Читать книгу Der kleine Fürst Staffel 14 – Adelsroman - Viola Maybach - Страница 9

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Der Brief eines Anwalts trifft auf Sternberg ein: Etwas Ungeheuerliches wird darin behauptet: Der verstorbene Fürst Leopold habe aus einer außerehelichen Beziehung einen Sohn gehabt. Die Aufregung im Schloss ist groß. Christian, der kleine Fürst, ist außer sich vor Kummer. Der Charakter seines Vaters wird auf einmal entscheidend in Frage gestellt. Den kleinen Fürst beschleicht ein schlimmer Verdacht. Dieses einschneidende Ereignis wird uns alle längere Zeit beschäftigen. Die Affäre von Fürst Leopold erschüttert Schloss Sternberg in seinen Grundfesten. Wie wird der kleine Fürst daraus hervorgehen?

»Wollen Sie jetzt doch Anzeige erstatten?«, fragte Kriminalrat Volkmar Overbeck.

Die Frage war an Baronin Sofia und Baron Friedrich von Kant gerichtet, die beide mit der Antwort zögerten. Sie saßen in der Bibliothek von Schloss Sternberg vor dem Kamin, in dem ein lebhaftes Feuer brannte, denn es war ein ungewöhnlich kalter und stürmischer Herbsttag, der bereits den nahenden Winter ankündigte. Sofia und Friedrich hatten den Kriminalrat um seinen Besuch gebeten, nachdem sie von ihren Anwälten über neue Entdeckungen im Zusammenhang mit ›der Affäre‹ informiert worden waren. Ihre Kinder und ihr Neffe Christian von Sternberg waren schon in der Schule, so konnten sie ungestört mit dem Polizeibeamten sprechen.

Die sogenannte Affäre bezog sich auf Christians Vater, den vor einem knappen Jahr bei einem Hubschrauberabsturz tödlich verunglückten Fürsten Leopold von Sternberg. Angeblich hatte er in den ersten Jahren seiner Ehe mit Sofias Schwester Elisabeth eine Beziehung zu einer Frau namens Corinna Roeder unterhalten, aus der ein heute siebzehnjähriger Sohn hervorgegangen war. Mit dieser Mitteilung hatte sich Corinna Roeder vor wenigen Wochen an die Familie des verstorbenen Fürsten gewandt und um Unterstützung für ihren Sohn gebeten, der hochbegabt sei und besondere Förderung seiner vielfältigen Talente brauche.

Auf noch ungeklärten Wegen war die Sache publik geworden, mittlerweile hatte Corinna Roeder dem angesehenen Journalisten Ferdinand von Stade ein viel beachtetes Interview gegeben, und die Gunst der Öffentlichkeit, zunächst eher auf Seiten der Sternberger, wandte sich allmählich Corinna Roeder zu.

Der fünfzehnjährige Prinz Christian von Sternberg war Vollwaise, denn nicht nur sein Vater war jenem Hubschrauberunglück zum Opfer gefallen, sondern auch seine Mutter. Er lebte nach wie vor auf Schloss Sternberg, war allerdings vom Ost- in den Westflügel gezogen, wo die Familie seiner Tante Sofia schon seit vielen Jahren wohnte. Er war jetzt gewissermaßen Sofias und Friedrichs drittes Kind, neben ihrer dreizehnjährigen Tochter Anna und deren drei Jahre älterem Bruder Konrad.

Sofia und Friedrich hatten bisher keine Anzeige erstattet, denn als Erpressungsversuch konnte Corinna Roeders Brief nicht gelten, sie stellte ja ihre Forderungen als legitim dar. Auch Interviews gaben sie nicht, das hielten sie nicht für ratsam. Sie überließen die Auseinandersetzung ihren Anwälten, doch zunehmend verlagerte sie sich jetzt in die Öffentlichkeit, ohne dass eine Lösung in Sicht gewesen wäre. Die Sternberger hatten Beweise für Corinna Roeders Behauptungen verlangt und daraufhin Fotos von ihr und dem Fürsten, sowie einen Brief, den er ihr angeblich geschrieben hatte, erhalten. Die Echtheit dieser Dokumente war jedoch nicht zweifelsfrei erwiesen.

Der Kriminalrat wiederholte seine Frage. »Wollen Sie jetzt doch Anzeige erstatten? Wenn ja, darf ich fragen, was Sie dazu bewogen hat?«

Baronin Sofia und Baron Friedrich kannten Volkmar Overbeck seit Langem. Sie hatten schon öfter miteinander zu tun gehabt und sich, wenn möglich, geholfen. Im Laufe der Jahre hatten sie gelernt, einander zu vertrauen.

»Sie wissen, dass unsere Anwälte mit einer jungen Computerspezialistin zusammenarbeiten, die auch eine Ausbildung als Ermittlerin hat«, sagte der Baron schließlich. »Cosima von Orth.«

»Das haben Sie neulich erwähnt, ja.«

»Sie hat ziemlich schnell eine Spur gefunden, die uns zuerst auf ein schnelles Ende hoffen ließ, dann aber irgendwie zu versickern drohte. Ich lasse die Einzelheiten an dieser Stelle mal weg, Herr Overbeck. Jedenfalls hat Frau von Orth festgestellt, dass sich Frau Roe­der offenbar regelmäßig mit einem Mann trifft, der angeblich als Buchdrucker arbeitet, in seiner versteckt gelegenen Werkstatt aber einen Raum voller Elektronik hat. Sie hat ein paar seiner Dateien kopiert.«

Die Augenbrauen des Kriminalrats wanderten in die Höhe, er sagte jedoch nichts.

»Sie ist zweimal in der Werkstatt gewesen«, fuhr der Baron fort. »Beim ersten Mal hat sie sehr professionell bearbeitete Fotos gefunden – Fotomontagen, um genau zu sein. Frau Roeder hat als Beweise für ihre Beziehung zu Leopold ja einige Fotos vorgelegt, deren Überprüfung leider kein eindeutiges Ergebnis erbracht hat. Beim zweiten Mal hat sie auf einer Festplatte einen mit der Hand geschriebenen Brief von Leo gefunden, die Kopie eines Originalbriefs an einen Verwandten. Auch einen Brief hatte uns Frau Roeder ja vorgelegt als Beweis. Wir wissen erst seit heute Morgen von diesem Fund, und nun überlegen wir uns natürlich, ob wir jetzt doch eine Anzeige wegen Betrug, Verleumdung, Vortäuschung falscher Tatsachen oder was auch immer in Erwägung ziehen sollten. Unsere Anwälte waren bis eben hier, sie sind sich noch nicht ganz schlüssig, was sie für das beste weitere Vorgehen halten. Aber wir haben natürlich ein Interesse daran, der jetzigen Situation so schnell wie möglich ein Ende zu bereiten.«

»Frau von Orth hat sich die Daten ja vermutlich illegal beschafft«, murmelte der Kriminalrat. »Ich werde vergessen, dass Sie mir das erzählt haben. Sie sollten dafür sorgen, dass Ihre Anwälte einen anonymen Brief mit den Daten bekommen. Einen Brief ohne Fingerabdrücke.«

»Oh!«, sagte der Baron verblüfft.

Sofia lächelte, sie hatte den Hinweis schneller verstanden als ihr Mann. »Vielen Dank, Herr Kriminalrat.«

»Ich habe nichts gesagt.« Volkmar Overbeck straffte sich. »Wollen Sie einen Rat von mir?«

»Wenn Sie uns einen geben können?«

»Das ist sehr schwer angesichts der Faktenlage.«

»Aber wir müssen endlich etwas tun!«, sagte Baronin Sofia unglücklich. »Sie hätten sehen sollen, wie Christian bei der Aussicht aufgeblüht ist, die Ehre seines Vaters bald wiederhergestellt zu sehen. Für ihn ist der jetzige Zustand unerträglich. Zuerst verliert er seine Eltern, und nun muss er hilflos zusehen, wie der Ruf seines Vaters mit Füßen getreten wird.« Ihre Stimme wurde so leise, dass der letzte Satz kaum zu verstehen war: »Es ist für uns alle unerträglich.«

»Eine Anzeige ist ein Risiko, schätze ich«, sagte Volkmar Overbeck nach einer Weile. »Sie haben keine Beweise, Sie haben Spuren. Ist es übrigens sicher, dass Frau Roe­der sich mit dem Mann trifft, der diese Werkstatt mit der vielen Elektronik hat?«

»Einen Beweis dafür gibt es nicht«, musste der Baron zugeben. »Frau Roeder sucht ein Fitness-Studio auf, gibt dort ihre Karte ab und verschwindet spurlos. Frau von Orth ist ihr gefolgt und hat festgestellt, dass sie über eine Hintertür verschwindet, die direkt zu dieser Werkstatt führt – und nur dorthin.«

»Mhm. Aber das hat außer der Ermittlerin natürlich niemand gesehen.«

»So ist es.«

»Dann würde also Aussage gegen Aussage stehen.« Der Kriminalrat beugte sich vor. »Ich will Sie nur warnen, Sie beide: Solange Sie keine hieb- und stichfesten Beweise haben, gehen Sie ein großes Risiko ein, wenn Sie die Frau anzeigen. Bislang deutet alles darauf hin, dass sie die Wahrheit sagt, das ist Ihnen doch klar?«

»Glauben Sie etwa auch …«, begann Sofia entgeistert, doch der Kriminalrat unterbrach sie.

