Читать книгу Der kleine Fürst Staffel 14 – Adelsroman - Viola Maybach - Страница 6

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Der Brief eines Anwalts trifft auf Sternberg ein: Etwas

Ungeheuerliches wird darin behauptet: Der verstorbene Fürst

Leopold habe aus einer außerehelichen Beziehung einen Sohn

gehabt. Die Aufregung im Schloss ist groß. Christian, der kleine Fürst, ist außer sich vor Kummer. Der Charakter seines Vaters

wird auf einmal entscheidend in Frage gestellt. Den kleinen

Fürst beschleicht ein schlimmer Verdacht. Dieses einschneidende Ereignis wird uns alle längere Zeit beschäftigen. Die Affäre von

Fürst Leopold erschüttert Schloss Sternberg in seinen Grundfesten. Wie wird der kleine Fürst daraus hervorgehen?

Es war totenstill im blauen Salon von Schloss Sternberg. Christian von Sternberg, der kleine Fürst, war soeben erst von einem Besuch auf dem Familienfriedhof zurückgekehrt, auf dem seit dem letzten Jahr seine Eltern begraben lagen. Er besuchte sie jeden Tag, ›sprach‹ in Gedanken mit ihnen und versuchte auf diese Weise, den schrecklichen Verlust zu verarbeiten. Er war fünfzehn Jahre alt und hatte schon mehr Leid erlebt als mancher andere im ganzen Leben.

Aber es schien noch immer nicht genug zu sein, denn vor Kurzem war ein neues Unglück über Sternberg hereingebrochen: Christians verstorbenem Vater, dem Fürsten Leopold von Sternberg, wurde eine Affäre mit Folgen nachgesagt. Angeblich hatte Christian einen älteren Halbbruder. Dessen Mutter war eine Frau namens Corinna Roeder, die in einem Brief behauptet hatte, zu einer Zeit, da die junge Ehe des Fürsten noch kinderlos war, habe sie eine Liebesbeziehung mit Leopold begonnen, aus der schließlich ihr heute siebzehnjähriger Sohn hervorgegangen sei. Sie hatte ferner geschrieben, es gehe ihr nur um dessen Zukunft, weitere Forderungen werde sie nicht stellen. Sie sehe sich aber außerstande, ihrem Sohn die Ausbildung zu finanzieren, die er ihrer Ansicht nach für seine vielfältigen Talente brauche, und der Fürst könne sie ja nicht länger unterstützen, wie er es in den vergangenen zwanzig Jahren getan habe.

Seit der Brief mit ihren Forderungen auf Sternberg eingetroffen war, hatte sich das Leben dort noch einmal grundlegend verändert. Gerade erst neigte sich das Trauerjahr seinem Ende zu, da zeigte sich das Schicksal einmal mehr erbarmungslos. Seitdem bemühten sich die Anwälte der Sternberger, Corinna Roeder als Lügnerin zu entlarven, was ihnen bis jetzt nicht gelungen war. Im Gegenteil: Sie hatte Fotos von sich und dem Fürsten als Beweise vorgelegt, sowie einen Brief, den Leopold ihr angeblich geschrieben hatte. Außerdem waren ihre Behauptungen auf unbekannten Wegen an die Öffentlichkeit gelangt, was in den Medien einen beispiellosen Aufruhr verursacht und somit das Leben der Sternberger weiter erschwert hatte. Sie hätten ›die Affäre‹ lieber in aller Stille geklärt, doch diese Möglichkeit war ihnen nun genommen.

Fotos und Brief jedenfalls waren von unabhängigen Gutachtern auf ihre Echtheit überprüft worden. Bei den Fotos hatte es keine klaren Aussagen gegeben, die Gutachter waren sich nicht einig gewesen, ob es sich um echte Aufnahmen oder Fotomontagen handelte. Die Ergebnisse über den Brief waren erst jetzt vorgelegt worden, Christians Onkel, Baron Friedrich von Kant, hatte sie soeben verkündet, und das war der Grund für die tiefe Stille im blauen Salon von Schloss Sternberg.

Der Baron wiederholte seine Aussage jetzt noch einmal, wohl auch, um das drückende Schweigen zu durchbrechen. »Beide Graphologen sagen, der Brief, den Frau Roeder vorgelegt hat, stamme von deinem Vater, Chris. Ihre Gutachten stimmen in wesentlichen Punkten überein, obwohl sie unabhängig voneinander erstellt wurden.«

»Sie müssen sich irren«, sagte Christian tonlos. »Auch wenn es Experten sind, sie müssen sich irren. Papa hatte keine Affäre, niemals!«

»Ich glaube das auch nicht!«, erklärte Anna von Kant. Sie war zwei Jahre jünger als Christian und nicht nur seine Cousine, sondern auch seine beste Freundin.

Auch ihr Bruder, der sechzehnjährige Konrad, schlug sich auf Christians Seite. »Man kann heute alles fälschen«, sagte er. »Denkt an diesen Skandal in der Kunstszene! Da sind auch reihenweise Experten auf Fälschungen hereingefallen. Diese Gutachten sagen überhaupt nichts aus.«

Jetzt ergriff zum ersten Mal Baronin Sofia das Wort, Friedrichs Frau, Annas und Konrads Mutter. »Es ist auf jeden Fall ein Rückschlag«, sagte sie mit brüchiger Stimme.

Sofia von Kant war die Schwester von Christians Mutter gewesen, und noch immer konnten ihr unwillkürlich Tränen in die Augen steigen, wenn sie an Fürstin Elisabeth dachte. Die beiden Schwestern hatten schon als Kinder sehr aneinander gehangen. In späteren Jahren war ihre Verbundenheit sogar noch gewachsen, denn Sofia und Friedrich waren auf Wunsch des Fürstenpaares seinerzeit mit ihren Kindern nach Sternberg gezogen. Elisabeth und Leopold wussten damals schon, dass ihr Sohn Christian ein Einzelkind bleiben würde, sie wollten ihn aber nicht als solches aufwachsen lassen. Und so waren Anna, Konrad und Christian wie Geschwister groß geworden. Die beiden jungen Familien hatten glückliche Jahre zusammen auf Schloss Sternberg verlebt, bis der jähe Unfalltod des Fürstenpaares dem ein Ende bereitet hatte.

Es hatte Christian bei der Bewältigung seiner Trauer sehr geholfen, dass er nicht auch noch seine Heimat verlassen musste. Er war lediglich vom Ostflügel des Schlosses, den er mit seinen Eltern bewohnt hatte, zu den Kants in den Westflügel gezogen.

Die Familie war an diesem Abend nicht allein, sie hatten zwei Gäste, die freilich beide mit ›der Affäre‹ befasst waren. Cosima von Orth arbeitete für die Sternberger Anwälte und hatte eine hoffnungsvolle Spur gefunden, die Corinna Roeder mit einem mutmaßlichen Fälscher in Verbindung brachte, Peter von Boehringen hatte ihr, nicht ganz freiwillig, dabei geholfen, diese Spur zu finden. Die beiden waren sich allen widrigen Umständen zum Trotz nähergekommen und jetzt ein glücklich verliebtes Paar. In diesem Augenblick freilich sahen sie so niedergeschlagen aus wie ihre Gastgeber. Die Kants hatten Cosima eingeladen, um sich bei ihr für die bisher geleistete Arbeit zu bedanken, mit Peter waren sie schon länger befreundet. Jetzt freilich sah es so aus, als verliefe Cosimas Spur im Sande.

»Wäre es Ihnen lieber, wenn ich sofort wieder abreiste?«, fragte sie unsicher. Sie war eine niedliche Dunkelhaarige, die jünger aussah als sie war, was ihr bei ihren Nachforschungen gelegentlich half. Man unterschätzte sie leicht. »Ich könnte es verstehen, wenn Sie jetzt lieber unter sich wären.«

»Nein, du musst bleiben!«, rief Anna impulsiv, ohne die Antwort ihrer Eltern abzuwarten. »Du hast herausgefunden, dass es eine Verbindung von dieser Frau Roeder zu einem Fälscher gibt, Cosima! Das muss ja etwas zu bedeuten haben, auch wenn diese Gutachter glauben, dass die Geschichte jetzt schon geklärt ist.«

In der Tat waren Cosima und Peter bei jenem Mann, von dem Cosima glaubte, dass er ein Fälscher war, eingebrochen, und es war ihr gelungen, einige sehr interessante Dateien von einem seiner Computer zu kopieren. In diesen Dateien befanden sich überaus kunstvoll hergestellte Bearbeitungen von Fotos und Fotomontagen. Es war allerdings nur eine Spur, mehr nicht, denn es hatten sich keinerlei Hinweise auf Sternberg gefunden. Cosima war fest entschlossen, ein weiteres Mal in der Werkstatt des Mannes einzubrechen, obwohl Peter und sie beim ersten Mal beinahe erwischt worden wären.

»Ich finde auch, Sie sollten bleiben, Cosima«, schloss sich der Baron seiner Tochter an. »Vielleicht entdecken Sie hier noch etwas, das Ihnen einen Hinweis für Ihre weiteren Nachforschungen gibt.«

»Ich will es gerne versuchen«, erwiderte sie und fragte dann zögernd: »Sie sind also fest entschlossen, weiterzumachen?«

»Was könnten wir sonst tun?«, fragte der Baron. »Wir glauben nicht, dass diese Frau die Wahrheit sagt. Wenn wir sie der Lüge überführen wollen, müssen wir weiter nach Beweisen für unsere Meinung suchen, auch wenn es neue Nackenschläge gibt.«

Cosimas Blick wanderte zu Christian. »Was meinst du, Chris?«, fragte sie.

»Ich will auch, dass du bleibst, ich will dich ja noch durch den Ostflügel führen.« Er schluckte. »Ich gehe nicht mehr oft dahin, es fällt mir schwer, die Räume zu sehen, in denen ich mit meinen Eltern gelebt habe. Aber du findest dort vielleicht etwas, was dir hilft, noch eine Spur zu finden. Oder sogar einen Beweis dafür, dass mein Vater uns alle niemals zwanzig Jahre lang belogen hätte.«

»Ich will es gerne versuchen, Chris«, erwiderte sie.

»Du denkst immer noch, dass Frau Roeder vielleicht die Wahrheit sagt, oder?«, fragte der Junge.

»Ich halte es nicht für ausgeschlossen«, erwiderte sie ruhig. »Und so muss es auch sein, denn sonst werde ich auf einem Auge blind, Chris. Ich arbeite als Ermittlerin, da muss ich alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Aber die Tatsache, dass Frau Roeder Kontakt zu diesem Bodo Kleinert hat, der offenbar auf Fotomontagen spezialisiert ist, spricht in meinen Augen eindeutig für deinen Vater. Nur ist es eben kein Beweis, allenfalls ein Indiz.«

»Wenn die Medien Wind von den Fotos, dem Brief und den Gutachten bekommen, wird es noch schlimmer werden, als es jetzt schon ist«, murmelte Konrad.

Sie wurden, seit Einzelheiten über Leopolds angebliche Affäre an die Öffentlichkeit gelangt waren, von Reportern förmlich belagert. Die Straße zum Schloss war bereits gesperrt worden, zumindest Autos konnten jetzt nicht mehr bis hierher gelangen, aber zu Fuß ließ sich die Anhöhe immer noch erklimmen. Deshalb sorgte jetzt ein privater Wachdienst dafür, dass sich niemand dem Schloss samt Park und unmittelbar umgebendem Gelände näherte. Am Rand des Waldes jedoch, in den der Park irgendwann überging, wurden immer wieder fremde Gestalten gesehen, die mit riesigen Teleobjektiven auf der Lauer lagen.

Eberhard Hagedorn erschien an der Tür und räusperte sich dezent. Er war schon seit Jahrzehnten in Diensten des Hauses, Sternberg war ohne ihn schlechterdings nicht vorstellbar. Als Butler war er nach Ansicht aller Schlossbewohner und ihrer Gäste längst vollkommen. Schon oft war versucht worden, ihn abzuwerben, doch auch viel Geld hatte ihn nicht von Sternberg weglocken können. Er gehörte nicht nur zum Schloss, sondern auch zur Familie. Vor allem Anna und Christian teilten etliche Geheimnisse mit ihm, die sie bei ihm gut aufgehoben wussten. Eberhard Hagedorn war von Anfang an in ›die Affäre‹ eingeweiht gewesen, mittlerweile hatte die Familie aber auch die übrigen Angestellten informiert.

»Frau Baronin, Herr Baron, bitte, entschuldigen Sie die Störung«, sagte er, »aber Frau Falkner lässt fragen, ob sich das Abendessen noch weiter verzögern wird.«

Marie-Luise Falkner war eine noch junge Köchin, sehr talentiert, sehr ehrgeizig. Innerhalb kürzester Zeit war es ihr gelungen, der Sternberger Küche im ganzen Land einen erstklassigen Ruf zu verschaffen.

»Nein, wir fangen sofort an!«, sagte die Baronin entschieden. »Meine Großmutter hat immer gesagt: ›Essen hält Leib und Seele zusammen.‹ Und genau das brauchen wir jetzt.«

Niemand widersprach ihr, obwohl kaum jemand angesichts der unerfreulichen Neuigkeiten großen Hunger verspürte. Aber wie fast immer angesichts der Köstlichkeiten, die Marie-Luise Falkner auftischte, änderte sich das im Laufe der Mahlzeit.

Der kleine Fürst freilich blieb still und in sich gekehrt, er war es auch, der am wenigsten aß und sich nach dem Essen als Erster entschuldigte. Er wollte allein sein, und alle anderen verstanden das.

»Wieso wird er eigentlich ›der kleine Fürst‹ genannt?«, fragte Cosima später, als Peter und sie noch einen abendlichen Gang durch den Schlosspark machten.

»Leo, sein Vater, war ein sehr großer, stattlicher Mann, und er war unglaublich stolz, als Lisa und er endlich einen Sohn bekommen hatten. Er hat Christian dann immer mitgenommen, wenn er reisen musste, Christian war damals winzig, zwei oder drei Jahre alt muss er gewesen sein. Irgendwann haben die Leute angefangen, die beiden ›der große und der kleine Fürst‹ zu nennen.«

»Ach so. Ich habe mich schon gefragt, denn er ist ja noch gar kein Fürst, nicht?«

»Nein, das wird er erst mit dem Erreichen der Volljährigkeit. Bis dahin trägt er den Titel eines Prinzen.«

»Armer Junge«, sagte Cosima. »Ich hoffe, er wird nicht enttäuscht bei dieser unerfreulichen Angelegenheit.«

»Du denkst wirklich immer noch, Leo könnte diese Affäre tatsächlich gehabt haben? Du hast ihn eben nicht gekannt.«

»Nein, aber das macht mich vielleicht objektiver, als ihr es seid. Ihr mochtet ihn, das verstellt einem manchmal den Blick.«

»Und was ist mit der Verbindung zwischen Corinna Roeder und Bodo Kleinert? Was hat sie bei ihm gewollt?«

»Ich habe es doch vorhin schon gesagt: Es spricht in meinen Augen mittlerweile einiges für den Fürsten, aber ich brauche Beweise, Peter. Auf Wahrscheinlichkeiten kann ich mich nicht verlassen, die zählen nicht.« Sie hängte sich bei ihm ein. »Du bist mit den Sternbergern befreundet, also befangen. Ich verstehe, dass du ihnen helfen willst …«

Er unterbrach sie. »Das allein ist es nicht, Cosima. Ich kannte Leo gut. Er hätte so etwas nicht getan.«

»Seine Frau betrügen?«

Peter zögerte. »Nehmen wir mal an, er hätte sie betrogen. Ich glaube nicht daran, aber nehmen wir es an. Es ist also passiert, und dann kommt noch ein Kind. In dem Fall wäre Leo damit anders umgegangen. Erstens hätte er keine jahrelange Affäre gehabt, zweitens hätte er seine Frau und seine Familie nicht jahrelang belogen. Er war ein Mensch, der so etwas einfach nicht tat. Ich will gar nicht sagen, dass er nicht zu einem Seitensprung fähig war, denn das ist vermutlich jeder Mann. Aber er wäre anders damit umgegangen. Verstehst du?«

»Ja, und ich glaube dir sogar, dass du seinen Charakter richtig einschätzen kannst. Noch ein Indiz, Peter, aber kein Beweis.«

Er seufzte. »Du hast einen schrecklichen Beruf.«

Sie lachte leise. »Ich bin eigentlich Computerspezialistin, wie du weißt. Das ist mein Hauptberuf.«

»Jetzt, nach diesen Gutachten, willst du natürlich erst recht noch einmal bei diesem Bodo Kleinert einbrechen, oder?«

Sie lächelte ihn von unten herauf an. »Du kennst mich schon ziemlich gut«, stellte sie fest. »Ich werde morgen mal mit den Anwälten reden, die wollen ja, dass ich noch abwarte, weil die Sache gerade so hochkocht und wir uns natürlich keinen Fehler erlauben dürfen. Aber jetzt, unter den gegebenen Umständen, kann ich sie vielleicht überzeugen, dass wir uns besser beeilen, bevor die Sache völlig aus dem Ruder läuft.«

»Was meinst du damit?«, fragte er erschrocken.

»Für mich sieht es so aus, als würde die Gegenseite ganz allmählich den Druck verschärfen. Soll ich dir sagen, was meiner Meinung nach als Nächstes passiert?«

»Was?«

»Frau Roeder wird sich interviewen lassen.«

»Das hat sie bis jetzt nicht getan. Kein Wort hat sie gesagt, und das vor allem hat ihr große Sympathien eingetragen.«

»Ich weiß. Aber ich glaube, sie wird jetzt eine neue Runde einläuten. Der Brief war nur der Anfang.«

»Mir gefällt nicht, was du sagst«, murmelte er. »Wenn du nämlich Recht hättest, kämen auf meine Freunde noch schwerere Zeiten zu.«

»Davon bin ich leider überzeugt«, sagte sie ernst.

Er blieb stehen und schloss sie in die Arme. »Ich hoffe von ganzem Herzen, dass du etwas entdeckst, das Frau Roeder der Lüge überführt, Cosima.«

Sie küsste ihn zärtlich. »Ich tue, was ich kann«, versprach sie.

*

Corinna Roeder seufzte, als sie aus dem Büro spähte, in dem sie arbeiten musste, seit ›die Affäre‹ an die Öffentlichkeit gelangt war. Sonst stand sie vorne an der Rezeption des exklusiven Hotels ›Victor und Victoria‹. Sie liebte den Umgang mit Gästen, und besonders gern arbeitete sie mit ihrem Kollegen Patrick Herrndorf zusammen. Sie waren ein gutes Team, aber natürlich sah sie ein, dass es besser war, wenn sie derzeit nicht in Erscheinung trat. Sie war ja froh, dass ihr Chef zumindest bis jetzt nicht auf die Idee gekommen war, sie zu beurlauben. Sie arbeitete schon seit Jahren in diesem Hotel, und bis die Sache mit den Sternbergern ausgestanden war, brauchte sie den Job. Wie es danach aussah, war nicht abzusehen, das kam darauf an, wie sie sich mit der Familie von Prinz Christian einigen würde. Wie es aussah, konnte sich die Sache hinziehen. Damit hatte sie nicht unbedingt gerechnet.

An der Rezeption war viel los. Sie schloss die Tür wieder und betrachtete nachdenklich den Zettel, der vor ihr auf dem Schreibtisch lag. ›Ferdinand von Stade‹ stand darauf – und einige Telefonnummern. Sie wusste mittlerweile, wer Ferdinand von Stade war: Ein angesehener Journalist bei einer seriösen Zeitung. Er hatte bereits einen großen Artikel über sie und den Fürsten geschrieben und darin Sympathie für sie erkennen lassen. Nun hatte er sie um ein Interview gebeten.

Es klopfte kurz, dann kam Patrick herein. »Wie geht’s dir in deinem Gefängnis?«, fragte er.

»Geht so«, antwortete sie. »Du weißt, ich wäre lieber draußen. Man wird verrückt, wenn man den ganzen Tag mit niemandem redet.«

»Ich bin also niemand«, stellte er fest. Er war groß, blond und blauäugig – der Traum aller Schwiegermütter mit seinem jungenhaften Charme und dem etwas frechen Lächeln. Er war ein paar Jahre älter als sie, Anfang Vierzig, aber er sah deutlich jünger aus.

»Das wollte ich damit nicht sagen, und das weißt du auch«, erwiderte sie. »Wenn nicht wenigstens du ab und zu hier hereinkommen würdest, wäre ich schon längst durchgedreht.« Sie zögerte, dann sagte sie: »Du hast doch neulich diesen Journalisten erwähnt, Ferdinand von Stade.«

»Offenbar ein Fan von dir«, stellte er fest.

