen Pferde half Julietta, ihre Fassung zurückzugewinnen. Sie war sich nicht bewusst, dass Robert Wenger sie die ganze Zeit beobachtete, und erst recht ahnte sie nicht, dass sein Urteil über sie viel milder ausfiel, als er es zunächst selbst angenommen hatte. Die Liebe zu den Pferden war ihr so deutlich anzusehen, dass der gestrenge Stallmeister beschloss, der jungen Dame einiges nachzusehen, bevor er den Baron bitten würde, sie zu ihren Eltern zurückzuschicken.
Sie hatte einen guten Kern, das war mehr, als er erwartet hatte.
*
»Ich fahre in dieser speziellen Situation nicht gern weg, Sofia«, sagte der Baron, »aber ich will versuchen, diesen jungen Hengst zu kaufen, von dem ich dir erzählt habe, Silberstern. Die Gelegenheit ist günstig, die sollte ich nicht versäumen.« Er zog sie in seine Arme. »Bis jetzt lief es doch einigermaßen mit Julietta, oder?«
»Das kann man so eigentlich nicht sagen«, murmelte die Baronin. »Sie lässt es gegenüber den Angestellten an Respekt fehlen, Fritz, und ich schäme mich für ihr Benehmen. Wir können niemanden einladen, so lange sie am Tisch herumlümmelt wie in einer miesen Dorfkneipe. Sie scheint es nicht einmal zu merken, dass sie die Einzige ist, deren Arm auf dem Tisch liegt, die schlürft und schmatzt und die Getränke hinunterschüttet, als wäre es Wasser. Ich weiß nicht, wie Caro und Bert das ausgehalten haben – sie müssen es doch tagtäglich vor Augen gehabt haben. Und ich mag sie nicht dauernd maßregeln wie ein kleines Kind, das ist mir selbst peinlich. Gestern hat sie ein Messer abgeleckt, ob du es glaubst oder nicht.«
»Tatsächlich? Das glaube ich dir nicht, das hast du erfunden.«
»Habe ich nicht«, erklärte sie niedergeschlagen. »Wenn ihre Eltern nicht unsere Freunde wären und wenn ich nicht Mitleid mit ihnen hätte, dann würde ich sie zurückschicken, Fritz. Es ist nicht unsere Aufgabe, das nachzuholen, was Caro und Bert versäumt haben.«
»Sie haben es sicherlich nicht versäumt«, entgegnete er. »Und ich könnte schwören, dass Julietta genau weiß, was höfliches Benehmen ist. Vielleicht hat sie es vergessen, weil sie es so lange schon nicht mehr geübt hat, aber im Prinzip weiß sie es. Sie probiert aus, wie weit sie gehen kann.«
»Wie ein kleines Kind«, murmelte Sofia. »Das ist doch nicht zu fassen. Allerdings habe ich den Eindruck, dass sie allmählich den Spaß daran verliert, weil sie eher Verständnislosigkeit als Empörung hervorruft.«
»Siehst du? Den Eindruck hatte ich auch. Und sie ist noch nicht einmal eine Woche bei uns.«
»Was sagt denn eigentlich Herr Wenger über sie?«
Der Baron lächelte. »Er ist wild entschlossen, ihr eine Chance zu geben, obwohl sie seine Geduld schwer auf die Probe stellt.«
»Und warum ist er trotzdem so entschlossen?«
»Er denkt, sie hat einen guten Kern – und das denke ich auch, Sofia.«
Die Baronin dachte über diese Worte nach, dann gab sie ein wenig widerwillig zu: »Na ja, wenn ich ehrlich sein soll, ich denke es auch, Fritz.«
Er gab ihr einen Kuss. »Dann sind wir uns ja einig, Liebste«, sagte er erleichtert. »Ich bleibe höchstens drei Tage weg, in der Zeit wird schon nichts Besonderes passieren.«
»Hoffentlich«, murmelte Sofia.
*
»Mach mal ein bisschen schneller, Julietta«, sagte Patrick Kleber, einer der Pferdepfleger. »Du kannst dich nicht in jeder Box eine halbe Stunde aufhalten, wir müssen sehen, dass wir mit der Arbeit fertig werden!«
Sein Ton war freundlich, aber entschieden. Der Stallmeister hatte ihn angehalten, die Neue ein bisschen im Auge zu behalten, und natürlich wussten sie alle längst, dass Julietta von Barrentrop drüben im Schloss in einer Gästesuite wohnte – sie war also etwas Besonderes. Andererseits machte sie hier ein Praktikum, an das sich eine Ausbildung anschließen sollte, wenn sich erwies, dass sie das Zeug dazu hatte, und sie wurde vom Stallmeister behandelt wie alle anderen auch. Es hatte leises Gegrummel gegeben an ihrem ersten Tag, aber dann hatten sie es gemacht, wie sie es bei allen Neuen machten: Erst einmal gucken, dann handeln.
Julietta konnte mit Pferden umgehen, sie ritt ausgezeichnet – und das war auch schon alles, was man an Gutem über sie sagen konnte. Um unangenehme Arbeiten drückte sie sich gern, sie kam morgens regelmäßig zu spät und bildete sich ein, niemand würde es merken, vor allem aber hielt sie Abstand zu den anderen, was diese ihr am meisten ankreideten. War sie hochmütig? Dann hatte sie in den Ställen von Schloss Sternberg nichts zu suchen.
»Ich mache, so schnell ich kann.« Juliettas Stimme klang genervt. Sie hatte nicht gut geschlafen, war zu spät wach geworden, hatte sich dann gleich den ersten Rüffel eingefangen, und seitdem hinkte sie ihrem Pensum hinterher. Warum blieb sie überhaupt auf Sternberg? Es war die reine Schinderei, was sie hier machte. Abends fiel sie todmüde ins Bett, jeder Knochen tat ihr weh, sie hatte Schwielen an den Händen und Muskelkater in den Beinen – und trotz ihrer zunehmenden Erschöpfung konnte sie meistens nicht sofort einschlafen, weil sie mit ihrem Schicksal haderte und sich vornahm, am nächsten Tag ihre Sachen zu packen und nach Hause zu fahren.
Doch jeden Morgen, wenn der Wecker klingelte, hielt etwas sie davon ab, diesen Vorsatz in die Tat umzusetzen. Sie wusste selbst nicht, warum sie sich dann doch aus dem Bett quälte, eine Kleinigkeit aß und über den Schlosshof zu den Ställen lief, um mit ihrer Arbeit zu beginnen. Vielleicht wollte sie einfach nicht scheitern? Nicht zugeben, dass sie es nicht geschafft, nicht durchgehalten hatte? Vielleicht wollte sie sich und ihren Eltern – und allen anderen, die ihr nichts zutrauten – beweisen, dass sie durchaus imstande war, ein körperlich hartes Praktikum durchzustehen?
Vielleicht lag es aber auch einzig und allein an den Pferden, diesen wunderschönen Geschöpfen mit den großen glänzenden Augen, dem seidigen Fell und der eleganten Haltung, in deren Gegenwart vieles von dem, was sie bedrückte, von ihr abfiel? Sobald sie im Stall war, fühlte sie sich wohl, so einfach war das. Und die Pferde schienen sich in ihrer Gesellschaft ebenfalls wohl zu fühlen, sie hatte jedenfalls noch nie Probleme gehabt, auch nicht mit den Tieren, die als schwierig galten. Vielleicht also hatte sie in dieser Hinsicht doch eine Begabung, aus der sich etwas machen ließe?
Sie wusste es nicht, sie wusste nur, dass sie sich von Patrick jetzt nicht schon wieder antreiben lassen wollte, und deshalb hatte sie auf seine recht freundliche Aufforderung, sich zu beeilen, auch ziemlich patzig reagiert.
»Hör mal«, entgegnete er, nun deutlich hitziger im Ton, »du kannst hier nicht auf unsere Kosten die Prinzessin spielen. Wenn du so langsam machst, muss jemand anders deinen Teil mitmachen, das ist dir hoffentlich klar? Wir arbeiten hier alle hart, da lässt niemand einen anderen darunter leiden, dass er ein bisschen durchhängt. Wenn du müde bist, geh abends früher schlafen, den guten Rat gebe ich dir hiermit. Und jetzt gib Gas oder du wirst mächtig Ärger kriegen.«
Mit diesen Worten ging er. Sie sah ihm fassungslos nach. Wie der mit ihr redete, dieser …, dieser … Sie probierte in Gedanken mehrere Schimpfwörter aus, als er sich plötzlich umdrehte und sie dabei ertappte, dass sie untätig dastand und ihm hinterhersah. »Nicht gaffen, schaffen!«, schrie er zornig.
Sie erschrak so, dass sie seiner Aufforderung tatsächlich nachkam. Zu ihrem Erstaunen bemerkte sie, dass ihre Müdigkeit jetzt, da sie sich beeilte, nach und nach wich. Sie fühlte sich wach und leistungsfähig.
Die wollten sie ja nur alle kleinkriegen, aber es würde ihnen nicht gelingen!
*
»Schöner Hengst«, bemerkte ein junger Mann, als Baron Friedrich bei der Pferdeauktion den Zuschlag für Silberstern erhalten hatte.
»Ja, ich wollte ihn unbedingt haben – für meine Zucht. Ich bin übrigens Friedrich von Kant, wir wohnen auf Schloss Sternberg, meine Familie und ich.«
»Ich weiß«, erwiderte der junge Mann lächelnd und stellte sich nun ebenfalls vor: »Arndt von Claven, ich vertrete zurzeit Dr. Küppers. Meinen ersten Besuch auf Sternberg habe ich bereits hinter mir und bei der Gelegenheit Ihren Stallmeister kennengelernt.«
»Freut mich sehr, Herr Doktor!« Friedrich reichte dem sympathischen Arzt die Hand. »Dr. Küppers wird ja wohl für eine ganze Weile ausfallen, nicht wahr?«
»Sieht so aus, ja. Für ihn tut es mir natürlich leid, aber für mich ist das eine Riesenchance.«
»Und trotz der vielen Arbeit haben Sie Zeit, sich auf einer Pferdeauktion umzusehen?«
Arndt lachte. »Ich komme gerade von einem Noteinsatz zurück, Sie werden es nicht glauben. Sonst wäre ich bestimmt nicht hier, aber ich muss praktisch am Auktionsgelände vorbeifahren, um nach Hause zu kommen, da wäre es doch dumm gewesen, nicht wenigstens kurz anzuhalten, meinen Sie nicht?«
»Ich bin jedenfalls froh, dass Sie es getan und wir uns auf diese Weise kennengelernt haben«, erklärte der Baron. »Wenn Sie uns demnächst wieder einen Besuch abstatten, werden Sie dann auch Silberstern untersuchen dürfen.«
»Es wird mir ein Vergnügen sein. Ich denke übrigens, Sie sollten ihn im Auge behalten, er scheint mir sehr nervös zu sein. Er hat jetzt, wie ich hörte, einige Male den Besitzer gewechselt, weil die Leute Pferde heutzutage offenbar vor allem als Kapitalanlage sehen – das hat ihm jedenfalls nicht gut getan. Er braucht Ruhe. Und ein zuhause, auch wenn das sentimental klingen mag. Er weiß nicht, wohin er gehört.«
Friedrich hatte dieser Rede eines noch sehr jungen Mannes mit wachsendem Erstaunen zugehört. Die Worte bewiesen ihm, dass Arndt von Claven den richtigen Beruf gewählt hatte: Er sah ein Tier und war sehr schnell im Stande, sich ein Bild von ihm zu machen. Das konnte beileibe nicht jeder. »Ja, ich habe die Nervosität auch wahrgenommen«, bestätigte er nun. »Wenn wir die Rückfahrt hinter uns haben, wird Silberstern so viel Ruhe haben, wie er benötigt. Außerdem hat er auf Sternberg viel Auslauf, auch das wird dazu beitragen, sein Befinden zu verbessern.«
»Ich wünsche Ihnen viel Glück mit ihm«, sagte Arndt zum Abschied. »Und jetzt will ich nachhause, Herr von Kant – mir geht es nämlich wie Ihrem Hengst: Ich sehne mich nach Ruhe.«
Sie lächelten beide, als sie sich zum Abschied die Hände schüttelten. Es war eine angenehme Begegnung gewesen, der sicherlich weitere folgen würden.
*
»Magst du sie?«, fragte Anna.
Christian und sie saßen im letzten Pferdestall, der nur noch als Abstellraum genutzt wurde, deshalb waren sie hier in der Regel unter sich und zogen sich immer dann hierher zurück, wenn sie ungestört miteinander reden wollten.