»Ich glaube gar nichts, Frau von Kant. Für einen Polizisten wie mich zählen Fakten, keine Vermutungen. Ich kannte Fürst Leopold, ich hatte immer eine hohe Meinung von ihm, ich weiß aber auch, dass man in keinen anderen Menschen hineinsehen kann. Sie gehören zur Familie, für Sie sieht das anders aus, aber ich halte mich an die Tatsachen. Was übrigens nicht heißt, dass ich privat keine Meinung hätte, doch die tut hier nichts zur Sache. Die Tatsachen jedenfalls weisen darauf hin, dass Frau Roe­der die Wahrheit sagt: Es gibt Fotos von ihr und dem Fürsten, es gibt einen Brief, den er ihr geschrieben hat, und sie kann glaubhaft begründen, warum Fürst Leopold sich damals mit ihr eingelassen hat: Er war unglücklich, weil seine Ehe nach drei Jahren noch immer kinderlos war. Außerdem ist sie attraktiv, und nach allem, was man bis jetzt gehört hat, auch sehr sympathisch. Sie hat ihren Sohn allein großgezogen, sie arbeitet in einem Hotel, sie ist beliebt bei ihren Kolleginnen und Kollegen. Und sie hat den Sohn bis jetzt erfolgreich aus allem herausgehalten.« Er machte eine kurze Pause, bevor er hinzufügte: »So leid es mir als Privatmensch tut, das sagen zu müssen, aber alles spricht für sie.«

»Bei Ihrer Aufzählung haben Sie das Interview vergessen, das sie Ferdinand von Stade gegeben hat«, bemerkte die Baronin bitter. »Das war ihr Meisterstück, sie hat eine grandiose Vorstellung geliefert.«

»Ja, auch das war sehr überzeugend«, stimmte der Kriminalrat ihr zu. »Und deshalb wiederhole ich mich: Wenn Sie jetzt Anzeige gegen diese Frau erstatten, sollten Sie etwas Handfestes vorzuweisen haben.«

»Sie trifft sich mit einem Mann, der offenbar Fotos und Schriften fälscht«, sagte die Baronin erregt. »Ist das nichts Handfestes?«

»Sie können nicht beweisen, dass sie sich mit ihm trifft«, erwiderte Volkmar Overbeck bedauernd. »Sie wird leugnen, den Mann jemals gesehen zu haben. Er wird sagen, dass er nicht fälscht – es sei denn, man fände den Brief bei ihm, den sie als Beweis vorgelegt hat. Aber so dumm wird er nicht sein. Nichts von dem, was Sie mir bisher erzählt haben, ist kriminell. Der Mann stellt in seiner Werkstatt Fotomontagen her. Das machen andere auch und verdienen viel Geld damit. Er hat einen Brief von Fürst Leopold auf seiner Festplatte – na und? Niemand kann ihm das verbieten, und Frau Roeder kann ihn besuchen, so oft es ihr gefällt.«

Er machte eine Pause, bevor er eindringlich hinzusetzte. »Ich bitte Sie beide lediglich, sich Ihre nächsten Schritte noch einmal gut zu überlegen, damit Sie keinen Rückschlag erleiden. Wie Sie vorhin selbst sagten: Die Situation ist ja schon jetzt für Sie alle, besonders aber für Prinz Christian, unerträglich. Das würde nicht besser, wenn Sie mit Ihrer Anzeige keinen Erfolg hätten.«

»Ich fürchte, Sie haben Recht, Herr Overbeck«, sagte der Baron niedergeschlagen. »Für uns war die Entdeckung dieses Briefes wie eine Offenbarung, aber so lange wir die Verbindung von Frau Roeder zu diesem Bodo Kleinert mit seiner Werkstatt nicht beweisen können, haben wir praktisch nichts in der Hand.«

»Ich fürchte, so ist es, Herr von Kant.«

»Aber das kann doch nicht sein!« Baronin Sofia sprang erregt auf. »Wenn es nämlich stimmt, was Sie sagen, Herr Overbeck, dann haben wir im Grunde genommen überhaupt keine Chance, dieser Frau nachzuweisen, dass sie lügt.«

»Haben Sie daran gedacht …« Der Kriminalrat zögerte, bevor er seinen Satz beendete. »Haben Sie an eine Exhumierung des Fürsten gedacht?«

Die Baronin fing an zu lachen. Es war ein verzweifeltes Lachen, das den Baron veranlasste, zu seiner Frau zu gehen und sie in die Arme zu nehmen. »Wozu soll das gut sein, Herr Overbeck?«, fragte er. »Der Hubschrauber, mit dem das Fürstenpaar abgestürzt ist, ist ausgebrannt. Wir haben die sterblichen Überreste der beiden nicht gesehen, aber ich bezweifele, dass sie für einen Gentest ausreichend wären. Und ich nehme an, darauf hat sich Frau Roeder verlassen.«

»Verzeihen Sie mir«, bat Volkmar Overbeck, »meine Frage war gedankenlos. Ich habe mir eingebildet, dass diese Möglichkeit immer noch besteht, sozusagen als letztes Mittel, wenn nichts anderes mehr bleibt.«

Die Baronin hatte sich wieder beruhigt, aber sie war noch immer sehr blass. Sie hatte sehr an Fürstin Elisabeth, ihrer Schwester, gehangen. Schon als Kinder waren sie unzertrennlich gewesen, die besten Freundinnen. Elisabeths Tod hatte in Sofias Leben eine Lücke hinterlassen, die sich nie wieder würde füllen lassen. »Wir müssen trotzdem etwas tun, Herr Overbeck«, sagte sie. »Wir können nicht länger zusehen, wie diese Frau mit ihren Lügen unser Leben zerstört. Wir müssen handeln.«

»Wenn Sie meinen Rat hören wollen, würde ich vorschlagen: Geben Sie ebenfalls ein Interview, stellen Sie Ihre Sicht der Dinge dar. Das Fürstenpaar war sehr beliebt, es gibt noch immer viele Leute, die die beiden verehren. Ein Interview zum jetzigen Zeitpunkt wäre ein besserer Schritt in meinen Augen als eine Anzeige.«

»Frau Roeder hat bereits eins gegeben, jetzt ziehen wir nach. Sie ist uns immer einen Schritt voraus«, entgegnete die Baronin mit leiser Stimme. »Ich wache manchmal nachts auf und denke, sie wird in dieser Geschichte den Sieg davontragen, einfach weil wir keine Beweise finden.«

»Es ist viel zu früh, um schon die Hoffnung zu verlieren, Baronin von Kant«, erwiderte Volkmar Overbeck ruhig. »Verlieren Sie nur nicht die Nerven, das wäre der größte Fehler, den Sie machen könnten, denn dann hätten Sie vermutlich wirklich verloren.«

Baronin Sofia verzog schmerzlich das Gesicht. »Glauben Sie mir, Herr Kriminalrat, ich habe die Nerven längst verloren, ich verberge es nur normalerweise ganz gut. Wir leiden noch immer unter dem Schicksalsschlag, der uns letztes Jahr getroffen hat, aber wir haben uns nicht unterkriegen lassen, die Familie hält zusammen, wir haben trotz allem noch Freude am Leben. Aber das jetzt …, das ist einfach zu viel. Verstehen Sie das?«

»Sehr gut sogar. Und glauben Sie mir: Ich würde Ihnen helfen, wenn ich könnte.«

Sie wussten, dass er meinte, was er sagte. Als er sich wenig später von ihnen verabschiedete, brachten sie ihn beide zur Tür und drückten ihm fest die Hand. Es tat ihnen gut zu wissen, dass er ein Freund war.

*

»Was ist denn los?«, erkundigte sich Caroline von Hessen. Ihr Chef Henning Kuhlmann hatte sie zu sich ins Büro gebeten. Jetzt schloss er mit ernstem Gesicht und großem Nachdruck die Tür hinter ihnen beiden, bevor er sich an seinen Schreibtisch setzte. »Habe ich was verbockt?«

»Nein, überhaupt nicht. Setz dich bitte. Es geht um eine etwas heikle Angelegenheit, Caro, deshalb musst du mir versprechen, unser Gespräch für dich zu behalten.« Henning Kuhlmann war ein schwerer Mann in den Vierzigern, mit buschigen Augenbrauen und einer Stimme, die tief unten aus seinem Bauch kam und Kindern gelegentlich einen Schrecken einjagte, weil sie ein wenig grollend klang. Caroline jedoch war von Anfang an gut mit ihm ausgekommen.

»Du machst es ja reichlich spannend«, stellte sie fest.

Sie arbeitete seit einem Jahr für den Nationalpark Kellerwald am Edersee und konnte ihr Glück noch immer nicht fassen, dass es ihr gelungen war, eine der begehrten Stellen zu bekommen. Sie arbeitete mit ihrem Team neue Routen aus und begleitete Gruppen auf ihren Wanderungen. Für die kommende Woche erwartete sie eine Klasse von Fünfzehn- bis Sechzehnjährigen aus Süddeutschland. Mit ihnen und ihren Lehrern würde sie fünf Tage lang auf dem sogenannten Urwaldsteig unterwegs sein und ihnen die Besonderheiten des Nationalparks nahezubringen versuchen. Sie freute sich sehr darauf.

Caroline war eine ausgesprochen hübsche junge Frau, die ihre langen braunen Haare während der Arbeit meistens zu einem sportlichen Pferdeschwanz band. Ihr klares Gesicht wurde von warmen braunen Augen beherrscht und von ihrem Mund mit den vollen Lippen, von denen einmal ein verliebter Vierzehnjähriger gesagt hatte, er könne, wenn er diese Lippen sehe, nur noch ans Küssen denken. Der Junge hatte sich dann gegen Ende seines Aufenthalts am Edersee doch noch in eine gleichaltrige Mitschülerin verliebt, zu Carolines nicht geringer Erleichterung. Sie war es freilich gewöhnt, dass Mitglieder der Jugendgruppen, die sie betreute, sich in sie verliebten. Gelegentlich wurde sie im Kollegenkreis damit aufgezogen.

»Die Gruppe, die nächste Woche kommt, die du über den Urwaldsteig führst …« Henning Kuhlmann stockte.

»Ja? Jetzt sag bloß nicht, dass sie kurzfristig abgesagt haben, Henning! Ich hab mich so auf diese Tour gefreut. Außerdem komme ich mit Jugendlichen in dem Alter am besten klar. Die sind nicht mehr ganz so pubertär wie die Dreizehnjährigen, und auch nicht so abgeklärt und möchtegern-erwachsen wie die Älteren.«

»Nein, nein, niemand hat abgesagt, aber es ist ein Junge dabei, der uns Schwierigkeiten bereiten könnte«, seufzte Henning.

»Was hat er denn für ein Problem? Raucht er? Trinkt er? Pöbelt er die anderen an? Kann er sich nicht unterordnen? Ist er gewalttätig?«

»Nichts von alledem, er ist äußerst wohlerzogen. Ich spreche von Prinz Christian von Sternberg, auch bekannt als ›der kleine Fürst‹.«

Caroline sah ihn an und wartete auf sein dröhnendes Gelächter zum Zeichen dafür, dass er sie nur aufgezogen hatte. Das Gelächter blieb jedoch aus. Seine Augen unter den buschigen Brauen blickten sie bekümmert an.