»Er will mich interviewen.«

»Und? Wirst du dich darauf einlassen?«

»Ich weiß es noch nicht. Du hast gesagt, er ist keiner von diesen Schmierfinken, die nur Lügengeschichten verbreiten.«

»Im Gegenteil, er hat einen sehr guten Ruf. Wenn du überhaupt mit einem Journalisten reden willst, dann rede mit ihm. Er nimmt seine Sache wirklich ernst, er ist nicht sensationslüstern, wie so viele andere.«

»Ich überlege es mir noch«, sagte sie. »Bisher bin ich ganz gut damit gefahren, mit niemandem zu reden. Die Aufregung ist auch so schon groß genug.«

»Das kann man wohl sagen. Ich bewundere dich dafür, dass du immer noch so ruhig wirkst.«

Sie lächelte ihn an. Er mochte sie, das wusste sie, und es tat ihr gut, dass er an sie glaubte. »Das täuscht. Ich bin in Wirklichkeit überhaupt nicht ruhig.«

»Das kannst du aber sehr gut verbergen.«

Sie seufzte. »Was würdest du tun an meiner Stelle? Mit ihm reden?«

»Ich möchte dir lieber keinen Rat geben, Corinna. Ferdinand von Stade hat einen guten Ruf, das heißt aber noch längst nicht, dass es auch gut für dich wäre, mit ihm zu reden.«

»Nein, das wohl nicht«, gab sie zu. »Ich frage mich im Augenblick, ob es gut für mich war, diesen Brief zu schreiben, in dem ich meine Beziehung zu Fürst Leo aufgedeckt habe. Vielleicht hätte ich das lassen und so weiterleben sollen wie bisher. Schließlich sind wir ganz gut durchgekommen, mein Sohn und ich.«

»Weiß er eigentlich mittlerweile Bescheid?« Patrick wusste, dass Sebastian Roeder als Austauschschüler in den USA war. Corinna hatte ihm erzählt, sie habe es für das Beste gehalten, ihren Sohn aus der Geschichte herauszuhalten, bis das Schlimmste überstanden war. Den Namen seines Vaters hatte sie ihm nie gesagt.

»Ja«, antwortete sie jetzt zu Patricks Überraschung. »Ich habe es ihm vor ein paar Tagen gesagt, weil ich damit rechne, dass sie ihn irgendwann doch ausfindig machen. Ich wollte nicht, dass er unvorbereitet von jemandem mit Fragen überfallen wird.«

»Wie hat er reagiert?«

»Ungläubig«, antwortete sie lächelnd. »Er hat mich gefragt: ›Du warst mit dem Fürsten von Sternberg zusammen, und ich bin sein Sohn? Das ist echt krass.‹ Besonders beeindruckt schien er mir nicht zu sein, und ich bin froh darüber. Er hat gerade andere Dinge im Kopf, er ist nämlich zum ersten Mal richtig verliebt. Darüber bin ich froh, weil er so ein Einzelgänger ist. Jedenfalls mache ich mir keine Sorgen mehr, was er sagen wird, wenn in seiner amerikanischen Kleinstadt ein deutscher Reporter auftaucht. Mit dem wird er schon fertig. Ich habe außerdem seine Gasteltern informiert, damit sie auch Bescheid wissen, was da möglicherweise auf sie zukommt.«

»Du scheinst wirklich alles im Griff zu haben«, sagte er bewundernd.

»Ich gebe mir Mühe, Patrick.«

»Ich muss wieder zurück, bis später.«

»Ja, bis später.«

Als er gegangen war, schob sie den Zettel mit Ferdinand von Stades Telefonnummern in ihre Tasche. Sie würde ihre Entscheidung noch einmal aufschieben.

*

Franziska von Severn las auf dem Weg zur Gepäckausgabe an einem Kiosk im Flughafen die dicke Balkenüberschrift einer Boulevardzeitung, die sie unwillkürlich stehen bleiben ließ: ›Neue Beweise für Fürst Leopolds Affäre?‹ Sie wandte sich einer Frau zu, die die Zeitung gerade gekauft hatte: »Welcher Fürst Leopold ist denn da gemeint?«, fragte sie, auf die Schlagzeile deutend.

»Wo waren Sie denn in den letzten Wochen?«, lachte die Frau. »Der verstorbene Fürst von Sternberg soll doch einen unehelichen Sohn gehabt haben, der zwei Jahre vor Prinz Christian auf die Welt gekommen ist. Die Mutter will jetzt Geld für den Jungen haben, damit er eine gute Ausbildung erhält. Jeden Tag stehen neue Einzelheiten in der Zeitung.«

»Ich war für drei Monate in Brasilien«, erklärte Franziska, »ich habe Ureinwohner im Dschungel interviewt für ein Buch. Bis dahin sind diese Neuigkeiten nicht gedrungen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube kein Wort von dieser Geschichte.«

»Na, dann lesen Sie mal ein paar Zeitungen, und Sie werden Ihre Meinung bald ändern«, erwiderte die Frau, nickte ihr noch einmal zu und ging davon.

Auch Franziska setzte ihren Weg fort. Zum Glück musste sie nicht lange auf die Koffer warten. Vor dem Ausgang wartete ihr Bruder Carl, der mit beiden Armen heftig winkte, sobald er sie erblickt hatte. »Na, Schwesterchen, guten Flug gehabt?«, fragte er, als er sie an sich drückte.

»Danke, sehr gut. Und wie sieht’s zuhause aus, Carl? Alles in Ordnung?«

»Bestens, wie immer. Mama und Papa sind natürlich sehr gespannt auf deine Erlebnisse. Ich habe ihnen gesagt, wir bringen zuerst das Gepäck in deine Wohnung, dann kommen wir. Es gibt ein richtiges Festessen zu deiner Begrüßung, aber das hast du dir bestimmt schon gedacht.«

Franziska lächelte. »Ja, und ich habe mich darauf gefreut. Die Verpflegung im Flugzeug war nämlich leider nicht so toll. Es hat da irgendeine Panne gegeben, es gab nicht einmal ein richtiges Frühstück.«

»Du Ärmste!« Er beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie auf die Wange.

Die beiden Geschwister sahen einander sehr ähnlich. Beide hatten die hellblonden Haare ihrer Mutter Susanna geerbt, sowie deren blaue Augen, die schmale, gerade Nase und die schlanke Figur. Ihr Vater Ludwig seufzte manchmal, wenn er sie ansah und sagte dann, freilich mit vergnügtem Augenzwinkern: »Ob ihr wohl wirklich meine Kinder seid? Ihr seht mir so gar nicht ähnlich!«

Ludwig von Severn war nämlich schon als Kind eher rundlich gewesen, auch sein Gesicht war rund. Zudem war er ein eher dunkler Typ, mit fast schwarzen Haaren und Augen und einer Haut, die auch im Winter niemals ganz blass wurde.

»Bist du mit deiner Arbeit zufrieden?«, fragte Carl, als er die Koffer verladen hatte.

»Ja, sehr, aber jetzt sitzt mir der Verlag im Nacken, die möchten das Buch gerne früher herausbringen«, seufzte Franziska. »Das ist natürlich einerseits sehr schön, andererseits hätte ich gern genügend Zeit, um das Material in Ruhe zu sichten. Jetzt sieht es so aus, als würde ich mich ziemlich ranhalten müssen.«

»Ach, du schaffst das schon«, meinte Carl sorglos. »Du schaffst doch immer alles.«

»Findest du? So sehe ich das aber überhaupt nicht.« Die Zeitung mit der Schlagzeile fiel ihr wieder ein. »Sag mal, was ist das für eine Geschichte mit Fürst Leo?«

Der vergnügte Ausdruck verschwand von Carls Gesicht. »Zuerst haben wir nur gelacht, weil die Sache sich so absurd angehört hat, aber mittlerweile wächst sie sich zu einem richtigen Skandal aus. Eine Frau behauptet, einen siebzehnjährigen Sohn von Leo zu haben.«

»Ja, das habe ich schon gehört, aber das ist doch Unsinn!«, rief Franziska. »Ausgerechnet Leo, der niemals eine andere Frau angesehen hat als seine eigene.«

»Das sagen die Leute, die ihn kannten. Die anderen sagen: Typisch, da hat sich wieder einmal ein mächtiger Mann genommen, was ihm seiner Ansicht nach zustand.«

»Aber doch nicht Leo, Carl!«, protestierte Franziska erneut.

»Es gibt angeblich Beweise, Franzi, Fotos, die Leo mit dieser Frau zeigen. Man munkelt jetzt sogar, dass es Briefe gibt, die er ihr geschrieben und die sie natürlich aufbewahrt hat.«

»Wer sagt das? Sind die Fotos und Briefe veröffentlicht worden?«

»Noch nicht, aber du weißt doch, wie das läuft: Zuerst wird nur gemunkelt, weil es immer Leute gibt, die Informationen haben, und dann tauchen die Beweise irgendwann tatsächlich auf.«

»Beweise kann man fälschen«, sagte Franziska.

»Ja, natürlich. Mich musst du nicht überzeugen. Trotz allem, was jetzt geredet wird, bin ich auch immer noch nicht von Leos Schuld überzeugt. Ich sage dir nur, dass es mittlerweile eine Menge Leute gibt, die von ihm abrücken.«

»Wer ist denn diese Frau?«, fragte Franziska mit gerunzelter Stirn.

»Corinna Roeder heißt sie, sie arbeitet in einem Hotel, und sie will angeblich nur Geld, damit sie ihrem Sohn eine gute Ausbildung finanzieren kann. Es heißt, dass der Junge sehr begabt ist und dass der Fürst ihn zu seinen Lebzeiten immer unterstützt hat.«

»Und der Junge …«

»… ist irgendwo als Austauschschüler, offenbar hat er nicht gewusst, wer sein Vater ist.«

»Wer sein Vater sein soll«, verbesserte Franziska. »Besonders für Christian muss das die Hölle sein. Zuerst verliert er seine Eltern, und nun verliert sein Vater den guten Ruf.«

»Mama hat die Sternberger neulich angerufen und lange mit Sofia gesprochen. Es sind schwere Zeiten für die ganze Familie, soviel steht fest.«

»Und was tun sie? Gehen sie gegen diese Behauptungen vor?«

»Sie haben ihre Anwälte eingeschaltet, natürlich, und die arbeiten offenbar mit Leuten zusammen, die nach Beweisen dafür suchen, dass die Behauptungen haltlos sind.«

»Sie müssen Leo exhumieren«, sagte Franziska nach kurzem Nachdenken. »Ein Gentest, und alle Fragen sind geklärt.«

»Das ist vielleicht nicht ganz so einfach in diesem Fall.«

»Was willst du damit sagen?«

»Der Hubschrauber hat nach seinem Absturz gebrannt, das weißt du doch.«

»Du meinst, es gibt vielleicht nicht mehr genügend … Material für einen Gentest?«

»Das ist zumindest vorstellbar. Und das wird Corinna Roeder auch wissen. Außerdem würde eine Exhumierung für sehr viel Wirbel sorgen. Niemand kann daran ein Interesse haben.«

»Aber wenn sich die Sache anders nicht klären lässt …«

»Das ist ja noch nicht raus. Vielleicht finden sie einen Beweis.«

Franziska erwiderte nichts. Sie hatte die Schlagzeile zunächst nicht ernst genommen, nun jedoch erkannte sie, dass ›die Affäre‹ für die Fürstenfamilie eine ernste Gefahr darstellte. Sie beschloss, ohne lange darüber nachzudenken, gleich am nächsten Tag für einen kurzen Besuch nach Sternberg zu fahren.

In einer Situation wie dieser musste man zu seinen Freunden stehen.

*

»Jeden Tag etwas Neues«, sagte Dr. Hagen von Boldt müde und schob seiner Kollegin Barbara von Kreyenfelss eine Zeitung über den Tisch.

Er hatte sie einige Jahre zuvor in seine Kanzlei geholt, um sein Arbeitsumfeld zu verjüngen. Er selbst war vor Kurzem sechzig Jahre alt geworden, Barbara war Mitte Dreißig. Viele Kollegen hatten ihn gewarnt und ihm vorhergesagt, der Generationenkonflikt sei praktisch vorprogrammiert, doch sie hatten sich geirrt. Barbara und er verstanden sich ausgezeichnet. Ihr manchmal impulsives Temperament wurde durch seine Ruhe gemildert, anders herum brachte sie frische und originelle Ideen ein, wo er vielleicht in eingefahrenen Bahnen geblieben wäre. Außerdem machte ihm die Arbeit wieder deutlich mehr Spaß, seit sie zum Team gehörte.

»Jetzt haben sie mehrere Kolleginnen und Kollegen von Corinna Roeder interviewt«, fuhr er fort. »Und rate mal, was die gesagt haben.«

»Dass Frau Roeder eine tolle Frau ist, die ihren unehelichen Sohn tapfer allein aufgezogen hat und die niemals lügen würde?«, vermutete Barbara.

»Ziemlich gut getroffen«, erwiderte er. »Der Boulevard macht richtig Stimmung für die Frau, und die Sympathie für Fürst Leopold schwindet mit jedem Tag. Zumindest ist das mein Eindruck.«

»Meiner auch.«

»Hier, hör dir das mal an: Eine bessere Kollegin kann man sich nicht wünschen. Corinna hat nie schlechte Laune, und man kann auch mal zu ihr gehen und ihr sein Herz ausschütten. Außerdem bewundere ich sie dafür, wie sie das all die Jahre allein mit ihrem Sohn hingekriegt hat. Er ist ein toller Junge geworden, und das ist zu einem großen Teil ihr Verdienst. Fehlt nur noch die Heiligsprechung.«

»Vielleicht sollten wir unsere Strategie angesichts der jetzigen Situation noch einmal überdenken«, sagte Barbara. »Diese große Zurückhaltung der Sternberger den Medien gegenüber beginnt sich gegen sie zu wenden. Das ist nicht in unserem Sinne.«

»Der Baron sollte ein Interview geben, meinst du?«

»Oder seine Frau – oder der kleine Fürst. Vielleicht ist die Idee ja auch nicht gut, aber wir sollten zumindest darüber nachdenken. Ein Interview mit einem seriösen Journalisten. Man muss doch diesen Geschichten etwas entgegensetzen, meinst du nicht?«

»Ich weiß es nicht, Barbara. Dieser Fall macht mich ratlos, muss ich sagen.«

»Was würdest du tun, wenn sich herausstellte, dass Frau Roeder die Wahrheit sagt?«

»Was ich tun würde? Keine Ahnung. Ich weiß aber, was ich denken würde: Dass meine Menschenkenntnis doch nicht so gut ist, wie ich mir eingebildet habe. Und ich würde Prinz Christian bedauern, ihn vor allem. Für ihn würde eine Welt zusammenbrechen.«

Barbara nickte nur, ohne etwas zu erwidern. Nach einer Weile fragte sie: »Hast du etwas von Cosima gehört? Ist sie noch auf Sternberg?«

»Ja, aber sie kommt morgen zurück. Ich habe gestern Abend mit ihr gesprochen. Die Sache mit den beiden graphologischen Gutachten hat auf Sternberg natürlich eingeschlagen wie eine Bombe.«

»Kann ich mir vorstellen.«

»Sie machte sich aufrichtige Sorgen um Christian.«

»Verständlich. Hat sie noch einmal über die Werkstatt von Herrn Kleinert gesprochen? Sie will da ja schließlich ein zweites Mal einsteigen, um zu sehen, ob sie noch mehr finden kann als beim ersten Versuch.«

»Ja, sie hat mich gebeten, mit dir darüber zu reden. Vor allem du hast ja darauf bestanden, dass sie mit dem zweiten Einbruch noch wartet, falls er etwas gemerkt haben und misstrauisch geworden sein sollte. Aber sie findet jetzt natürlich, dass die Sache mehr denn je eilt.«

»Und leider hat sie Recht«, seufzte Barbara. »Die Vorstellung, dass sie mit unserem Wissen eine Straftat begeht, ist mir allerdings nach wie vor schrecklich, Hagen.«

»Sie wird es uns erst erzählen, wenn es vorbei ist.«

»Und das soll mich jetzt beruhigen?«

Zum ersten Mal an diesem Morgen lächelte er. »Ja!«, sagte er mit Nachdruck. »Sie ist unser Trumpf-Ass, Barbara. Sie hat den bisher einzigen deutlichen Hinweis darauf gefunden, dass Corinna Roeder etwas zu verbergen hat.«

»Schon gut, du musst mich nicht mehr überzeugen«, murmelte sie. »Aber ich werde erst wieder ruhig schlafen können, wenn diese verflixte Geschichte vorbei ist.«

»Das kann dauern«, sagte er ruhig.

»Ich weiß«, stöhnte Barbara.

*

»Hier hat mein Vater gearbeitet«, sagte Christian, während er eine Tür öffnete. Er ließ Cosima höflich den Vortritt.

»Was für ein schöner Raum«, sagte sie bewundernd. »Aber eigentlich hat dieses Schloss nur schöne Räume. Ich frage mich, seit ich hier bin, wie es sein muss, in einer solchen Umgebung aufzuwachsen. Führt es nicht dazu, dass dir hässliche Dinge direkt wehtun?«

Er lächelte zum ersten Mal, seit sie ihn am Tag zuvor kennengelernt hatte. »Das hat mich noch niemand gefragt, aber ich glaube, es stimmt. Wenn ich hässliche Häuser oder Einrichtungen sehe, schließe ich oft die Augen, weil ich mich sofort unbehaglich fühle.« Er ging zu einem wunderschön gearbeiteten alten Sekretär. »Da sind noch lauter Sachen meiner Eltern drin«, sagte er. »Willst du die durchsehen?«

Sie dachte darüber nach. »Angenommen, dein Vater hätte etwas zu verbergen gehabt: Hätte er es in diesem Sekretär versteckt?«

»Bestimmt nicht, meine Mutter hat ja auch Sachen darin aufgehoben. Neulich war ich mal mit Anna hier, da haben wir alte Fotos gefunden, die hat bestimmt meine Mutter hier verwahrt.«

»Dann brauche ich auch nicht in euren persönlichen Sachen zu wühlen, Chris.«

Er bemühte sich, seine Erleichterung über ihre Antwort zu verbergen, es gelang ihm jedoch nicht ganz. »Aber du suchst doch nach Beweisen«, sagte er zögernd.

»Ich glaube nicht, dass ich sie hier finde, Chris. Wenn dein Vater kein Verhältnis mit Frau Roeder hatte, gibt es sowieso nichts zu finden. Hatte er doch eins, wird er Beweise dafür entweder vernichtet oder woanders aufbewahrt haben. Ich habe gestern Abend lange darüber nachgedacht. Für mich ist es gut, mich hier umzusehen und eine Vorstellung davon zu bekommen, was für ein Mensch dein Vater gewesen ist, auch wenn das die Gefahr vergrößert, dass ich meine Unbefangenheit verliere.«

»Warum musst du unbefangen sein?«, fragte er. »Warum kannst du nicht unsere Freundin sein, die versucht, uns zu helfen?«

Sie sah ihn nachdenklich an. »Befangenheit macht blind«, antwortete sie. »Zumindest auf einem Auge. Ich würde vielleicht Dinge, die deinen Vater belasten, übersehen, ich würde sie gar nicht finden wollen, verstehst du?«

»Aber wenn du dir der Gefahr bewusst bist, würdest du das doch verhindern können, oder nicht?«

»Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Wenn mein Wunsch, euch wieder glücklich zu sehen, sehr groß wäre, würde ich bestimmt anfangen, nur noch in eine bestimmte Richtung zu denken.«

»Ich glaube, ich verstehe, was du meinst«, sagte der kleine Fürst nachdenklich.

»Trotzdem hast du nicht ganz Unrecht, Chris. Ich bin ja keine Richterin, die schließlich ein Urteil verkünden muss. Oft verlasse ich mich einfach auf mein Gefühl, und vielleicht sollte ich das auch jetzt tun.«

Er öffnete den Mund, um eine Frage zu stellen, doch sie kam ihm zuvor. »Frag mich jetzt nichts mehr, lass mir ein bisschen Zeit, ja?«

»Ist gut. Was willst du noch sehen?«

»Lass uns erst einmal hierbleiben. In diesem Raum hat dein Vater also viel Zeit verbracht?«

»Ja, sehr viel, jeden Tag.«

»Ich nehme an, hier wird regelmäßig gründlich geputzt?«

Der kleine Fürst nickte. »Ja, leider. Ich weiß schon, du fragst wegen möglicher DNA-Spuren.«

»Auf die Idee sind andere natürlich auch schon gekommen«, murmelte sie.

»Wir haben alles abgesucht, auch Papas Kleidung, aber alles war längst gewaschen und gereinigt worden, das meiste haben wir dann an Bedürftige verschenkt. Wir konnten ja nicht ahnen …« Er verstummte. Cosima drang nicht weiter in ihn. Ihr Gehirn arbeitete auf Hochtouren, während sie sich Einzelheiten des Raums einprägte.

Im Gespräch mit Christian war ihr bewusst geworden, dass ihre Unparteilichkeit in diesem Fall bereits verloren war: Sie hätte alles getan, um diesem traurigen Fünfzehnjährigen, der sich trotz böser Schicksalsschläge so tapfer hielt und seinen toten Vater verteidigte, zu helfen.

*

»Vielleicht muss Onkel Leo doch wieder ausgegraben werden«, sagte Anna zu ihrem Bruder. Sie waren nicht mit in den Ostflügel gegangen, da sie den Eindruck gehabt hatten, dass Cosima gern unter vier Augen mit dem kleinen Fürsten reden wollte.