»Ich weiß nicht«, antwortete der kleine Fürst ein wenig nachdenklich. »Eigentlich ist Julietta nett, glaube ich, aber sie benimmt sich seltsam.«
»Sie schmatzt«, stellte Anna fest, »und sie ist nicht nett zu Herrn Hagedorn. Das nehme ich ihr am meisten übel. Und wie sie immer rumläuft! Sie ist schon einundzwanzig, aber wenn Mama nicht von ihr verlangte, dass sie sich umzieht, würde sie sich glatt in ihren dreckigen Klamotten zu uns an den Tisch setzen. Dabei stinken ihre Sachen wie verrückt, das muss sie doch eigentlich merken? Ich meine, natürlich stinken sie, wenn man Ställe ausmistet, das weiß jeder.«
»Es ist ihr wohl gleichgültig«, vermutete Christian. »Ich glaube, sie fühlt sich hier ziemlich allein.«
»Das müsste sie aber gar nicht, wenn sie sich anders benähme.« Aus Anna sprach die tiefe Enttäuschung einer Dreizehnjährigen, die sich vor Juliettas Besuch einen Ersatz für die nicht vorhandene ältere Schwester erhofft hatte und sich nun bitter enttäuscht sah. Die junge Frau hatte mit Anna und Christian bisher keine zehn Sätze gewechselt. Sie sah meistens mürrisch aus und wirkte in sich gekehrt. »Sie ist ein richtiger Trampel, Chris, da kannst du sagen, was du willst. Sie sieht wie ein Trampel aus, und sie benimmt sich auch so. Und sie riecht so.«
Er hätte ihr gern widersprochen, musste ihr im Stillen aber Recht geben. Es gab wirklich nicht allzu viel, was für Julietta sprach. Dennoch sagte er: »Ganz so schlimm ist es nicht.«
Doch Anna war nicht in der Stimmung für Kompromisse. »Doch!«, erklärte sie mit Nachdruck. »Es ist genauso schlimm, wie ich gesagt habe. Du brauchst sie überhaupt nicht zu verteidigen!«
Togo kam hereingefegt, blieb direkt vor ihnen stehen und bellte auffordernd. »Ja, ja, wir kommen schon, Togo«, sagte Christian, nachdem er dem Boxer den Hals gekrault hatte. »Du langweilst dich wohl ohne uns, was? Mal sehen, ob wir ein schönes Stöckchen für dich finden.«
Dieses Wort genügte, um Togo wieder nach draußen rasen zu lassen, wo er ein wildes Gebell anstimmte, bis Anna und Christian endlich erschienen und sich anschickten, ihn nach Herzenslust durch den Park zu jagen, indem sie ihm die geliebten Stöckchen warfen.
*
»Trampel« hatte Anna sie genannt. Julietta lehnte mit geschlossenen Augen an der Stallwand. Sie hatte unfreiwillig gelauscht, denn ihr war nicht klar gewesen, dass dieser verlassene Stall nicht nur ihr gelegentlich als Zuflucht diente, sondern auch Anna und Christian – und so hatte sie also erfahren, wie sie von den Teenagern auf Schloss Sternberg gesehen wurde.
War sie das, ein Trampel? Seltsam, früher hatten solche Fragen sie nicht interessiert, aber seit sie hier war, schien es plötzlich wichtiger zu sein, was andere Menschen über sie dachten. Und eins wusste sie plötzlich mit absoluter Gewissheit: Ein Trampel wollte sie nicht sein, und stinken wollte sie natürlich auch nicht.
Sie war nicht besonders eitel – wozu auch? Heiraten würde sie ohnehin nie, und bisher hatte sie es eher lächerlich gefunden, wenn sie ihre Schwester Bettina beim Schminken überrascht hatte. Was für ein Aufwand, bloß um ein Bild zu erzeugen, das mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmte! Sie hatte sich immer viel auf ihre Ehrlichkeit zugute gehalten – und dazu gehörte für sie auch ein ungeschminktes Gesicht. So machte man niemandem etwas vor.
Aber das, was sie beim Lauschen gehört hatte, verunsicherte sie nun doch und zwar so sehr, dass sie an sich halten musste, um nicht zu weinen. Immerhin hatte der kleine Fürst einen halbherzigen Versuch gemacht, seiner Cousine zu widersprechen, aber im Grunde war er wohl ihrer Meinung.
Und wie sah es bei Tante Sofia und Onkel Fritz aus? Bei Konrad? Oder bei Herrn Hagedorn, von dem Anna gesagt hatte, dass sie, Julietta, ihn schlecht behandelte? Sie war sich keiner Schuld bewusst gewesen, bis sie Annas Worte gehört hatte. Nun fiel ihr ein, dass sie wirklich nicht besonders freundlich zu ihm gewesen war, weil sie keinen Anlass dazu gesehen hatte. Dabei war ihr und ihren Geschwistern von den Eltern vermittelt worden, dass Hochmut eine vollkommen inakzeptable Haltung war. War sie hochmütig?
Ein hochmütiger Trampel, dachte sie und hätte über diese Absurdität beinahe gelacht, obwohl ihr die Augen voller Tränen standen.
Als sie den Stall verließ, sah sie sich rasch nach allen Seiten um. Die beiden Jugendlichen und Togo hatten mittlerweile das Schloss erreicht. Rasch schlug sie einen großen Bogen und schaffte es, unbemerkt durch einen Hintereingang ins Gebäude zu schlüpfen. Auch ihre Suite erreichte sie ungesehen.
Dort angekommen zog sie sich aus und stellte sich lange unter die Dusche. An diesem Abend würde sie niemandem einen Anlass bieten, sie einen Trampel zu nennen.
*
»Die erste Woche ist um, Caro«, stellte Adalbert von Barrentrop fest, »und Julietta ist noch immer auf Sternberg. Ich sage das nur, weil ich finde, es ist zumindest ein kleiner Erfolg.«
»Aber?«, fragte sie besorgt. »Du hast doch mit Friedrich gesprochen, oder?«
»Ja, das habe ich. Er war offen zu mir und hat zugegeben, dass es schwierig ist mit unserer Jüngsten.«
»In welcher Hinsicht?«
Adalberts Gesicht verzog sich zu einer komischen Grimasse. »Wie erwartet: in jeder Hinsicht, Caro. Sie eckt bei ihren Kolleginnen und Kollegen an, weil sie denkt, sie ist etwas Besonderes. Sie ist unpünktlich, arbeitet schleppend, wenn
ihr die Arbeit nicht zusagt, und sie lässt sich nur ungern etwas sagen. Sie zeigt schlechte Manieren, besonders bei den Mahlzeiten, was für Sofia wohl eine ziemliche Herausforderung darstellt. Und sie kann sich nicht unterordnen, immer wieder vergreift sie sich dem Stallmeister gegenüber im Ton.«
»Und?«, fragte Caroline angstvoll weiter.
»Fritz meinte, sein sonst so strenger Stallmeister sei der Ansicht, unsere Tochter habe einen guten Kern – und deshalb hat er mehr Geduld als üblich. Aber viel darf sie sich wohl nicht mehr leisten.« Adalbert machte eine kurze Pause. »Sie hat ein gutes Gespür für Pferde, hat Fritz gesagt, und das ist ihr größtes Plus. Mit den Pferden scheint sie nichts falsch zu machen.«
Caroline wagte es, vorsichtig aufzuatmen, aber ihre Besorgnis kehrte schnell zurück. »Zeigt sie Veränderungen in ihrem Verhalten? Hat Fritz sich dazu geäußert, Bert?«, fragte sie.
»Es scheint nicht so zu sein. Sie ist wohl noch immer ganz die Julietta, die wir kennen.« Adalbert schloss seine Frau in die Arme. »Aber wenn selbst der strenge Stallmeister erkennt, dass sie Qualitäten besitzt, dann sollten wir die Hoffnung wohl noch nicht aufgeben, denke ich. Eines Tages wird der Edelstein zum Vorschein kommen, der sie in Wirklichkeit ist.«
Sie lehnte sich mit geschlossenen Augen an ihn. Wenn er doch nur Recht behielte!
*
Julietta spürte, dass die Blicke der anderen forschend auf ihr ruhten, aber sie tat, als bemerkte sie sie nicht. Sie hatte sich die Haare gekämmt, einen Rock und eine Bluse angezogen, und sie saß aufrecht am Tisch, ohne den linken Unterarm in seiner ganzen Länge neben ihrem Teller zu lagern. Zwar trug sie selbstverständlich noch immer kein Make-up, aber sie hatte sich selbst ziemlich fremd gefunden nach einem eingehenden Blick in den Spiegel. Dass eine veränderte Frisur und andere Kleidung eine solche Wirkung erzielen konnten, hatte sie aufrichtig verblüfft.
Einerseits freute sie die stumme Verwunderung der anderen, andererseits verstärkte es ihre Verunsicherung, und so war sie froh, als Friedrich begann, von der Auktion zu erzählen, auf der er den Hengst Silberstern erworben hatte. »Ein tolles Pferd«, freute er sich. »Übrigens habe ich bei der Gelegenheit den Vertreter von Dr. Küppers kennengelernt. Er hat mich darauf hingewiesen, dass Silberstern ziemlich nervös ist, und er vermutete, dass das am häufigen Besitzerwechsel in der letzten Zeit liegen könnte.
Netter Mann, der junge Herr Doktor.«
»Es stimmt, dass Silberstern nervös ist«, sagte Julietta und wünschte im nächsten Moment, sie hätte den Mund gehalten. Sie beteiligte sich doch sonst auch kaum an den Unterhaltungen bei Tisch – warum also machte sie ausgerechnet heute, da Anna sie »Trampel« genannt hatte, eine Ausnahme?
»Du hast das also auch festgestellt, Julietta?«, fragte Friedrich.
»Ja, er hatte offenbar richtig Angst zuerst, aber nach einer Weile ist er zutraulicher geworden. Wir müssen Geduld mit ihm haben«, erklärte Julietta.
»Du scheinst ja trotzdem gut mit ihm zurecht gekommen zu sein«, stellte der Baron fest.
Und wieder rutschte Julietta etwas heraus, was sie eigentlich gar nicht hatte sagen wollen. »Wir sind uns ähnlich, Onkel Fritz.«
Nach dieser überraschenden Äußerung herrschte tiefes Schweigen am Tisch, während sich lauter aufmerksame Blicke auf Julietta richteten. Sie spürte, dass sie rot wurde und suchte verzweifelt nach einem Satz, den sie sagen könnte, um die Stille zu vertreiben, doch dieses Mal war es der kleine Fürst, der sie rettete. Mit ruhiger Stimme fragte er seinen Onkel: »Wäre es dann nicht gut, Onkel Fritz, dass sich vor allem Julietta um Silberstern kümmert? Wenn er Vertrauen zu ihr hat, gewöhnt er sich bestimmt schneller ein.«
Der Baron nickte. »Wäre dir das recht, Julietta? Dann rede ich morgen mit Herrn Wenger und frage ihn, was er von diesem Vorschlag hält.«
Die Röte auf Juliettas Gesicht vertiefte sich, aber ihre Augen leuchteten. Sie bemühte sich zwar, ihrer Freude nicht allzu deutlich Ausdruck zu verleihen, doch das gelang ihr nicht, denn der Jubel in ihrer Stimme war unüberhörbar: »Natürlich wäre mir das recht, Onkel Fritz!«
Danach wurde das Thema gewechselt, aber es gab niemanden am Tisch, dem nicht klar gewesen wäre, dass sich bei diesem Abendessen etwas Bemerkenswertes ereignet hatte: Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft war Julietta beinahe normal gewesen.
*
»Sie lächeln ja so, Herr Hagedorn«, stellte Marie-Luise Falkner, die begabte junge Köchin auf Sternberg, fest. »Was ist denn geschehen?«
»Ein Wunder«, erwiderte der alte Butler. »Anders kann man es nicht nennen.«
»Hat es etwas mit unserem Gast zu tun?«, fragte Marie-Luise mit leiser Stimme, damit die Küchenhilfen sie nicht hören konnten.
Er nickte. »Die junge Dame hat sich heute zum ersten Mal von ihrer sympathischen Seite gezeigt, Marie. Es besteht also Anlass zur Hoffnung.«
»Sie haben ja die ganze Zeit gesagt, dass sie nicht so ist, wie wir alle denken. Sie hatten also offenbar mal wieder Recht, Herr Hagedorn.«
Er lächelte verschmitzt. »Ich würde es mir wünschen, Marie. Die Herrschaften waren übrigens wieder außerordentlich zufrieden mit Ihren Kochkünsten – Sie sehen es daran, dass praktisch nichts übrig geblieben ist.«
»Ach, Herr Hagedorn, ich wünsche mir nichts sehnlicher als wieder einmal eine richtig große Gesellschaft auf Schloss Sternberg«, seufzte Marie. »Etwas, das mich herausfordert.«
»Das kommt vielleicht schneller, als Sie denken, Marie.« Er wandte sich zum Gehen. »Die Frau Baronin und der Herr Baron sitzen noch in der Bibliothek, alle anderen haben sich bereits verabschiedet. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, Marie, falls wir uns nicht mehr sehen.«
»Gute Nacht, Herr Hagedorn.«
Er eilte in die Bibliothek, musste aber feststellen, dass seine Dienste nicht gebraucht wurden, denn Sofia und Friedrich waren in ein intensives Gespräch vertieft. Dennoch dachte er nicht daran, sich bereits in seine Privaträume zurückzuziehen. Er war derjenige auf Schloss Sternberg, der als Letzter schlafen ging – so war es, seit er hier in Diensten stand, und so würde es bleiben.