»Kein Witz?«, fragte sie endlich.

»Kein Witz. Die Sache wäre auch so schon heikel genug, aber unter den gegebenen Umständen …« Er unterbrach sich. »Ich nehme an, du bist über diese angebliche Affäre, die sein Vater vor zwanzig Jahren oder so gehabt haben soll, im Bilde?«

»Nicht im Einzelnen, das hat mich, ehrlich gesagt, nicht besonders interessiert, aber natürlich weiß ich, dass diese Geschichte gerade ein gefundenes Fressen für alle Medien ist, seit Wochen schon. Außerdem kenne ich Baronin von Kant, die Tante des kleinen Fürsten. Sie war eine Schwester seiner Mutter.«

Nun war es an Henning, große Augen zu machen. »Du hast Verbindungen zur Familie?«

»Das so auszudrücken ist ein bisschen übertrieben. Baronin von Kant und ich arbeiten beide für bestimmte wohltätige Organisationen, und so kreuzen sich unsere Wege mehrmals im Jahr.«

»Sieh mal einer an, das wusste ich ja gar nicht«, sagte Henning. »Aber sonst kennst du niemanden aus der Familie?«

»Nein, nur die Baronin.«

»Jedenfalls«, fuhr Henning fort, »wird dieser Junge, der im letzten Jahr seine Eltern verloren hat und jetzt täglich neue Geschichten über seinen Vater in der Zeitung lesen muss, nächste Woche mit seiner Klasse und zwei Lehrern hier eintreffen. Die Schule hat mich informiert. Wir sollen, wenn möglich, so tun, als wäre das überhaupt nichts Besonderes.«

»Wie soll das denn gehen?«, fragte Caroline. »Sobald die Presse das erfährt …, ach, was rede ich, die wissen das doch garantiert längst und haben sich schon in Stellung gebracht.«

Henning schüttelte den Kopf. »Baronin und Baron von Kant, bei denen der Junge seit dem Tod seiner Eltern lebt, gehen rigoros gegen alle vor, die die Privatsphäre missachten. Fotos des Prinzen sind unerwünscht in der Presse, und daran halten sich alle, weil niemand sich nachsagen lassen will, dass er mögliche Erpresser zur Tat angestiftet hat. Angeblich lauern ihm zuhause immer noch Reporter auf. Sie hoffen, dass er ihnen wenigstens einen Satz in ihre Mikrofone sagt, den sie zitieren könnten, aber mehr wagen sie nicht. Ganz am Anfang dieser Affäre war das wohl anders, aber seitdem gibt es keine Fotos mehr von dem Jungen. Auch nicht von seiner Cousine und seinem Cousin.«

»Das ist ja irgendwie verrückt«, murmelte Caroline. »Ich bin schon ein paarmal mit der Baronin ins Plaudern gekommen, und jedes Mal hat sie gesagt, wenn ich in der Gegend wäre, sollte ich doch mal bei ihnen vorbeikommen. Bisher hat sich das nie ergeben, ich habe ja auch hier immer so viel zu tun …«

»Keine Ausreden, bitte!«, warf Henning ein. »Du hast Urlaub, wie andere auch. Wenn du also unbedingt gewollt hättest, wärst du längst in Sternberg gewesen.«

»Stimmt«, gab Caroline zu. »Ich dachte immer, es wäre vielleicht aufdringlich, obwohl ihre Einladungen aufrichtig klangen. Wir mochten uns von Anfang an, sie ist eine handfeste Person, weißt du? Sie redet nicht lange, wenn angepackt werden muss, packt sie an, das hat mir gleich gefallen.«

»Tja, jetzt weißt du jedenfalls Bescheid und kannst dich innerlich auf die Situation einstellen.«

»Und wie mache ich das? Wie stelle ich mich auf den kleinen Fürsten ein?«

»Weiß ich auch nicht. Wieso wird er eigentlich so genannt, weißt du das?«

Caroline nickte. »Das weiß doch jeder.«

»Ich nicht.«

»Sein Vater war ein sehr großer Mann, und er muss überglücklich gewesen sein, als die Fürstin endlich das lang ersehnte Kind auf die Welt gebracht hatte. Sein Sohn war noch winzig, als Leopold ihn schon auf seine Reisen mitnahm, so stolz war er auf dieses Kind. Na ja, ein sehr großer Fürst und ein sehr kleiner Sohn …«

»Verstehe. Der große und der kleine Fürst.«

»Genau. Dabei ist es geblieben. Vermutlich behält Christian diesen Namen auch dann noch, wenn er volljährig und damit der nächste Fürst von Sternberg wird.« Caroline unterbrach sich. »Ist es wirklich sicher, Henning, dass er kommt? Vielleicht bleibt er angesichts der Situation lieber zu Hause, immerhin soll er ja plötzlich einen älteren Bruder haben, das kann einen Jungen in der Pubertät ganz schön durcheinanderbringen, schätze ich.«

»Er will diese Klassenfahrt auf jeden Fall mitmachen. Es ist sogar so, dass seine Lehrer ihm geraten haben, darüber noch einmal gründlich nachzudenken, aber er ist bei seiner Entscheidung geblieben.«

»Ich werde wirklich so tun, als wäre nichts«, beschloss Caroline. »Und dann sehen wir ja, wie es läuft. Er soll ein netter Junge sein, also werden ihn die anderen hoffentlich mögen und nett zu ihm sein.« Sie verzog ein wenig das Gesicht. »Armer Junge«, sagte sie. »Ich möchte nicht in seiner Haut stecken.«

»Das möchte zurzeit wohl niemand«, erwiderte Henning. »Und sollte es auch nur eine Andeutung von Schwierigkeiten geben, dann wende dich umgehend an mich, verstanden? Versuch nicht, sie allein zu lösen, sondern komm zu mir. Ich will nicht, dass der Junge seinen Aufenthalt bei uns in schlechter Erinnerung behält.«

»Zu Befehl, Herr General!« Caroline schlug zackig die Hacken zusammen und salutierte.

Lächelnd scheuchte Henning sie aus seinem Büro.

*

Jakob von Falckenberg blieb stehen, um den einmaligen Blick zu genießen, der sich ihm bot. Seit einer Woche war er jetzt im Kellerwald unterwegs, auf unterschiedlichen Routen, und er hatte es noch keinen Augenblick bedauert, hierhergefahren zu sein. Ein Freund hatte ihm den Tipp gegeben, und er beschloss, sich demnächst herzlich dafür zu bedanken. Er war auf einem Weg, der sich ›Knorreichenstieg‹ nannte, von seinem jetzigen Standort aus hatte er einen wunderschönen Ausblick über den Edersee. »Es kann sein«, hatte sein Freund ihn gewarnt, »dass der See leergelaufen ist, das passiert regelmäßig. Dann kannst du sozusagen auf seinem Grund herumlaufen. Das ist auch interessant, aber schöner ist es, wenn er Wasser hat.«

Nun, er hatte Glück gehabt, denn unter ihm lag, wie ein riesiges blaues Tuch, der See, auf dem sich die Segelboote wie kleine weiße Punkte ausnahmen. Er überlegte, ob er ein Foto machen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Postkartenansichten gab es genug, eine weitere musste er nicht herstellen. Ihn interessierten andere Motive. Er hatte sich schon immer fürs Fotografieren interessiert und war seit Jahren begeisterter Hobbyfotograf. Etliche seiner Freunde fanden, dass er ein Künstler mit der Kamera war, er selbst sah das jedoch nicht so. Er machte gute Fotos, und er machte sie gern, mehr sah er nicht darin. Seinen Beruf hätte er um nichts in der Welt tauschen mögen: Jakob stellte Rahmen für alte Bilder her, aus der ganzen Welt kamen Museumsdirektoren zu ihm, um seinen Rat einzuholen und Bestellungen bei ihm aufzugeben.

Nach kurzer Rast setzte er seinen Weg fort. Er war bis jetzt noch nicht vielen Menschen begegnet. Im Sommer, zur Ferienzeit, herrschte hier wahrscheinlich mehr Betrieb, doch er hatte sich mit Bedacht den Herbst für diesen Urlaub ausgesucht. Er mied Menschenmassen wenn möglich, und da er freiberuflich arbeitete, konnte er es fast immer so einrichten, dass er zu Zeiten verreiste, wenn die meisten anderen es nicht taten.

Nach einer Weile traf er auf eine junge Frau, die auf einem flachen Stein saß und vergnügt in ein Brot biss. »Sie sind der Erste«, stellte sie fest.

Notgedrungen blieb er neben ihr stehen. »Der Erste?«, fragte er.

»Der mir heute begegnet«, erklärte sie. Sie hatte kurze schwarze Haare und hellblaue Augen, was einen reizvollen Kontrast bildete. Er schätzte, dass sie ein paar Jahre jünger war als er selbst. Sie wirkte wie jemand, der viel Sport macht, energisch und durchtrainiert.

»Sie sind ungefähr die Dritte oder Vierte«, erwiderte er lächelnd. »Jedenfalls ist nicht viel los auf diesem Weg.«

»Was dagegen, wenn ich Sie begleite?«, fragte sie. »Oder möchten Sie lieber allein sein? Keine Sorge, ich rede nicht die ganze Zeit.«

Er musste lachen, offenbar hatte sie ihm seine Besorgnis angesehen. Sie schien nett zu sein und eigentlich sprach nichts dagegen, den Weg in Begleitung fortzusetzen. Sie konnten sich ja jederzeit wieder trennen, bei Bedarf.

»Wenn Sie nicht die ganze Zeit reden, habe ich nichts dagegen, wenn wir zu zweit weiterlaufen«, erwiderte er.

Sie lachte und entblößte dabei zwei Reihen makelloser Zähne. Sie war wirklich ziemlich hübsch. »Ich bin Jakob von Falckenberg«, stellte er sich vor.

»Ach, sieh an«, sagte sie, ohne zu erklären, was sie damit meinte. »Lena Ohlig. Wollen wir uns duzen? Das ist unter Wanderfreunden so üblich.«

Er nickte nur. Sie stand auf, stopfte die Reste ihres Brots zurück in den Rucksack, schlüpfte geübt in die Haltegurte und sagte: »Es kann losgehen.«

Sie fanden schnell ein gemeinsames Tempo, und Lena hielt Wort: Sie sprach eher selten, und irgendwann fand er es sogar angenehm, nicht mehr allein zu sein.