»Du hast das neulich schon mal gesagt«, erwiderte Konrad, »aber weil Chris dabei war, habe ich meinen Mund gehalten. Vergiss es, Anna.«

Sie sah ihn verwirrt an. »Was soll ich vergessen?«

»Tante Lisa und Onkel Leo sind ziemlich sicher verbrannt, ist dir das nicht klar? Der Hubschrauber hat jedenfalls gebrannt nach dem Absturz, und niemand weiß genau, in welchem Zustand die Leichen waren, als der Brand gelöscht war. Keiner von uns hat sie noch einmal gesehen. Mama nicht, Papa nicht, wir drei nicht.«

Anna saß da wie vom Donner gerührt. »Darüber habe ich überhaupt noch nicht nachgedacht«, gestand sie endlich. »Ich weiß, dass wir damals, direkt nach dem Unglück, mal darüber gesprochen haben, aber seitdem …« Sie beendete ihren Satz nicht. Erst nach einer Weile fragte sie: »Glaubst du, dass Chris das bewusst ist?«

»Keine Ahnung«, antwortete Konrad. »Vielleicht verdrängt er es, ich könnte das gut verstehen. Aber die Frau Roeder weiß es garantiert, und ich wette, das hat sie in ihre Überlegungen mit einbezogen.«

»Aber das ist ja furchtbar, Konny!«, rief Anna, der allmählich bewusst wurde, was die Worte ihres Bruders bedeuteten. »Ich habe bis jetzt immer gedacht, wenn alle Stricke reißen, dann müssen wir eben Onkel Leo noch einmal ausgraben, und danach ist die Sache klar. Das geht dann ja vielleicht gar nicht.« Sie klatschte sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Wieso habe ich daran aber auch nicht mehr gedacht?«

»Weil wir alle wissen, dass Mama und Chris auf gar keinen Fall eine Exhumierung wollen. Für sie ist es eine grauenvolle Vorstellung.«

»Dann ist also alles noch viel schlimmer als sowieso schon.«

»Cosima findet vielleicht noch etwas«, sagte Konrad. »Sie ist klug, und sie ist richtig nett. Außerdem mag sie uns. Vielleicht strengt sie sich deshalb jetzt noch mehr an als vorher.«

»Das wäre schön.« Annas Stimme klang sehnsüchtig. »Ich möchte so gern, dass man uns wieder in Ruhe lässt, Konny.«

»Das wünschen wir uns alle.«

*

»Du hast dich nicht interviewen lassen«, sagte Corinna, als Patrick ihr wieder einmal einen Besuch abstattete.

Vor ihr lag die Zeitung, die Interviews mit mehreren ihrer Kolleginnen und Kollegen veröffentlicht hatte. Auch ihr Chef hatte sich äußerst positiv über sie geäußert, aber sie machte sich keine Illusionen. Zwar schätzte er sie, aber vor allem ging es ihm um Werbung für das Hotel, und diese Werbung lieferte sie ihm im Augenblick kostenlos. Würde die öffentliche Meinung kippen und sich gegen sie wenden, sie wäre ihre Arbeit, dessen war sie gewiss, sehr schnell los. Sie betrachtete das Foto von ihr, das die Zeitung veröffentlicht hatte. Es war ein schönes Foto, sie erinnerte sich daran, wie es vor zwei oder drei Jahren aufgenommen worden war. Sie lächelte darauf, ihre blonden Haare waren damals kürzer gewesen als heute. Sie trug hautenge Jeans, in denen ihre Rundungen gut zur Geltung kamen. Im Hotel kleidete sie sich natürlich viel seriöser, aber auch kein noch so streng geschnittenes Kostüm konnte ihre Attraktivität verbergen, und das wusste sie. Die Reaktionen vor allem der männlichen Gäste zeigten es ihr.

»Nein«, erwiderte Patrick. »Ich dachte mir, es reicht, wenn alle anderen dein Loblied singen, da werde ich nicht auch noch gebraucht.«

»Es ist mir fast ein bisschen unheimlich, das zu lesen«, gestand sie. »Ich wusste nicht, dass ich so beliebt bin.«

»Ich will dir deine Illusionen nicht rauben, aber der Chef hat vorher eine kleine Ansprache gehalten. Darin war viel von ›Solidarität‹, ›Teamgeist‹ und dem ›Ruf unseres Hauses‹ die Rede.« Er lächelte sie an. »Aber du bist tatsächlich beliebt, Corinna, nicht nur bei unseren männlichen Gästen.«

»Meinst du?«

»Niemand ist gezwungen worden, sich interviewen zu lassen. Wer also nichts Positives über dich sagen wollte, brauchte sich ja nicht zu beteiligen.«

»Danke«, sagte sie leise. »Es klingt vielleicht blöd, aber mir tut es gut zu lesen, dass die anderen mich mögen und meine Arbeit schätzen.«

»Das wusstest du aber doch auch vorher schon, oder nicht?«

»Ich habe es gehofft, aber jetzt habe ich es schwarz auf weiß, das ist etwas anderes.«

Er sah ihr in die Augen. »Wie geht’s dir sonst?«, fragte er.

»Nicht so gut, das kannst du dir ja wohl denken. Ich muss mich immer noch verstecken, und vielleicht bleibt das jetzt für lange Zeit so. Und ich bin traurig, dass sich die Sache so lange hinzieht.«

»Ist dein Anwalt auch wirklich gut?«

»Oh ja, ganz bestimmt, er baut mich bei jedem Gespräch auf, und er ist sehr zuversichtlich. Wir haben ja noch einiges in der Hinterhand.«

»Ich wünsche dir jedenfalls, dass du Recht bekommst«, sagte Patrick. »Und mir wünsche ich, dass wir beide bald wieder zusammen vorn an der Rezeption stehen, Corinna. Wir sind das beste Team von allen.«

Als er gegangen war, griff sie noch einmal nach dem Zettel mit Ferdinand von Stades Telefonnummern. Sollte sie oder sollte sie nicht?

*

Franziska schlief lange am Tag nach ihrer Rückkehr aus Brasilien. Die Zeitverschiebung machte ihr zu schaffen, dennoch war sie nach wie vor entschlossen, nach Sternberg zu reisen. Sie hatte einen schönen Abend mit ihren Eltern und Carl verbracht, bei dem sich die Gespräche natürlich zunächst nur um ihre Reise gedreht hatten, doch schon bald war Leopold von Sternbergs angebliche Affäre das Hauptthema geworden.

»Allmählich fragen wir uns«, hatte ihr Vater irgendwann gesagt, »ob nicht vielleicht doch etwas dran ist. Es gibt so viele Indizien, die darauf hinweisen, dass Leo tatsächlich eine Affäre mit dieser Frau hatte. Die können ja nicht alle falsch sein.«

»Was für Indizien, Papa?«, hatte Franziska gefragt. »Hat irgendjemand diese angeblichen Fotos und Briefe gesehen?«

»Das nicht, aber sie existieren, das schreiben mehrere Zeitungen, und die sind ja gewöhnlich besser informiert als wir.«

»Ihr könnt sagen, was ihr wollt, ich glaube keine Sekunde an diese Affäre und den angeblichen Sohn. Und ich werde morgen nach Sternberg fahren und fragen, ob ich etwas für Chris und die Kants tun kann.«

»Du willst nach Sternberg?«, hatte ihre Mutter entgeistert gerufen. »Das lass mal lieber bleiben, du solltest dich nicht in diese Geschichte verwickeln lassen, Franzi.«

»Die Sternberger sind meine Freunde, Mama, und ich will sehen, wie es ihnen geht.«

Danach war die Stimmung nicht mehr ganz so entspannt gewesen, und Franziska hatte sich wenig später mit dem Hinweis, sie sei wegen der Zeitverschiebung sehr müde, verabschiedet.

Sie war dann erst sehr spät ins Bett gegangen, jetzt jedoch fühlte sie sich einigermaßen ausgeschlafen. Die Koffer hatte sie zum großen Teil bereits ausgepackt, jetzt wollte sie sich zuerst ein üppiges spätes Frühstück gönnen. Am frühen Nachmittag würde sie dann nach Sternberg fahren und abends wieder zurückkommen, es war ja nicht allzu weit bis dorthin.

Da ihr Kühlschrank leer war, beschloss sie, das Frühstück in einem Café einzunehmen. Anschließend würde sie einkaufen und sich dann in aller Ruhe auf den Weg nach Sternberg machen.

*

Ferdinand von Stade saß an seinem zweiten großen Artikel über Fürst Leopold von Sternbergs Affäre. Oder besser gesagt: Er plante, anhand dieses Beispiels, eine Abhandlung über die moderne Medienwirklichkeit. Natürlich war ihm bewusst, dass die Geschichte vor allem für den fünfzehnjährigen Sohn des verstorbenen Fürstenpaars katastrophal war, aber seine Sympathie gehörte dennoch Corinna Roeder, dieser couragierten Frau, die jetzt für eine bessere Zukunft ihres Sohnes kämpfte.

Nur brauchte er unbedingt ein Interview mit ihr. Sie hatte sich bis jetzt von niemandem interviewen lassen, was er für klug hielt. Sie trat in der Öffentlichkeit praktisch überhaupt nicht in Erscheinung, was sympathisch und bescheiden wirkte. Auch dass sie weiterhin arbeitete, kam bei den Leuten gut an.

Sein Chef hatte ihm grünes Licht gegeben, aber von ihm verlangt, dass er es schaffte, mit Corinna Roe­der zu reden. »Die Frau ist im Augenblick eine Garantin für eine hohe Auflage«, hatte er gesagt. »Ein Foto von ihr, schon haben wir zwanzigtausend Zeitungen mehr verkauft. Die Boulevardpresse hat das natürlich längst begriffen und nutzt es nach Kräften aus.«

Ihm widerstrebte es eigentlich, seine Arbeit nach solchen Gesichtspunkten auszurichten, andererseits lag ihm der Erfolg der Zeitung, für die er schrieb, natürlich am Herzen. Also hatte er Corinna Roeder angerufen. Es war nicht einfach gewesen, zu ihr vorzudringen, doch schließlich hatte er es geschafft. Ihre Stimme war angenehm leise gewesen, sie hatte eine kultivierte Art zu sprechen und ihm schließlich versprochen, sich seinen Vorschlag zu überlegen und zurückzurufen. Das hatte sie bis jetzt nicht getan.

Er saß also gewissermaßen wie auf Kohlen. Noch keinen vernünftigen Satz hatte er zu Papier gebracht, weil er sich nicht konzentrieren konnte. Ohne das Interview mit ihr würde es seinen Artikel nicht geben, also arbeitete er möglicherweise für den Papierkorb, und das war nicht motivierend.

Als sich sein Telefon meldete, machte er einen regelrechten Satz. »Roeder«, sagte die Stimme, die er sofort wiedererkannte.

»Und ich dachte, Sie hätten mich vielleicht vergessen.«

»Ich musste mir das gut überlegen, Herr von Stade, dafür haben Sie doch sicherlich Verständnis.«

»Ja, natürlich.«

Atemlos wartete er darauf, dass sie ihm ihre Entscheidung mitteilte. Als sie es schließlich tat, biss er sich fest auf die Lippen, um keinen Triumphschrei auszustoßen.

»Ich bin einverstanden, Herr von Stade. Aber ich möchte das Interview lesen, bevor es veröffentlicht wird, und behalte mir vor, Passagen zu streichen.«

»Dass wir es noch einmal vorlegen, ist bei uns üblich, Frau Roe­der.«

»Am besten machen wir es hier im Hotel«, sagte sie.

Er wusste längst, dass sie mittlerweile dort wohnte, behielt sein Wissen aber für sich. »Wann und wo?«, fragte er.

Sie nannte ihm Zeit und Ort und verabschiedete sich. Er konnte nicht umhin, sie auch jetzt wieder zu bewundern: Sie war gut organisiert, hatte sich vorher alles genau überlegt, und sie schien zu wissen, was sie tat.

Er beschloss, die Arbeit für eine Stunde ruhen zu lassen und sich endlich das Frühstück zu gönnen, das er heute Morgen vor lauter Anspannung nicht hatte hinunterbringen können. In seiner Nähe gab es ein Café mit einem ausgezeichneten Angebot, dort würde er zuschlagen.

Er hatte es sich wahrhaftig verdient.

*

»Auf Wiedersehen, Cosima«, sagte Baronin Sofia und drückte die junge Frau an sich. »Wir sehen uns hoffentlich wieder – und noch mehr hoffe ich, dass Sie mit Ihren weiteren Nachforschungen Erfolg haben werden.«

»Das hoffe ich auch«, erwiderte Cosima ernsthaft.

Auch Peter von Boehringen umarmte die Baronin zum Abschied. »Sie ist die Beste«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Und sie hat Mut, sie wird etwas finden, Sofia.«

Seine Worte taten ihr gut, sie zeigte es ihm mit einem dankbaren Lächeln.

Baron Friedrich war im Gestüt unterwegs mit einem Mann, der mehrere Rennpferde kaufen wollte, von ihm hatten sich Cosima und Peter schon vorher verabschiedet, ebenso von den Teenagern, die längst in der Schule waren.

Cosima wandte sich Eberhard Hagedorn zu und reichte ihm die Hand. »Auf Wiedersehen, Herr Hagedorn, es war mir eine Freude, Sie kennenzulernen. Sie sind eine Art Legende, das wissen Sie hoffentlich?«

»Nein, ich wusste es nicht, Frau von Orth, und sollte es tatsächlich so sein, so wäre es mir eher unangenehm.«

»Mir gefällt es, Sie sind die erste Legende, die ich kennenlernen durfte.«

Daraufhin schmunzelte der alte Butler. »Wenn Sie es so sehen wollen, Frau von Orth, soll es mir recht sein.«

»Tschüss, Herr Hagedorn«, sagte Peter in seiner lockeren Art. »Ich schätze mal, es dauert nicht lange, bis wir wieder einmal hier sind.«

»Das würde mich sehr freuen, Herr von Boehringen.«

»Uns alle würde es freuen!«, setzte Sofia mit Nachdruck hinzu.

Die beiden fuhren los, sie winkten ihnen lange nach. »Hoffentlich findet sie etwas, Herr Hagedorn«, seufzte Sofia. Sie hatte sich zusammengerissen, so lange Gäste auf Sternberg gewesen waren, doch jetzt kam ihre ganze Niedergeschlagenheit und Verzweiflung wieder zum Vorschein.

»Ich denke, das wird sie, Frau Baronin«, erwiderte Eberhard Hagedorn mit so viel Zuversicht in der Stimme, dass Sofia sich umgehend getröstet fühlte. »Darf ich Ihnen einen Tee bringen? Vielleicht eine von Frau Falkners Spezialmischungen? Ich habe Feuer gemacht im Kamin der Bibliothek.«

»Ja, ich glaube, dort würde ich jetzt gern einen Tee trinken, vielen Dank, Herr Hagedorn.«

Der alte Butler entfernte sich Richtung Küche, Sofia eilte zur Bibliothek, wo sie sich in einen der schweren, alten Ledersessel sinken ließ und ins munter brennende Feuer blickte. Würde diese unselige Geschichte bald ein Ende finden?

*

Das Café war voll besetzt, lebhafte Gespräche und Gelächter erfüllten den Raum. Franziska freute sich, noch einen freien Tisch ergattert zu haben, sogar einen am Fenster. So konnte sie nicht nur ihr Frühstück genießen, sondern auch noch die Leute auf der Straße beobachten, die meist mit abwesendem Blick, ihr Handy am Ohr, vorübereilten.

Als sie den interessant aussehenden Dunkelhaarigen hereinkommen sah, dessen entgeisterter Blick über die vollbesetzten Tische glitt, musste sie unwillkürlich lächeln. Armer Kerl, dachte sie, er hat sich bestimmt auf sein Frühstück gefreut. Das muss er nun woanders einnehmen.

Doch sie hatte sich getäuscht, so schnell schien er nicht aufgeben zu wollen. Statt das Café wieder zu verlassen kam er geradewegs auf sie zu, die dunklen Augen fest auf sie gerichtet. »Entschuldigung«, sagte er mit angenehm tiefer Stimme, »darf ich mich wohl zu Ihnen an den Tisch setzen?«

Sie wäre lieber allein geblieben, fand sein Gesicht aber andererseits so interessant, dass sie unwillkürlich nickte. Er war lässig gekleidet mit Jeans und T-Shirt, dazu trug er ziemlich alt aussehende Turnschuhe und eine abgewetzte Lederjacke. Seine Haare waren jedoch gut geschnitten, und auch der Drei-Tage-Bart war sorgfältig gestutzt worden. Künstler vielleicht, dachte sie, Schauspieler oder Schriftsteller. Nicht viel älter als ich, dreißig, einunddreißig Jahre vielleicht.

»Danke«, sagte er, als er Platz genommen hatte. »Sie retten mir vermutlich das Leben, ich bin halb verhungert.«

»Sie können eins von meinen Brötchen haben, als Vorspeise. Ich kann das unmöglich alles aufessen.«

Er sah sie verdutzt an, dann lachte er, griff nach dem Brötchen und schnitt es auf. »Da sage ich doch nicht nein«, erklärte er vergnügt.

Er bestellte dann das gleiche Frühstück wie sie und während er darauf wartete, ließ er sich ihr Brötchen schmecken. Er wies auf die Zeitung, die neben ihrem Teller lag, in die sie jedoch noch keinen Blick geworfen hatte. »Sie lesen die ›Süddeutsche Allgemeine Zeitung‹?«

»Wenn ich in Deutschland bin, immer.«

»Sie sind also häufig unterwegs?«

Es war leicht, mit ihm ins Gespräch zu kommen, und sie sah keinen Grund, ihm nicht von ihrem Projekt zu erzählen. Er zeigte lebhaftes Interesse daran, was ihr natürlich schmeichelte. Er hörte ihr tatsächlich zu, das merkte sie an seinen Fragen – und irgendwann fiel ihr auch auf, wie geschickt er es verstand, sie zum Reden zu bringen, während er selbst fast die ganze Zeit schwieg.

Als sie ihm das sagte, lachte er. »Berufskrankheit«, gestand er. »Ich bin Journalist, ich lebe davon, die Leute zum Reden zu bringen. Entschuldigen Sie, hoffentlich fühlen Sie sich jetzt nicht ausgefragt.«

»Überhaupt nicht, ich rede gern über mein Projekt, und ich habe ja nichts zu verbergen.« Er gefiel ihr, sie ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie es schade fand, dass sie ihn nach diesem Frühstück nie wiedersehen würde. »Und woran arbeiten Sie gerade?«, fragte sie.

Er verzog ein wenig das Gesicht. »Ich quäle mich mit einem längeren Artikel herum, in dem es letzten Endes um den derzeitigen Zustand unserer Mediengesellschaft geht. Aufhänger ist diese leidige Sternberger Geschichte, ich weiß nicht, ob Sie schon davon gehört haben, wenn Sie jetzt erst aus Brasilien zurückgekehrt sind.«

Sofort war sie auf der Hut. Bis jetzt hatte sie ihm sehr offenherzig Auskunft gegeben, aber sie beschloss sofort, ihm nicht zu verraten, dass die Sternberger gute Freunde von ihr waren. »Ja, ich habe davon gehört«, antwortete sie deshalb zurückhaltend. »Schon gleich am Flughafen bin ich darüber gestolpert, man konnte die Schlagzeilen unmöglich übersehen.«

»Ich habe bereits über die Geschichte geschrieben«, erklärte er, »und ziemlich viel Aufsehen erregt, weil ich einer der ersten Journalisten war, der Partei für die Frau ergriffen hat.«

Franziska blieb beinahe der Bissen im Halse stecken. »Für die Frau, die behauptet, den ersten Sohn des Fürsten zur Welt gebracht zu haben?«

Er nickte. Sein Frühstück wurde serviert, so blieb Franziska ein wenig Zeit, sich zu sammeln und dafür zu sorgen, dass ihr nicht anzusehen war, was sie dachte. Als sie sicher sein konnte, ihre Stimme unter Kontrolle zu haben, fragte sie: »Gibt es denn Beweise dafür, dass die Frau die Wahrheit sagt? Ich habe die Geschichte ja nicht verfolgen können, deshalb bin ich nicht auf dem neuesten Stand. Wie gesagt, ich habe nur ziemlich reißerische Schlagzeilen gelesen.«

»Die Frau hat offenbar Beweise vorgelegt, die aber von der Gegenseite nicht anerkannt wurden. Das ist jetzt das übliche Gezerre zwischen Anwälten, aber interessanterweise haben die Sternberger bisher keine Anzeige erstattet.«

»Anzeige weshalb?«

»Üble Nachrede, Betrug, Verleumdung, was weiß ich.«

»Vielleicht wollten sie die Sache im Stillen regeln.«

»Wenn sie das vorhatten, ist es jedenfalls gründlich schief gegangen.«

»Was denken Sie, wie ist das an die Öffentlichkeit gelangt?«

»Das fragt sich jeder. Wer auf Sternberger Seite ist, verdächtigt Corinna Roeder, die anderen verdächtigen die Sternberger.«

»Sie also auch?«

»Ich bin nicht sicher«, antwortete er, nachdem er den ersten Schluck Kaffee getrunken hatte. »Denn eigentlich mussten sie wissen, dass das nicht günstig für sie ist. Die Öffentlichkeit schlägt sich mehr und mehr auf Frau Roeders Seite.«

»Hat sie Interviews gegeben?«

»Kein einziges bisher, was natürlich auch für sie spricht. Sie hätte schon ziemlich viel Geld verdienen können, wenn sie sich zum Beispiel in ein Fernsehstudio gesetzt oder einer großen Illustrierten ein Exklusiv-Interview gegeben hätte.«

»Und die Sternberger?«, fragte Franziska, obwohl sie die Antwort wusste. Darüber hatte sie mit Carl und ihren Eltern ja ausführlich gesprochen.