*
Christian war noch mit auf Annas Zimmer gegangen, denn natürlich mussten sie über die veränderte Julietta reden, die sich ihnen an diesem Abend gezeigt hatte. Was war davon zu halten? Sie hatten eben begonnen, sich darüber auszutauschen, als es zaghaft an Annas Tür klopfte.
Das konnte nur Herr Hagedorn sein, und so rief Anna: »Herein!«
Doch sie und Christian erlebten eine Überraschung, denn als sich die Tür öffnete, stand nicht der Butler vor ihnen, sondern Julietta.
Anna rutschte ein überraschtes »Oh!« heraus. Es war das erste Mal seit ihrer Ankunft auf Sternberg, dass Julietta an ihre Tür geklopft hatte. »Was …, ich meine, ist etwas passiert?«
Christian betrachtete Julietta aufmerksam. Sie wirkte unglaublich verändert dadurch, dass sie ihre langen blonden Haare gewaschen und gekämmt hatte. Sie fielen ihr in lockeren Wellen bis auf die Schultern und verdeckten nicht, wie sonst, das halbe Gesicht. Es war ein bemerkenswert schönes Gesicht, das hatte er bereits während des Abendessens festgestellt.
»Du hast mich ›Trampel‹ genannt«, erwiderte Julietta.
Anna lief rosarot an, schaffte es aber trotzdem, angriffslustig zu reagieren.
»Hast du uns belauscht?«, fragte sie.
»Unfreiwillig, ja«, gestand Julietta. »Ich war schon öfter in dem alten Stall, weil man da ungestört ist.«
»Deshalb gehen wir da auch hin«, warf Christian in dem Bemühen ein, der Situation ein wenig von ihrer Schärfe zu nehmen.
»Jedenfalls war ich in der Nähe, als ich gemerkt habe, dass ich nicht allein bin. Ich wollte eigentlich gleich wieder gehen, bis ich meinen Namen hörte, da bin ich geblieben. Es war … ziemlich hart, wie ihr euch über mich geäußert habt.«
»Willst du dich nicht setzen?«, fragte der kleine Fürst, bevor Anna etwas erwidern konnte. »Dann erklären wir dir, warum wir so über dich denken.«
Julietta zögerte, nahm den Vorschlag dann aber an.
Anna verzog das Gesicht, es war schließlich ihr Zimmer, und sie hätte Julietta von sich aus nicht zum Platznehmen eingeladen, doch sie leistete keinen Widerstand – es war ja jetzt sowieso zu spät. Sie sah keinen Anlass, etwas von ihren Worten zurückzunehmen, und so begann sie, Julietta zu erläutern, warum sie sich so geäußert hatte.
Julietta hörte ihr schweigend zu. Eigentlich, stellte sie fest, unterschied sich das, was Anna jetzt sagte, nicht so sehr von dem, was sie sich schon oft von ihren Eltern hatte anhören müssen, und doch gab es einen Unterschied: Dieses Mal hörte sie freiwillig zu – ja, sie hatte, indem sie an die Tür von Annas Zimmer geklopft hatte, in gewisser Weise sogar um diese Erklärungen gebeten.
»So, jetzt weißt du Bescheid«, sagte Anna endlich. »Und ich will dir noch was sagen: Ich hatte mich gefreut, dass du kommst, weil ich nämlich gern eine große Schwester hätte, mit der ich über Dinge reden kann, die man nur mit Frauen bespricht. Aber du hast von Anfang an klar gemacht, dass du mit uns überhaupt nichts zu tun haben willst. Du hast immer nur deine Rolle gespielt.«
»Welche Rolle denn?«, fragte Julietta.
»Na, die Frau, die sich an keine Regeln hält und sich deshalb nicht mal die Hände waschen muss, bevor sie sich zum Essen an einen Tisch setzt. Du kommst dir ganz toll und unabhängig vor, aber in Wirklichkeit bist du bloß rücksichtslos und egoistisch.«
Christian sah, dass Julietta ziemlich blass um die Nase geworden war, und es kam ihm außerdem so vor, als hätte sie Mühe, die Tränen zurückzuhalten. »Das reicht jetzt, Anna«, sagte er ruhig. »Jetzt mach du nicht den gleichen Fehler und werde auch rücksichtslos.«
»Wieso denn ich? Ich habe doch nur …«
Christian unterbrach sie. »Julietta hat schon verstanden, dass wir einiges an ihr zu kritisieren haben.«
Julietta wusste nur eins: Wenn sie nicht vor den beiden in Tränen ausbrechen wollte, dann musste sie jetzt gehen – und so sprang sie auf. »Stimmt, ich habe es verstanden«, sagte sie mit gepresster Stimme und ging eilig zur Tür. »Gute Nacht!«, murmelte sie, ohne Anna und Christian noch einmal anzusehen. Im nächsten Augenblick war sie auch schon draußen.
»Tut mir leid, ich wollte sie doch nicht fertigmachen«, sagte Anna verlegen. »Ich habe mich nur die ganze Zeit so über sie geärgert, weil wir es so toll hätten haben können, während sie hier ist.«
»Ich schätze mal, ganz so hat sie deine Worte nicht aufgefasst«, erwiderte Christian nachdenklich. »Eins steht jedenfalls fest, Anna, sie ist netter, als wir dachten, aber sie kann nicht so schnell aus ihrer Haut heraus.«
Sie wechselten einen langen Blick. »Du meinst, wir sollen ihr ein bisschen helfen?«, fragte Anna.
»Ja, ich schätze, das sollten wir tun«, erwiderte der kleine Fürst.
*
»Tut mir leid, dass ich Sie umsonst gerufen habe, Herr Doktor!«, sagte Robert Renninger. »Aber ich dachte, es geht los bei meiner zweiten Kuh.«
»Macht nichts«, erwiderte Arndt, obwohl ihn der Anruf des Bauern zu nachtschlafender Zeit aus dem Tiefschlaf gerissen hatte. »Kann ja mal vorkommen.«
Der alte Bauer grinste. »Aber besser nicht allzu oft, oder? Sonst stehen Sie die Vertretung nicht lange durch, Herr Doktor. Nichts für ungut. Darf ich Ihnen etwas anbieten? Es ist jetzt vier, da lohnt es sich für mich sowieso nicht mehr, wieder ins Bett zu gehen.«
»Für mich eigentlich auch nicht«, stellte Arndt bedauernd fest. »Wenn Sie einen Kaffee hätten?«
»Und frische Brötchen!«, sagte Robert Renninger stolz.
»Um diese Zeit? Das ist unmöglich!«
»Eingefroren und frisch aufgebacken – speziell für harte Nächte wie diese, Herr Doktor.«
Und so kam es, dass Arndt um halb fünf morgens in Bauer Renningers Küche saß und frühstückte. Er erfuhr viel Wissenswertes über die Arbeit von Dr. Küppers, über die Tiere der Umgebung – und über den Stolz aller Leute der Umgebung auf ›ihr‹ Schloss Sternberg und die Fürstenfamilie. »Dazu gehören jetzt natürlich auch die Barone von Kant«, sagte der Bauer nachdenklich, »weil sie ja unseren kleinen Fürsten aufziehen. Die machen das schon richtig, tolle Leute sind das, Herr Doktor, das dürfen Sie mir glauben.«
»Baron von Kant habe ich gerade kennengelernt«, erzählte Arndt. »Er hat einen neuen Hengst gekauft, auf einer großen Auktion. Sympathischer Mann.«
»SEHR sympathisch«, betonte Robert Renninger. »Unseren kleinen Fürsten kennen Sie also noch nicht?«
»Nein, aber ich bin gespannt darauf, seine Bekanntschaft zu machen – ich hoffe, die Gelegenheit wird sich bald ergeben.«
Gegen fünf Uhr verabschiedete sich Arndt. Er fühlte sich nach dem anregenden Frühstück trotz der zu kurzen Nachtruhe frisch und ausgeruht, ja, er freute sich sogar auf den vor ihm liegenden Tag.
*
Bettina von Barrentrop gab einer Laune nach, als sie einen Tag später auf dem Weg zu einer Freundin einen Abstecher nach Sternberg machte. Sofia empfing sie, denn Friedrich war unterwegs, Julietta arbeitete, und Anna, Christian und Konrad waren in der Schule.
»Was für eine reizende Überraschung, Tina«, sagte sie, während sie sich im Stillen fragte, wie zwei Schwestern so unterschiedlich sein konnten. Bettina sah hübsch und gepflegt aus, sie wusste sich zu benehmen, und nichts an ihr schien auf eine Verwandtschaft mit der ungebärdigen Julietta hinzuweisen.
»Ich dachte, ich könnte meiner kleinen Schwestern wenigstens schnell mal guten Tag sagen, Tante Sofia – oder kommt das jetzt ungelegen?«
»Sie arbeitet, Tina«, erwiderte Sofia vorsichtig. »Und wir haben einen strengen Stallmeister. Private Besuche während der Arbeitszeit sind nicht vorgesehen, wie du dir vorstellen kannst. Wenn alle Pferdepfleger …«
»Schon gut, entschuldige bitte, Tante Sofia, es war eine dumme Idee.«
»Nein, warte bitte. Ich werde Herrn Wenger anrufen und hören, was er dazu zu sagen hat.«
Sie wählte eine interne Nummer, gleich darauf erklärte sie dem Stallmeister die Situation. Als sie das Gespräch beendet hatte, wandte sie sich lächelnd Bettina zu. »Du kannst sie begrüßen, hat er gesagt, Julietta hat sowieso noch keine Pause gemacht, das passt also. Mich musst du allerdings entschuldigen, Tina, ich habe noch einige Verpflichtungen.«
»Du musst dich nicht um mich kümmern, Tante Sofia – wenn ich hier so unangemeldet aufkreuze, kann ich nicht erwarten, dass ihr Zeit für mich habt. Ich fahre dann auch gleich wieder. Sag mir nur, wo ich Julietta finde.«
Sofia erklärte ihr den Weg zu den Ställen, dann verabschiedete sie sich mit einer Umarmung von der jungen Frau, um die Damen eines Wohltätigkeitsvereins zu begrüßen, die schon auf sie warteten.
Bettina überquerte also den Schlosshof und erreichte die Ställe in dem Augenblick, da die Pfleger in die Pause gingen. Sie wurde höflich gegrüßt, aber nicht weiter beachtet. Es kam häufiger vor, dass Gäste der Schlossbewohner die Ställe besichtigten, und sie war ganz offensichtlich ein Gast.
Als Julietta erschien und in der eleganten jungen Frau vor dem Stall ihre Schwester erkannte, erstarrte sie. Sie hätte nicht erklären können, warum Bettinas Anwesenheit auf Sternberg sie störte – erst später begriff sie, dass Sternberg für sie zu diesem Zeitpunkt bereits etwas Besonderes war, das sie mit ihrer Familie nicht teilen wollte. Es war ein Bereich, in dem sie sich durchzusetzen versuchte, und bei diesen Versuchen wollte sie von niemandem, der zu ihrem Familienleben gehörte, beobachtet werden.
»Na, Kleine«, sagte Bettina lächelnd. »Du siehst ja schon wie ein echter Pferdepfleger aus.«
Die Bemerkung war nett gemeint, kam jedoch bei Julietta, die noch ganz verunsichert war wegen Annas offener Kritik am Abend zuvor, vollkommen anders an. Sie fuhr sofort die Stacheln aus. »Wie immer also – ist es das, was du damit sagen wolltest? Was willst du überhaupt hier?«
»Dich besuchen«, antwortete Bettina gekränkt. »Ich dachte, du würdest dich freuen, jemanden aus der Familie zu sehen. Wir fragen uns natürlich alle, wie du hier zurechtkommst, und deshalb …«
Auch diese Worte waren nur dazu angetan, Julietta noch mehr gegen ihre Schwester aufzubringen.
»Ich brauche keinen Babysitter«, rief sie wütend, »und ich brauche auch niemanden, der sich Sorgen um mich macht. Verzieh dich, Tina, ich komme sehr gut allein zurecht.«
»Meine Güte, du hast dich wirklich kein bisschen verändert«, stellte Bettina fest, die allmählich auch zornig wurde. »Immer noch die alte Julietta, die nicht zufrieden ist, bevor sie nicht jeden Menschen in ihrer Umgebung gegen sich aufgebracht hat. Weißt du was? Geh doch zum Teufel!« Mit diesen wenig damenhaften Worten drehte Bettina sich um und rauschte davon.