*

»Du wirkst so bedrückt«, sagte Patrick Herrndorf zu Corinna Roe­der.

Sie arbeiteten beide im Hotel ›Victor und Victoria‹, dessen Auslastung sich deutlich erhöht hatte, seit bekannt geworden war, dass eine der Angestellten behauptete, einen Sohn von Fürst Leopold von Sternberg zu haben. Bis dahin hatten Corinna und Patrick häufig gemeinsam an der Rezeption gestanden, sie waren ein gutes Team gewesen, das sich wortlos verstanden hatte. Damit war jetzt Schluss, denn Corinna war mehrfach von Reportern und Fotografen belästigt worden, sodass ihr Chef entschieden hatte, sie solle in der nächsten Zeit im Büro hinter der Rezeption arbeiten. Außerdem hatte er ihr angeboten, erst einmal im Hotel zu wohnen, da zumindest in den ersten Tagen nach Bekanntwerden ihrer angeblichen Affäre mit Fürst Leopold ihre Wohnung von Journalisten geradezu belagert worden war.

Ihr fehlte die Arbeit an der Rezeption, der direkte Kontakt mit den Gästen, aber sie wusste natürlich, dass sie froh sein konnte, einen so verständnisvollen Chef zu haben. Andererseits profitierte das Hotel ja auch von der Geschichte, Skandalgeschichten waren immer eine ausgezeichnete Werbung.

»Ich möchte zurück in meine Wohnung«, erwiderte sie. »Das Leben im Hotel ist nichts für mich.«

»Eine Weile wirst du wohl noch durchhalten müssen«, meinte Patrick. »Ist denn immer noch kein Ende in Sicht?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Mein Anwalt sagt, seine Kollegen, die die Interessen von Prinz Christian von Sternberg vertreten, ziehen alles in die Länge, um möglichst viel Geld zu verdienen. Sie haben nichts in der Hand, aber sie verlangen immer neue Beweise und wenn wir welche vorlegen, behaupten sie, dass es Fälschungen sind.«

»Aber ich habe doch irgendwo gelesen, dass du einen Brief des Fürsten vorgelegt hast, den zwei Gutachter als echt ansehen.«

»Und glaubst du etwa, das würde mir etwas nützen?«, fragte sie. »Sie werden ein drittes Gutachten anfordern, es wird sich schon jemand finden, der sagt: ›Der Brief ist eine Fälschung.‹ So ist das doch immer. Frag drei Leute, und du hörst drei unterschiedliche Meinungen.«

»Es tut mir leid, Corinna, dass das alles so lange dauert. Es muss schrecklich für dich sein.«

»Angenehm ist es nicht«, gab sie mit traurigem Lächeln zu.

Überraschend fragte er: »Wollen wir heute Abend mal einen Wein zusammen trinken?«

Sie sah ihn so entgeistert an, dass er sofort einen Rückzieher machte. »Entschuldige, ich wollte dir nicht zu nahe treten, ich dachte nur, wenn dir die Decke hier im Hotel auf den Kopf fällt …«

»Ich gehe auf keinen Fall aus«, erklärte sie. »Das fehlte mir noch, Patrick, dass ich am nächsten Tag Fotos von mir in sämtlichen Zeitungen sehe, mit entsprechenden Texten, ob ich mich jetzt mit einem Kollegen über den Tod meines früheren Geliebten hinwegtröste. Das wäre mein Untergang.«

»Und hier, im Hotel?«, fragte er. »Was machst du denn abends immer, hockst du jeden Abend allein in deinem Zimmer?«

»Natürlich, was dachtest du denn? Ich bin sogar vorsichtig geworden mit Anrufen bei meinem Sohn, weil ich immer Angst habe, sie könnten ihn finden.«

Corinnas Sohn Sebastian, dessen Vater angeblich Fürst Leopold von Sternberg war, befand sich im Süden der USA, wo er sich für ein Jahr als Austauschschüler aufhielt. Sie hatte alles selbst organisiert, um sicherzustellen, dass er nicht so leicht gefunden werden konnte. Mittlerweile hatte sie ihm alles gesagt, aber bei seiner Abreise einige Monate zuvor war er vollkommen ahnungslos gewesen. Er war ein Einzelgänger, hochbegabt, weshalb sie auch fand, dass er unbedingt gefördert werden musste. Sie war oft unglücklich darüber gewesen, dass er fast immer allein war, jetzt erwies es sich als Vorteil. Hätte er ständig mit Freunden kommuniziert, wäre sein Aufenthaltsort längst bekannt geworden.

»Sie finden ihn sowieso, Corinna, das ist doch nur eine Frage der Zeit.«

»Ja, kann sein«, sagte sie. »Ich danke dir für dein Angebot, Patrick, aber heute wäre ich keine angenehme Gesellschaft, glaube ich. Ich weiß selbst nicht, was mit mir los ist. Vielleicht verliere ich einfach allmählich den Mut.«

»Dafür gibt es doch gar keinen Grund!«, wunderte er sich. »Im Gegenteil, seit du Ferdinand von Stade dieses Interview gegeben hast, sind mehr Menschen davon überzeugt, dass du die Wahrheit sagst als davon, dass du Lügen erzählst.«

»Und was hilft mir das?«, fragte sie. »Gar nichts. Ich brauche Geld, wenn mein Sohn eine gute Ausbildung bekommen soll, die seinen Begabungen entspricht. Geld, das ich nicht habe. Bis diese Auseinandersetzungen mit den Sternbergern geklärt sind, ist der Zug für Sebastian abgefahren. Er braucht die Förderung jetzt, nicht erst in fünf Jahren.«

Eins der Telefone klingelte. Sie lächelte Patrick entschuldigend an und meldete sich.

Als er merkte, dass das Gespräch sich länger hinziehen würde, verließ er das Büro. Er hätte Corinna gern geholfen, denn er hatte sie sehr gern, aber offenbar konnte er nichts für sie tun.

*

»Ich darf gar nicht dran denken, dass du ab übermorgen weg bist«, seufzte Anna von Kant, als sie einige Tage später gemeinsam mit ihrem Cousin Christian von Sternberg den Schulhof verließ. Vor der Schule wartete die Sternberger Limousine, die sie zurück ins Schloss bringen würde. Die Zeiten, da sie den Schulbus genommen hatten, waren erst einmal vorbei, da sie schon mehrmals von Reportern belästigt worden waren. Zwar traute sich niemand, Fotos von ihnen zu veröffentlichen, aber ein paar Antworten auf ihre schnell hingeworfenen Fragen hätten die Journalisten schon gern gehabt, und sie waren nicht zimperlich in ihren Methoden. Baronin Sofia und Baron Friedrich hatten jedenfalls beschlossen, die Teenager diesen Belästigungen nicht mehr auszusetzen.

Annas Bruder Konrad hatte heute früher Schulschluss gehabt, er war von Per Wiedemann bereits vor einer Stunde abgeholt worden. »Wie war Ihr Schultag, Baronin Anna und Prinz Christian?«, fragte der Chauffeur zur Begrüßung.

»Ging so, Herr Wiedemann«, antwortete Anna, als sie sich auf die Rückbank fallen ließ. »Wir haben einen Test in Englisch geschrieben, ich glaube, ich habe nicht gut abgeschnitten.«

»Bei mir war es gut«, sagte Christian. »Wir bereiten ja unsere Klassenfahrt vor, das macht Spaß. Im Kellerwald soll es sogar noch Reste von Urwäldern geben, und wir werden fünf Tage lang unterwegs sein. Jede Nacht schlafen wir woanders, unser Gepäck wird mit einem Bus befördert.«

»Das wird bestimmt ein schönes Erlebnis, Prinz Christian«, erwiderte Per Wiedemann.

Der kleine Fürst nickte, aber unvermittelt glitt ein Schatten über sein Gesicht. Anna, die das bemerkte, wusste sofort, woran ihr Cousin dachte. Schon als kleine Kinder hatten sie sich gut verstanden, doch seit dem Tod von Christians Eltern war ihr Verhältnis noch inniger geworden. Sie waren nicht nur Verwandte, sondern auch eng miteinander befreundet, so wie es ihre beiden Mütter gewesen waren, bis der Tod sie jäh auseinandergerissen hatte.

Anna griff nach Christians Hand und drückte sie. Er besuchte die Gruft, in der seine Eltern die letzte Ruhe gefunden hatten, jeden Tag. In Gedanken sprach er mit ihnen, erzählte ihnen, was ihm durch den Kopf ging und was er erlebt hatte. Auf diese Weise hielt er nicht nur die Erinnerung an seine Eltern lebendig, seine stummen Gespräche mit ihnen halfen ihm auch, ihren viel zu frühen, schrecklichen Tod zu verarbeiten. Wenn er auf Klassenfahrt war, konnte er den Familienfriedhof, der sich am Rande des Sternberger Schlossparks auf einem Hügel befand, nicht besuchen, und das machte ihm zu schaffen.

»Ich gehe hin, mit Togo, jeden Tag«, versprach Anna.

Togo war Christians junger Boxer, Annas Eltern hatten ihm das Tier kurz nach dem Tod seiner Eltern geschenkt, und dieses Geschenk hatte sich als Segen erwiesen. Zwischen Togo und dem kleinen Fürsten war es Liebe auf den ersten Blick gewesen.

»Danke«, erwiderte Christian leise.

Gleich darauf hielt die Limousine auch schon vor dem Hauptportal des Schlosses, das im selben Moment von innen geöffnet wurde. Eberhard Hagedorn, der alte Butler, der schon so lange im Schloss Dienst tat, dass er schlichtweg zu Sternberg gehört, erschien und begrüßte die beiden Teenager mit seinem zurückhaltenden Lächeln. Er teilte so manches Geheimnis mit ihnen, das sie bei ihm sicher verwahrt wussten. Zugleich war er eine Respektsperson, sein Wort hatte Gewicht. Und auch in diesem Fall war tiefe Zuneigung im Spiel, auf beiden Seiten.