»Auch keine Interviews. Überhaupt kein Kontakt zu Journalisten. Die Familie hat sich völlig abgeschottet, auch die Anwälte äußern sich nicht, bis auf den einen Satz: ›Fürst Leopold hatte keine Affäre, also auch keinen nicht-ehelichen Sohn.‹«

»Was macht Sie so sicher, dass diese Frau Roeder die Wahrheit sagt?«, fragte Franziska.

»Sicher bin ich nicht, das kann man nicht sein, aber ich neige dazu, ihr zu glauben, weil mich erstens ihr Verhalten überzeugt, zweitens ihre Geschichte. Sie hat den Beginn der Beziehung zu Fürst Leopold so begründet: Er war damals unglücklich, weil seine Ehe nach mehreren Jahren noch immer kinderlos war. Gut vorstellbar, dass ein Mann in einer solchen Situation besonders anfällig für Verführungen ist, meinen Sie nicht?«

»Vorstellbar ja«, gab Franziska zu, »aber ein Beweis ist das nicht. Was ist denn mit dem Sohn? Hat jemand mal mit ihm geredet?«

»Er ist im Ausland, sie verrät nicht wo, und nicht einmal seine Schule scheint es zu wissen. Frau Roeder hat das privat organisiert, weil sie offenbar wusste, was auf sie und ihren Sohn zukommen könnte, wenn die Geschichte an die Öffentlichkeit dringt.«

»Gut geplant also«, stellte Franziska fest.

»Sie hat sich ja auch fast ein Jahr Zeit gelassen, nach dem Tod des Fürsten und seiner Frau.«

»Kannten Sie die beiden persönlich?«

»Nein.« Er lächelte sie an. »Entschuldigen Sie bitte, ich hätte mich längst vorstellen sollen. Ferdinand von Stade.«

»Franziska von Severn. Sie haben einen interessanten Beruf, Herr von Stade.«

»Sie auch«, lachte er.

Sie hätte gern noch weiter über die angebliche Affäre geredet, aber sie hatte Angst, sich zu verraten, und so stellte sie keine weitere Frage dazu. Ferdinand erzählte ihr von anderen Themen, über die er schrieb, und er hatte jede Menge kurioser Geschichten auf Lager, über die sie herzlich lachen musste. Beinahe hätte sie über der angeregten Unterhaltung mit ihm vergessen, dass sie ja noch nach Sternberg fahren wollte. Als es ihr wieder einfiel, sah sie erschrocken auf die Uhr und sagte: »So spät schon! Ich habe heute noch so viel zu erledigen, ich muss dringend weg.«

»Sehen wir uns wieder?«, fragte er und hielt ihren Blick fest.

Sie spürte, wie sie errötete. »Ja, gern«, antwortete sie.

»Wann?«, fragte er.

Sie musste lachen. »Haben Sie es so eilig?«

Er nickte ernsthaft. »Glauben Sie mir, es ist mir noch nie passiert, dass ich mit einer Frau, die ich überhaupt nicht kenne, zwei Stunden in einem Café sitze und nicht ein einziges Mal überlegen muss, was ich als Nächstes sagen könnte, um die Unterhaltung nicht einschlafen zu lassen. Außerdem …«

»Außerdem?«, fragte sie.

Er schüttelte jedoch den Kopf. »Das behalte ich lieber für mich. Und übrigens gehe ich jetzt auch. Ohne Sie habe ich keine Lust, noch länger hier zu sitzen.«

Sie bezahlten also und verließen das Café gemeinsam. Zum Abschied hielt er Franziskas Hand deutlich länger fest als üblich. »Bis wann also?«, fragte er.

»Wie wäre es mit dem Wochenende? Samstagnachmittag zum Kaffee, gegen sechzehn Uhr hier?«

»Passt mir wunderbar. Ich freue mich jetzt schon auf Samstag.«

Auf dem Weg zurück nach Hause hatte sie das Gefühl, auf Wolken zu gehen. Erst einen Tag war sie aus Brasilien zurück, und schon hatte sie ihr Herz verloren!

*

»Ich mache es«, sagte Corinna zu Patrick. »Das Interview mit diesem Herrn von Stade, meine ich.«

»Du wirst also deinen bisherigen Prinzipien untreu.«

»Ja, weil er offenbar eine Ausnahme ist. Ich habe gelesen, was er über mich und Leo geschrieben hat. Alles habe ich nicht verstanden, aber es hat mir gefallen. Man hat bei ihm den Eindruck, dass er sich jeden Satz, den er schreibt, lange überlegt, und er scheint sehr gründlich zu sein.«

»Er hat als Journalist einen erstklassigen Ruf, und er schreibt ja auch für eine sehr gute Zeitung. Einen besseren kannst du nicht kriegen.«

Sie nickte. »Es ist so viel Falsches geschrieben worden, so viele Leute haben Lügen über mich verbreitet, dass ich dachte, ich sollte jetzt vielleicht mal meine Sicht der Dinge darlegen.«

»Wahrscheinlich ist der Zeitpunkt günstig«, sagte Patrick nachdenklich. »Die Stimmung kippt allmählich zu deinen Gunsten. Zuerst haben die meisten Leute gesagt: ›Aber doch nicht unser guter Fürst!‹ Jetzt sieht das schon ein bisschen anders aus.«

»Für seinen anderen Sohn tut es mir leid«, sagte Corinna leise. »Der Christian hat sowieso schon viel ertragen müssen, und jetzt auch noch das. Das ist bestimmt schwer für ihn.«

»Ja, das glaube ich auch. Aber du hattest es ja auch schwer.«

Sie lächelte ihn an. »Danke für deine Unterstützung, Patrick«, sagte sie leise. »Ich weiß das zu schätzen.«

»Ich hoffe, die Sache ist bald zu Ende«, erwiderte er. »Es dreht sich alles nur noch darum, auch hier im Hotel ist es das Hauptgesprächsthema, das nervt ziemlich.«

Ihr Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an. »Ich befürchte schon die ganze Zeit, dass sich alle von mir abwenden, weil ihnen ­diese Geschichte irgendwann fürchterlich auf die Nerven gehen wird.«

»Das wollte ich damit nicht sagen. Niemand wird sich wegen dieser Sache von dir abwenden. Es ist ja nicht deine Schuld, dass sie sich so in die Länge zieht.«

Sie nickte, er glaubte, Tränen in ihren Augen schimmern zu sehen. »Geh jetzt«, sagte sie leise, »bevor du noch Ärger bekommst, weil du so oft bei mir hereinschaust.«

Er nickte nur und ging. Sein Herz klopfte heftig. Auf keinen Fall wollte er sich in sie verlieben, das konnte ja nicht gut gehen. Sie hatte den Fürsten von Sternberg geliebt – wie hätte er mit einer solchen Persönlichkeit konkurrieren können?

Unglücklich kehrte er zum Empfang zurück. Seit Corinna ihren Brief nach Sternberg abgeschickt hatte, war auch sein Leben aus dem Gleis geraten, ganz ohne sein Zutun, denn die ganze Sache ging ihn ja eigentlich überhaupt nichts an.

*

»Zwei, drei Tage, länger will ich nicht mehr warten«, erklärte Cosima, die nach ihrer Rückkehr aus Sternberg in die Kanzlei von Hagen und Barbara gefahren war, um mit den beiden Anwälten über das weitere Vorgehen zu beraten. »Bitte, ich weiß, ihr wolltet, dass ich mir noch Zeit lasse, bevor ich mich ein zweites Mal in der Werkstatt von Bodo Kleinert umsehe, und zuerst fand ich, dass ihr Recht hattet. Jetzt sehe ich das nicht mehr so. Die andere Seite, wenn ich das mal so militärisch ausdrücken darf, rüstet ja unverkennbar auf.«

»Wir sind einverstanden«, sagte Hagen. »Barbara und ich haben schon darüber gesprochen.«

»Aber ich möchte nichts weiter über deine Pläne hören«, setzte Barbara hinzu. »Du planst eine Straftat, eigentlich müssten wir dich anzeigen.«

»Kein Wort darüber wird mehr über meine Lippen kommen«, beteuerte Cosima.

»Hat dein Besuch auf Sternberg etwas Verwertbares ergeben?«, erkundigte sich Hagen.

Cosima schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich hatte ja die stille Hoffnung, vielleicht doch irgendwo noch etwas vom Fürsten zu finden, das man für eine DNA-Analyse verwenden könnte – ein vergessener Anzug mit ein paar Haaren drauf oder eine Haarbürste, aber da ist nichts mehr.«

»Das war nach fast einem Jahr auch nicht zu erwarten«, meinte Hagen.

»Habt ihr die Frau Roeder nach der Blutgruppe ihres Sohnes gefragt? Ich meine, vielleicht ist die Sache viel einfacher, und es stellt sich ganz schnell heraus, dass er gar nicht der Sohn des Fürsten sein kann.«

»Daran haben wir gedacht, es aber bis jetzt noch nicht gemacht, weil Fürst Leopold die Blutgruppe A hatte, die in Deutschland fast 45% aller Menschen haben.«

»Trotzdem solltet ihr danach fragen, damit sie merkt, dass ihr es ernst meint. Ich glaube, die Frau Roeder ist davon ausgegangen, dass sie nur sagen muss: ›Ich habe einen Sohn von Fürst Leopold‹, und schon geht alles wie von selbst, weil die Sternberger vor Angst, der tadellose Ruf des Fürsten könnte Schaden nehmen, alles tun, was sie verlangt.«

»Ganz so sehe ich es nicht«, entgegnete Barbara, »aber es könnte schon sein, dass sie sich alles einfacher vorgestellt hat.«

Cosima stand auf. »Ich gehe dann mal wieder«, sagte sie, »ich habe noch viel zu tun. Ich …«

»Mehr wollen wir nicht wissen«, sagte Barbara.

Cosima musste lachen. »Du bist wirklich ein Angsthase, Barbara, ich wollte ja etwas ganz anderes sagen, als du dachtest. Aber bitte schön, sage ich eben gar nichts mehr. Ich melde mich, tschüss.«

Im nächsten Augenblick war sie bereits verschwunden.

»Hoffentlich geht das gut«, seufzte Barbara.

Auch Hagen lachte jetzt. »Cosima hat Recht, du bist ein Angsthase, Barbara. Dabei bist du so viel jünger als ich, man sollte doch meinen, dass du bessere Nerven hast.«

Barbara machte endlich gute Miene zum bösen Spiel und brachte immerhin ein Lächeln zustande.

*

»Franzi!«, rief die Baronin, als Franziska den Salon betrat. Sie erhob sich, um ihren Gast zu begrüßen. »Als Herr Hagedorn dich eben angekündigt hat, dachte ich, er müsste sich irren. Du bist also tatsächlich aus dem Dschungel zurück?«

»Ja, gestern angekommen – und als erstes stolpere ich über eine Schlagzeile, die euch betrifft, Sofia. Ich dachte mir, ich muss mich sofort mit eigenen Augen davon überzeugen, dass es euch trotzdem gut geht.«

»Gut geht es uns nicht«, entgegnete Sofia, »aber wir versuchen, damit fertig zu werden.« Sie wandte sich Eberhard Hagedorn zu, der an der Tür wartete. »Wir trinken den Tee in der Bibliothek, Herr Hagedorn. Oder trinkst du lieber Kaffee, Franzi?«

»Nein, nein, ich nehme sehr gern Tee.«

»Darf ich auch etwas Gebäck servieren, Frau Baronin? Ich weiß zufällig, dass Frau Falkner einiges hergestellt hat.«

»Oh ja, bitte!«, rief Franziska. »Frau Falkners süße Sünden sind die besten.«

Eberhard Hagedorn zog sich mit einem Lächeln zurück, und die beiden Frauen machten sich auf den Weg zur Bibliothek. Nachdem sie dort Platz genommen hatten, knüpfte Sofia an Franziskas vorherige Bemerkungen an. »Es gibt jeden Tag neue Gerüchte, neue Schlagzeilen, und wir wissen nicht einmal, wer die Presse mit Informationen versorgt. Wir haben noch mit keinem Journalisten gesprochen, obwohl wir natürlich schon viele Anfragen bekommen haben, aber es schien uns die beste Strategie zu sein, uns erst einmal zurückzuhalten.«

»Ich habe natürlich einiges nachgelesen«, erklärte Franziska und dachte schuldbewusst daran, dass sie das meiste gar nicht nachgelesen, sondern sich von Ferdinand von Stade hatte erzählen lassen, doch das würde sie für sich behalten. »Aber erzähl mir die Geschichte doch einmal von Anfang an, Sofia. Oder ist das zu schmerzlich für dich?«

Die Baronin schüttelte den Kopf. Eberhard Hagedorn kam mit einem voll beladenen Tablett herein, und so wartete sie, bis er den kleinen Tisch zwischen ihnen gedeckt hatte, bis sie mit ihrem Bericht begann. »Corinna Roeder behauptet, von Leo einen heute siebzehnjährigen Sohn zu haben. Sie hat einen Brief an Fritz und mich geschickt, weil wir ja jetzt Christians Eltern vertreten. Letzten Endes betrifft die Sache natürlich Christian. Frau Roeder will Geld für die Ausbildung ihres Sohnes, weil sie jetzt, so argumentiert sie, ja nicht mehr von Leo unterstützt werde. Für sich selbst fordert sie nichts, sie will auch nicht für ihren Sohn Anspruch auf den Fürstentitel erheben.«

»So weit kommt’s ja noch«, murmelte Franziska. »Sie hat natürlich keine Beweise für ihre Behauptung.«

»Sie hat Fotos geschickt, auf denen Leo und sie als Liebespaar abgebildet sind, und sie hat die Kopie eines Briefes geschickt, den er ihr angeblich geschrieben hat.« Die Baronin stockte kurz. »Die Gutachten für die Fotos sind widersprüchlich, die Handschrift jedoch wird von zwei Gutachtern unabhängig voneinander als echt angesehen.«

»Oh!«, sagte Franziska überrascht.

Sofia lächelte traurig. »Das ist der neueste Stand, deshalb sind wir im Augenblick auch besonders deprimiert. Dabei gibt es eine durchaus vielversprechende Spur …« Sie unterbrach sich. »Dir ist klar, dass das alles unter uns bleiben muss, Franzi? Was ich dir jetzt erzähle, ist nämlich bis jetzt tatsächlich geheim geblieben.«

»Ich werde ganz sicher mit niemandem darüber reden«, beteuerte Franziska.

»Unsere Anwälte haben eine junge Ermittlerin eingesetzt, die zugleich Computerspezialistin ist. Sie hat herausgefunden, dass Frau Roe­der scheinbar in einem Fitness-Studio trainiert, dieses Studio aber nur zur Tarnung benutzt. Sie gibt da ihre Karte ab, gilt dann als anwesend, aber in Wirklichkeit sucht sie einen Mann auf, der seine Werkstatt hinter dem Studio hat, vollkommen versteckt. Er stellt unter anderem perfekte Fotomontagen her, obwohl er angeblich Buchbinder ist.«

»Aber das ist doch ein Beweis!«, rief Franziska. »Was wollt ihr denn noch?«

»Es ist kein Beweis, nur eine Spur«, widersprach Sofia.

»Aber wenn die Polizei die Räume dieses Mannes durchsuchen würde, würde sie vielleicht Beweise finden, Sofia!«

»Die Polizei haben wir ja noch gar nicht eingeschaltet. Frau Roeder hat uns nicht erpresst, sie hat uns einen höflichen Brief geschrieben. Dass dieser Brief an die Öffentlichkeit gelangt ist, kann man ihr nicht vorwerfen, bisher ist ja nicht klar, wie das passiert ist. Die Sache ist kompliziert, Franzi. Unser erstes Bestreben war, so wenig Aufsehen wie möglich zu erregen. Da erstattet man nicht gleich Anzeige.«

»Aufsehen habt ihr aber doch erregt.«

»Ja, leider«, seufzte die Baronin.

»Und wie geht das jetzt weiter?«

»Die Ermittlerin bleibt dran, sie ist im Augenblick unsere einzige Hoffnung. Du hast sie übrigens nur knapp verpasst, sie hat uns hier besucht und sich auch drüben im Ost-Flügel umgesehen. Eine reizende junge Frau, Cosima von Orth heißt sie.«

»Der Name sagt mir nichts.«

»Wir kannten sie vorher auch nicht.«

»Seid ihr denn sicher, dass eure Anwälte die Sache richtig angehen?«

»Oh ja, außerdem haben sie ein hervorragendes Team, das für sie arbeitet.« Wieder seufzte die Baronin. »Das Problem ist, wenn alles darauf hinauslaufen sollte, dass keine Seite beweisen kann, was sie behauptet, dann wird Leos Ruf irreparabel beschädigt sein. Vielleicht ist er das sogar jetzt schon.«

Franziska dachte an ihr Gespräch mit Ferdinand von Stade, der an Corinna Roeders Geschichte glaubte. Er hatte seine Meinung gut begründet, dennoch konnte sie nach wie vor nicht an eine jahrelange Affäre des Fürsten glauben. »Es muss doch eine Möglichkeit geben zu beweisen, dass das alles nicht stimmt«, sagte sie hilflos.

»Welche denn, wenn auch Cosima von Orth nichts findet?«, fragte Sofia mit bitterem Unterton. »Ich habe zuerst auch gedacht, der Spuk geht schnell vorbei, weil doch eigentlich jedem, der Leo kannte, klar sein muss, dass Frau Roeder lügt. Aber die Wirklichkeit sieht so aus, dass immer mehr Menschen es für möglich halten, dass ihre Geschichte stimmt. Und wenn das noch eine Weile so weitergeht wie jetzt, werden auch die letzten Getreuen das sinkende Schiff verlassen. Schließlich ist Corinna Roe­ders Geschichte, und das ist das Perfide daran, ziemlich wahrscheinlich.«

»Ich glaube nie im Leben, dass Leo eine Affäre hatte«, sagte Franziska mit fester Stimme.

Sofia griff nach ihrer Hand. »Es ist schön, dass du das sagst, Franzi. Es tut mir gut.«

»Ich glaube, ich würde an eurer Stelle doch die Polizei einschalten, dass die sich mal ein bisschen genauer bei diesem Mann umsieht, der Fotomontagen herstellt. Es muss doch etwas zu bedeuten haben, dass Frau Roeder ihn heimlich trifft.«

»Wir haben schon darüber gesprochen, aber dann müssen wir die einzige Spur, die wir haben, öffentlich machen, das ist ein Risiko. Ich kann es aber trotzdem noch einmal zur Sprache bringen«, erwiderte Sofia. Nach einer Weile fragte sie: »Du bleibst doch bis morgen?«

»Nein, ich muss heute Abend zurück, so leid es mir tut. Mein Buch soll früher herauskommen, ich muss also dringend an die Arbeit. Ich wollte euch nur unbedingt vorher sagen, dass ich auf eurer Seite bin, was auch geschieht.«

Die Augen der Baronin füllten sich mit Tränen, dennoch versuchte sie zu lächeln. »Danke«, flüsterte sie.

*

Ferdinand von Stade schaltete sein Aufnahmegerät aus. »Das war’s, Frau Roeder«, sagte er.

Corinna Roeder sah erleichtert aus. »Ich hatte keine Ahnung, dass es so lange dauern würde«, gestand sie. »Sie sind wirklich sehr gründlich.«

»Das muss man in meinem Beruf auch sein«, lächelte er. Zwei Stunden lang hatte sie ihm jetzt Rede und Antwort gestanden, und er konnte nicht umhin, sie zu bewundern. Nicht nur, weil sie eine ausgesprochen attraktive Frau war – attraktiver, als er es nach den bisher von ihr veröffentlichten Fotos angenommen hatte – nein, sie hatte auch auf jede seiner Fragen eine überzeugende Antwort geben können. Sie war sehr konzentriert gewesen, und nichts an ihr wies darauf hin, das sie nervös oder unsicher war. Schon vorher hatte er ja angenommen, dass ihre Geschichte der Wahrheit entsprach, jetzt, nachdem er ihr so lange gegenübergesessen, ihr zugehört und sie dabei angesehen hatte, war er mehr denn je davon überzeugt, dass Fürst Leopold von Sternberg der Vater ihres Sohnes war.

»Ich schreibe meinen Artikel heute und morgen fertig. Das Interview wird ein Teil davon sein, meine Zeitung gibt mir eine ganze Seite dafür.«

»Aber Sie werden doch nicht alles veröffentlichen, was ich gesagt habe, oder?«

Er musste lachen. »Nein, dann würde das ein seitenlanges Interview, und das wäre ermüdend für unsere Leserinnen und Leser. Ich wähle das aus, was mir am wichtigsten erscheint und schicke es Ihnen dann, damit Sie wissen, was auf Sie zukommt.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte sie erschrocken.