In ohnmächtigem Zorn sah Julietta ihr nach. Gerade hatte sie angefangen, sich ein wenig wohl auf Sternberg zu fühlen, weil Onkel Fritz vorschlagen wollte, ihr Silberstern anzuvertrauen. Und auch wenn Annas Worte am vergangenen Abend sie hart getroffen hatten: Das Mädchen war ehrlich gewesen und hatte nicht nur Kritik zum Ausdruck gebracht, sondern auch Bedauern darüber, dass Julietta bisher nicht die erhoffte ›große Schwester‹ gewesen war. Die Kritik hatte hart geklungen, aber da war eine Tür offen geblieben, durch die Julietta noch immer gehen konnte …
Und ausgerechnet jetzt musste Bettina kommen und alles zunichte machen mit ihren dummen Bemerkungen, die Julietta an das erinnerten, was sie hinter sich lassen wollte. Ausgerechnet jetzt!
»He, Julietta, die Pause ist vorbei, falls du das noch nicht bemerkt hast!«, sagte eine Stimme hinter ihr. Sie gehörte Harry Wohlert, einem der Pferdepfleger.
Ohne nachzudenken wiederholte sie Bettinas letzte Worte: »Geh doch zum Teufel!«
»Wie bitte? Sag mal, spinnst du jetzt völlig? Wir haben einen Haufen Arbeit, und jede Minute, die du hier herumstehst und träumst, müssen wir alle zusammen nacharbeiten – ist dir das nicht klar?«
Sie drehte sich zu ihm um, das Gesicht weiß vor Zorn. Sie sah nicht Harry Wohlert vor sich, ihren Kollegen, mit dem sie bisher eigentlich recht gut ausgekommen war, sondern die elegant gekleidete Bettina, in der die Pferdepfleger automatisch einen Schlossgast erkannt hatten, während sie selbst diese Rolle natürlich niemals würde ausfüllen können. Grelle Blitze durchzuckten ihr Gehirn, sie konnte nicht mehr klar denken, der Zorn nahm ihr den Atem. »Halt die Klappe und lass mich in Ruhe, du Idiot«, fuhr sie Harry an. »Du hast mir hier überhaupt nichts zu sagen, verstanden? Du bist schließlich nicht …«
Ihr wurde das Wort abgeschnitten, aber nicht von dem völlig verdatterten Harry, sondern von Robert Wenger, dem Stallmeister, der plötzlich vor ihr stand, als wäre er aus der Erde gewachsen. »Julietta, in mein Büro!«, kommandierte er mit undurchdringlichem Gesicht. »Harry, geh zurück an die Arbeit.« Ohne weiteres Wort drehte er sich um und ging voran.
Juliettas Zorn löste sich schlagartig auf, als sie ihm folgte. Sie konnte auch wieder klar denken und wusste plötzlich mit absoluter Sicherheit, was nun folgen würde: Sie würde fliegen und mit Schimpf und Schande zu ihren Eltern zurückgeschickt werden. Sie fühlte sich schwach, am liebsten hätte sie sich in eine Ecke verzogen und geweint. Jetzt, wo ihr etwas daran lag, dass sie bleiben konnte, jetzt würde man sie fortjagen …
»Was fällt dir ein, so über Harry herzufallen?«, fragte Robert Wenger, nachdem er die Tür seines Büros hinter ihnen beiden geschlossen hatte. »Du hast ihn einen Idioten genannt, wie ich hörte – ich dulde so etwas in meinem Team nicht, und das weißt du. Außerdem hast du dich im Ton vergriffen, so spricht man mit niemandem, den man respektiert – und dass ich Respekt im Umgang miteinander erwarte, habe ich dir von Anfang an gesagt.«
Er sah sie an, und sie erkannte plötzlich, dass ihr nur die Wahrheit noch helfen konnte. Wenn sie noch eine letzte Chance bekommen wollte, musste sie ihm sagen, was zu ihrem Ausfall geführt hatte. »Es hatte gar nichts mit Harry zu tun«, sagte sie und wunderte sich darüber, dass ihr die Worte so klar und deutlich über die Lippen kamen. »Sondern mit meiner Schwester, die plötzlich hier aufgetaucht ist. Die schöne und elegante Bettina, die mir mitgeteilt hat, dass die ganze Familie sich Sorgen um mich macht, ob ich es hier auch packe und so …« Sie verstummte und fuhr dann leiser fort: »Ich hätte sie erwürgen können, ehrlich.«
»Und weil sie nicht mehr da war, hast du dich an Harry abreagiert?«, fragte Robert Wenger.
»Ja«, antwortete Julietta. »Aber als ich es gemacht habe, wusste ich das nicht, Herr Wenger, das ist mir jetzt eben erst klar geworden, als Sie mir gesagt haben, dass ich mich unmöglich benommen habe. Ich war einfach nur stinkwütend, ich konnte nicht einmal mehr richtig denken …«
»Ja, dann sagt man gern unentschuldbare Dinge«, bemerkte der Stallmeister. »Wann wirst du das lernen, Julietta? Wenn man wütend ist, hält man besser den Mund und denkt erst einmal nach. Eine einfache Regel.«
»Ich entschuldige mich sofort bei Harry«, sagte Julietta. »Er hat mir überhaupt nichts getan, er muss mich ja für verrückt halten. Dabei habe ich ihn gern, er hat mir bisher die wenigsten Schwierigkeiten von allen gemacht, nicht mal an den Sticheleien der anderen hat er sich beteiligt. Mann, ich bin vielleicht eine blöde Kuh.«
Sie bemerkte nicht, dass Robert Wenger ein Schmunzeln unterdrücken musste. Endlich begann Julietta von Barrentrop, einige Grundregeln des friedlichen Miteinanders zu begreifen, zudem zeigte sie Ansätze von Selbstkritik. Er freute sich sehr darüber. Laut sagte er jedoch: »Leider kann ich dir in diesem Punkt nicht widersprechen.«
»Sie schmeißen mich raus, oder?«, fragte Julietta. »Sie haben ja gesagt, ich kann mir nichts mehr erlauben, und ich weiß, ich habe es verdient, Herr Wenger. Ehrlich, das weiß ich. Aber ich schwöre Ihnen, wenn Sie mich behalten, dann bessere ich mich. Ich will beweisen, dass ich etwas kann. Ich bin nicht so, wie alle denken.«
»Woher weißt du, was ich denke?«, fragte er ruhig.
»Ich weiß es eben. Seit ich hier bin und sehe, wie die anderen auf mich reagieren, merke ich erst, wie ich wirke: grob und ungehobelt, unbeherrscht, ungepflegt, mit schlechten Manieren …«
»Es liegt allein an dir, das zu ändern, Julietta«, erwiderte der Stallmeister. »Du hast es in der Hand.«
Juliettas Augen füllten sich mit Tränen. »Gerade jetzt, wo ich anfange, einiges zu begreifen, muss Tina hier auftauchen und sich aufspielen«, sagte sie leise. »Ich hätte eine gute Pferdepflegerin werden können, Herr Wenger, das weiß ich jetzt. Und vielleicht …«
»Vielleicht was?«, erkundigte er sich, als sie nicht weitersprach.
»Vielleicht hätte ich dann endlich meinen Platz gefunden.« Bereits im Gehen setzte sie hinzu: »Es tut mir wirklich leid.«
»Moment noch«, sagte Robert Wenger. »Du wirst dich ab sofort besonders um Silberstern kümmern, da du diejenige bist, vor der er am wenigsten Angst zu haben scheint. Ich kläre das mit den anderen. Und jetzt geh und entschuldige dich bei Harry.«
Nie würde er ihr Gesicht vergessen, als sie begriff, dass sie bleiben durfte. Die Tränen liefen ihr über das Gesicht, sie merkte es nicht einmal. Ihr Mund öffnete sich, sie wollte etwas sagen, doch sie brachte kein Wort heraus. »Nun geh schon!«, wiederholte er und nahm hinter seinem Schreibtisch Platz, um ihr zu zeigen, dass das Gespräch beendet war. Wenn sie ihn noch länger so ansah, würde sie ihm schließlich noch anmerken, dass ihre Reaktion ihn rührte – und das konnte seinem Ruf als strenger Stallmeister nur schaden.
Endlich drehte sie sich um und rannte hinaus. Er hörte ihre schnellen Schritte auf dem Hof und lächelte still. Der Knoten war geplatzt, auf die weitere Entwicklung von Julietta von Barrentrop durfte man gespannt sein.
*
»Tina hat erzählt, dass sich Julietta schlimmer aufgeführt hat als je zuvor«, sagte Caroline besorgt zu Baronin Sofia. »Sie ist noch unterwegs, aber vollkommen außer sich. Angeblich hat Julietta sich wie eine Wilde auf sie gestürzt. Bitte, Sofia, sag mir die Wahrheit!«
»Das kann ich nicht, weil ich die Situation nicht erlebt habe, Caro«, erwiderte die Baronin. »Tina war allerdings ziemlich aufgeregt, als sie sich verabschiedete, aber sie wollte mir nicht sagen, was passiert war.«
»Mich macht das krank, Sofia. Das geht jetzt schon seit Jahren so mit Julietta, und nun scheint auch noch der Aufenthalt bei euch, in den wir so große Hoffnungen gesetzt hatten, kein Erfolg zu werden.«
Sofia fand es nun doch an der Zeit, zu widersprechen, und so entgegnete sie: »Wir sehen das nicht so, Caro. Im Gegenteil, es geht eine deutliche Veränderung mit Julietta vor sich. Wir wissen nicht genau, welches der Auslöser war, aber sie gibt sich aufrichtig Mühe, und auch ihr Äußeres ist nicht mehr gar so wild wie zu Beginn ihres Aufenthalts bei uns.«
»Aber warum ist sie denn dann gleich mit Tina aneinandergeraten?«, fragte Caroline. »Wenn sie sich verändert hätte … Ich meine, es war doch nett von Tina, sie zu besuchen, sie hätte sich doch auch darüber freuen können.«
»Ich werde versuchen herauszufinden, was vorgefallen ist«, versprach die Baronin. »An eurer Stelle würde ich mir jetzt erst einmal keine Sorgen machen, Caro. Wie gesagt, wir haben durchaus den Eindruck, dass mit Julietta eine Veränderung zum Positiven vor sich gegangen ist.«
»Du sagst mir doch die Wahrheit, Sofia? Du versuchst jetzt nicht, mich zu schonen, oder?«
»Ganz bestimmt nicht«, beteuerte die Baronin. »Frag Fritz, er wird dir bestätigen, was ich eben gesagt habe.«
Als Juliettas Mutter sich verabschiedete, waren ihr jedoch die Zweifel an der positiven Entwicklung ihrer jüngsten Tochter noch immer deutlich anzuhören. Seufzend legte die Baronin das Telefon zur Seite. Was hatte Julietta denn nun schon wieder angestellt?
*
Julietta verlangsamte ihre Schritte, als sie Harry mit seinen beiden Kollegen Patrick und Kalli zusammenstehen sah. Es war offensichtlich, dass sie von ihr gesprochen hatten, denn sie verstummten, als sie sich ihnen näherte. Bevor sie es sich anders überlegen konnte, stieß sie ihre Entschuldigung hervor: »Es tut mir leid, Harry, ehrlich, ich hatte überhaupt keinen Grund, dich so anzufahren, und es hatte auch überhaupt nichts mit dir zu tun.«
Harrys Gesichtsausdruck veränderte sich ein wenig, die beiden anderen sahen Julietta unverändert finster an. So einfach würde sie also nicht davonkommen, und so erklärte sie noch einmal, was sie so hatte ausrasten lassen. »Bitte, entschuldige«, sagte sie am Schluss ihrer atemlos vorgetragenen Verteidigungsrede. »Das nächste Mal, wenn ich wütend werde, mache ich, was Herr Wenger mir geraten hat. Ich halte erst einmal den Mund.«
Harry grinste, er war sowieso kein Mensch, der einem anderen länger böse sein konnte. Patrick und Kalli machten noch immer ernste Gesichter. »Deine Schwester hat dir doch gar nichts getan«, hielt Patrick Julietta vor. »Es war nett von ihr, dich hier zu besuchen, ich an deiner Stelle hätte mich gefreut.«
»Hättest du nicht!«, rief Julietta. »Ich habe drei überaus wohl geratene Geschwister, meine Schwester ist schön und elegant und wird mir bei jeder Gelegenheit als Vorbild hingestellt. Ich wollte sie überhaupt nicht sehen, ihr Anblick sorgt nur dafür, dass ich mich gleich wieder mies fühle, verstehst du das nicht?«
»Doch«, sagte Kalli plötzlich. »Ich habe einen großen Bruder, den alle immer viel toller finden als mich. Wenn der hierher käme, fände ich das auch nicht gut.« Auch er grinste Julietta jetzt an.
»Aber wehe, du rastest noch mal aus!«, sagte Patrick, und damit war der Fall endgültig erledigt.