»Hallo, Herr Hagedorn!«, sagte Anna, bevor der Butler das Wort an sie richten konnte. »Fragen Sie lieber nicht, mein Test war mies.«

»Vielleicht haben Sie die Aufgaben für Englisch in letzter Zeit ein wenig vernachlässigt, Baronin Anna?«, fragte Eberhard Hagedorn.

»Nicht so laut!«, bat sie. »Sonst regt Mama sich gleich wieder auf. Ich mache es beim nächsten Mal besser.«

»Mein Tag war angenehm«, berichtete Christian. »Wo ist denn Togo?«

Kaum hatte er die Frage gestellt, als der Boxer auch schon die Treppe heruntergeschossen kam. Winselnd und bellend umkreiste er die Teenager. »Ist ja gut, Togo«, sagte der kleine Fürst, während er dem Tier den Kopf kraulte. »Wir gehen ja gleich.«

»Es treiben sich offenbar wieder Reporter auf dem Gelände herum, Prinz Christian«, sagte Eberhard Hagedorn. »Der Wachdienst hat uns informiert. Sie bemühen sich, die Leute zu vertreiben, aber das kann dauern, außerdem ist nicht bekannt, wie viele es sind.«

»Wir gehen trotzdem«, sagte Christian. »Kommst du mit, Anna?«

Das Mädchen nickte, und im selben Moment ließ sich von oben Annas Bruder Konrad vernehmen: »Ich komme auch mit.«

Gleich darauf verließen die drei Teenager das Schloss. Mit einem unhörbaren Seufzer sah Eberhard Hagedorn ihnen nach, wie sie auf den Schlosspark zuliefen. Ob auf Sternberg jemals wieder Frieden herrschen würde? Er hoffte es von ganzem Herzen.

Mit langsamen Schritten ging er auf die Küche zu, wo die begabte junge Köchin Marie-Luise Falkner ihn mit einem Lächeln und einem Espresso empfing. »Ich dachte schon, Sie kämen überhaupt nicht mehr, Herr Hagedorn.«

»Dabei wissen Sie ganz genau, dass ich Ihrem Espresso nicht widerstehen kann, Marie.«

Sie schob ihm die Tasse hin und fragte leise: »Gibt es Neuigkeiten?«

Er schüttelte den Kopf. »Leider nicht. Ich wünschte, ich können Ihnen sagen: ›Es hat sich ein Beweis dafür gefunden, dass diese Frau Roeder lügt, der Albtraum hat ein Ende‹, aber so ist es nicht.«

»Furchtbar«, murmelte Marie-Luise Falkner. »Furchtbar für Prinz Christian, für die ganze Familie, für uns alle.«

Eberhard Hagedorn nickte nur. Dem war nichts hinzuzufügen.

*

»Chris«, sagte der Baron erstaunt, als sein Neffe die Bürotür öffnete.

»Störe ich dich, Onkel Fritz?«, fragte der Junge.

»Nein, überhaupt nicht. Ich dachte, ihr ward mit Togo draußen.«

»Waren wir auch, bis eben. Aber ich muss dich sprechen.«

»Dann setz dich und sag mir, was du auf dem Herzen hast.«

»Ich will Ferdinand von Stade ein Interview geben«, sagte der kleine Fürst mit fester Stimme. »Ihr habt selbst gesagt, dass wir etwas tun müssen, damit Frau Roe­der nicht allein bestimmt, worüber die Medien berichten. Und ich glaube, dass ich …, dass ich derjenige sein muss, der an die Öffentlichkeit geht.«

»Du bist fünfzehn Jahre alt, Chris«, erwiderte der Baron bedächtig. Er versuchte, Zeit zu gewinnen, denn die Vorstellung, dass dieser ernste Teenager, der vor nicht einmal einem Jahr seine Eltern verloren hatte, einem gewieften und erfahrenen Journalisten ausgeliefert werden sollte, gefiel ihm nicht. »Du weißt nicht, was in einem solchen Interview geschehen kann. Er wird mit allen Mitteln versuchen, dich zu Aussagen zu bewegen, die du hinterher vielleicht bereust.«

»Das glaube ich nicht«, entgegnete der Junge. »So einer ist er nicht. Er war doch hier und hat mit euch geredet. Ihr habt gesagt, er ist sympathisch, und er hat euch selbst den Rat gegeben, mit einem Interview noch zu warten, damit es nicht so aussieht, als machtet ihr Frau Roe­der alles nach. Und er hat gesagt, wenn jemand aus der Familie ein Interview gibt, dann müsste ich das sein. Ich glaube, dass er fair ist.« Nach einer Weile setzte er hinzu: »Außerdem hat sich Franzi in ihn verliebt, das spricht auch für ihn.«

In der Tat hatte sich Franziska von Severn, eine gute Freundin der Familie, in den jungen Journalisten verliebt, was zunächst für Missverständnisse gesorgt und beinahe das Ende der Freundschaft bedeutet hätte.

»Alles, was du sagst, stimmt. Trotzdem kennen wir Ferdinand von Stade nicht. Er war uns sympathisch, aber er ist Journalist, und er hat bis jetzt Partei für Frau Roe­der ergriffen.«

»Das verstehe ich sogar«, sagte der kleine Fürst zum nicht geringen Erstaunen des Barons. »Sie ist geschickt, und ihre Geschichte klingt einleuchtend. Nur stimmt sie trotzdem nicht.«

»Er glaubt sie aber, Chris, und er wird sich von dir nicht vom Gegenteil überzeugen lassen. Du bist befangen, Leo war dein Vater. Klar, dass du nicht glaubst, dass dein Vater deine Mutter betrogen und mit einer anderen Frau ein Kind gezeugt hat.«

»Niemand, der Papa kannte, glaubt die Geschichte«, erklärte Christian heftig. »Niemand! Ist das denn völlig bedeutungslos?«

»Nicht bedeutungslos«, sagte der Baron nach einer Weile mit sanfter Stimme, »aber, um Kriminalrat Overbeck zu zitieren, es ist leider kein Beweis.«

»Das ist mir egal, Onkel Fritz. Ich will dieses Interview machen, sobald ich von der Klassenfahrt zurück bin. Kannst du Ferdinand von Stade anrufen und ihm das sagen? Ich hätte es beinahe selbst gemacht, aber ich wollte, dass ihr Bescheid wisst, Tante Sofia und du.«

Die Baronin kam herein. »Ach, hier bist du, Chris …« Sie sah die ernsten Gesichter ihres Mannes und ihres Neffen und fragte beunruhigt: »Ist etwas passiert?«

»Chris will Herrn von Stade ein Interview geben«, antwortete der Baron.

Sofia sah von einem zum anderen. »Das ist gefährlich, Chris – so gut ich deine Beweggründe auch verstehe.«

»Ich will es trotzdem, Tante Sofia. Onkel Fritz hat mich schon gewarnt, aber ich …, ich spüre, dass ich es tun muss. Ich muss es für Papa tun, und bitte, versucht nicht, mich davon abzubringen.«

Ein flehender Unterton hatte sich in seine Stimme geschlichen. Sofia und Friedrich wechselten einen raschen Blick, danach sagte der Baron seufzend: »Wenn du es unbedingt willst, Chris, werde ich Herrn von Stade anrufen und von deinem Wunsch in Kenntnis setzen. Aber vorher werde ich unsere Anwälte informieren. Sollten sie ganz und gar dagegen sein …«

»Das glaube ich nicht«, sagte Christian schnell. »Sie haben doch neulich schon Andeutungen gemacht, dass es gut wäre, wenn wir die Initiative ergreifen würden.«

Das war freilich richtig, und so ließen sie den Jungen gehen. »Und wenn das eine Katastrophe wird, Fritz?«, fragte die Baronin.

»Christian ist klug, es wird keine Katastrophe werden«, erklärte der Baron mit mehr Zuversicht, als er empfand. »Ich rufe jetzt die Anwälte an.«

Sofia nickte und ging still und nachdenklich hinaus.

*

»Prinz Christian?«, fragte Dr. Barbara von Kreyenfelss entgeistert. »Wessen Idee war das denn?«

»Seine eigene«, erklärte ihr älterer Kollege Dr. Hagen von Boldt, der soeben mit Baron Friedrich telefoniert hatte. »Und wenn du mich fragst, ist die Idee sogar ziemlich gut. Alle Welt liebt den kleinen Fürsten, die Leute haben Mitleid mit ihm, weil er so früh und auf so furchtbare Weise seine Eltern verloren hat. Es kann uns nur nützen, wenn er für alle deutlich zum Ausdruck bringt, wie schrecklich die jetzige Situation für ihn ist.«

»Du klingst zynisch und abgebrüht, wenn du so redest«, sagte Barbara missbilligend.

Hagen hatte sie vor nicht allzu langer Zeit zu sich in die Anwaltskanzlei geholt, weil er anfing, sich mit seinen sechzig Jahren alt und verbraucht zu fühlen. Seine Rechnung war aufgegangen: Barbara war wie ein frischer Wirbelwind durch die ehrwürdigen Räume gefegt und hatte ohne große Ehrfurcht begonnen, alte Zöpfe anzuschneiden. Sie sah gut aus, war fachlich überaus beschlagen, und er kam bestens mit ihr aus. Von ihr ließ er sich sogar Kritik gefallen.

»Ich weiß, wie es klingt, aber die Wahrheit ist es trotzdem, ich kann es nicht ändern«, erwiderte er. »Was ich zum Ausdruck bringen will, ist ja auch nur, dass wir die Sympathie, die dem Jungen allgemein entgegengebracht wird, vielleicht für uns nutzen können. Die Stimmung wendet sich seit Tagen gegen unsere Mandanten, Barbara, das ist nicht in unserem Sinne.«

Sie betrachtete ihn nachdenklich. »Glaubst du eigentlich, der Fürst hatte die Affäre?«, fragte sie.

»Ich will darüber nicht mehr diskutieren, wir drehen uns dann nämlich nur im Kreis«, entgegnete er ärgerlich. »Was ich glaube oder nicht, spielt überhaupt keine Rolle. Die Sternberger sind unsere Mandanten, sie sagen, er hatte keine Affäre, also ist das erst einmal unser Ausgangspunkt – bis wir einen Beweis haben, der für oder gegen ihre Behauptung spricht.«

»Und wenn wir Beweise finden, dass er die Affäre hatte?« So leicht ließ Barbara nicht locker, wenn sie sich erst einmal auf ein Thema gestürzt hatte.