»Wir werden von ziemlich vielen Leuten gelesen, es wird also sicherlich Reaktionen darauf geben.«

»Es gibt jeden Tag Reaktionen«, erklärte sie mit einer gewissen Müdigkeit in der Stimme. »Im Augenblick scheint meine Geschichte sehr beliebt zu sein.«

»Na ja, das liegt teilweise an Fürst Leopold. Er war sehr beliebt, und noch immer wird er von vielen Leuten verehrt, weil er ihnen geholfen und ihre Sorgen und Nöte ernst genommen hat.«

»Ich weiß«, lächelte sie. »Er war ein wunderbarer Mann, sonst hätte ich mich nicht in ihn verliebt.« Einen Moment schwieg sie, bevor sie hinzufügte: »Selbst wenn es Prinz Christians Familie gelingen sollte, mich als Lügnerin abzustempeln, werde ich immer glücklich darüber sein, dass ich Leos ersten Sohn zur Welt gebracht habe. Das kann mir niemand nehmen, und die Zeit mit ihm auch nicht. Ich habe ihn mehr geliebt als mein Leben, und ich weiß, er hat mich auch geliebt.«

In rasender Eile machte sich Ferdinand Notizen. »Darf ich das zitieren?«, fragte er.

Sie hatte jetzt Tränen in den Augen. »Wenn Sie denken, dass es wichtig ist, zitieren Sie es ruhig.«

Als Ferdinand sich von ihr verabschiedet hatte, wusste er, dass der Artikel mit dem Interview von Corinna Roeder sein Meisterstück werden würde.

*

»Schade, dass Franzi nicht länger geblieben ist«, sagte Anna abends, als Christian und sie nach einem längeren Gang mit Togo, Christians verspieltem jungen Boxer, ins Schloss zurückkehrten. »Sie ist auf unserer Seite.«

»Ja, und es war sehr nett, dass sie gleich gekommen ist, so schnell nach ihrer Rückkehr aus Brasilien. Das hätten nicht viele gemacht.« Christian blieb stehen und sah Anna an. »Ich habe Angst«, sagte er.

Sie nickte, er musste ihr nicht erklären, wovor er sich fürchtete. »Wir haben alle Angst«, erwiderte sie. »Das ist doch auch normal. Unser ganzes Leben steht kopf. Letztes Jahr war es schon einmal so, nachdem deine Eltern verunglückt waren – und jetzt ist es wieder so. Das ist zu viel auf einmal, das kann man nur verkraften, wenn man Superman ist. Oder Superwoman.«

»Sind wir aber nicht, und wir müssen es trotzdem verkraften. Was ist, wenn wir das nicht schaffen, Anna? Wenn wir unseren Lebensmut verlieren und als gebrochene Menschen aus dieser Krise hervorgehen?«

Sie sah ihn erschrocken an. »Solche Gedanken hast du?«

»Manchmal, ja«, gestand er. »Oder, ehrlich gesagt, in letzter Zeit auch öfter. Ich glaube einfach nicht mehr, dass die Sache schnell beendet werden kann. Sie dauert jetzt schon viel zu lange.«

»Vielleicht können wir sie nicht schnell beenden«, sagte Anna leidenschaftlich, »aber wir schaffen das, verlass dich drauf. Diese Frau wird mit ihren Lügen nicht durchkommen.«

»Bist du ganz sicher?«, fragte er mit schwankender Stimme.

»Hundertprozentig!«, antwortete Anna.

Togo, der die Zeit, in der sie stehen geblieben waren, für einen weiteren Ausflug in den Schlosspark genutzt hatte, kehrte zu ihnen zurück und bellte auffordernd. Die beiden Teenager erschraken.

»Dich hätten wir ja beinahe vergessen, Togo«, sagte Christian schuldbewusst. Er bückte sich, nahm einen kurzen Zweig auf und schleuderte ihn von sich. Wie der Blitz jagte der Boxer hinterher. Danach kehrten sie zum Schloss zurück. Kurz bevor sie es erreichten, griff Christian nach der Hand seiner Cousine und drückte sie.

Gleich darauf öffnete Eberhard Hagedorn mit einem Lächeln das Hauptportal für sie, und allein dieses Lächeln tröstete sie ein wenig.

*

Auch bei ihrem zweiten Einbruch in Bodo Kleinerts Werkstatt wurde Cosima von Peter begleitet. »Ich lasse dich das doch nicht allein machen!«, hatte er gesagt. »Mitgefangen, mitgehangen, so heißt es doch, oder? Außerdem brauchst du jemanden, der Schmiere steht.«

»Aber es ist gefährlich, Peter …«

Er hatte sie einfach in die Arme genommen und ihren weiteren Protest mit einem Kuss erstickt.

Auch dieses Mal schlichen sie nachts um zwei über den dunklen Hof. Auch Peters Werkstatt lag hinter dem Fitness-Studio, so war er ja überhaupt in die ganze Sache hineingeraten. Sonst hätte er, was ihm später bewusst geworden war, Cosima vermutlich gar nicht kennengelernt.

Wie beim ersten Mal knackte Cosima das Schloss einer der Vordertüren von Bodo Kleinerts Werkstatt. Da sie sich bereits auskannten, verloren sie dieses Mal keine Zeit damit, sich zu orientieren. Sobald klar war, dass sich niemand im Inneren des Gebäudes aufhielt, steuerte Cosima auf den Computer zu, an den sich Bodo Kleinert bei ihrem letzten Besuch gesetzt hatte. Sie waren von ihm überrascht worden und hatten sich in aller Eile in eine Nische gerettet, um sich vor ihm zu verstecken. Zum Glück waren sie unentdeckt geblieben.

Während Cosima den Computer hochfuhr, schlich Peter zum hinteren Teil des Gebäudes, denn dort gab es eine Tür, zu der man vom Fitness-Studio aus ungesehen gelangen konnte. Stand man dagegen im vorderen Teil des Gebäudes, blickte man auf Peters Werkstatt. Jemand, der den Zwischenhof überquerte, war also von Weitem sichtbar. Hier hinten jedoch verdeckten zwei parallel verlaufende Mauern einen Weg, der vom Studio bis zur Rückseite von Bodo Kleinerts Werkstatt führte.

Sein Herz klopfte heftig. Der Mann hatte alle Fenster geschwärzt, sodass man von außen nichts sehen konnte. Lediglich ein paar Gucklöcher hatte er gelassen. Peter fand das unheimlich, so wie er auch das Innere des Gebäudes unheimlich fand. So viel Elektronik hatte er noch nie in einem Raum gesehen. Dennoch hatte Bodo Kleinert auch noch ein Lager mit Materialien, die man für die Arbeit als Buchbinder brauchte, doch die Materialien waren alt und verstaubt.

»Wie weit bist du?«, fragte er mit gedämpfter Stimme.

»Ich kopiere«, gab Cosima zurück. »Ich sehe mir die Dateien gar nicht erst an, weil ich keine Zeit verlieren will. Jedenfalls hoffe ich, ich werde damit fertig, bevor uns der Kerl noch einmal überrascht.«

Diese Bemerkung trug nicht eben zu Peters Beruhigung bei. Schon beim letzten Mal hatte er festgestellt, dass Cosimas Nerven deutlich besser waren als seine. Aber sie machte so etwas ja auch öfter, während es für ihn eine neue Erfahrung war. Eins zumindest wusste er: Ihren Beruf würde er um nichts in der Welt ausüben wollen.

Es kam ihm so vor, als brauchte sie Stunden, während er auf seinem Posten stand, alle Sinne angespannt, und die Tür in der Mauer im Auge behielt, durch die Bodo Kleinert letztes Mal plötzlich gekommen war. Cosima hatte herausgefunden, dass es nur zwei Wege gab, auf denen er in seine Werkstatt gelangen konnte: Entweder er durchquerte das Fitness-Studio und verließ es durch eine ständig verschlossene Hintertür, zu der offenbar nur er einen Schlüssel hatte. Diese Tür führte auf den schmalen Weg zwischen den beiden Mauern und führte schließlich über jene Tür, die Peter jetzt beobachtete, auf sein Grundstück. Die andere Möglichkeit war, dass er Peters Werkstatt hätte durchqueren müssen.

Das gesamte Hinterhofareal war also völlig verbaut, was jedoch zumindest Bodo Kleinert nicht zu stören schien. Offenbar nahm er die Unannehmlichkeit, dass er durch das Studio laufen musste, bereitwillig in Kauf.

Es hatte ja auch Vorteile, dachte Peter, während er sein Gewicht von einem Bein aufs andere verlagerte. Er fühlte sich steif vom angespannten Stehen und Gucken, im Nacken machte sich ein ziehender Schmerz bemerkbar. Jedenfalls konnte Bodo Kleinert hier hinten schalten und walten, wie er wollte, ohne dass jemand anders etwas davon mitbekam. Peter hatte den Mann noch nie gesehen, obwohl ein Schild draußen davon kündete, dass er Buchbinder war, so wie er selbst auch.

»Wie lange brauchst du denn noch?«, fragte er. »Ich kann nicht mehr stehen, meine sämtlichen Muskeln sind verspannt.«

»Zehn Minuten noch, dann habe ich alles, was auf dieser Festplatte ist«, antwortete Cosima.

Tatsächlich sagte sie knapp zehn Minuten später: »So, fertig.«

»Dann lass uns abhauen.«

»Nein, warte noch. Ich will mich noch ein bisschen umsehen, in Ordnung?«

Peter stöhnte, erhob aber keinen Einspruch. Er hatte gesagt, er würde sie begleiten, nun musste er sie auch ihre Arbeit tun lassen, selbst wenn es ihm schwerfiel. Tatsächlich ließ sie sich Zeit, während sie die Werkstatt in Augenschein nahm. Besonders lange studierte sie eine Reihe von Fotos, die an einer Lichtleiste hingen. Sie bestrahlte sie mit ihrer Taschenlampe und blieb vor jedem mindestens eine Minute lang stehen, als wollte sie sich jede Einzelheit, die darauf zu erkennen war, genau einprägen. Endlich aber sagte sie: »In Ordnung, verschwinden wir.«

Er folgte ihr aufatmend zu der Tür, über die sie ins Gebäude gelangt waren. Dort blieben sie noch einmal stehen, Cosima ließ suchend den Blick über den Raum gleiten. »Nichts verändert, oder?«, flüsterte sie. »Ich habe mir sogar gemerkt, wie der Stuhl gestanden hat, bevor ich mich draufgesetzt habe, damit er nur ja nichts merkt.«

»Komm endlich!«, drängte er.

Sie öffnete die Tür einen Spaltbreit, vergewisserte sich, dass auf dem Hof niemand war, dann schlüpfte sie hinaus. Peter folgte ihr. Sie verschloss die Tür sorgfältig wieder, dann rannten sie über den Hof zu seiner Werkstatt. Drinnen fielen sie sich erst einmal in die Arme.

»Ich kann es noch gar nicht glauben, dass wir es heil überstanden haben«, sagte Peter und küsste Cosima zärtlich. »In Zukunft begleite ich dich aber nicht mehr, das ist dir hoffentlich klar?«

Sie schlang beide Arme fest um ihn. »Natürlich ist mir das klar, und es ist gut so. Ich habe mich schließlich in einen Buchbinder verliebt, nicht in einen Detektiv.«

Als sie sich voneinander lösten, zuckte Cosima zusammen. Ihre Augen weiteten sich.

»Was ist denn?«, fragte Peter beunruhigt.

»Guck doch!«, flüsterte sie und zeigte hinüber zu Bodo Kleinerts Werkstatt. »Durch die Gucklöcher da drüben schimmert Licht. Er ist gekommen, Peter. Wir sind gerade noch rechtzeitig verschwunden.«

»Glück gehabt«, sagte er. »Kann er was merken? Wird der Rechner warm?«

»Kaum noch«, murmelte sie. Er konnte spüren, wie sie zitterte. »Das war knapp, und ich habe mich dieses Mal völlig sicher gefühlt. Ich dachte doch, dass das Zufall war, als er neulich nachts da aufgetaucht ist.«

»Wohl doch nicht. Er scheint regelmäßig nachts zu arbeiten. Aber uns muss es ja nicht mehr kümmern, wir wollen schließlich nicht ein drittes Mal dort eindringen.«

»Wer weiß«, murmelte Cosima, während sie starr die Lichtpunkte gegenüber im Auge behielt. »Wenn die kopierten Daten nichts hergeben … Ich bin ja engagiert worden, um zur Klärung der Sache beizutragen, Peter, und solange das nicht gelungen ist …«

»Halt!«, sagte er energisch. »Ich will nichts mehr davon hören. Wir haben gerade mit viel Glück einen weiteren Einbruch in diese Werkstatt hinter uns gebracht, jetzt sieh dir erst einmal an, was du kopiert hast, bevor du neue Pläne machst.«

»Das mache ich ja«, erwiderte sie besänftigend. »Versprochen.«

»Das will ich aber auch hoffen«, brummte er. »Und jetzt nichts wie weg hier.«

Sie verließen Peters Werkstatt über die Vordertür, so dass sie nun in dem Hof standen, den sich Peter mit dem Studio teilte. Bodo Kleinert konnte diesen Hof nicht einsehen, deshalb fühlten sie sich vor Entdeckung sicher. Von hier aus gelangte man über einen schmalen Weg zur Straße.

Als sie sie erreicht hatten, atmeten beide auf.

*

Bodo Kleinert stand bewegungslos in seiner Werkstatt und sah sich um. Er wusste nicht genau, was ihn irritierte, aber etwas war anders als sonst. Dabei stand alles an seinem Platz, nirgends fand er einen Hinweis darauf, dass jemand während seiner Abwesenheit hier gewesen war. Dennoch blieb das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Und jetzt erinnerte er sich daran, dass er dieses Gefühl kürzlich schon einmal gehabt hatte. Er hatte es schließlich vergessen und als Hirngespinst abgetan. Wenn man viel allein war, wurde man wunderlich, das wusste er schließlich, und er war schon früher am liebsten allein gewesen. Mittlerweile war er ein richtiger Einzelgänger geworden.

Er setzte sich an einen seiner Computer. Er hatte ziemlich viele davon, ihm gefiel das, und da ihm genügend Platz zur Verfügung stand, sprach auch, fand er, nichts dagegen. Er hatte die Hand schon ausgestreckt, um den Computer einzuschalten, als er mitten in der Bewegung innehielt. Dann begann er zu schnüffeln, und im selben Moment wusste er, was ihn irritiert hatte. Es hing ein Geruch in der Luft, der nicht hierher gehörte. Etwas Fruchtiges, Frisches. Erneut schnüffelte er. Der Geruch wurde rasch schwächer, aber jetzt hatte er ihn in der Nase.

Er sprang wieder auf, mit wild klopfendem Herzen. Jemand war hier gewesen, hatte herumgeschnüffelt, wahrscheinlich schon zum zweiten Mal. Was bedeutete das? Er spürte, wie er zornig wurde. Niemand hatte das Recht, einfach hier einzudringen! Und doch war es offenbar geschehen.

Er rannte nach hinten, öffnete die Tür und sah sich aufmerksam um. Aber nein, es gab keinerlei Fußabdrücke, nichts, was darauf hinwies, dass jemand sich unerlaubter Weise hier herumgetrieben haben könnte. Nach kurzem Nachdenken lief er nach vorn, inspizierte zuerst den Haupteingang zu seiner Werkstatt und dann die Nebentür.

Er sah es sofort: Jemand hatte sich an dem Schloss zu schaffen gemacht. Leise fluchend untersuchte er das Schloss genau. Da war ein Profi am Werk gewesen, wäre er nicht ohnehin misstrauisch gewesen wegen des fremden Dufts, ihm wäre nichts aufgefallen.

Nachdenklich kehrte er in die Werkstatt zurück. Sein Kopf war wieder klar. Auf keinen Fall durfte er überstürzt handeln, und das würde er auch nicht tun. Viel Zeit lassen sollte er sich andererseits aber wohl auch nicht, und er wusste bereits jetzt, dass er gleich mehrere Maßnahmen würde ergreifen müssen, um sich zu schützen.

Er setzte sich wieder, doch statt zu arbeiten, starrte er ins Leere. Es war eine Situation eingetreten, mit der er nicht gerechnet hatte, das machte ihn zornig. Zornig auf den Eindringling – und zornig auf sich selbst.

Er hätte besser auf der Hut sein müssen!

*

Franziska hatte die Tage bis zum Wochenende genutzt, um sich wieder einzuleben und ihr Material zu sichten. Das war eine zeitraubende Arbeit, denn sie hatte nicht nur viel geschrieben, sondern auch unzählige Fotos gemacht, von denen es die wenigsten ins fertige Buch schaffen würden. Aber sie ging mit Feuereifer ans Werk, denn jetzt kam der Teil der Arbeit, auf den sie sich schon während ihres Aufenthalts in Brasilien gefreut hatte.

Sie arbeitete den ganzen Samstagvormittag, aß mittags ein bisschen Rührei und machte sich dann mit klopfendem Herzen auf den Weg zu ihrer Verabredung mit Ferdinand von Stade.

Er erwartete sie bereits, als sie im Café eintraf. Sobald er sie erblickte, sprang er auf. Er freute sich so offensichtlich über ihr Wiedersehen, dass sie ihre Aufregung vergaß, denn offenbar hatte er diesem Treffen ebenso entgegengefiebert wie sie.

»Endlich!« Mehr sagte er nicht, als er ihre Hand nahm und festhielt.

»Es waren doch nur vier Tage«, erwiderte sie lächelnd.

»Vier endlos lange Tage«, korrigierte er.

Sie setzten sich, bestellten Kaffee und Kuchen und nahmen anschließend ihr Gespräch wieder auf, als hätte es keine tagelange Unterbrechung gegeben. Franziska erzählte von ihrer Arbeit der letzten Tage, vom Sichten der Fotos und davon, wie schwer es ihr fiel, eine Auswahl zu treffen, weil sie so viele besonders gelungen fand.

»Dann schlagen Sie doch Ihrem Verleger ein zweites Buch vor«, sagte Ferdinand. »Eben einen Fotoband mit nur sehr wenig Text. Und schon haben Sie ein Problem weniger.«

Sie sah wohl sehr verblüfft aus, denn er fing an zu lachen. »Ist Ihnen dieser Gedanke noch nicht gekommen?«, fragte er.

»Nein«, gestand sie. »Ich war so damit beschäftigt, seine Vorgaben für das geplante Buch zu erfüllen, dass ich noch nicht darüber hinaus gedacht habe. Aber das ist eine wirklich gute Idee, vielen Dank dafür. Was macht Ihre Arbeit?« Sie fragte absichtlich nicht nach den Sternbergern, beinahe hoffte sie sogar, er werde die Geschichte überhaupt nicht erwähnen. Wenn sie sich besser kannten, würde sie ihm sagen, dass der kleine Fürst und seine Familie gute Freunde von ihr waren.

»Danke, ich bin zufrieden«, erwiderte er. »Sagen Sie, wollen wir nicht noch einen Spaziergang zusammen machen? Es ist zwar kühl, aber die Sonne scheint, und wir sind ja beide Schreibtischtäter.«

Sie willigte gerne ein, und so verließen sie das Café wenig später. Er steuerte den nahe gelegenen Stadtpark an, der so groß war, dass sich die wenigen Spaziergänger darin verloren. Schon bald fühlten sie sich, als wären sie allein auf der Welt. Nach einer Weile nahm Ferdinand Franziskas Hand, und sie ließ es mit klopfendem Herzen geschehen.

Als er stehen blieb und sie an sich zog, ließ sie auch das geschehen. Sie legte ihren Kopf an seine Brust und fühlte sein Herz schlagen. »Bist du aufgeregt?«, fragte sie. »Dein Herz hämmert ja richtig.«

Er lachte leise. »Was für eine Frage!«, sagte er zärtlich. »Ich habe bis eben Angst gehabt, dass du mich zurückstößt und mich fragst, was mir denn einfiele, dich einfach zu umarmen.«

Sie rückte ein wenig von ihm ab, um ihm in die Augen sehen zu können. »Du lügst«, sagte sie. »Du hast garantiert keine Angst gehabt, weil du nämlich genau wusstest, dass ich dich nicht zurückstoßen würde.«

Er machte der Diskussion ein Ende, indem er sich zu ihr hinunterbeugte und ihr den Mund mit einem langen Kuss verschloss. Und nach diesem ersten Kuss gab er ihr einen zweiten, dritten, vierten, bis sie endlich, eng umschlungen, ihren Weg fortsetzten. Von Zeit zu Zeit blieben sie stehen, küssten sich erneut, lächelten einander zärtlich an, gingen weiter, nur um bald darauf wieder stehen zu bleiben.

Sie verhielten sich also genau wie alle anderen frisch Verliebten auf der Welt.

*

»Dieser Artikel ist ein herber Schlag für uns«, sagte Baron Friedrich am Montagmorgen niedergeschlagen und wies auf die Zeitung, die aufgeschlagen vor ihm lag. Sie saßen alle beim Frühstück, doch keiner von ihnen hatte angesichts der Neuigkeiten Appetit. »Ferdinand von Stade hat als Journalist einen ausgezeichneten Ruf, und er hat ja schon neulich einen Artikel geschrieben, in dem er sich auf Frau Roeders Seite geschlagen hat. Aber das da«, er tippte auf die Zeitung, »ist schlimmer. Viel schlimmer.«

»Die ganze Zeit hat sie keine Interviews gegeben«, stieß Anna hervor, »und jetzt macht sie es plötzlich doch! Und dann gleich noch so ein langes! Sie redet über Onkel Leo, als hätte er ihr gehört.«

Christian stand hochaufgerichtet an einem der Fenster im Salon. Er hatte noch keinen Bissen gegessen, nur einen Schluck Tee getrunken. Sein Gesicht war verschlossen, er war weiß wie die Wand, sagte jedoch kein Wort.