Ohne ein weiteres Wort darüber zu verlieren, gingen sie wieder an ihre Arbeit – und zum ersten Mal, seit sie auf Sternberg angekommen war, summte Julietta dabei leise vor sich hin. Wenn sie Harry begegnete, schenkte er ihr jedes Mal ein breites Lächeln, und das führte dazu, dass sie sich besser fühlte als seit sehr langer Zeit.
Es war einfach schön auf Sternberg!
*
»Salva ist unruhig«, stellte Baron Friedrich fest, als er am nächsten Abend mit dem Stallmeister einen Rundgang durch die Ställe machte, wie er es regelmäßig tat. »Aber eigentlich ist es noch ein
bisschen früh, oder?«
»Eigentlich schon, ja«, gab Robert Wenger zu, »aber ihr Verhalten lässt darauf schließen, dass das Fohlen vielleicht früher kommt, als wir dachten. Ich werde heute öfter nach ihr sehen, Herr Baron. Mit Komplikationen ist eigentlich nicht zu rechnen, denke ich.«
»Sie brauchen Ihren Schlaf, Herr Wenger – ohne Sie bricht hier alles zusammen. Teilen Sie einen der Pfleger zum Nachtdienst ein.« Friedrich stockte, bevor er weitersprach. »Julietta zum Beispiel.«
»Ja, daran habe ich auch schon gedacht. Sie macht das übrigens gut mit Silberstern, aber die anderen Pfleger hat er noch immer nicht gern in seiner Nähe, da müssen wir wohl Geduld haben.«
»Was war das übrigens für eine Auseinandersetzung, als ihre Schwester gestern hier war?«, fragte der Baron beiläufig. Seine Frau hatte ihm von Carolines aufgeregtem Anruf berichtet, aber niemand hatte das Zusammentreffen der beiden Schwestern erwähnt, auch Julietta nicht.
»Nicht der Rede wert«, entgegnete Robert Wenger.
»Sie meinen, Sie wollen es mir nicht erzählen?«, bohrte Friedrich nach.
Das Lächeln des Stallmeisters geriet ein wenig schief. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie nicht darauf bestehen würden, Herr Baron. Die Sache ist geklärt und abgehakt.«
»Gut, dann werde ich nicht darauf zurückkommen. Wollen wir den Tierarzt verständigen?«
»Ich rufe ihn an und warne ihn vor«, erklärte Robert. »Wenn wir dann tatsächlich Hilfe brauchen, weiß er schon Bescheid. Und ich rede mit Julietta, dass sie heute Nacht im Stall bleibt. Wollen wir Silberstern noch einen Besuch abstatten?«
»Ja, gern.« Sie näherten sich der Box des neuen Hengstes langsam und vorsichtig, dennoch reagierte er aufgeregt, so dass sie in recht großer Entfernung stehen blieben.
»Ein herrliches Tier«, stellte Robert Wenger voller Bewunderung fest, »hoffentlich gewöhnt er sich bald ein bei uns. Er muss ja auch bewegt werden, Julietta würde ihn gern reiten, aber ich bin dafür, dass wir lieber Vorsicht walten lassen.«
»Wir geben ihm noch Zeit«, entschied der Baron.
Damit war ihr Rundgang beendet, und er kehrte ins Schloss zurück, wo die Familie sich bereits zum Abendessen einfand. »Bin ich zu spät?«, fragte er.
»Nein, nein, gerade rechtzeitig«, antwortete die Baronin.
»Wo bleibt denn Julietta?«, fragte Christian verwundert. »Kommt sie heute nicht zum Essen?«
»Die trächtige Stute ist unruhig, wir rechnen damit, dass das Fohlen früher kommt«, erklärte Friedrich. »Wahrscheinlich bleibt sie gleich drüben.«
»Wir lassen ihr etwas zu essen schicken«, beschloss die Baronin und erteilte Herrn Hagedorn sofort den Auftrag, das in die Wege zu leiten.
»Komisch«, stellte Anna nach einer Weile fest, »zuerst hat mich Julietta gestört, und jetzt fehlt sie mir auf einmal.«
»Mir auch«, stimmte Christian ihr zu.
Sofia und Friedrich wechselten einen zufriedenen Blick. So hatten sie sich das von Anfang an erhofft!
*
Es war zehn Uhr abends, als Arndt von Claven anfing zu gähnen. Eigentlich zu früh für ihn, doch die letzten Nächte waren voller Störungen gewesen. Vielleicht gelang es ihm ja heute wieder einmal, zu acht Stunden Schlaf zu kommen? Andererseits hatte der Stallmeister von Schloss Sternberg angerufen, um ihm zu sagen, dass die trächtige Stute in dieser Nacht wohl ihr Fohlen zur Welt bringen würde, aber er hatte auch hinzugefügt: »Wir rechnen nicht mit Komplikationen, Herr Doktor, ich wollte Sie nur informieren, damit Sie im Falle eines Falles schon Bescheid wissen.« Er hoffte jetzt einfach, dass das Fohlen den Weg auf die Welt ohne ihn finden würde!
Er hatte den Gedanken noch nicht einmal zu Ende gedacht, als sich sein Telefon meldete und Robert Renningers aufgeregte Stimme rief: »Jetzt ist es aber wirklich so weit, Herr Doktor! Und ich glaube, etwas stimmt nicht, die Kuh schreit jedenfalls entsetzlich, und ich brauche Ihre Hilfe.«
»Bin schon unterwegs«, brummte Arndt. Ade, lange Nachtruhe, dachte er. Wenn es tatsächlich Probleme gab, konnte die Geburt sich hinziehen – ganz abgesehen davon, dass ein glückliches Ende nicht garantiert war. Dabei wusste er ja, dass der alte Bauer und seine Familie auf gesunden Nachwuchs bei ihren Tieren dringend angewiesen waren.
Er fuhr zu schnell, aber nicht so, dass es gefährlich gewesen wäre. Um diese Zeit waren die Straßen ohnehin bereits leer, jedenfalls während der Woche.
Robert Renniger kam sofort aus dem Stall gelaufen, als Arndt den Wagen im Hof abstellte. Die Erleichterung über das schnelle Erscheinen des jungen Tierarztes war ihm deutlich anzusehen. »Was für ein Glück, dass Sie so schnell kommen konnten, Herr Doktor!«, stieß er hervor. »Meine Kuh stirbt, wenn ihr nicht bald geholfen wird.«
Arndt folgte ihm eilig in den Stall. Dieses Mal waren die Vermutungen des alten Bauern zutreffend, das erkannte er schnell: Die Kuh war in Gefahr, und etwas stimmte mit dem Kalb nicht. Wenn die Geburt halbwegs gefahrlos für das junge Leben verlaufen sollte, dann musste er so schnell wie möglich herausfinden, wo das Problem lag.
*
»Ruhig, Salva, ruhig«, sagte Julietta und strich der schweißnassen Stute beruhigend über den Hals. »Du wirst schon alles richtig machen, glaub mir. Es ist doch nicht dein erstes Fohlen – und ich habe gehört, dass es nach dem ersten immer leichter wird. Also sei ganz ruhig. Außerdem bleibe ich ja bei dir.«
Die Stute schnaubte und warf den Kopf hoch, dann gab sie ein Geräusch von sich, das Julietta für einen Schmerzenslaut hielt. »Ruhig«, sagte sie wieder, »wenn das Fohlen jetzt schon kommen will, dann wehr dich nicht dagegen. Du schaffst das, ganz sicher.«
Aber etwas stimmte nicht, das spürte sie. Sie war schon dabei gewesen, wenn Fohlen geboren wurden – die Stuten hatten sich anders verhalten als Salva. »Lass mich mal sehen«, sagte sie und drängte sich an dem zitternden massigen Leib entlang zu Salvas Hinterteil. Erschrocken zog sie die Luft ein, als sie sah, dass das Fohlen bereits herausdrängte.
»Julietta? Wo bist du?«
»Das Fohlen kommt!«, rief sie. »Aber ich habe trotzdem das Gefühl, dass etwas nicht stimmt, Herr Wenger, Salva gibt seltsame Geräusche von sich, ich weiß nicht, warum.«
Er drängte sich an Salva vorbei bis zu Julietta vor, und in diesem Augenblick gab die Stute so etwas wie einen Schrei von sich. Gleich darauf erschien in der Öffnung ein kleiner Huf. »Oh, nein!«, rief Julietta. »Das Fohlen liegt verkehrt herum, Herr Wenger.«
»Ich rufe den Tierarzt«, stieß Robert Wenger hervor und zog sein Handy aus der Tasche. Es fiel ihm jedoch zu Boden und landete im nächsten Moment unter einem von Salvas heftig aufstampfenden Hufen. »Mist!«, fluchte er zwischen zusammengebissenen Zähnen.
»Gehen Sie in Ihr Büro und rufen Sie den Arzt!«, flehte Julietta. »Ich bleibe hier und versuche, Salva zu beruhigen.«
Er nickte und drängte sich wieder aus dem Stall.
»Salva, du bekommst Hilfe«, sagte Julietta mit beschwörender Stimme. »Hörst du mich? Halte nur noch ein bisschen durch, wir schaffen das auf jeden Fall!«
Doch während sie redete, erschien der zweite Huf, während die Stute erneut schrie. Verzweifelt versuchte Julietta sich daran zu erinnern, was in solchen Situationen getan werden musste. Tierärzte versuchten, ein Fohlen im Mutterleib zu drehen, das hatte sie sogar schon einmal gesehen, aber natürlich konnte sie das nicht, sie hatte keine Ahnung, wie so etwas zu bewerkstelligen war. Was aber passierte, wenn das Fohlen nicht gedreht wurde? Wenn der Kopf zu lange im Mutterleib feststeckte?
Mit einem Mal wurde sie ganz ruhig. Sie konnte nicht warten, bis der Tierarzt kam, das wurde ihr klar. Sie musste selbst handeln, es war ja sonst niemand da. Und alles, was sie tun konnte, war: Sie musste Salva helfen.
»Ich ziehe es heraus, Salva«, sagte sie mit entschlossener Stimme. »Hast du gehört? Ich ziehe es heraus, aber du musst mir helfen. Also los!« Beherzt griff sie zu, bekam zwei dünne Beinchen zu fassen und zog. Zuerst spürte sie Widerstand, dann schien Salva zu begreifen, was Julietta vorhatte, denn sie half mit, und gleich darauf flutschte der halbe Fohlenkörper aus ihr heraus. »Gut so!«, rief Julietta. »Das machen wir jetzt gleich noch einmal, Salva, dann ist es wahrscheinlich schon draußen. Allerdings wird es jetzt ein bisschen schwierig, weil wir ja noch zwei Beine und den Kopf haben. Versuch es, bitte!« Sie zog erneut, und wieder half Salva mit. Das Fohlen rutschte noch ein Stück weiter aus dem Mutterleib, aber noch immer war der Kopf nicht zu sehen.
»Jetzt oder nie!«, sagte Julietta entschlossen. Es kümmerte sie nicht, dass sie mittlerweile vollkommen mit Blut verschmiert war, tief griff sie in Salvas Leib, umfasste den glitschigen Teil des Fohlens, der noch in Salva steckte und zog mit aller Kraft.
Die Stute schrie auf – es klang wie der Schrei eines Menschen. Das war Juliettas letzter Gedanke, als sie unvermittelt hintenüber fiel.
*
Schwer atmend sagte Arndt: »Geschafft, Herr Renninger. Es lebt. Wenn wir es jetzt noch dazu bringen, dass es trinkt, hat es gute Chancen, ein kräftiges gesundes Kalb zu werden.«
Der alte Bauer wischte sich den Schweiß vom Gesicht. »Gute Arbeit, Herr Doktor, ohne Sie wäre es ganz sicher gestorben. Es steckte ja richtig fest.«
Arndt nickte und beobachtete das Kalb besorgt. Es war sehr klein, beinahe mickrig – aber es lebte immerhin. Nun lag es im Stroh, hob den Kopf, gab klägliche Laute von sich und machte nicht einmal den Versuch, sich zu erheben. »Sie werden die Kleine päppeln müssen«, vermutete Arndt.
»Das haben wir schon öfter gemacht«, brummte Robert Renninger. »Aber eins sage ich Ihnen, Herr Doktor: Die Kleinsten werden später oft die Besten, das ist jedenfalls meine Erfahrung.«
»Ich hoffe, so wird es auch dieses Mal sein«, sagte Arndt. »Viel Glück jedenfalls, Herr Renninger.«
»Jetzt gibt’s aber noch einen Schnaps, Herr Doktor, das ist so Brauch bei uns.«
»Für mich nicht, ich muss noch Auto fahren, Herr Renninger.« Arndts Handy meldete sich. Noch ein Notfall? Bloß nicht, dachte er, diese eine Geburt reicht mir wahrhaftig. Aber seine Ahnung hatte ihn nicht getrogen: Es gab tatsächlich einen weiteren Notfall.