»Dann werden wir sehen, was wir tun«, erwiderte er, schon wieder vollkommen ruhig. »Im Zweifel wird es dann nicht unsere Entscheidung sein, Barbara.«

Sie seufzte. »Ja, da hast du wohl Recht, leider. Einmal im Leben möchte ich diejenige sein, die bestimmt, was getan wird. Davon träume ich.«

Er sah sie überrascht an. »Das verstehe ich nicht. Du bestimmst doch ständig, was getan wird.«

»Du weißt genau, was ich meine. Unsere Mandanten geben immer die Richtung vor.«

»Dann musst du Mandantin werden«, entgegnete Hagen trocken und entlockte ihr damit endlich ein befreites Lachen.

»Schon gut, Hagen, es ist nur so, dass mir dieses spezielle Mandat allmählich ein bisschen …«

»… auf die Nerven geht?«

»Ja, und das ist noch vorsichtig ausgedrückt. Wir stochern im Nebel, das ist es, was mich so nervt. Wenn ich jemanden vor Gericht verteidigen soll, dann kann ich nach Beweisen für seine Unschuld suchen, aber in diesem Fall? Wir suchen und suchen, aber wir finden nichts.«

Erneut wies er sie zurecht. »Das stimmt so nicht, Barbara! Cosima hat herausgefunden, dass Frau Roe­der Kontakt zu einem Mann hat, der …«

Barbara unterbrach ihn ungeduldig. »Der was? Ein Fälscher ist? Dafür gibt es keinen Beweis. Er KÖNNTE einer sein, aber sicher ist das noch lange nicht.«

»Sie verbirgt jedenfalls ihre Besuche bei ihm, und das bedeutet, sie hat etwas zu verheimlichen – oder etwa nicht?«, fragte er. »Du musst unsere Situation jetzt auch nicht schwärzer malen, als sie ist.«

Sie wollte widersprechen, er sah es ihr an, aber überraschend überlegte sie es sich anders. »Na schön«, sagte sie friedlich und lächelte ihn unschuldig an. »Zurück zum Ausgangspunkt: Christian von Sternberg will Ferdinand von Stade ein Interview geben. Darauf müssen wir ihn vorbereiten, habe ich Recht?«

»Du hast fast immer Recht.«

»Wenn du das nur einsiehst. Ich stelle eine Liste von Fragen zusammen, auf die er gefasst sein muss. Wenn ich fertig bin, lege ich dir die Liste vor und du ergänzt sie um alles, was dir noch dazu einfällt. Klingt das vernünftig?«

»Überaus vernünftig.«

Sie drohte ihm scherzhaft mit der Faust und ging hinaus. Gleich darauf hörte er sie in ihrem Büro nebenan wie wild die Tastatur ihres Computers bedienen.

Schmunzelnd nahm er sich ein Blatt Papier und begann seinerseits, über die Fragen nachzudenken, die Ferdinand von Stade dem kleinen Fürsten vermutlich stellen würde. Wenn der Fünfzehnjährige wusste, was ihn erwartete, konnte eigentlich nicht allzu viel passieren.

*

»Bist du gut vorbereitet?«, fragte Henning Kuhlmann.

»Auf den kleinen Fürsten, meinst du?«, fragte Caroline lächelnd zurück.

»Was soll ich denn sonst meinen? Auf deine Führungen bist du immer gut vorbereitet, das weiß ich schließlich.«

»Ich habe versucht, überhaupt nicht mehr an den Jungen zu denken«, gestand Caroline. »Mir scheint, dass das die beste Strategie ist.« Sie stockte und fragte dann lächelnd: »Soll ich dir mal was verraten?«

»Na?«

»Ich habe überlegt, Baronin von Kant anzurufen und mir bei ihr Rat zu holen, bis mir klar wurde, dass das wohl keine so gute Idee ist. Sie würde mich bestimmt für sensationslüstern halten und mir nicht abnehmen, dass ich nur sichergehen will, alles richtig zu machen.«

»Ich wünschte«, murmelte Henning, »die fünf Tage wären schon vorüber und Prinz Christian wieder wohlbehalten zurück in seinem Schloss.«

Sie betrachtete ihn prüfend. »Du machst dir Sorgen«, stellte sie schließlich staunend fest. »Offenbar mehr Sorgen als ich.«

»Ich bin dein Chef, vergiss das nicht. Wenn etwas schiefgeht, werde im Zweifelsfall ich zur Verantwortung gezogen, nicht du. Ist es da ein Wunder, wenn ich mir Sorgen mache?«

»Ausgerechnet du!«, sagte sie kopfschüttelnd. »Henning Kuhlmann, der berühmte Fels in der Brandung, der auch im größten Chaos nie die Ruhe verliert, nicht einmal, wenn hundert aufgeregte Touristen in sein Büro stürmen, weil sie denken, sie hätten einen Bären im Wald gesehen.«

Bei der Erinnerung an dieses Erlebnis des vergangenen Jahre grinsten sie beide. Es war nicht einfach gewesen, die Leute zu überzeugen, dass sie sich geirrt hatten, dass es keine Bären im Kellerwald gab. Natürlich hatte niemand in der Aufregung daran gedacht, ein beweiskräftiges Foto zu schießen. Die Geschichte von dem Bären hatte natürlich den Weg in die Presse gefunden, und noch immer tauchten Leute auf, die mit zitternder Stimme fragten: »Sind die Wege denn auch wirklich sicher? Hier soll es doch Bären geben. Und wurde nicht neulich ein Kind angefallen?«

»Jetzt mal ehrlich, Henning: Was sollte denn schiefgehen?«, fragte Caroline.

»Ich weiß es nicht, ich habe ja nicht besonders viel Fantasie. Aber mein Bauch sagt mir, dass wir sehr, sehr vorsichtig sein müssen. Diese Affären-Geschichte kommt mir so vor wie ein Pulverfass. Ein Funke, und alles geht in die Luft.«

»Also, jetzt übertreibst du. Alles wird gut gehen, verlass dich auf mich, in Ordnung? Wolltest du sonst noch etwas mit mir besprechen? Wenn nicht, würde ich jetzt gern gehen, ich habe nämlich noch einiges zu erledigen bis morgen.«

»Hals- und Beinbruch«, sagte er, als sie die Tür bereits geöffnet hatte.

»Danke.« Sie verließ sein Büro und wollte schon das Gebäude verlassen, als sie das deutliche Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Eingedenk des vorangegangenen Gesprächs blieb sie stehen und ließ ihren Blick über die Leute schweifen, die sich in der großen Eingangshalle des Zentrums aufhielten. Sie fand den Mann, der sie ganz offen ansah, schnell: ein langer Blonder mit blitzblauen Augen in einem Gesicht, das eher verschlossen wirkte. Als sich ihre Blicke begegneten, lächelte er nicht, aber er wandte auch den Blick nicht ab. Neben ihm stand eine hübsche, zierliche Schwarzhaarige, auch sie hatte blaue Augen, und sie redete mit dem Blonden, der ihr jedoch nicht zuzuhören schien.

Caroline ließ ihren Blick gleichmütig weiterwandern, dann setzte sie sich wieder in Bewegung und verließ endlich das Gebäude. Sie konnte nicht verhindern, dass ihr Herz schneller schlug. Wer war der Mann, und warum hatte er sie so angesehen? Verdammt attraktiv war er, wie sie nicht umhin konnte festzustellen. Und diese Augen …

Sie rief sich energisch zur Ordnung und richtete ihre Gedanken wieder auf das Gespräch, das sie zuvor mit Henning geführt hatte. Hoffentlich war das Auftauchen des Blonden nicht schon ein schlechtes Vorzeichen für die baldige Ankunft von Christian von Sternberg! Lagen die Journalisten etwa doch schon in den Startlöchern? Ihr wurde mulmig zumute. Eben, in Hennings Büro, hatte sie noch Scherze über die Beunruhigung ihres Chefs gemacht, jetzt war sie selbst davon erfasst worden.

Das mulmige Gefühl blieb, auch als sie längst im Auto saß und nach Hause fuhr, um sich ihre Unterlagen noch einmal in Ruhe anzusehen. Sie würde, beschloss sie, Hennings Rat beherzigen und sehr, sehr vorsichtig sein.

Trotzdem konnte sie es nicht verhindern, dass ihre Gedanken noch öfter zu dem strahlend blauen Blick des Blonden zurückkehrten. Schade, dachte sie, dass er wahrscheinlich ein Journalist ist. Es wäre viel schöner gewesen, wenn er mich so angesehen hätte, weil er sich für mich interessiert …

*

»Kennst du die Frau?«, fragte Lena.

Jakob und sie hatten seit ihrer ersten Begegnung mehrere Touren zusammen gemacht, sie waren, wie Lena festgestellt hatte, ›ein gutes Wanderteam‹. Jakob sah das auch so, Lena war eine angenehme Begleiterin. Sie teilte sein Interesse für Fotografie, und sie war locker und unkompliziert. An einem Tag hatte er lieber allein wandern wollen und ihr das auch gesagt, sie war nicht die Spur beleidigt gewesen.

Noch immer sah er der Frau mit dem braunen Pferdeschwanz nach. Dieses Gesicht, dachte er, würde ich gerne fotografieren, es müsste halb im Schatten sein, halb im Licht. Und wie wundervoll sie sich bewegt! Aber das konnte man auf einem Foto natürlich nur bedingt einfangen.

Lena stupste ihn sachte an und riss ihn damit aus seinen Gedanken.

»Was ist denn?«, fragte er, widerwillig den Blick von der braunhaarigen Frau abwendend.

»Ob du die Frau kennst, habe ich dich gefragt.«

»Nein, wieso?«

Sie lächelte. »Weil du ihr wie gebannt hinterhergestarrt und nicht einmal meine Frage gehört hast.«

Er zwang sich dazu, seine Stimme beiläufig klingen zu lassen. »Sie kam mir im ersten Moment bekannt vor, aber ich habe mich geirrt.«

Sie waren im Informationszentrum des Nationalparks, um dort ein paar Fragen zu einer Tour zu stellen, die sie sich für einen der nächsten Tage vorgenommen hatten. Es war der Beschreibung ihres Wanderführers zufolge eine ziemlich anspruchsvolle Tour, die den ganzen Tag dauern würde.