»Sie ist klug, die Frau Roeder!«, ließ sich jetzt Konrad vernehmen. »Sie sucht sich einen guten Journalisten aus für ihr erstes Interview, keinen von den Schmierfinken. Etwas von Herrn von Stades Seriosität geht so gewissermaßen auf sie über. Ziemlich schlau, wirklich.« Er klang niedergeschlagen.

»Ich fürchte, du hast Recht, Konny«, stimmte der Baron seinem Sohn müde zu.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Anna. »Wir können das doch nicht einfach übergehen, oder? Wir müssen darauf reagieren, Papa.«

»Darauf wartet sie doch nur, Anna«, erwiderte Baronin Sofia anstelle ihres Mannes. »Sie will uns aus der Reserve locken, denn nur wer handelt, macht auch Fehler, und darauf hofft sie.«

»Das kann schon sein«, sagte der Baron nachdenklich, »aber ich finde trotzdem, dass Annas Vorschlag nicht von der Hand zu weisen ist. Wenn wir weiterhin nichts zu den Behauptungen sagen, wird der Eindruck entstehen, dass Frau Roeder die Wahrheit sagt. Sie setzt sich in der Tat geschickt in Szene, unsere Anwälte haben neulich schon angedeutet, dass die öffentliche Meinung sich zu ihren Gunsten wandelt in dieser Angelegenheit.«

»Wir können uns doch von dieser Frau nicht unter Druck setzen lassen, Fritz!«, rief Sofia aufgebracht.

»Ich fürchte, das ist längst passiert«, entgegnete der Baron niedergeschlagen.

»Vielleicht müssen wir auch Interviews geben«, ließ sich jetzt Christian zur allgemeinen Überraschung vernehmen.

»Interviews?«, wiederholte der Baron gedehnt. »Wir können keine Beweise dafür erbringen, dass Frau Roeder lügt, Chris. Wir können nur sagen, dass wir das glauben. Es würde uns nicht helfen, eher im Gegenteil.«

Der Junge nickte. »Ich dachte ja nur«, murmelte er, »damit sie nicht die Einzige ist, die sich äußert.«

»Genau!«, sagte Anna. »Die Leute denken sonst vielleicht, dass wir zu feige sind, um uns den Fragen von Journalisten zu stellen.«

Konrad sprang seiner Schwester und seinem Cousin bei, wie er es in letzter Zeit fast immer tat. »Ihr könntet zumindest mal darüber nachdenken«, forderte er seine Eltern auf.

Sofia und Friedrich wechselten einen unsicheren Blick. »In Ordnung, wir denken darüber nach«, sagte der Baron schließlich.

»Und dieser Ferdinand von Stade, Papa«, warf Anna ein, »der ist wirklich gut, als Journalist?«

»Einer der besten, Anna. Ihm ist es zu verdanken, dass einige Korruptionsfälle aufgedeckt werden konnten, bei denen es um die Verflechtung von politischen und wirtschaftlichen Interessen ging. Er hat nicht aufgegeben, obwohl er auch schon bedroht worden sein soll. Außerdem hat er ein Herz für die sogenannten ›kleinen Leute‹, die manchmal einfach deshalb nicht zu ihrem Recht kommen, weil sie nicht genügend Geld haben, um sich einen guten Anwalt zu leisten.«

»Und deshalb ist er auf Frau Roe­ders Seite?«, fragte Anna aufgebracht. »Weil es hier um den reichen und mächtigen Fürsten von Sternberg und eine kleine Hotelangestellte geht?«

»Ich könnte mir vorstellen, dass das eine Rolle gespielt hat, ja«, erwiderte der Baron. »Überlegt euch, wie Frau Roeder sich selbst darstellt: Als liebende, aber verzichtende Frau, die ihren Sohn tapfer allein aufzieht, ohne Ansprüche zu stellen, bis sie irgendwann nicht weiter weiß und um Hilfe bittet. Aber nur, wohlgemerkt, für ihren Sohn, nicht etwa für sich selbst. Geschickter hätte sie es kaum anstellen können.«

»Ich kann das nicht mehr hören!«, stieß Anna hervor. »Außerdem müssen wir zur Schule.« Mit diesen Worten stürmte sie aus dem Salon.

Christian machte Anstalten, ihr sofort zu folgen, überlegte es sich aber anders. Noch immer war er sehr blass, aber jetzt lag ein entschlossener Zug um seinen Mund. »Ich will nicht, dass sie damit durchkommt«, sagte er. »Können wir bitte noch einmal mit den Anwälten reden? Vielleicht brauchen wir jetzt eine andere Strategie.«

»Ich habe morgen früh sowieso eine Besprechung mit ihnen, Chris, dann werde ich sie von unseren Überlegungen in Kenntnis setzen«, versprach der Baron.

Christian und Konrad verließen gemeinsam mit Anna, die bereits in der Limousine saß, das Schloss. Seit Corinna Roeder ihren Brief geschrieben hatte, ließen sie sich von Per Wiedemann, dem Sternberger Chauffeur, jeden Tag fahren, statt den Bus zu nehmen, da überall Journalisten auf sie lauerten.

Sofia und Friedrich blieben zurück, noch bedrückter als sie es in den vergangenen Tage ohnehin schon gewesen waren.

*

»Wie findest du es?«, fragte Corinna. »Danke für den Kaffee, Patrick. Aber sag mir bitte deine ehrliche Meinung. Denkst du, ich habe mir mit dem Interview geschadet?«

»Auf keinen Fall«, antwortete er. »Du kommst genau so rüber, wie du bist, Corinna: Offen, ehrlich und sympathisch. Und«, setzte er mit einem Lächeln hinzu, »ziemlich attraktiv. Das ist ein sehr gutes Foto von dir.«

»Danke.« Sie schenkte ihm ein mädchenhaftes Lächeln, wobei sie errötete. »Ich hatte hinterher Angst, zu viel von mir preisgegeben zu haben. Aber Herr von Stade ist ja ein ziemlich guter Interviewer …«

»Und ein ausgezeichneter Schreiber. Du kannst von Glück sagen, dass er sich auf deine Seite geschlagen hat, das hilft dir mehr als hundert Artikel von irgendwelchen Wald- und Wiesenjournalisten. Sein Wort hat Gewicht.«

»Ob es die Sternberger zum Einlenken bewegt?«, fragte sie. »Was meinst du?«

»Schwer zu sagen. Ihre Anwälte haben ja vermutlich eher ein Interesse daran, die Sache noch ein bisschen am Kochen zu halten. Je länger die Auseinandersetzung dauert, desto mehr Geld verdienen sie daran.«

»Ich frage mich jetzt dauernd, ob ich besser geschwiegen hätte.«

»Es wäre nur gerecht, wenn sie für deinen Sohn zahlen müssten. Auch ein Fürst sollte sich nicht so aus der Verantwortung stehlen können, wie er es getan hat.«

»Wenn du über Leo sprichst, klingt es immer, als wärst du zornig auf ihn.«

»Das bin ich auch! Er hat dich im Stich gelassen, auch wenn du das bestreitest. Er hat sich nicht zu dir und eurem Kind bekannt, und das gefällt mir nicht. Er hatte zu Unrecht einen Ruf als ehrlicher Mann, der immer zu seinem Wort steht und sich um die Menschen kümmert, die ihn um Hilfe bitten.«

»Aber er hat mir geholfen, Patrick«, sagte Corinna sanft, »und ich musste ihn nicht einmal darum bitten.«

»Lass uns nicht mehr über den Fürsten sprechen«, bat er, »ich bekomme nur schlechte Laune davon.«

»Es tut mir leid«, sagte sie.

»Was tut dir leid?«

»Ich hätte dir nicht so viel erzählen sollen«, antwortete sie. »Jetzt denkst du, ich bin die arme betrogene Frau, aber das stimmt nicht. Ich habe ihn geliebt, ich wollte ihn unbedingt haben. Denk nur nicht, dass ich nicht wusste, worauf ich mich einließ. Ich wusste es ganz genau.«

»Das hast du dem Journalisten ja auch erzählt.« Patrick warf einen Blick auf die Uhr und ging zur Tür. »Ich muss zurück zum Empfang. Wir sehen uns, Corinna.«

»Ja«, erwiderte sie leise. »Wir sehen uns.«

*

Franziska beschlich eine böse Vorahnung, als sie auf der Titelseite der Süddeutschen Allgemeinen Zeitung die Ankündigung von Corinna Roeders erstem Interview las, seit ›die Affäre‹ öffentlich bekannt geworden war. ›Lesen Sie das große Interview, das Corinna Roeder unserem Mitarbeiter Ferdinand von Stade gewährt hat‹ stand da. Sie schlug hastig die Zeitung auf und erschrak, als sie sah, dass das Interview und der zugehörige Artikel zwei ganze Seiten einnahmen. Auf einer prangte ein sehr vorteilhaftes Foto von Corinna Roe­der, auf dem sie schüchtern lächelte.

Franziska begann sofort zu lesen, und während sie das tat, lief es ihr abwechselnd heiß und kalt den Rücken hinunter. Sie erkannte schnell, dass dies ein empfindlicher Schlag gegen ihre Freunde war, vielleicht sogar der entscheidende. Nach diesem Interview und diesem Artikel würden sich nur noch unbeirrbare Freunde des Fürstenhauses auf Seiten der Sternberger befinden, alle anderen würden Corinna Roeder glauben.

Sie las alles ein zweites Mal, dann griff sie zum Telefon und rief Ferdinand an. »Wieso hast du mir nichts von dem Artikel und dem Interview erzählt?«, fragte sie. »Ich wusste ja nicht einmal, dass du mit Frau Roeder gesprochen hast.«

»Es sollte eine Überraschung sein«, erwiderte er vergnügt. »Und wie ich sehe, ist sie mir gelungen. Wie findest du den Artikel?«

»Er ist sehr gut geschrieben«, antwortete sie, »und ich finde Frau Roeders Offenheit erstaunlich.«

»Ja, nicht wahr? Ich muss dir sagen, dass ich hinterher gleich das Gefühl hatte, dass mir etwas Außerordentliches gelungen ist. In der Zeitung ist die Hölle los, seit das Interview erschienen ist.« Er lachte. »Stell dir vor, jetzt wollen sie alle mich interviewen, weil Frau Roeder weitere Interviews abgelehnt hat. Ich habe noch ziemlich viel unveröffentlichtes Material, mein Chef will unbedingt, dass ich noch mehr davon veröffentliche. Tja, für die Sternberger sieht es ziemlich schlecht aus, schätze ich.«

»Und das freut dich?«

»Es freut mich«, erwiderte er ruhig, »wenn sich die Wahrheit durchsetzt. Und da ich glaube, dass in diesem Fall Corinna Roeder die Wahrheit sagt, freut mich diese Entwicklung, ja, das kann ich so sagen.«

Jetzt erst wurde ihr bewusst, dass ihr Schweigen ihm und den Sternbergern gegenüber auch falsch interpretiert werden konnte. Sie musste diesen Zustand so schnell wie möglich beenden.

»Hör mal«, fragte er, »wollen wir nicht zusammen zu Mittag essen? Ich will unbedingt hier raus, ich habe hier nämlich keine ruhige Minute. Außerdem steigt mir das viele Lob allmählich zu Kopfe. Plötzlich wollen alle meine Freunde sein, auch die, die mich eigentlich nicht leiden können. Ich hasse das, kann ich dir sagen.«

Sie ging bereitwillig auf seinen Vorschlag ein, so konnte sie es ihm beim Mittagessen sagen, ohne weitere Verzögerung.

*

Anna wartete, bis Christian und Konrad auf dem Schulhof waren, dann rannte sie zurück zu Per Wiedemann und beschwor ihn, sie in die Stadt zu fahren, in der Ferdinand von Stade wohnte. Sie tue es für einen guten Zweck, beteuerte sie, obwohl sie dafür die Schule schwänzen musste, zumindest die ersten beiden Stunden. Der gutmütige Chauffeur gab schließlich nach, er kannte Anna. Sie hätte sonst den Bus genommen, was unabsehbare Folgen hätte haben können in der derzeitigen Situation.

Als sie die Stadt erreicht hatten, ließ sich Per Wiedemann von seinem Navigationsgerät zu der Straße lotsen, in der die Süddeutsche Allgemeine Zeitung ihren Sitz hatte.

»Sie können mich hier absetzen, Herr Wiedemann«, sagte Anna. »Ich muss da rein, und ich hoffe, es dauert nicht lange.«

»Ich bleibe auf dem Parkplatz«, versprach er. »Passen Sie bloß auf, Baronin Anna, dass nicht einer von den Journalisten Sie erkennt und Sie bedrängt.«

Sie zog sich eine Wollmütze tief in die Stirn und schlang sich einen Schal so um den Hals, dass er ihr halbes Gesicht verdeckte. »Keine Sorge, mich erkennt niemand«, sagte sie, als sie aus dem Wagen stieg.

Sie wollte Ferdinand von Stade ein Interview geben, damit er auch einmal die andere Seite hörte – das jedenfalls war ihr Plan. Sie hatte das Gefühl, dringend etwas für Christian tun zu müssen, und ein Interview über ihren wunderbaren Onkel Leopold, Christians Vater, schien ihr das geeignete Mittel zu sein.

Sie fragte an der Information nach Ferdinand von Stade und erntete ein amüsiertes Lachen. »Nach dem fragen heute alle, ich glaube kaum, dass du Glück haben wirst. Aber versuchen kannst du es ja. Erster Stock.«

Sie nahm die Treppe und befand sich gleich darauf in einem Großraumbüro. Ohne zu zögern steuerte sie einen der Schreibtische an und fragte erneut nach Ferdinand von Stade. Ein erstaunter Blick traf sie. »Was willst du denn von ihm? Bist du mit ihm verwandt?«

»Seine Nichte«, log Anna. »Ich muss ihn wirklich ganz dringend sprechen, und er hat sein Handy nicht an.«

»Natürlich nicht, es klingelt ja alle zehn Sekunden. Seit dem Interview ist hier die Hölle los. Wenn du es genau wissen willst, er isst zu Mittag, bei Antonio.«

»Wo ist das?«

Ein erstaunter Blick traf sie. »Als seine Nichte solltest du das eigentlich wissen. Du gehst nach rechts bis zur nächsten Ampel, dann die zweite Querstraße links …«

Anna verabschiedete sich hastig und verließ das Gebäude wieder. Sie informierte Per Wiedemann, der daraufhin beschloss, ihr unauffällig zu folgen. Dieser Ausflug konnte ihn seinen Job kosten, wie ihm allmählich bewusst wurde. Die Frau Baronin und der Herr Baron verlangten von ihm, dass er die Teenager sicher zur Schule brachte und nicht, dass er sie zu zweifelhaften Abenteuern kutschierte, auch wenn er sicher war, dass Anna diese Fahrt sonst eben ohne ihn unternommen hätte.

Anna fand das Lokal, in dem Ferdinand von Stade angeblich zu Mittag aß, ohne Probleme. Sie war froh, dass sie sich im Internet über ihn informiert hatte, so wusste sie zumindest, wie er aussah, denn sie hatte etliche Fotos von ihm gefunden. Er saß an einem Tisch in einer Nische, ein wenig abgeschieden, und er saß dort nicht allein.

Eine Frau saß ihm gegenüber, eine Frau, die Anna erst erkannte, als sie bereits den halben Weg zu dem Tisch in der Nische zurückgelegt hatte: Es war Franziska von Severn. Natürlich, Franziska wohnte ja auch hier … Anna hatte sogar noch überlegt, ob sie sie um Hilfe bitten sollte bei ihrem Vorhaben, sich dann aber dagegen entschieden.

Sie blieb wie angewurzelt stehen, dann vergewisserte sie sich bei einem der Kellner, ob der Mann in der Nische tatsächlich Ferdinand von Stade war.

»Aber ja«, lachte der Mann, »dir kann ich es vermutlich sagen, du bist ja wohl nicht auch von der Presse. Die jagen ihn nämlich heute alle, weißt du, wegen seines Interviews.«

Anna bedankte sich und steuerte wieder auf den Tisch in der Nische zu. Ob Franziska wohl gerade das tat, was sie selbst sich vorgenommen hatte? Gab sie dem Journalisten ein Interview über Fürst Leopold, damit er auch die andere Seite hörte und begriff, wie voreilig es von ihm war, für Corinna Roe­der Partei zu ergreifen?

Während Anna noch überlegte, geschah etwas, womit sie nicht gerechnet hatte: Ferdinand von Stade griff nach Franziskas Hand und legte sie an seine Wange. Dann erhob er sich, um sich neben sie zu setzen. Er umschlang sie mit beiden Armen und küsste sie leidenschaftlich.

Anna war wie angewurzelt stehen geblieben. Der Kellner, mit dem sie zuvor gesprochen hatte, folgte ihrem Blick und lachte. »Ja, ganz heiße Liebe«, sagte er. »Überleg es dir gut, ob du ihn jetzt stören willst.«

Die beiden waren ein Liebespaar, und Franziska hatte nichts davon erwähnt, als sie bei ihnen gewesen war! Wie von Furien gejagt rannte Anna wieder aus dem Lokal – so schnell, dass Per Wiedemann, der draußen auf sie gewartet hatte, ihr nur mit Mühe folgen konnte.

»Nach Hause, Herr Wiedemann«, schluchzte Anna. »Ich muss nach Hause, ich kann jetzt nicht zur Schule gehen.«

Er ließ sie einsteigen und befolgte ihren Wunsch, obwohl er wusste, dass er sich dadurch in noch größere Schwierigkeiten brachte.

*

»Was ist denn?«, flüsterte Ferdinand und machte Anstalten, Franziska noch einmal zu küssen. »Willst du etwa nicht mit mir gesehen werden?«

»Das ist es nicht, nur …« Sie brach ab, als einer der Kellner neben ihnen auftauchte.

»Tut mir leid, dich zu stören, Ferdinand«, sagte er, »aber du wirst von deinem Chef am Telefon verlangt, dringend. Hinten im Büro.«

Ferdinand unterdrückte ein Schimpfwort. »Bin gleich wieder da, Franzi«, versprach er, bevor er dem Kellner folgte.

Franziska sah ihm nach. Noch immer wusste er nicht, dass sie mit den Sternbergern befreundet war. Mindestens drei Ansätze hatte sie schon gemacht, ihm alles zu sagen, jedes Mal war etwas dazwischengekommen. Weil ich wollte, dass etwas dazwischenkommt, dachte sie. Ich bin nicht scharf darauf, ihm das zu erzählen, und so nehme ich gern jeden Vorwand, der sich bietet, um weiterhin zu schweigen. Aber wenn er jetzt zurückkommt von seinem Gespräch, sage ich es ihm sofort.

Da tauchte er auch schon auf, mit schnellen Schritten, und sie wusste, es würde auch jetzt nichts werden mit ihrem Geständnis. »Ich muss weg«, sagte er atemlos, »Ich erkläre es dir später, ja? Tut mir leid, aber ich hab’s jetzt wirklich eilig.« Er küsste sie zum Abschied, dann lief er auch schon aus dem Lokal.

Sie verließ das Lokal kurz nach ihm und kehrte nach Hause zurück. Eigentlich hätte sie sich jetzt wieder an die Arbeit setzen müssen, doch sie wusste, dass sie sich nicht würde konzentrieren können, und so war sie aufrichtig froh, als kurz nach ihrer Rückkehr ihr Bruder Carl anrief. »Hast du Ferdinand von Stades Artikel in der Süddeutschen Allgemeinen gelesen?«, fragte er ohne Umschweife.

»Ja, habe ich.«

»Und was hältst du davon?«

Sie wiederholte, was sie zuvor schon zu Ferdinand gesagt hatte. »Er ist sehr gut geschrieben und …«

»Er ist eine Sensation!«, rief Carl. »Vor allem das Interview. Hast du Radio gehört – oder mal Fernsehnachrichten gesehen?«

»Nein, ich …«

»Auch die, die bis jetzt den Fürsten noch verteidigt haben, schwenken um«, sagte Carl. »Alle, die ich bisher gesprochen habe, sind jetzt auf Seiten von Corinna Roeder.«

»Du auch?«, fragte Franziska. »Wenn man dir zuhört, könnte man das nämlich beinahe glauben, Carl.«

»Zumindest fange ich an zu zweifeln«, gab ihr Bruder zu. »Du nicht?«

»Nein, warum sollte ich? Ich kannte Leo gut genug, um zu glauben, dass er das, was diese Frau behauptet, nicht getan hätte.«

»Frau Roeder ist eine überaus attraktive Frau, da wäre jeder Mann schwach geworden.«

»Ach, Carl«, sagte Franziska unwillig, »hör mir auf mit solchen Gemeinplätzen. Natürlich kann jeder Mensch einmal schwach werden, aber darüber reden wir hier doch nicht. Wir reden darüber, dass ein Mann seine Frau, seinen Sohn, die gesamte Familie und all seine Freunde über viele Jahre hinweg belogen haben soll.«

»Na, und? Da rutscht man schneller rein als man denkt. Einmal gelogen, dann noch einmal, ein drittes Mal – und plötzlich lässt sich das alles nicht mehr rückgängig machen.«

»Du kannst glauben, was du willst«, sagte Franziska, »ich bleibe bei meiner Meinung.«

»Da wirst du bald die Einzige sein«, prophezeite Carl. Wenig später verabschiedete er sich.