»Unsere Salva, Herr Doktor«, sagte die abgehetzt klingende Stimme von Robert Wenger, dem Stallmeister auf Schloss Sternberg, »das Fohlen liegt verkehrt herum, zwei Hufe sind schon zu sehen.«
»Bin gleich da«, versprach Arndt, erklärte Robert Renninger, dass er einem Fohlen auf die Welt helfen müsse, nahm hinter dem Steuer seines Wagens Platz und jagte vom Hof des Bauern, ohne dass er seine verschmierte Kleidung gewechselt hätte.
Bei einem verkehrt herum liegenden Fohlen war Eile geboten.
*
»Julietta!«, rief Robert Wenger, als er im Laufschritt in den Stall zurückkehrte. »Der Tierarzt ist schon auf dem Weg! Julietta?«
Er bekam keine Antwort, es war geradezu gespenstisch still. Mit plötzlich wild klopfendem Herzen eilte er zu Salva, die mit hängendem Kopf da stand, zitternd und schweißnass. »Julietta?« Robert Wenger versagte plötzlich die Stimme. Was war passiert? Hatte es ein Unglück gegeben? Er drängte sich an der Stute vorbei und starrte ungläubig auf das Bild, das sich ihm bot: Eine über und über mit Blut und Schleim verschmierte Julietta lag im Stroh, ein zitterndes, noch feuchtes Fohlen in den Armen, das ganz offensichtlich lebendig war, denn es zappelte schwach mit den Beinen.
»Julietta!«, sagte Robert fassungslos. »Wie hast du das denn gemacht?«
»Einfach gezogen«, antwortete sie, »etwas anderes konnte ich ja nicht tun, und dann bin ich plötzlich nach hinten gefallen und habe zuerst gar nicht gewusst, wieso. Aber als ich lag, hatte ich das Fohlen in den Armen, da habe ich es dann begriffen.«
Er kniete neben ihr nieder, nahm ihr behutsam das Fohlen ab, legte es neben sie ins Stroh und begann, es trockenzureiben. »Ich fasse es nicht«, murmelte er. »Du hast es ganz allein auf die Welt geholt.«
»Salva hat schon mitgeholfen«, bemerkte sie trocken, aber er hörte ihr an, wie stolz sie war – und das zu Recht.
»Hallo?«, rief eine Stimme vom Eingang des Stalles. »Herr Wenger?«
»Hier sind wir!«, erwiderte Robert. »Herr Dr. Claven?«
Der junge Tierarzt schob sich in den Stall und betrachtete stumm das Fohlen, das nicht auf ihn hatte warten wollen und können. Dann glitt sein Blick weiter zu der jungen Frau, die neben dem Fohlen im Stroh lag und einen wirklich bemerkenswerten Anblick bot, denn sie sah aus, als sei sie in letzter Sekunde einem wilden Gemetzel entkommen. Das jedoch nahm Arndt kaum wahr, der Anblick war für ihn ja so ungewöhnlich nicht, er selbst sah schließlich oft genug so aus.
Nein, was ihm vor allem anderen auffiel, war der intensive Blick ihrer blauen Augen, waren ihre wilden blonden Haare und das kampflustig vorgereckte Kinn. Und nie würde er die ersten Worte vergessen, die diese junge Frau an ihn richtete: »Jetzt beschweren Sie sich bloß nicht darüber, dass wir Sie umsonst aus dem Bett geholt haben – das hätte uns nämlich gerade noch gefehlt. Wenn wir auf Sie gewartet hätten, wäre das Fohlen längst tot!«
»Julietta!« Robert Wenger bemühte sich um einen tadelnden Ton, der ihm jedoch nicht ganz gelang. Er war einfach zu erleichtert über den glücklichen Ausgang dieser schwierigen Geburt.
Arndt erwiderte überhaupt nichts. Ausgerechnet hier und jetzt verlor er sein Herz an eine Frau, die ziemlich widerborstig zu sein schien. Aber von Schwierigkeiten hatte er sich in seinem Leben noch nie abschrecken lassen – er würde es auch mit dieser stacheligen jungen Dame aufnehmen!
*
Juliettas Veränderung war zunächst langsam erfolgt, sie beschleunigte sich aber rasant, nachdem Julietta Salvas Fohlen gerettet hatte. Sie wurde lockerer, man sah sie gelegentlich lachen, und die Zeiten, da sie sich bemühte, durch besonders schlechte Manieren aufzufallen, gehörten endgültig der Vergangenheit an. Zu Anna und Christian entwickelte sie ein freundschaftlich-kameradschaftliches Verhältnis, und auch der Umgang mit ihren Arbeitskollegen entspannte sich. Sie wurde nicht mehr misstrauisch beäugt, sondern allgemein akzeptiert und weil sie das spürte, schien jeden Tag ein Stück ihres früheren Ichs von ihr abzufallen. Sofia und Friedrich konnten nur staunen, Eberhard Hagedorn lächelte still in sich hinein. Er hatte ja von Anfang an nichts anderes erwartet.
Julietta fing an, Anna und Christian gelegentlich bei ihren Streifzügen durch den Schlosspark zu begleiten, der in seinem hinteren Ende in Wald überging – dort hielt sich Togo am liebsten auf. Eines Abends, als sie die beiden verpasst hatte, weil in den Ställen so viel zu tun gewesen war, erklomm sie den Hügel am Ende des Schlossparks, auf dem der Familienfriedhof untergebracht war. Dort hatten, wie sie mittlerweile wusste, auch die Eltern des kleinen Fürsten ihre letzte Ruhe gefunden.
Als sie oben angelangt war, sah sie Christian vor einer großen steinernen Gruft stehen. Unwillkürlich blieb sie stehen. Sie wusste, dass er seinen Eltern jeden Tag einen Besuch abstattete, und sie wollte die stumme Zwiesprache, die er mit ihnen hielt, nicht stören. Er hatte sie jedoch bereits gehört und drehte sich zu ihr um. »Du kannst ruhig näherkommen, Julietta«, sagte er. »Ich habe meinen Eltern schon alles Wichtige erzählt.«
Sie stellte sich neben ihn und Togo. Der junge Boxer lag neben Christian, ohne sich zu rühren. »Es ist schön hier oben«, sagte sie leise. »Ich habe mich bisher noch gar nicht hergetraut, weil ich dachte, es steht mir nicht zu, euren Friedhof zu besuchen.«
»Jeder darf hierher kommen«, erwiderte der kleine Fürst. »Ich finde auch, dass es hier schön ist, und ich glaube, meine Eltern sind mit diesem Platz zufrieden.«
»Erzählst du ihnen alles, was dich bewegt?«, fragte sie.
»Ja, alles. Ich tue es natürlich nur in Gedanken, aber ich fühle dann, dass sie noch bei mir sind, auch wenn ich sie nicht mehr sehen und ihre Stimmen nicht mehr hören kann – nur in meinem Kopf. Es hilft mir, mich nicht verlassen zu fühlen.«
Sie nickte, das konnte sie gut verstehen.
»Außerdem bin ich ja auch nicht verlassen«, fuhr Christian fort. »Aber wenn Tante Sofia, Onkel Fritz, Anna und Konny nicht gewesen wären …« Seine Stimme verlor sich, aber er brauchte seinen Satz nicht zu beenden, sie wusste auch so, was er hatte sagen wollen.
»Ich gehe wieder«, sagte er. »Kommst du mit?«
Sie nickte. Als sie sich anschickten, Togo den Hügel hinunter zu folgen, fing über ihnen ein Rotkehlchen an zu singen.
»Schön«, sagte Julietta leise.
»Ein Gruß von meinen Eltern«, erwiderte der kleine Fürst. Seine Stimme klang ruhig und sicher, es schwang kein Zweifel in seinen Worten mit.
Sie widersprach ihm nicht – zu ihrem eigenen Erstaunen hielt sie es für durchaus möglich, dass er Recht hatte mit seiner Annahme.
*
»Wir müssen Silberstern jetzt auch an andere Menschen gewöhnen«, sagte Robert Wenger. »Ich glaube, das dürfen wir nicht länger aufschieben, Herr Baron.«
»Ganz meine Meinung«, erwiderte Friedrich. »Das wollte ich Ihnen ebenfalls vorschlagen. Immerhin hat er sich von Julietta reiten lassen, nicht wahr?«
»Zum Glück, sonst hätten wir ihn gar nicht bewegen können, er hat ja außer ihr noch niemanden an sich herangelassen. Aber ich fürchte, wir werden noch viel Arbeit mit ihm haben, Herr Baron.«
»Der Kauf hat sich trotzdem gelohnt, davon bin ich überzeugt.«
Der Stallmeister nickte. »Das denke ich auch. Kommen Sie, ich zeige Ihnen noch Salvas Fohlen, das haben Sie ja schon ein paar Tage nicht mehr gesehen.«
Friedrich musste lachen. »In ein paar Tagen wird es sich nicht so sehr verändert haben, oder?«
»Wenn Sie sich da mal nicht irren, Herr Baron!«
Gleich darauf standen sie vor Salvas Box, und Friedrich konnte nur staunen. »Niemals hätte ich das für möglich gehalten!«, rief er. »Es ist gewachsen und hat zugenommen.«
»Ja, wir sind alle ziemlich stolz auf die Kleine. Und sie scheint zu wissen, wem sie ihr Leben verdankt, denn Julietta hat sie von uns allen am liebsten, das ist eindeutig.«
»Diese Nacht war der Wendepunkt«, sagte Friedrich leise. »Seitdem ist Julietta wie ausgewechselt. Es hat sich vorher schon angedeutet, aber Salvas Fohlen hat den Ausschlag gegeben.«
»Ich bin froh darüber, Herr Baron.«
»Das sind wir alle, Herr Wenger. Ich danke Ihnen noch einmal, dass Sie bereit waren, es mit ihr zu versuchen. Ohne Sie hätten wir ihren Eltern nicht helfen können.«
»Ich schätze mal, Herr Baron, vor allem haben wir ihr selbst geholfen«, bemerkte der junge Stallmeister. »Sie hatte einfach ihren Platz in der Welt und ihren Weg noch nicht gefunden, und das ist jetzt anders. Sie weiß, was sie kann und was sie will. Alles andere wird sich finden.«
»Das hoffen wir auch.«
»Wir brauchen einen Namen für das Fohlen – haben Sie einen Vorschlag?«
»Ist vielleicht ein bisschen lang – aber wie wäre es mit Julietta?«
»Sie werden es nicht glauben, Herr Baron, aber dieser Gedanke ist uns auch schon gekommen. Harry hat den gleichen Vorschlag gemacht.«
»Na, dann!« Friedrich wandte sich zum Gehen. »Viel Glück mit Silberstern, Herr Wenger«, sagte er zum Abschied. »Wie gesagt, ich erhoffe mir viel von ihm.« Mit diesen Worten verließ er den Stall und kehrte ins Schloss zurück.
*
»Na, was sagen Sie jetzt, Herr Doktor?«, fragte Robert Renninger, nachdem er Arndt stolz zu seinem jüngsten Kalb und dessen Mutter geführt hatte.
»Ich fasse es nicht!«, rief Arndt. »Das ist ja ein richtiger Brocken geworden in der Zwischenzeit!«
Die Augen des alten Bauern leuchteten. »Ich habe es Ihnen doch gleich gesagt: Die Kleinsten werden manchmal die Besten. Man kann richtig zugucken, wie es von Tag zu Tag stärker wird. Wir haben es aber auch verwöhnt, die ganze Familie hat dieses Kalb adoptiert, weil es unmittelbar nach seiner Geburt so mickrig aussah.« Er strahlte Arndt an. »Dass es überlebt hat, haben wir Ihnen zu verdanken, Herr Doktor.«
»Ich würde sagen, es war eine Gemeinschaftsarbeit, Herr Renninger.« Arndt untersuchte das Kalb, das bemerkenswert fest auf seinen längst nicht mehr so staksigen Beinen stand, sich allerdings jetzt ein wenig furchtsam an seine Mutter drängte.
»Alles in Ordnung, Herr Renninger«, stellte Arndt fest, »ich denke, wir können zufrieden sein.«
»Und ob! Aber heute trinken Sie wenigstens noch eine Tasse Kaffee mit mir, Herr Doktor, das können Sie mir nicht abschlagen, wo Sie schon den Schnaps immer ablehnen.«
Arndt willigte ein, obwohl er sich lieber gleich auf den Weg nach Sternberg gemacht hätte – zum Glück konnte er das Fohlen zum Vorwand nehmen. Lange freilich würde das nicht mehr möglich sein, wenn er nicht wollte, dass sein Besuchseifer auffiel. Zwar interessierte er sich auch für die gesundheitliche Entwicklung des Fohlens, aber er fuhr einzig und allein wegen Julietta von Barrentrop so häufig nach Sternberg. Sie hatte ihr stacheliges Benehmen ihm gegenüber noch immer nicht aufgegeben, was sie in seinen Augen nur noch attraktiver machte. Von so einer Frau hatte er sein Leben lang geträumt, war ihr bisher jedoch nie begegnet.