»Da vorn ist jemand frei«, sagte Lena und steuerte auf einen der Mitarbeiter des Zentrums zu.

Jakob folgte ihr, in Gedanken noch immer bei der Frau mit dem schönen klaren Gesicht, deren Blick ihn kurz gestreift hatte. Es ging ihm nicht oft so, dass ein Gesicht ihn faszinierte, wenn es aber so war, dann wollte er es unbedingt sofort fotografieren. Er fragte dann in der Regel, ob man ihm das erlaubte, und bis jetzt hatte er noch nie eine Absage bekommen. Wäre Lena nicht bei ihm gewesen eben, er hätte die Frau gefragt. Nun jedoch war es zu spät, und er ärgerte sich darüber. Wäre er, wie üblich, allein gewesen, wäre ihm das nicht passiert.

Er hörte kaum zu, was Lena fragte, dabei waren es auch seine Fragen, die sie stellte. Zum ersten Mal, seit er sie kennen gelernt hatte, betrachtete er sie voller Abwehr. Wieso machte er die Tour morgen eigentlich mit ihr? Nur weil sie ganz nett war? Seit wann war das denn ein Grund, nicht mehr allein zu wandern.

»Hast du noch Fragen, Jakob?« Lena drehte sich zu ihm um.

Er schüttelte nur den Kopf, drehte sich um und ging bereits auf den Ausgang zu, als sie noch dabei war, sich für die freundliche Auskunft zu bedanken. Sie musste rennen, um ihn wieder einzuholen. »He, was ist los mit dir?«, fragte sie.

»Nichts!«, brummte er, wohl wissend, dass er sich nicht gerade reif und souverän benahm, aber er konnte nicht anders, er war einfach wütend über die verpasste Gelegenheit.

»Die Frau hat dir gefallen«, stellte Lena sachlich fest, »und jetzt bist du sauer, weil ich dabei war und das vielleicht deine Chancen schmälert.«

Er blieb stehen und sah sie an. »Quatsch!«, sagte er. Es kam heftiger heraus als geplant.

»Warum bist du denn dann auf einmal so gereizt? Wir haben uns die ganze Zeit gut verstanden, und mit einem Mal tust du so, als hätte ich dir etwas getan. Sag’s mir, dann kann ich darauf reagieren. Aber einfach so sauer zu sein und dabei immer zu sagen: »Ich habe nichts, ich habe nichts, finde ich albern.«

Sie hatte es kaum gesagt, als er auch schon anfing, sich zu schämen, denn natürlich hatte sie vollkommen Recht. Er benahm sich wie ein verzogenes Kind, das seinen Willen nicht bekam. »Entschuldige bitte«, sagte er verlegen. »Ich hätte die Frau gern fotografiert, darum ging es mir. Normalerweise spreche ich Leute, die ich fotografieren möchte, einfach an, und ich hätte es auch bei ihr getan, aber irgendwie habe ich mich gehemmt gefühlt, weil du dabei warst. Das war aber nicht deine Schuld. Tut mir leid, ich habe mich blöd benommen.«

»Stimmt«, sagte sie freundlich, »und hättest du nicht so viel Zeit mit Ausflüchten vertrödelt, hättest du sie bestimmt noch auf dem Parkplatz erwischen können, aber jetzt ist es natürlich zu spät.«

»Ja«, bestätigte er bedauernd, »jetzt ist es zu spät.«

»Warte mal eben!«, sagte sie. »Vielleicht geht doch noch etwas.«

Sie lief zurück, er sah sie an die Tür des Büros klopfen, das die Frau mit dem Pferdeschwanz kurz zuvor verlassen hatte. »Du liebe Güte«, murmelte er, »was will sie denn da?«

Lena kam bald zurück, das Gesicht zum breitesten Lächeln verzogen, das er je gesehen hatte. »Sie heißt Caroline von Hessen und ist hier angestellt«, berichtete sie vergnügt. »Ab morgen ist sie mit einer Gruppe von Jugendlichen auf dem Urwaldsteig unterwegs. Es könnte also sein, dass wir ihr rein zufällig noch einmal begegnen.«

Er wusste nicht, was er sagen sollte, und so umarmte er Lena und küsste sie auf beide Wangen. »Danke«, sagte er. »Du bist unmöglich, aber ich danke dir. Und entschuldige bitte, dass ich so unfreundlich zu dir war.«

»Entschuldigung ist angenommen.«

Das gute Einvernehmen zwischen ihnen war damit wiederhergestellt.

*

Christian saß auf einem Fensterplatz im Bus. Zu Beginn der Fahrt war es laut und hektisch zugegangen, mittlerweile hatten sich die Schülerinnen und Schüler ein wenig beruhigt. Es war eine relativ lange Fahrt von Süddeutschland bis nach Nordhessen, und das gleichmäßige Brummen des Motors schläferte einige der jungen Fahrgäste ein.

Christian war nicht müde, im Gegenteil. Er hatte sich an diesem Morgen, bevor er aufgebrochen war, noch von seinen Eltern verabschiedet, was ihm schwergefallen war. Gerade jetzt, in dieser Krise, in die die Familie durch den Brief von Corinna Roeder geraten war, schien es ihm wichtig zu sein, das Band zwischen ihm und seinen Eltern nicht zerreißen zu lassen. Er wusste, dass manche ihn für verrückt erklärt hätten, hätte er so etwas laut gesagt, denn seine Eltern waren tot, und das war ihm bewusst. Dennoch glaubte er fest daran, dass sie nicht verschwunden waren, sondern seinen weiteren Lebensweg noch immer verfolgten, von wo aus auch immer.

Er glaubte außerdem, dass sie ihm kleine Zeichen schickten, mit denen sie ihm sagten, dass sie seine Berichte, die er ihnen in Gedanken schickte, gehört und verstanden hatten. Diese Zeichen hätte jemand anders vielleicht nicht einmal wahrgenommen – das Lied eines Vogels, ein Glühwürmchen, eine Sternschnuppe – doch für den kleinen Fürsten waren sie überlebenswichtige Hinweise darauf, dass er seine Eltern zwar nicht mehr sehen und hören konnte, dass sie aber trotzdem noch existierten, auch wenn er nicht wusste, wo und wie.

»Woran denkst du?«, fragte ihn Manuel Sander, der neben ihm saß. Er trug den Kopf voll hellbrauner Locken, sein Gesicht war von Sommersprossen übersät.

Christian mochte Manuel, der ein schüchterner Junge war, mit einem liebenswürdigen Lächeln. Und weil das so war, gab er ihm eine ehrliche Antwort. »An meine Eltern.«

»Dachte ich mir schon, du hast so ausgesehen«, erwiderte Manuel. »Ich glaube, mir geht es mit meinen Großeltern wie dir mit deinen Eltern. Ich vermisse sie ganz schrecklich, seit sie nicht mehr leben. Zu ihnen ist mein Verhältnis viel enger gewesen als zu meinen Eltern.«

Noch nie hatte Christian ihn so viele Sätze hintereinander sagen hören. »Wieso?«, fragte er.

»Weil ich bei meinen Großeltern aufgewachsen bin. Meine Eltern sind viel unterwegs, die haben keine Zeit, sich um mich zu kümmern. Und meine Großeltern waren noch ziemlich jung, die waren ganz begeistert, als ich zu ihnen gekommen bin.« Manuel lächelte traurig. »Ich glaube, sie haben mich ein bisschen verwöhnt, jedenfalls habe ich mich bei ihnen immer gefühlt wie im Paradies.«

»Und dann sind sie gestorben? Du hast doch gesagt, sie waren noch ziemlich jung.«

Wieder zeigte sich das traurige Lächeln auf Manuels Gesicht. »Sie haben Krebs bekommen, zuerst mein Opa, kurz darauf meine Oma. Innerhalb eines Jahres sind sie beide gestorben. Seitdem ist nichts mehr wie vorher. Ich lebe jetzt wieder bei meinen Eltern. Sie sind sehr lieb zu mir, aber …, na ja, sie haben einfach nie Zeit. Und weil ich so vernünftig bin, denken sie, dass sie mich ruhig alleinlassen können.«

»Das tut mir leid, Manuel, ich wusste davon nichts.«

»Konntest du ja auch nicht, ich rede eigentlich nie darüber. Aber jetzt dachte ich, dass es für dich vielleicht gut ist, wenn du hörst, dass andere auch Probleme haben. Ich meine, bei dir ist ja alles noch viel schlimmer, seit …, seit dieser neuen Geschichte.«

»Ja, das kann man wohl sagen.« Seltsamerweise war Christian froh, dass Manuel ›diese neue Geschichte‹ angesprochen hatte. Es war anstrengend, immer so zu tun, als sei alles, was ihm gerade passierte, ganz normal. »Danke, dass du mir von deinen Großeltern erzählt hast«, setzte er hinzu.

»Ich erinnere mich gern an sie«, sagte Manuel schüchtern, »und ich würde gern öfter über sie reden, ich weiß nur nicht, mit wem.«

»Mit mir, von jetzt an«, schlug Christian vor.

»Mein Opa war lustig«, sagte Manuel nach einer Weile. »Er hat gern Witze erzählt – oder eigentlich hat er sie vorgespielt, das konnte er wirklich gut. Wir haben oft Bauchschmerzen gekriegt vor lauter Lachen. Meine Oma hat er auch mit einem Witz herumgekriegt, jedenfalls hat sie das behauptet. Sie war nämlich eher ernst, aber er hat sie zum Lachen gebracht, und so konnte sie ihm nicht widerstehen.«

»Hast du Fotos von ihnen?«, fragte Christian.

Manuel nickte nur und zog eine Geldbörse aus der Hosentasche. Er klappte sie auf und zog aus einem Fach zwei Fotos, die er Christian schweigend reichte. »Das sind sie«, sagte er.

Christian sah auf beiden ein lächelndes älteres Paar, das sich einmal an den Händen hielt, auf dem anderen Bild hielt der Mann die Frau mit seinen Armen umschlungen. Man sah auf den ersten Blick, dass sie einander gut verstanden. »Und wo bist du?«, fragte er.

Verlegen holte Manuel noch ein drittes Foto aus seiner Geldbörse. »Hier«, sagte er.