Er ließ seine Schwester noch deprimierter zurück, als sie es ohnehin schon gewesen war. Sie hatte zwar nicht gelogen, aber die Wahrheit verschwiegen, das kam einer Lüge in diesem Fall schon recht nahe. Und hatte Carl nicht Recht? Sie fand ja auch den Mut nicht, die Situation zu klären, dabei musste sie nur zwei Gespräche führen: eins mit den Sternbergern, eins mit Ferdinand.

Sie griff zum Telefon, legte es dann aber wieder hin. Nein, sie musste Ferdinand und auch ihren Freunden in die Augen sehen können, wenn sie ihnen sagte, was sie bisher verschwiegen hatte. Am Telefon ließ sich so etwas nicht erledigen.

Wie war sie nur in diese Situation geraten?

*

»Anna, was ist denn passiert?«, rief die Baronin, als ihre Tochter in Baron Friedrichs Büro stürmte, in dem Sofia sich kurz zuvor eingefunden hatte, um mit ihrem Mann einiges zu besprechen. »Wieso bist du nicht in der Schule?«

»Franzi und Ferdinand von Stade sind ein Paar«, stieß Anna atemlos hervor. »Ich habe sie zusammen gesehen, sie haben sich geküsst.«

Verblüfftes Schweigen folgte auf diese Worte, bis der Baron mit ruhiger Stimme bat: »Kannst du uns deine Geschichte bitte von Anfang an erzählen?«

Anna nickte. Sie war noch immer so aufgeregt, dass sie sich öfter verhaspelte, aber sie legte ihren Plan, Ferdinand von Stade ein Interview zu geben, offen dar, beschwor ihre Eltern, Per Wiedemann nicht zu bestrafen, weil er sie zum Verlagshaus der Zeitung gefahren hatte und beschrieb schließlich, was sie in jenem italienischen Lokal gesehen hatte.

»Aber du kennst doch den Mann überhaupt nicht, Anna. Vielleicht war er es gar nicht.«

»Ich habe mir Fotos von ihm im Internet angesehen. Außerdem habe ich einen Kellner gefragt, um ganz sicher zu gehen, Mama.« Anna fing an zu weinen. »Wir haben Franzi alles erzählt, jede Spur, die Cosima gefunden hat, also weiß jetzt auch Frau Roeder Bescheid, weil ja dieser Herr von Stade auf ihrer Seite ist. Wir haben keine Chance mehr, oder?«

Die Baronin schloss ihre Tochter in die Arme, während sie einen Blick mit ihrem Mann wechselte. Sie entdeckte in seinen Augen die gleiche Ratlosigkeit, die sie selbst empfand. Franziska war eine gute Freundin, es erschien ihnen undenkbar, dass sie sie ausspioniert hatte. Und doch schien einiges dafür zu sprechen.

»Da gibt es nur eins«, sagte der Baron schnell entschlossen und griff zum Telefon. »Ich werde Franzi fragen.« Er wählte die Nummer der jungen Frau und bekam tatsächlich gleich eine Verbindung. »Hallo, Franziska«, sagte er. »Hier ist Friedrich von Kant. Ich habe nur eine Frage an dich: Bist du mit Ferdinand von Stade liiert?«

Während er der Antwort lauschte, verschloss sich sein Gesicht und wurde hart. »Erspar mir weitere Erklärungen«, sagte er schließlich mit beherrschter Stimme, »du bist hier auf Sternberg in Zukunft kein gern gesehener Gast mehr, Franziska. Wir haben dich als unsere Freundin angesehen, aber du hast unser Vertrauen missbraucht. Auf solche Freunde können wir verzichten.«

Nach diesem Satz legte er auf. »Sie hat sofort alles zugegeben«, sagte er. »Dann wollte sie mir beteuern, dass sie keinerlei Informationen an ihn weitergegeben hat, aber das wollte ich dann nicht mehr hören. Vielleicht stimmt es sogar, aber dann hätte sie uns die Verbindung zu ihm nicht verschweigen müssen.«

»Noch eine Enttäuschung«, murmelte die Baronin nach einer Weile. »Wenn jetzt selbst unsere Freunde die Seiten wechseln …« Wieder einmal schimmerten Tränen in ihren Augen.

»Ihr seid mir also nicht böse?«, fragte Anna.

»Wir sind dir nicht böse, Anna, aber es war trotzdem keine gute Idee, und ich möchte, dass du uns versprichst, so etwas in Zukunft auf keinen Fall zu wiederholen. Du bist einem gewieften Journalisten nicht gewachsen und weißt gar nicht, worauf du dich bei einem Interview eingelassen hättest. Keine Alleingänge mehr, versprochen?«

»Ja, versprochen«, sagte Anna kleinlaut. »Ich …, ich sollte vielleicht doch noch in die Schule gehen, oder? Wenn ich mich beeile, habe ich nur die ersten drei Stunden verpasst.«

»Ich schreibe dir eine Entschuldigung«, beschloss der Baron.

»Danke, Papa. Und ihr seid Herrn Wiedemann auch nicht böse?«

»Er hat gewiss gedacht, er tut das Richtige«, seufzte die Baronin. »Du kannst ja sehr überzeugend sein, wenn du dir Mühe gibst, Anna.«

Fünf Minuten später saß Anna erneut in der Limousine. Wie erwartet kam sie noch rechtzeitig zur vierten Stunde. In der Entschuldigung, die ihr Vater geschrieben hatte, waren ›dringende familiäre Angelegenheiten‹ angeführt worden.

Die Lehrer dachten sich ihr Teil dabei, machten aber keinerlei Bemerkungen darüber.

*

An Cosima ging die Aufregung, die Corinna Roeders Interview hervorrief, weitgehend vorüber. Sie hatte von Bodo Kleinerts Computer eine Unmenge von Daten kopiert, die sie nun alle sichten musste. Zu ihrer größten Enttäuschung fand sie nichts Aufregendes, im Gegenteil, es sah so aus, als wäre ihr erster Einbruch in der Werkstatt des Mannes deutlich erfolgreicher gewesen.

»Mist, Mist und nochmals Mist!«, rief sie zornig. »Und ich war so sicher, dass er auf diesem Rechner interessante Daten hat.«

Obwohl sie ihnen also nichts bieten konnte, fand sie sich bei Barbara von Kreyenfelss und Hagen von Boldt ein, denn die Anwälte hatten dringend um ihren Besuch gebeten.

»Ich habe aber noch nichts für euch«, sagte sie gleich beim Eintreffen. »Tut mir wirklich leid, ich habe bis jetzt noch nicht einmal die Hälfte der Dateien durchsehen können. Das dauert einfach, und …«

Hagen von Boldt unterbrach sie. »Hast du den Artikel gelesen, den Ferdinand von Stade geschrieben hat?«, fragte er. »Und das ausführliche Interview, das Corinna Roe­der ihm gewährt hat?«

»Nein, aber ich habe es zu Hause liegen, ich wollte lieber noch weiter die Daten überprüfen, weil ich gehofft hatte, euch vielleicht doch etwas liefern zu können. Hat leider nicht geklappt.«

»Dann lies es jetzt, wir warten so lange.«

Erstaunt sah Cosima ihn an, erkannte aber sofort, dass er es ernst meinte, und so griff sie nach der Zeitung, die er schon für sie bereitgelegt hatte. Bereits nach wenigen Zeilen begriff sie, dass dieser Artikel mit dem Interview ein weiterer böser Tiefschlag für die Sternberger war. Unwillkürlich fragte sie sich, wie der kleine Fürst wohl auf diese Veröffentlichung reagiert hatte.

»Das ist hart«, sagte sie, als sie die Zeitung schließlich beiseitelegte.

»Es ist für unsere Mandanten eine Katastrophe«, berichtigte Hagen von Boldt. »Viel schlimmer hätte es nicht kommen können. Wir haben dich um diesen Besuch gebeten, Cosima, weil du jetzt unsere berühmte letzte Hoffnung bist.«

»Dann muss ich noch ein drittes Mal bei Herrn Kleinert einbrechen«, murmelte sie, »es sei denn, ich finde in dem Datenwust, den ich gerade durchsehe, irgendwo doch noch etwas Interessantes.«

»Kein drittes Mal!«, rief Barbara. »Man soll sein Schicksal nicht herausfordern, Cosima.«

»Was wollt ihr denn sonst machen? Ihr habt doch selbst gesagt, dass ich eure letzte Hoffnung bin. Bildet ihr euch etwa ein, der Beweis dafür, dass Corinna Roeder lügt, würde vom Himmel fallen? Wenn kein Wunder geschieht nach diesem Interview, dann ist die Sache gegessen, wenn ihr mich fragt. Frau Roeder gewinnt, das Fürstenhaus verliert, zumindest das Wohlwollen der Öffentlichkeit.«

Eins der Telefone klingelte, Barbara erhob sich, um das Gespräch entgegenzunehmen. Sie hörten sie im Nebenraum leise reden.

»Ehrlich, Hagen«, sagte Cosima, »ich weiß keinen anderen Weg. Diese Spur in die Werkstatt von Bodo Kleinert ist die einzige Spur, die wir haben …«

Barbara kehrte zurück, kreideweiß im Gesicht.

»Was ist denn jetzt schon wieder?«, fragte Hagen von Boldt beunruhigt. »Noch eine schlechte Nachricht, Barbara?«

Sie nickte, offenbar hatte es ihr die Sprache verschlagen. Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Das war Baron von Kant«, krächzte sie schließlich. »Sie hatten kürzlich Besuch von einer Freundin, mit der sie ganz offen über die Affäre und unsere Arbeit gesprochen haben.«

»Ja, und?«, fragte Cosima mit hochgezogenen Brauen.

»Ferdinand von Stade ist ihr Freund, das hatte sie ihnen aber verschwiegen.«

Mehrere Sekunden lang war es still, dann sprang Cosima auf. »Moment mal!«, rief sie erregt. »Soll das etwa heißen, dieser Journalist weiß, welche Spuren wir verfolgen?«

Barbara nickte stumm.

»Dann wissen es Frau Roeder und Herr Kleinert auch«, sagte Cosima tonlos. »Und das bedeutet: Wenn ich unter den schon kopierten Daten nichts Interessantes finde, können wir die Sache vergessen. Ein weiterer Einbruch wird nichts mehr bringen, und damit ist die letzte Hoffnung, die ihr eben noch geäußert habt, gestorben.«

Jetzt war es Hagen von Boldt, der sich erhob. Er verschränkte die Arme auf dem Rücken, während er den Raum mit langen Schritten durchmaß. Schließlich blieb er stehen und sah die beiden Frauen an. »Wir sind am Ende«, sagte er. »Jetzt bleibt uns nur noch die Exhumierung als letztes Mittel, wobei es wahrscheinlich ist, dass Fürst Leopolds sterbliche Überreste gar keine Genanalyse mehr erlauben.«

Nach diesen Worten sprach niemand ein Wort. Schlimmer hätte es nicht kommen können.

*

»Du schwimmst jetzt also auf einer Welle des Erfolgs«, sagte Curt von Danen zu Ferdinand, als er sich abends mit ihm traf. »Kein Wunder, dass du strahlst wie ein Honigkuchenpferd. Dieses Interview war ein richtiger Coup.« Die beiden hatten sich auf ein Bier verabredet, sie trafen sich regelmäßig, schon seit der Schulzeit waren sie Freunde.

»Ja, und ich bin, ehrlich gesagt, auch ziemlich stolz darauf«, gestand Ferdinand. »Es hat mich viel Überredungskunst gekostet, Frau Roeder zu dem Interview zu bewegen, sie wollte zuerst nicht.«

»Und wie hast du es geschafft?«, erkundigte sich Curt neugierig.

»Das weiß ich nicht so genau. Letzten Endes hat mir wohl geholfen, dass ich einen Ruf als seriöser Journalist habe«, erwiderte Ferdinand. »Sie ist sehr darauf bedacht, nichts zu tun, was ihr schaden könnte. Sie wollte auch kein Geld für das Interview annehmen.«

»Das habt ihr auch veröffentlicht.«

»Ja, ich wusste, dass ihr das wichtig ist.«

»Und, wie ist sie? Du hast sie ja als sehr sympathische Person beschrieben.«

»Das ist sie auch – und attraktiv dazu. Man kann sich sofort vorstellen, dass der Fürst sich in sie verliebt hat.«

»Trotzdem«, meinte Curt nachdenklich, »die ganze Geschichte passt so gar nicht zu dem Bild, das man bisher von Fürst Leopold hatte.«

»Das ist doch aber meistens so!«, rief Ferdinand. »Denk an Prinzessin Diana! Die war auch anders als ihr öffentliches Bild.«

»Mhm«, murmelte Curt. »Stimmt auch wieder.«

»Außerdem gibt es noch einen anderen Grund dafür, dass ich im Augenblick platzen könnte vor Glück«, sagte Ferdinand.

»Und der wäre?«

»Ich bin verliebt wie nie zuvor, Curt. In eine wunderbare Frau, die nicht nur schön ist, sondern auch klug, mit der ich über meine Arbeit reden kann und über ihre und von der ich mich nie wieder trennen will.«

Curt traute seinen Ohren nicht. »Du willst heiraten?«

»Ich glaube schon, ja. Bisher haben wir darüber natürlich noch nicht gesprochen, wir kennen uns ja erst ein paar Tage, aber …«

Curt fing an zu lachen. »Ein paar Tage? Meine Güte, und ich dachte schon, es sei etwas Ernstes.«

»Es IST etwas Ernstes«, beharrte Ferdinand. »Glaub mir, sie ist die Frau meines Lebens, ich habe das sofort gewusst. Mit ihr ist es anders als mit allen Frauen, die ich vor ihr gekannt habe.«

»Und wie heißt die Glückliche?«, fragte Curt.

»Franziska von Severn«, antwortete Ferdinand.

Curt beugte sich vor. »Wie bitte?«, fragte er. »Sagtest du Franziska von Severn?«

»Ja, das sagte ich. Kennst du sie etwa?«

»Nein, nicht persönlich, aber zufällig kenne ich jemanden, der sie kennt, und von dem weiß ich, dass sie gut mit den Sternbergern befreundet ist und sie regelmäßig besucht.«

Ferdinand starrte ihn an. »Wie bitte? Du musst dich irren, Carl, das hätte sie mir gesagt. Ich habe ihr ja erzählt, dass ich an der Sache arbeite und darüber schreibe.«

»Ich irre mich ganz sicher nicht«, erklärte Curt kopfschüttelnd. »Tut mir leid, ich wollte dir nicht die Laune verderben, aber vielleicht habt ihr euch nicht so zufällig kennengelernt, wie du dachtest. Vielleicht wollte sie nur herausfinden, wie weit du mit deinen Recherchen bist.«

»Das kann nicht sein, Curt.« Ferdinands Stimme klang heiser.

»Ich wünsche es dir nicht, aber ich an deiner Stelle würde mich vergewissern.«

Ferdinand sprang auf, warf einen Geldschein auf den Tisch, haute Curt heftig auf die Schulter, sagte: »Danke, bis bald, ich melde mich«, und stürmte aus dem Lokal.

»Armer Kerl«, murmelte Curt.

»Was hat er denn?«, erkundigte sich die Bedienung.

»Liebeskummer, schätze ich«, sagte Curt. »Ich möchte gern zahlen, Lili.«

Als auch er das Lokal verließ, fragte er sich, wie Franziska von Severn wohl versuchte, sich Ferdinand gegenüber herauszureden. Hoffentlich fiel er nicht darauf herein, denn die Sache schien ja wirklich sonnenklar zu sein.

*

Es war schon spät, als es noch an Franziskas Tür klingelte. Sie hatte nach Baron Friedrichs Anruf natürlich erst recht nicht mehr arbeiten können, sondern unablässig darüber nachgedacht, was nun zu tun war.

Ferdinand war an diesem Abend mit einem Freund verabredet, das wusste sie, also musste sie das Gespräch mit ihm auf den nächsten Tag verschieben. Und dann musste sie noch einmal Kontakt zu den Sternbergern aufnehmen, denn sie konnte Friedrichs Vorwürfe nicht unkommentiert auf sich sitzen lassen. Ja, sie hätte früher reden müssen, aber verraten hatte sie niemanden.

Sie öffnete die Tür und wusste im selben Augenblick, da sie Ferdinands Gesicht sah, dass sie mit ihrem Geständnis auch bei ihm zu spät kommen würde. »Du bist also schon lange mit den Sternbergern befreundet?«, stieß er hervor.

»Ja«, antwortete sie. »Aber es ist nicht …«

Er ließ sie nicht ausreden. Sie sah, wie erregt er war, sie hörte es auch an seiner Stimme. Er sah so zornig aus, dass sie beinahe Angst vor ihm empfand, und ihr wurde klar, wie sehr er sich von ihr hintergangen fühlte – ebenso sehr wie die Sternberger, auch das begriff sie jetzt.

»Danke, dass du mir das gleich gesagt hast!«, fuhr er mit vor Zorn bebender Stimme fort. »Jetzt kann ich ja richtig froh darüber sein, dass ich dir nicht mehr über meine ­Recherchen erzählt habe. Du hast sicherlich gleich alles weitergetragen …«

»Nein!«, sagte sie. »Bitte, komm herein, damit ich dir die Sache erklären kann, Ferdinand. Es war ja ganz anders.«

»Wie denn?«, fragte er, ohne sich zu rühren. »Wieso kam dir der schlichte Satz: ›Ich kenne die Sternberger‹ nicht über die Lippen? Auch nicht, als du das Interview gelesen hast, über das wir dann ja ausführlich gesprochen haben? Gab es bei keinem unserer Treffen eine Gelegenheit, mir endlich zu sagen, dass ich dir gegenüber meine augenblickliche Arbeit besser nicht erwähnen sollte, weil du ganz eigene Interessen hast …«

»Aber die habe ich doch gar nicht!«, rief sie, jetzt ebenfalls erregt. »Die Kants und Christian von Sternberg sind meine Freunde, das stimmt, und im Gegensatz zu dir glaube ich immer noch nicht an dieses Verhältnis des Fürsten, aber das ist doch kein Grund anzunehmen, dass ich für sie spioniert habe. Außerdem, wozu hätte das gut sein sollen?«

»Es ist immer gut, wenn man weiß, welche Züge der Gegner als Nächstes plant, und in diesem Fall gehöre ich zu den Gegnern der Fürstenfamilie, so leid es mir tut.«

»Aber so habe ich das doch gar nicht gesehen! Zuerst bin ich nur erschrocken, als du erzählt hast, woran du arbeitest, und dann …«

Er hob eine Hand, um sie am Weiterreden zu hindern. Der Zorn war aus seinem Gesicht gewichen, jetzt entdeckte sie darin nur noch Traurigkeit. »Und ich dachte, mit dir hätte ich die Frau meines Lebens gefunden«, sagte er leise. »Was für eine Enttäuschung, Franziska. Was für eine unendliche Enttäuschung.«

Nach diesen Worten drehte er sich um und ging. Er ließ sie einfach da stehen, an ihrer Wohnungstür, als gäbe es zwischen ihnen nichts mehr zu bereden – und so empfand er es wohl auch. Sie lauschte auf seine Schritte, bis sie unten die Haustür ins Schloss fallen hörte. Dann schloss sie auch ihre Wohnungstür, kehrte wie betäubt in ihr Wohnzimmer zurück, ließ sich aufs Sofa fallen und fing bitterlich an zu weinen.

*

»Glaubst du, sie hat für diesen Journalisten spioniert?«, fragte der kleine Fürst. Dieses Mal war es Anna, die auf seinem Bett lag, während Konrad und er daneben auf Stühlen Platz genommen hatten.

Anna dachte nach. »Eigentlich glaube ich es nicht, aber ich verstehe nicht, warum sie uns nicht gesagt hat, dass sie ihn kennt. Das hätte sie doch tun können. Wenn sie aber für ihn spioniert hat, sieht es übel für uns aus. Sie weiß alles, was wir bisher unternommen haben. Dr. von Boldt soll außer sich sein, er hat gesagt, über Cosimas Aktivitäten hätten wir mit niemandem reden dürfen, einen schlimmeren Fehler hätten wir nicht machen können. Wenn dieser Bodo Kleinert da mit drinhängt, dann ist er jetzt gewarnt, meint er.«

»Wenn man leider nicht einmal mehr seinen Freunden vertrauen kann …«, murmelte Konrad. »Was machen wir denn jetzt? Was können wir überhaupt noch machen?«

»Es gibt irgendwo einen Beweis«, sagte Christian. »Ich spüre das.«

»So lange dir nicht einfällt, wo, hilft uns das leider nicht weiter«, sagte Anna mutlos.