Robert Renninger hätte ihn gern mit weiterem Kaffee bewirtet, doch Arndt lehnte dankend und mit Hinweis auf weitere Verpflichtungen ab. Sobald er sich auf dem Weg nach Sternberg befand, erhöhte sich sein Pulsschlag.
Bald würde er sie wiedersehen!
*
»Der Vertreter von Dr. Küppers ist in Julietta verliebt«, sagte Anna zu Christian. »Ist dir schon aufgefallen, dass er neuerdings ständig kommt, auch wenn es gar keinen Grund gibt? Er sucht sich Vorwände.«
»Julietta ist auch in ihn verliebt«, erwiderte Christian zu Annas nicht geringer Verwunderung.
»Echt?«, rief sie. »Das ist mir noch gar nicht aufgefallen.«
»Aber mir. Sie wird nämlich immer ganz ruppig, wenn er kommt – fast so wie ganz am Anfang, weißt du?«
»Und das soll ein Zeichen dafür sein, dass sie verliebt in ihn ist?«, fragte Anna mit gekrauster Stirn.
»Bei ihr schon – oder kannst du dir Julietta vorstellen, wie sie einem Mann zärtliche Blicke zuwirft und ihm Liebeserklärungen zuflüstert?«
Anna kicherte bei dieser Vorstellung. »Ich kann mir Julietta überhaupt nicht als Verliebte vorstellen«, erklärte sie dann. »Es passt irgendwie nicht zu ihr. Sie ist jetzt zwar ganz anders geworden, aber sie bleibt trotzdem immer noch Julietta.«
Der kleine Fürst dachte über diese Worte nach. »Ich glaube, ich weiß, was du meinst«, sagte er endlich, »aber ich kann sie mir ganz gut als Verliebte vorstellen. Man kann doch auf unterschiedliche Art verliebt sein, Anna.«
»Die Verliebten, die ich kenne, benehmen sich aber eigentlich alle gleich«, stellte Anna fest. Sie spielte es Christian vor: verliebte Blicke, Seufzen, Schmachten.
Jetzt musste er lachen. »Das kannst du schon ganz gut. Vielleicht verhältst du dich ja anders, Anna, wenn du dich mal verliebst.«
Sie wurde rot bei diesem Gedanken und wandte sich eilig ab, damit er es nicht bemerkte, was er natürlich doch tat. Sie war dreizehn und bisher erst ein einziges Mal verliebt gewesen – in einen ihrer Lehrer, der das nie erfahren hatte. Aber natürlich wurde in ihrer Klasse jeden Tag vor allem über die Liebe getuschelt. Einerseits fand sie das blöd, andererseits sehnte sie sich danach, endlich mitreden zu können. Christian wusste das, behielt sein Wissen jedoch für sich. Anna war der Mensch, der ihm am nächsten stand, er konnte sich keine bessere Freundin wünschen, und deshalb bemühte er sich, auf ihre Empfindlichkeiten Rücksicht zu nehmen.
»Guck mal, wer da kommt!«, rief Anna.
Er stand auf und ging zu ihr ans Fenster. Soeben fuhr der Kombi von Dr. von Claven auf dem Schlosshof vor. Annas Gesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln. »Da ist er schon wieder«, sagte sie. »Wollen wir runtergehen und ihn ein bisschen beobachten, wie er Julietta verliebte Blicke zuwirft?«
Christian hatte nichts dagegen. Alles war besser, als französische Vokabeln zu lernen, die sich mit aller Macht dagegen wehrten, behalten zu werden.
*
Julietta hätte Arndt von Claven beinahe umgerannt, als sie im Sturmschritt den Stall verließ.
»Hoppla«, sagte er. »Guten Tag, Frau von Barrentrop. Sie scheinen es immer eilig zu haben, wenn wir einander begegnen.«
Sie errötete flüchtig, ihre Augen blitzten, dann sagte sie: »Sie schon wieder!«
Er ließ sich seine Enttäuschung nicht anmerken. Bei jedem Besuch auf Sternberg hoffte er von neuem, sie werde ihre Schroffheit ihm gegenüber endlich aufgeben – und jedes Mal wurde er enttäuscht. Fast schien es so, als nähme sie es ihm übel, dass er nicht rechtzeitig vor Ort gewesen war, um Salvas Fohlen zu holen, dabei musste sie längst wissen, dass ihn keine Schuld traf. Schließlich war es dem Menschen nicht gegeben, an zwei Orten gleichzeitig anwesend zu sein. Aber das schien sie nicht zu kümmern: Sie behielt ihren spitzen Ton ihm gegenüber bei, als hätte er sich etwas zuschulden kommen lassen.
Allmählich ging ihm das auf die Nerven, und so fiel seine Erwiderung ein wenig heftiger aus als geplant: »Was soll das denn heißen? Wäre es Ihnen lieber, wenn ich nicht mehr käme? Glauben Sie mir, ich habe genug zu tun, auch ohne dass ich hier nach dem Fohlen sehe. Außerdem haben das ja wohl kaum Sie zu bestimmen, wie oft der Tierarzt kommt, oder?«
Sie sah beinahe erschrocken aus angesichts dieser unerwarteten Reaktion.
»Entschuldigung«, sagte sie, »ich konnte ja nicht ahnen, dass Sie heute besonders empfindlich sind.«
Er hätte mit einer lockeren Bemerkung der Situation die Spannung nehmen können, doch sein Groll wirkte noch immer nach. »Wenn es um meine Arbeit geht, bin ich grundsätzlich empfindlich!«, schimpfte er und ging, ohne sie weiter zu beachten, in den Stall.
Sie folgte ihm einige Minuten später, da hatte er sich längst wieder abgeregt. Auch sie legte offenbar keinen Wert darauf, den Wortwechsel fortzusetzen, denn sie fragte in ruhigem Ton: »Sie sieht gut aus, die Kleine, oder?«
»Ja, sehr gut«, bestätigte er. »Hat sie jetzt einen Namen?« Er sah, dass sie errötete, als sie nickte.
»Und?«, fragte er. Aber gleich darauf wusste er die Antwort, auch ohne dass sie etwas sagte. »Julietta?«, fragte er.
»Ja, das hat der Baron vorgeschlagen.«
Ihm war schon aufgefallen, dass sie immer »der Baron« oder »die Baronin« sagte, wenn sie von Sofia und Friedrich von Kant sprach – ganz so, als hätte sie Angst, auf ihre private Beziehung zu ihnen hinzuweisen. Das gefiel ihm. Natürlich hatte er in der Zwischenzeit einiges in Erfahrung gebracht über sie – sie war offenbar das schwarze Schaf ihrer Familie und hierher geschickt worden, weil die Eltern keinen anderen Rat mehr gewusst hatten. Nun, dachte er, wenn sie sie jetzt sähen, würden sie sich wahrscheinlich wundern über ihre schöne, selbstbewusste und zielstrebige Tochter.
»Warum sehen Sie mich so an?« Ihr Ton klang schon wieder angriffslustig, und mit einem Mal hatte er keine Lust mehr zum Versteckspielen, und so sagte er aufrichtig: »Ich habe gerade darüber nachgedacht, wie schön ich Sie finde.«
Sie wurde knallrot, dann stieß sie hervor: »Suchen Sie sich gefälligst ein anderes Opfer aus, über das Sie sich lustig machen können!« Mit diesen Worten drehte sie sich um und verließ den Stall mit langen Schritten.
»Ich Idiot«, sagte Arndt zu Julietta, dem Fohlen, und Anna flüsterte in ihrem Versteck: »Das kann man wohl sagen!«
*
»Fritz!«, rief Adalbert von Barrentrop alarmiert, als der Baron ihn anrief. »Wenn du dich bei uns meldest, hat das bestimmt nichts Gutes zu bedeuten. Bitte, sag es gleich: Was hat Julietta angestellt?«
Baron Friedrich lächelte in sich hinein. Sie hatten Juliettas Eltern bisher von der erstaunlichen Wandlung, die mit ihrer Tochter vor sich gegangen war, nur sehr zurückhaltend berichtet. Wer konnte schon wissen, ob dieser Wandel von Dauer sein würde? Sie wollten Caroline und Adalbert jedenfalls weitere Enttäuschungen ersparen und schreckten daher vor verfrühten Erfolgsmeldungen zurück. Mittlerweile jedoch konnte es überhaupt keinen Zweifel mehr daran geben, dass Julietta zu sich selbst gefunden hatte, und davon sollten sich die besorgten Eltern möglichst mit eigenen Augen überzeugen – zu dieser Auffassung waren Sofia und er bei einem Gespräch an diesem Morgen gelangt.
»Nein, nein«, erklärte er deshalb eilig, um die Befürchtungen von Juliettas Vater zu zerstreuen, »wir wollten euch nur zu uns einladen am Wochenende, das ist der einzige Sinn meines Anrufs. Dann können wir über alles reden.«
»Und was heißt das?«, fragte Adalbert, weit davon entfernt, sich durch Friedrichs Worte beruhigen zu lassen. »Ich meine, was heißt ›über alles‹? Sollen wir Julietta dann gleich mit nach Hause nehmen? Da steckt doch etwas dahinter!«
»Aber nein, es kann keine Rede davon sein, dass wir sie wegschicken wollen. Sie macht Fortschritte, und davon sollt ihr euch überzeugen.«
Es ging noch ein paar Mal hin und her, bis Adalbert endlich sagte: »Am Wochenende geht es leider nicht, Fritz, aber wir könnten heute kommen – oder wäre euch das zu schnell?«
»Überhaupt nicht, wir freuen uns«, beteuerte Friedrich, und das entsprach der Wahrheit.
Er informierte Sofia, die ihrerseits sofort in der Küche Bescheid sagte. Marie-Luise Falkner blühte förmlich auf: Überraschende Besuche stellten eine jener Herausforderungen dar, die sie so liebte!
*
»So«, sagte Julietta, »da wären wir, Silberstern.« Sie legte ihm liebevoll eine Hand über die Nüstern. »Und jetzt fängst du an, dich an Herrn Wenger zu gewöhnen, in Ordnung? Er ist ein sehr guter Reiter, du wirst schon sehen.« Sie trat einen Schritt zurück, während Robert Wenger einen Schritt auf den Hengst zu machte.
Aus den Augenwinkeln sah Julietta Arndt von Claven aus dem Stall kommen, und sie biss sich auf die Lippen. Er musste sie für eine dumme Gans halten, aber wie hätte sie ihm erklären sollen, dass er sie verunsicherte, weil er Gefühle in ihr weckte, die sie bis dahin nicht gekannt hatte? Sie fand ihn attraktiv, er zog sie magisch an, und abends, im Bett, malte sie sich manchmal aus, wie es wäre, sich von ihm umarmen und küssen zu lassen. Sie wusste nicht, was sie von diesen Träumereien halten sollte, aber je mehr sie sich dagegen wehrte, desto häufiger überfielen sie sie.
Sie riss sich von ihren Gedanken los und konzentrierte sich wieder auf Silberstern, der Anstalten machte, ihr zu folgen. »Nein, nein«, sagte sie. »heute gehst du nicht mit mir, hörst du?«
Robert Wenger machte noch einen Schritt vorwärts. »Am besten, du gehst ganz weg, Julietta«, sagte er. »Damit er dich nicht mehr sieht.«
Julietta nickte und zog sich, rückwärts gehend, Schritt für Schritt Richtung Stall zurück – direkt auf den jungen Tierarzt zu, wie ihr nur allzu bewusst war. Aber darum konnte sie sich jetzt nicht kümmern.
Silberstern legte die Ohren an und wich zurück. »Komm schon, mein Schöner«, lockte Robert Wenger den scheuen Hengst. »Du musst dich allmählich auch an uns gewöhnen, es geht nicht, dass du nur Julietta an dich heranlässt! Komm, dir tut niemand etwas. Wir bewegen uns etwas, das magst du doch gern.«
Schritt für Schritt näherte er sich dem scheuen Tier, das jetzt ruhiger als zuvor schien. Aber in dem Moment, als Robert Wenger eine Hand ausstreckte, um ihn zu berühren, stieg er auf, keilte aus, traf den Stallmeister an der Schulter, dass es ihn zu Boden schleuderte und wollte dann seitlich ausbrechen.
Doch wie ein Blitz warf sich Julietta dazwischen. Sie schaffte es, einen Zügel zu ergreifen.
»Silberstern!«, rief sie. »Ruhig, ruhig! Ich bin ja hier, dir geschieht nichts!«
Die vertraute Stimme verfehlte ihre Wirkung nicht. Zwar stieg der Hengst noch einmal auf, aber nicht mehr so hoch und bereits sichtlich ruhiger. Unablässig auf ihn einredend gelang es Julietta schließlich, ihn von dem am Boden liegenden Robert Wenger wegzuführen.
Sie sah, dass sich Arndt von Claven bereits um den Verletzten kümmerte, er telefonierte auch schon nach einem Arzt oder einem Rettungswagen, sie wusste es nicht. Jetzt stürzten einige Pferdepfleger herbei, auch Anna und Christian tauchten plötzlich auf. Die Gefahr war gebannt.