»Dieser Ferdinand von Stade, was ist das für ein Mann? Du hast doch einiges über ihn gelesen.«

»Er hat einen guten Ruf«, antwortete Anna. »Alle sind des Lobes voll für ihn, sogar seine Gegner. Er ist sehr gründlich. Bevor er einen Artikel schreibt, stellt er ausführliche Nachforschungen an.«

»Das sollte eigentlich selbstverständlich sein, oder?«

»Sollte es sein, ist es aber nicht. Jedenfalls hat er mit Sicherheit ziemlich viele Informationen zusammengetragen, bevor er sich entschieden hat, Frau Roeders Geschichte zu glauben.«

Konrad sah Christian an. »Vielleicht sollten wir auch mit ihm reden«, sagte er zögernd. »Wir haben ja neulich schon mal darüber gesprochen, und mittlerweile denke ich, es wäre gut, wenn er jetzt die andere Seite hören würde. Als Journalist muss er sich dafür ja auch interessieren.«

»Aber warum sollte er uns glauben, Konny?«, fragte Christian. »Wir können ihm keine Beweise vorlegen, dass mein Vater kein Verhältnis hatte.«

»Das kann Frau Roeder auch nicht.«

»Sie behauptet es aber. Die Fotos, der Brief …«

»Ja, das stimmt schon, aber wenn wir es nicht versuchen, haben wir auf jeden Fall schon verloren. Du hast es doch gehört: Die öffentliche Meinung ist jetzt eher gegen uns. Wir müssen auf jeden Fall etwas tun.«

»Ich denke noch mal darüber nach«, versprach Christian. »Aber vielleicht sind auch Tante Sofia und Onkel Fritz gar nicht damit einverstanden.«

»Wir überzeugen sie schon, wenn du dich entschieden hast. Nicht, Anna?«

Anna nickte stumm. Sie sah unglücklich aus.

»Was ist los?«, fragte Christian.

»Franzi«, antwortete Anna. »Wenn sie uns wirklich ausspioniert hat …«

Sie mochte den Satz nicht beenden, was die beiden Jungen gut verstehen konnten. Die Situation war auch ohne den Verrat einer engen Freundin der Familie schon schlimm genug.

*

Wie lange sie geweint hatte, wusste Franziska nicht, aber irgendwann versiegten ihre Tränen. Sie fühlte sich unglücklich und leer, wusste aber jetzt immerhin genau, was sie zu tun hatte. Sie würde zwei Briefe schreiben.

Sie fing mit dem an die Sternberger an, und sie schrieb, ohne sich alles vorher genau zurechtzulegen. Sie gab ohne Umschweife zu, dass es besser gewesen wäre, gleich zu sagen, dass sie Ferdinand von Stade kennengelernt hatte und sehr beeindruckt von ihm gewesen war. »Aber als der richtige Zeitpunkt einmal verpasst war«, schrieb sie, »schien es unmöglich zu sein, die Wahrheit zu sagen, ohne in ein schiefes Licht zu geraten. Die Situation hat sich, wie Ihr ja selbst wisst, sehr schnell zugespitzt – zu schnell für mich.«

Sie schloss mit der Hoffnung, dieser unselige Vorfall möge nicht das Ende ihrer Freundschaft sein. »Denn meine Beziehung zu Ferdinand ist bereits in die Brüche gegangen«, berichtete sie gegen Ende des Schreibens. »Er hat die Wahrheit, wie Ihr, ohne mein Zutun herausbekommen und mich ebenfalls sofort verdächtigt. Könnte ich die Zeit zurückdrehen und mich anders verhalten, ich würde es sofort tun. Ihr kennt mich, also hoffe ich, dass Ihr mir glaubt: Ferdinand hat nicht einmal gewusst, dass ich mit Euch befreundet bin.«

Danach schrieb sie den Brief an Ferdinand, der sich nicht sehr von demjenigen an die Sternberger unterschied. Sie las beide Briefe, als sie sie unterschrieben hatte, nicht noch einmal durch, sondern steckte sie in Umschläge, die sie beschriftete und frankierte, danach verließ sie die Wohnung, um sie sofort einzuwerfen, bevor sie es sich noch einmal anders überlegen konnte.

Als sie nach vollbrachter Tat nach Hause zurückkehrte, fühlte sie sich besser. Nicht gut, aber immerhin besser.

*

»Frau Roeders Sohn hat auch Blutgruppe A, wie Leo«, sagte Baron Friedrich zwei Tage später zu seiner Frau, als er vom Telefon zurückkehrte. »Das war Dr. von Boldt, er wollte mir das nur mitteilen. Er sagte, sie hätten es pflichtgemäß abgefragt, aber von Anfang an nicht angenommen, dass uns das weiterhelfen würde. Frau Roe­der wäre dumm gewesen, wenn sie das nicht vorher abgeklärt hätte, und dumm ist sie ja offenbar nicht.« Er sah, dass Sofia einen Brief in der Hand hielt. »Was ist das?«

»Wir haben Post von Franziska bekommen. Ich habe den Brief schon gelesen.«

»Ich bin nicht sicher, ob ich ihn lesen will«, sagte der Baron abwehrend.

»Ich lese ihn dir vor, ja?«

Er nickte, noch immer nicht überzeugt und hörte ihr dann mit unbewegtem Gesicht zu. Als sie geendet hatte, schwiegen sie beide, bis er endlich sagte: »Das hört sich ehrlich an. Wir haben sie vielleicht zu schnell verurteilt.«

»Das denke ich auch, Fritz. Sie ist unsere Freundin, wir hätten sie wenigstens anhören müssen.«

»Ich war so außer mir«, murmelte er. »Und immerhin hatte sie uns etwas Wesentliches verschwiegen. Was tun wir denn jetzt? Was schlägst du vor?«

»Wir sollten sie anrufen, Fritz, und sie einladen, uns bald wieder zu besuchen, damit wir noch einmal in Ruhe über die Sache reden können.«

Er nickte. »Und was hältst du vom Vorschlag unserer Kinder, dass wir unsere Zurückhaltung der Presse gegenüber aufgeben und ebenfalls ein Interview geben sollten?«

»Das weiß ich noch nicht«, gestand sie. »Ich verstehe ihre Argumente, sie sind vermutlich sogar richtig, aber es gefällt mir nicht, dass ein Interview zum jetzigen Zeitpunkt so aussähe, als hätten wir uns von Frau Roeder unter Zugzwang setzen lassen.«

Sie wurden von Eberhard Hagedorn unterbrochen. »Frau Baronin, Herr Baron«, sagte er mit einem kaum merklichen Zögern in der Stimme, »Herr von Stade bittet Sie beide um ein Gespräch. Er sagt, er ist als Privatmann hier, nicht als Journalist. Er ist unten an der Straße, die Wachleute fragen, ob sie ihn durchlassen sollen.«

»Ferdinand von Stade?«, fragte Baron Friedrich erstaunt.

»Jawohl, Herr Baron.«

Sofia und Friedrich verständigten sich mit einem kurzen Blick. »Lassen Sie ihn durchfahren, Herr Hagedorn.«

»Sehr wohl, Herr Baron.«

Eine knappe Viertelstunde später kehrte der alte Butler mit einem gut aussehenden dunkelhaarigen jungen Mann zurück, dessen Gesicht ernst und verschlossen war. »Frau Baronin, Herr Baron, dies ist Herr von Stade«, sagte Eberhard Hagedorn, bevor er sich lautlos zurückzog.

»Ihr Besuch überrascht uns, Herr von Stade«, sagte Baron Friedrich, nachdem der junge Journalist Sofia und ihn begrüßt hatte.

»Ja, das kann ich mir schon vorstellen, ich wundere mich selbst darüber, dass ich mich hierhergewagt habe«, gestand Ferdinand, und zum ersten Mal zeigte sich ein schwaches Lächeln auf seinem blassen Gesicht.

»Bitte, nehmen Sie Platz, und sagen Sie uns, was Sie hergeführt hat.«

»Wieso empfangen Sie mich überhaupt? Sie wissen doch genau, dass ich im Fall der Affäre des Fürsten …«

»… der angeblichen Affäre, Herr von Stade.«

»Gut, wie Sie wollen. Sie wissen jedenfalls, dass ich in dieser Sache nicht auf Ihrer Seite bin.«

»Sie haben Herrn Hagedorn gesagt, dass Ihr Besuch hier privater Natur ist.«

»Franzi«, sagte Ferdinand. »Sie sind informiert?«

»Sie hat uns einen Brief geschrieben«, erklärte Sofia. »Als wir erfuhren, dass sie mit Ihnen zusammen ist, haben wir sie aber praktisch … hinausgeworfen. Jetzt bedauern wir das. Wir sind schon lange mit ihr befreundet, wir hätten ihr Gelegenheit geben müssen, uns die Situation zu erklären.«

»Sie hat also wirklich nicht mit Ihnen geredet – über das, was ich ihr gesagt habe?«

»Kein Wort. Wir wussten ja nicht einmal, dass sie mit Ihnen zusammen ist. Und umgekehrt hat sie Ihnen also auch nichts von uns erzählt?«

»Ich wusste nichts von Ihrer Freundschaft. Und ich habe mich genauso verhalten wie Sie: Ich habe sie nicht einmal zu Wort kommen lassen, sondern mich ziemlich theatralisch von ihr getrennt.«

»Wir hatten sie im Verdacht, sie hätte uns ausgehorcht und dann alles, was wir unternehmen, um die Behauptungen von Frau Roeder zu entkräften, gleich an Sie weiterzugeben.« Der Baron lächelte reumütig. »Wären unsere Nerven nicht so dünn im Augenblick, hätten wir vielleicht noch rechtzeitig erkannt, dass sie so etwas niemals tun würde. Schließlich kennen wir sie gut genug.«

»Damit sind meine Fragen eigentlich schon beantwortet«, sagte Ferdinand. »Mehr wollte ich von Ihnen nicht wissen. Ich werde mich bei Franzi entschuldigen.«

»Unsere Kinder sind der Ansicht, wir sollten jetzt auch anfangen, mit der Presse zu reden, damit man uns nicht länger vorwirft, wir schwiegen, weil wir etwas zu verbergen hätten.«

»Soll das heißen …«, begann Ferdinand, unterbrach sich dann aber.

»Es soll heißen, dass wir darüber nachdenken, ebenfalls ein Interview zu geben, wobei nicht klar ist, wer von uns es geben sollte.«

»Der kleine Fürst natürlich«, antwortete Ferdinand wie aus der Pistole geschossen. »Aber ich würde an Ihrer Stelle noch warten.«

»Warum?«, fragte Sofia.

»Es sieht aus, als hätte Frau Roe­der Sie gewissermaßen …«

»… unter Zugzwang gesetzt?«

»Ja, so ungefähr.«

»Warum sind Sie auf ihrer Seite, Herr von Stade?«

»Weil sie mich überzeugt hat«, antwortete Ferdinand schlicht. »Ihre Geschichte klingt absolut glaubwürdig, sie ist sympathisch und attraktiv, sie bleibt auch jetzt weitgehend bescheiden im Hintergrund. Sie hält ihren Sohn, um ihn zu schützen, aus der ganzen Aufregung heraus – und bisher gibt es nicht den geringsten Hinweis darauf, dass sie lügt.« Er machte eine kurze Pause. »Es kann natürlich sein, dass Sie andere Erkenntnisse haben, das kann ich nicht beurteilen, so lange Sie diese nicht veröffentlichen. Aber bisher sieht es zumindest für mich so aus, als sagte sie die Wahrheit. Sollte ich auch nur den geringsten Hinweis finden, dass das nicht so ist, werde ich das sofort schreiben, glauben Sie mir. Ich habe Partei ergriffen, weil ich überzeugt bin, aber das kann sich ändern. Ich bin Journalist, mir geht es um die Wahrheit.«

Er beugte sich vor. »Sagen Sie mir einen einzigen Grund, der gegen Frau Roeders Version spricht.«

»Leopolds Charakter«, antwortete Sofia ohne nachzudenken.

»Jeder Mann kann schwach werden, das wissen Sie, Baronin von Kant.«

»Ja, das mag sein. Nehmen wir also mal an, Leo wäre schwach geworden, und er hätte einen Sohn gezeugt. Ich halte auch das für ziemlich unwahrscheinlich, aber wenn mehrere Faktoren zusammenkommen, mag es immerhin möglich sein. Vollkommen unmöglich aber ist es, dass er es all die Jahre vor seiner Frau und auch vor uns verheimlicht hätte. So war er nicht. Er hätte die Wahrheit gesagt, wie schmerzlich sie auch für alle Beteiligten gewesen wäre. Er war ein Mensch, der nicht lügen konnte – und das sage ich nicht, weil er der Mann meiner Schwester war und ich ihn gernhatte. Er hatte Schwächen, wie wir alle. Aber lügen konnte er nicht. Schon harmlose Schwindeleien flogen sofort auf, weil er unfähig war, sich zu verstellen.«

Ferdinand ließ sich das durch den Kopf gehen, schließlich nickte er. »Ein Beweis ist das aber nicht«, sagte er.

»Frau Roeder hat auch keine Beweise.«

»Sie behauptet etwas anderes.«

»Ja, das wissen wir.«

»Ich will Sie nicht länger aufhalten«, sagte Ferdinand. »Aber wenn einer von Ihnen bereit wäre, mir ein Interview zu geben, würde ich mich sehr freuen.«

»Vielleicht sollten wir uns lieber jemanden suchen, der noch nicht so eindeutig Partei ergriffen hat wie Sie.«

»Oder Sie nehmen gerade mich, weil ich Ihnen garantiere, dass ich fair sein werde.«

»Wir denken darüber nach, Herr von Stade.«

»Danke, dass Sie mich empfangen und mit mir über Franziska gesprochen haben.«

Sie begleiteten ihn zum Hauptportal und sahen ihm nach, als er langsam die Auffahrt hinunterfuhr.

»Wer hätte das gedacht«, murmelte der Baron. »Der Mann ist sympathisch!«

*

Cosima unterbrach ihre Arbeit am frühen Abend, um wenigstens eine Kleinigkeit zu essen. Sie dehnte und streckte ihren schmerzenden Rücken, aber nach ihrer Mahlzeit setzte sie sich gleich wieder an den Computer. Wenn sie nichts fand, verloren die Sternberger ihren Kampf. Noch immer war sie nicht davon überzeugt, dass Corinna Roeder log, aber sie ertappte sich jetzt häufiger dabei, dass sie sich insgeheim wünschte, der kleine Fürst würde den unbedingten Glauben an seinen Vater behalten dürfen. Er war ein so tapferer Junge, sie fand die Vorstellung furchtbar, dass er zu dem Leid um den Verlust seiner Eltern nun noch den Kummer ertragen sollte, dass sein Vater nicht der aufrechte Mann gewesen war, als der er Zeit seines Lebens gegolten hatte.

Es war schon mitten in der Nacht, als sie auf eine verschlüsselte Datei unter Bodo Kleinerts Daten stieß, die sich zunächst allen Versuchen, sie zu öffnen, widersetzte. Sie brauchte mehr als eine Stunde, bis es ihr endlich gelang. Zunächst sah es nach einer weiteren Enttäuschung aus, dann jedoch erschien auf ihrem Monitor ein Bild, das ihr geradezu den Atem verschlug. Sie starrte darauf, konnte es nicht glauben. Hektisch suchte sie weiter in der Datei, aber nur dieses eine Dokument stand in unmittelbarem Zusammenhang zu ihren derzeitigen Nachforschungen.

Sie sah auf die Uhr. Drei Uhr morgens, wahrhaftig keine Zeit, um jemanden anzurufen. Also schickte sie eine kurze Nachricht an Barbara von Kreyenfelss und Hagen von Boldt, dann ging sie ins Bett, obwohl sie wusste, dass sie nicht würde schlafen können.

Tatsächlich sprangen ihre Gedanken hin und her, suchten nach Erklärungen, Verknüpfungen, Interpretationsansätzen. Sie musste unbedingt mit jemandem über ihre Entdeckung reden, so schnell wie möglich. Sie stellte den Wecker auf sieben Uhr und erst als er klingelte, begriff sie, dass der Schlaf irgendwann offenbar doch gesiegt hatte.

*

»Verzeih mir, verzeih mir, verzeih mir«, sagte Ferdinand. »Ich hätte nicht an dir zweifeln dürfen.« Er hielt Franziska fest an sich gedrückt, als hätte er Angst, sie könnte ihm noch einmal verloren gehen.

»Und ich hätte gleich alles sagen müssen«, erwiderte sie. »Ich bin so froh, Ferdinand, so froh …«

Er erstickte ihre weiteren Worte mit einem langen Kuss. »Wir lernen daraus, ja?«, fragte er, als er sich von ihr löste. »Wir verhalten uns nie wieder so dumm.«

»Bestimmt nicht. Und du warst also in Sternberg?«

»Ja, sie haben mich tatsächlich empfangen, daran hatte ich vorher nicht geglaubt. Ich dachte nur, ich probiere es einfach mal.«

»Ist die Straße denn nicht mehr gesperrt?«

»Doch, aber sie haben mich durchfahren lassen, nachdem sie im Schloss angerufen hatten.«

Ein Schatten fiel auf Franziskas Gesicht. »Mir haben sie wohl noch nicht verziehen.«

Sie hatte diesen Satz kaum ausgesprochen, als ihr Telefon klingelte. Nachdem sie sich gemeldet hatte, blieb es lange still. Ferdinand schmunzelte in sich hinein, er konnte sich schon denken, mit wem sie sprach.

Als sie zu ihm zurückkehrte, um sich wieder in seine Arme zu schmiegen, sagte sie leise: »Das waren die Sternberger. Ich soll bald noch einmal kommen, damit wir die Geschichte endgültig hinter uns lassen können. Es tut ihnen leid, dass sie meine Erklärungen nicht einmal anhören wollten.«

»Sie scheinen wirklich sehr sympathisch zu sein«, sagte er nachdenklich. »Die Teenager habe ich ja nicht kennengelernt, leider.«

»Die sind auch toll, Ferdinand. Es ist eine wunderbare Familie, immer noch, obwohl seit letztem Jahr zwei wichtige Mitglieder fehlen. Ohne diese Familie wäre der kleine Fürst verloren gewesen, glaube ich.« Franziska hob den Kopf. »Du bist aber trotzdem immer noch auf Frau Roeders Seite, oder?«

Er lächelte verlegen. »Solange es keine neuen Beweise gibt, die mich vom Gegenteil überzeugen … Aber weißt du, im Augenblick ist mir nur wichtig, dass wir beide wieder glücklich sind.«

Mit einem weiteren innigen Kuss besiegelten sie ihre Versöhnung.

*

»Frau von Kreyenfelss und Herr von Boldt kommen«, rief Anna den anderen im Salon zu, wo sich die Familie gerade zum Frühstück eingefunden hatte. »Was wollen die denn so früh hier?« Anna lief in die Eingangshalle, doch Eberhard Hagedorn hatte das Hauptportal bereits geöffnet und ließ die beiden Anwälte eintreten.

»Gibt es Neuigkeiten?«, rief Anna aufgeregt, doch sie bekam keine Antwort, da Eberhard Hagedorn fast gleichzeitig sagte: »Bitte, folgen Sie mir in den Salon.«

Dort stand die ganze Familie beieinander und sah den beiden Anwälten entgegen. »Was führt Sie so früh her?«, fragte Baron Friedrich.

»Cosima hat uns heute Nacht eine Nachricht geschickt«, antwortete Hagen von Boldt mit einer Stimme, der die unterdrückte Aufregung anzuhören war. »Sie hat unter Bodo Kleinerts Daten einen Brief von Fürst Leopold gefunden. Es scheint sich um die Kopie einer Originalvorlage zu handeln, es ist ein Geschäftsbrief.«

Seinen Worten folgte ratlose Stille, bis die Baronin fragte: »Und was bedeutet das?«

»Es bedeutet«, antwortete Hagen von Boldt betont langsam, »dass Herr Kleinert sich mit Fürst Leopolds Schrift beschäftigt und eventuell versucht hat, sie nachzumachen. Wir werden sofort ein weiteres graphologisches Gutachten in Auftrag geben, das den uns vorliegenden Brief noch einmal untersucht.«

»Heißt das, wir können jetzt vielleicht beweisen, dass Frau Roe­der lügt?«, fragte Christian atemlos.

»Zumindest besteht die Hoffnung, Prinz Christian.«

Niemand wunderte sich darüber, dass der Junge wenig später den Salon verließ. Gleich darauf sahen sie ihn mit Togo quer durch den Schlosspark zum Hügel laufen.

*

»Es gibt neue Hoffnung«, sagte der kleine Fürst in Gedanken zu seinen Eltern. »Gleich muss ich in die Schule, ich habe nicht viel Zeit, aber das wollte ich euch noch schnell sagen. Dieser Mann, mit dem sich die Frau Roeder offenbar regelmäßig trifft, hatte einen Brief von dir gespeichert, Papa, die Kopie eines Originals. Wozu braucht er den Brief, wenn er nicht vorhat, deine Schrift zu fälschen? Bald wird sich beweisen lassen, dass du niemals eine Affäre mit ihr hattest, und wir können wieder in Frieden leben.«

Obwohl er in Eile war, wartete er, um sicherzugehen, dass seine Eltern ihn gehört hatten. Und tatsächlich ließ das ›Zeichen‹, das sie ihm immer sandten, nicht lange auf sich warten. Dieses Mal war es die Sonne, die strahlend am Horizont aufging und Schloss Sternberg in sanftes Licht tauchte.

»Danke«, flüsterte der kleine Fürst. »Bis heute Abend also. Komm Togo.«

Sein junger Boxer und er liefen zügig zurück zum Schloss, dem kleinen Fürsten war das Herz so leicht wie lange nicht.

Der kleine Fürst Staffel 14 – Adelsroman

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