Nun erst wurden ihr die Knie weich, sie musste sich an die Stallmauer lehnen, Silbersterns Zügel noch immer in der Hand. »Was machst du nur?«, fragte sie den Hengst, der noch ein wenig zitterte. »Alle wollen hier nur dein Bestes, und du stellst dich an, als ginge es dir ans Leben!« Noch während sie das sagte, erkannte sie plötzlich, dass sie sich in den letzten Jahren ähnlich aufgeführt hatte wie Silberstern: Sie hatte niemanden an sich herangelassen und sich letzten Endes selbst am meisten damit geschadet.
Arndt von Claven kam auf sie zu.
»Das war mutig«, sagte er. »Er hätte Sie auch treffen können.«
Sie nickte. »Vielleicht war es eher dumm als mutig, ich habe an die Gefahr gar nicht gedacht. Ich wusste nur, dass er in Panik war, das habe ich in seinen Augen gesehen, und da wollte ich ihm helfen.«
Er lächelte sie an. Es war ein offenes, bewunderndes Lächeln, das sie erwiderte. »Halten Sie mal«, bat sie und drückte ihm die Zügel in die Hand. »Er wird ruhig bleiben, er hat jetzt begriffen, dass ihm hier nichts geschieht.«
Verwundert und auch ein bisschen eingeschüchtert sah Arndt den Hengst an, erkannte aber schnell, dass sie Recht behalten würde: Silberstern war nach diesem letzten Akt der Revolte bereit, seine neue Umgebung anzunehmen.
Robert Wenger saß mittlerweile auf einem Stuhl, den ihm jemand geholt hatte. Er war blass um die Nase und hielt sich die Schulter. »Gebrochen ist sie nicht«, sagte er. »Aber eine ordentliche Prellung wird es wohl geben.«
»Kommt ein Arzt?«, fragte Julietta.
»Ja«, antwortete Christian, »Dr. Brocks ist schon unterwegs.«
»Und jetzt ist er lammfromm«, murmelte Robert Wenger.
»Können Sie ein paar Schritte gehen, Herr Wenger?«, fragte Julietta.
»Sicher«, antwortete er verwundert.
Sie half ihm aufzustehen und führte ihn direkt zu Silberstern. »So«, sagte sie ganz ernst zu dem Hengst, »damit das mal klar ist: Das machst du nicht noch einmal!«
»Ob er das versteht?«, fragte Arndt, der noch immer die Zügel hielt, zweifelnd.
Sie nahm ihm die Zügel ab und reichte sie dem Stallmeister. Robert Wenger verzog das Gesicht, nahm die Zügel aber. Alle Umstehenden hielten den Atem an. Was würde der Hengst tun? Mehrere Sekunden vergingen, in denen er sich nicht rührte, dann senkte Silberstern langsam den Kopf und stupste Robert vorsichtig in die Seite.
»Entschuldigung angenommen«, brummte dieser.
Daraufhin breitete sich erleichtertes Gelächter aus, was Dr. Brocks, der in diesem Augenblick eintraf, ziemlich verwunderte. Er hatte angenommen, betroffene Mienen am Unglücksort vorzufinden. Aber als Anna ihm erklärt hatte, was vorgefallen war, lächelte auch er. Im Übrigen konnte er nach eingehender Untersuchung eine gute Nachricht verkünden: Robert Wengers Schulter war tatsächlich nur geprellt.
*
»Natürlich bleiben Sie zum Abendessen, Herr Doktor!«, sagte der Baron, der mit einiger Verspätung von Silbersterns »Attacke« erfuhr. Nun saß er mit Arndt in der Bibliothek, sie tranken beide einen Kognak.
»Ich habe doch gar nichts getan, Herr von Kant«, wehrte Arndt ab. »Nur zugesehen habe ich, Julietta hatte die Situation ja voll im Griff.«
»Man könnte meinen, die Tiere verstehen sie«, murmelte Friedrich. »Und umgekehrt natürlich: Sie versteht die Tiere.«
»Das tut sie auch«, versicherte Arndt. »Ganz bestimmt.«
»Herr Baron?« Eberhard Hagedorn erschien an der Tür. »Ein Telefongespräch für Sie, hätten Sie einen Moment Zeit?«
»Entschuldigen Sie mich bitte, Herr Doktor.«
»Ich bitte Sie.« Als Arndt allein war, stand er auf und wanderte in der schönen Bibliothek umher. Unglaubliche Schätze standen hier in den Regalen. Er bewunderte gerade eine kostbare Erstausgabe, als sich hinter ihm jemand räusperte. Er drehte sich um und sah sich der Tochter des Barons und Christian von Sternberg gegenüber, die er natürlich beide mittlerweile längst kennengelernt hatte. »Haben Sie sich von dem Schrecken erholt?«, fragte er höflich.
Anna nickte. »Wir müssen mit Ihnen reden«, sagte sie. »Wegen Julietta.«
Arndt war so geistesgegenwärtig, ein undurchdringliches Gesicht zu machen. »Aha«, sagte er. »Und was gibt es da zu reden?«
»Sie müssen ihr sagen, dass Sie in sie verliebt sind«, erklärte Anna altklug, »sonst wird das nie was.«
Er war so verdutzt über ihre Worte, dass er völlig vergaß, ihr zu widersprechen.
»Sie ist nämlich auch in Sie verliebt«, setzte nun der kleine Fürst hinzu. »Aber das haben Sie wohl noch nicht bemerkt, oder?«
»Nnnnein«, gab Arndt zu. »Woher wollt ihr das wissen?«
Sie beschränkten sich auf ein vielsagendes Lächeln, denn in diesem Moment kehrte der Baron zurück, und das enthob sie einer Antwort.
»Raus mit euch«, kommandierte Friedrich gut gelaunt, »der Herr Doktor und ich wollen allein miteinander reden.«
Sie verschwanden ohne jegliche Widerrede, und der Baron wunderte sich, warum Arndt von Claven mit einem Mal so zerstreut wirkte.
*
»Tante Sofia, ich habe nichts Schönes anzuziehen«, sagte Julietta. »Ich meine, Dr. von Claven bleibt ja nun zum Essen, Herr Wenger kommt auch, und dann noch meine Eltern – das wusste ich ja gar nicht! Es soll ein kleines Fest werden, aber ich …«
»Keine Sorge, das haben wir gleich. Komm herein, Kind. Ich habe noch ein wundervolles elegantes Seidenkleid, das zwar schon älter ist, aber noch ganz modern wirkt. Mir passt es schon lange nicht mehr, aber für dich müsste es genau richtig sein.«
Sie irrte sich nicht. Das zartblaue Kleid wirkte wie für Julietta gemacht, es lag eng am Körper an und betonte ihre hübsche Figur. »So etwas habe ich noch nie getragen«, sagte sie, als sie sich verwundert im Spiegel betrachtete.
»Schuhe müssen wir noch finden«, meinte Sofia, »warte mal …«
Nach und nach trug sie eine komplette Abendgarderobe für Julietta zusammen und fragte schließlich: »Darf ich dir die Haare hochstecken und dir ein wenig die Lippen und die Augen schminken?«
Julietta sah aus, als wollte sie heftig ablehnen, doch sie überlegte es sich anders. »Warum nicht? Ich kann es ja mal versuchen«, sagte sie.
»Weißt du, Julietta«, sagte Sofia, als sie sich ans Werk machte, »ich freue mich schon auf die Gesichter deiner Eltern und unserer anderen Gäste, wenn sie dich gleich sehen. Ich sage dir: Ihnen werden die Augen übergehen.«
Als sie ihr Werk vollendet hatte, war freilich Julietta diejenige, der die Augen übergingen. Sie sah ungläubig in den Spiegel. »Das soll ich sein?«, fragte sie.
Sofia lachte. »Das bist du!«, antwortete sie mit Nachdruck. »Und ich möchte dir jetzt etwas sagen, ganz unter uns: Wir sind stolz auf dich, Julietta, und wir haben dich alle sehr ins Herz geschlossen. Du bist liebenswert, großzügig und klug – besinne dich nur immer auf deine Stärken, dann wirst du schon den richtigen Weg finden.«
»Danke, Sofia.« Julietta hatte Tränen in den Augen, als sie die Baronin umarmte.
»Geh jetzt, Kind, ich muss mich auch noch umziehen. In einer Stunde sehen wir uns unten.«
Julietta hatte ihre Suite schon fast erreicht, als sich ein Schatten von der Wand löste und eine Stimme ihren Namen sagte. Sie stieß einen leisen Schrei aus, dann erkannte sie Arndt von Claven. »Sie haben mich erschreckt!«, rief sie.
Er sah sie an wie eine Erscheinung, sein Mund stand buchstäblich offen.
Sie hatte ihr verändertes Aussehen ganz vergessen, deshalb fragte sie mit einem Anflug ihrer alten Ungeduld: »Was ist denn? Warum sehen Sie mich so an?«
»Weil Sie wunderschön sind, deshalb sehe ich Sie an. Und weil ich verliebt in Sie bin, Julietta, schon seit dem ersten Augenblick. Und weil ich Ihnen das sagen wollte, bevor Ihre Eltern hier eintreffen. Ich sehe Sie an, weil ich Sie küssen möchte und weil ich mir wünsche, dass wir uns nie wieder trennen. Reichen Ihnen diese Gründe – oder soll ich noch mehr nennen? Ich könnte nämlich noch sehr lange so weitermachen.«
Sie stand ganz still, dann fragte sie zaghaft: »Sie machen sich nicht über mich lustig?«
Er schüttelte den Kopf und streckte die Arme nach ihr aus. Sie trat auf ihn zu, ergriff seine beiden Hände und sagte staunend: »Ich bin auch in dich verliebt, aber ich hätte es nicht zugegeben, wenn du nicht den Anfang gemacht hättest.«
»Julietta!« Er zog sie an sich. »Schon als ich dich mit dem Fohlen im Stroh liegen sah, habe ich gedacht: Die oder keine.« Er streichelte ihre Lippen mit seinen, fuhr weiter über ihre Wange bis zur Schläfe und kehrte zu den Lippen zurück, die sich jetzt bereitwillig öffneten. Es wurde ein langer zärtlicher Kuss, in dessen Verlauf die widerspenstige Julietta ihre Stacheln endlich einzog.
*
»Ich fasse es nicht, Sofia«, raunte Caroline der Baronin zu. »Wie habt ihr das geschafft? Sie ist bezaubernd! Unsere garstige Julietta ist eine bezaubernde junge Frau geworden – ihr habt ein Wunder vollbracht!«
»Sie war immer bezaubernd, das hat sie nur sehr gut vor aller Welt versteckt«, widersprach die Baronin.
»Sag mal«, flüsterte Caroline weiter, »und dieser reizende junge Tierarzt – ist er in sie verliebt?«
»Es sieht ganz so aus, nicht wahr?«, lächelte Sofia. »Julietta jedenfalls scheint ihn auch zu mögen.«
»Ich denke immer noch, dass ich träume«, sagte Caroline. »Und wir dachten, ihr wolltet uns schonend beibringen, dass Julietta nicht länger bei euch bleiben kann. Noch auf der Fahrt meinte Adalbert, wir würden wohl zu dritt zurückfahren müssen.«
»Im Gegenteil, von uns aus darf Julietta ihren Aufenthalt bei uns gern noch ein bisschen verlängern.«
In diesem Augenblick erhob sich Arndt und bat um die geschätzte Aufmerksamkeit der Anwesenden. »Dieses war ein so ungewöhnlicher Tag«, begann er, »dass ich denke, er darf auch ungewöhnlich enden, und deshalb möchte ich es hiermit offiziell verkünden, dass Julietta und ich uns lieben. Für eine Verlobung ist es vielleicht noch ein wenig zu früh – Sie, verehrte Frau von Barrentrop, lieber Herr von Barrentrop, kennen mich ja auch noch gar nicht. Aber ich sage es Ihnen schon jetzt: Sie werden mich nicht mehr los! Ich liebe Julietta, ich möchte, dass sie meine Frau wird – und zumindest im Augenblick möchte sie das auch.«
Allgemeines Gelächter erhob sich, Julietta strahlte, wie nur eine frisch verliebte junge Frau strahlen kann, Glückwünsche schwirrten durch die Luft, Gläser klangen.
Niemandem fiel auf, dass Arndt von Claven irgendwann sein Glas erhob und mit einem stummen ›Danke‹ Anna und dem kleinen Fürsten zuprostete, die vergnügt lächelnd auf ihren Plätzen saßen. Dieser Abend war ganz nach ihrem Geschmack!
Später, als Christian vor der Gruft seiner Eltern stand, erzählte er ihnen die ganze Geschichte noch einmal in allen Einzelheiten – zum Dank sandten sie ihm, kurz bevor er ins Schloss zurückkehrte, eine Sternschnuppe.
– ENDE –