Christian musste unwillkürlich lachen, denn auf dem Bild war Manuel etwa zehn Jahre alt und als Clown verkleidet. Seine Großeltern applaudierten ihm, offensichtlich begeistert von dem, was er ihnen gerade vorgeführt hatte. Es war ein Bild so vollkommener Harmonie, dass ihm das Lachen ganz plötzlich im Halse stecken blieb, weil er daran denken musste, dass es solche Momente früher auch für ihn gegeben hatte, gemeinsam mit seinen Eltern. Und heute gab es sie manchmal wieder, mit Anna oder mit der ganzen Familie, wenn sie gemütlich vor dem Kamin in der Bibliothek saßen und sich Geschichten erzählten. Trotz allem, was ihm widerfahren war und noch widerfuhr, hatte er Glück gehabt, wurde ihm bewusst. Er hatte seine Eltern verloren, aber einsam wie Manuel war er nicht.

»Ich verstehe, dass du sie vermisst«, sagte er. »Ich besuche meine Eltern jeden Tag, auf unserem Friedhof im Park. Es tut mir gut, mit ihnen zu reden.«

»Zu reden?«, fragte Manuel.

»In Gedanken. Ich glaube, sie können mich hören. Jedenfalls fühle ich mich besser, wenn ich bei ihnen war.«

Manuel sagte leise: »Ich werde das auch mal probieren, wenn wir wieder zurück sind. Es gibt so viel, was ich den beiden unbedingt erzählen muss.«

»So geht es mir auch immer.«

Danach schwiegen sie, bis Herr Hartkamp, einer ihrer Lehrer, ankündigte, dass sie sich ihrem Ziel näherten. »Eine halbe Stunde noch, dann erreichen wir Waldeck. Diejenigen, die geschlafen haben, sollten also allmählich wach werden.«

»Wollen wir zusammen auf ein Zimmer gehen?«, fragte Christian.

Manuels Gesicht leuchtete auf. »Sehr gern«, antwortete er.

*

»Sie waren sicher erstaunt über meinen Anruf«, sagte Baron Friedrich zu dem jungen Mann, mit dem er einen Gang durch den Schlosspark machte.

»In der Tat«, antwortete Ferdinand von Stade. »Sie haben sich also entschlossen, mir ein Interview zu gewähren?«

»Ich nicht«, erklärte der Baron. »Aber Christian. Er ist jetzt unterwegs auf Klassenfahrt, aber sobald er zurück ist, möchte er mit Ihnen sprechen. Wenn ich ehrlich sein soll: Wir haben versucht, ihm das auszureden, aber es ist uns nicht gelungen. Er hat den Eindruck, dass er seinem Vater etwas schuldig ist und dass es nicht reicht, wenn wir die Sache, wie bisher, großenteils unseren Anwälten überlassen.«

»Er scheint ein sehr beeindruckender Junge zu sein«, erwiderte Ferdinand von Stade.

»Ja, das ist er ohne Zweifel, und wir machen uns große Sorgen um ihn, wie Sie sich vorstellen können.«

»Herr von Kant, wenn ich ihn interviewe, werde ich ihn behandeln wie jeden anderen auch. Falls Sie von mir eine Sonderbehandlung verlangen, werde ich das Interview nicht führen.«

»Sonderbehandlung? Was meinen Sie denn damit?«

»Dass ich ihn schone, ihm bestimmte Fragen nicht stelle, um ihn nicht zu verletzen. Das geht nicht. Ich bin Journalist, ich fühle mich der Wahrheit verpflichtet. Sie wissen, dass ich eher der Ansicht zuneige, dass Corinna Roeder die Wahrheit sagt. Nichts, was sie bis jetzt gesagt oder getan hat, deutet darauf hin, dass sie lügt. Es gibt in ihrer Geschichte keine einzige Schwachstelle.«

»Die gibt es bei uns auch nicht«, entgegnete der Baron erregt. »Niemand, der Leo kannte, glaubt an seine Schuld.«

»Nur dass die meisten Menschen ihn nicht kannten«, erwiderte Ferdinand von Stade nüchtern. »Außerdem wissen Sie selbst, wie oft wir uns von Menschen täuschen lassen, auch wenn sie uns nahe stehen.«

»Es kann auch sein, dass Sie sich von Corinna Roeder täuschen lassen.«

»Selbstverständlich kann das sein, ich würde das niemals leugnen. Und glauben Sie mir, beim ersten Hinweis darauf würde ich nicht zögern, das auch zu schreiben. Ich habe mich nicht für alle Zeiten auf eine Meinung fest­gelegt, es ist nur so, dass ich im ­Augenblick ihre Version der Ereignisse­ überzeugender finde.«

»Als wir schon einmal miteinander sprachen, haben Sie uns geraten, mit einem Interview noch zu warten, damit es nicht so aussähe, als hätte uns Frau Roeder unter Zugzwang gesetzt. Das haben wir Ihnen hoch angerechnet, denn es war ja zu Ihrem Schaden.«

Der junge Journalist schüttelte lächelnd den Kopf. »War es nicht, sonst wäre ich ja jetzt nicht hier.«

»Denken Sie, der Zeitpunkt jetzt wäre günstig für ein Interview? Aus unserer Sicht, meine ich.«

Ein nachdenklicher Blick traf ihn. »Schwer zu sagen. Wissen Sie, das ist auch für mich keine einfache Situation. Die Frau, die ich liebe, ist mit Ihnen befreundet. Ich könnte jetzt so tun, als beeinflusste mich das überhaupt nicht, das wäre aber gelogen. Ich habe Ihnen schon gesagt, dass ich Frau Roeder sympathisch finde, aber das Gleiche gilt auch für Prinz Christian und Sie alle. Ich muss aufpassen, dass ich mich nicht verstricke, dass ich meine privaten Gefühle sauber trenne von dem, was ich bei meinen Nachforschungen herausfinde. Es ist ein Balanceakt. Aber bei nüchterner Betrachtung muss ich sagen, dass es wahrscheinlich keinen besseren Zeitpunkt für ein Interview mit dem kleinen Fürsten gibt als jetzt, weil Sie nämlich mit dem Rücken zur Wand stehen. Die Leute sind mittlerweile mehrheitlich auf Corinna Roeders Seite, und das hat auch damit zu tun, dass sie es verstanden hat, Mitgefühl für ihre Situation zu wecken.«

»Bisher war es immer Christian, dem das Mitgefühl der Bevölkerung galt«, murmelte der Baron.

»Daran hat sich sicher nichts geändert, aber in dieser Geschichte geht es ja nicht in erster Linie um ihn, sondern um seinen Vater«, gab Ferdinand zu bedenken.

»Noch einmal zurück zu dem Interview. Sie werden ihn nicht schonen, aber Sie werden ihm auch keine Fallen stellen?«

»Ich stelle niemals Fallen«, antwortete Ferdinand von Stade ruhig. »Das habe ich nicht nötig, Herr von Kant. Und ich käme im Traum nicht auf die Idee, mit einem traumatisierten Fünfzehnjährigen unlautere Spielchen zu treiben, das sollten Sie eigentlich wissen.«

»Entschuldigen Sie bitte«, bat der Baron. »Aber wir machen uns Sorgen, das verstehen Sie sicher.«

»Sie haben auch Grund, sich Sorgen zu machen«, stellte der junge Journalist fest, »aber nicht um meine Fairness.«

»Gut, dann gilt es also hiermit als abgemacht, dass Sie Christian nach seiner Rückkehr interviewen?«

»Ich fühle mich geehrt, dass die Wahl auf mich gefallen ist.«

Langsam gingen sie zurück zum Schloss, wobei sie kein Wort mehr über das Interview verloren. Friedrich erkundigte sich nach Franziska von Severn, Ferdinand bewunderte die Schönheit des Schlosses und seiner Anlagen. Als der Baron ihm anbot, ihn noch durch die Stallungen zu führen, schließlich züchtete er ja sehr erfolgreich Pferde, nahm sein Besucher das Angebot gerne an.

Als er sich später verabschiedete, dachten beide Männer, ohne es zu ahnen, das Gleiche: Unter anderen Umständen hätten sie Freunde werden können.

*

Caroline stellte sich den Jugendlichen, mit denen sie die nächsten Tage zusammen sein würde, am nächsten Morgen nur mit dem Vornamen vor, das hatte sich in der Vergangenheit bewährt, deshalb blieb sie dabei. Sie hatten sich auf dem Schloss-Parkplatz von Waldeck getroffen.

»Mein Name ist Caroline«, sagte sie, »und da man sich beim Wandern duzt, biete ich euch also hiermit das Du an. Eure Namen werde ich hoffentlich schnell lernen, ich habe Übung darin. Wir steigen heute mit einer leichten Tour ein, damit ihr euch langsam daran gewöhnen könnt, in den nächsten Tagen ständig auf den Beinen zu sein. Für Stubenhocker ist das anstrengend, aber zum Glück seht ihr ja alle ziemlich fit aus.«

Gelächter antwortete ihr. »Wir sehen nur so aus«, rief ein großer, kräftiger Junge, »das wirst du schon merken.«

»Ich hoffe doch, dass ihr mich positiv überrascht«, entgegnete Caroline. Sie ließ den Blick über die vierundzwanzig jungen Gesichter gleiten. Den kleinen Fürsten hatte sie sofort erkannt, sie hatte ja schon verschiedentlich Fotos von ihm gesehen. Ein hübscher Junge, ziemlich lang aufgeschossen, sehr schmal, mit einem gut geschnittenen Gesicht und dunklen Haaren. Ein wenig zu ernst sah er aus, ansonsten konnte sie nichts Außergewöhnliches an ihm feststellen. Er stand neben einem Jungen, der fast einen Kopf kleiner war als er, mit einem sympathischen, sommersprossigen Gesicht. Die beiden schienen Freunde zu sein.

Die Lehrer hießen Holger Hartkamp und Martina Früh, sie hielten sich zurück und schienen froh zu sein, dass sie ihr die Führung überlassen konnten. Sie machten beide einen sympathischen Eindruck, Caroline nahm nicht an, dass es Schwierigkeiten mit ihnen geben würde.

»Wenn ihr Fragen habt, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, sie zu stellen«, sagte sie.

»Wenn das heute ’ne leichte Tour wird, wie lange dauert die denn dann?«, fragte ein Mädchen.

»Vier Stunden«, antwortete Caroline.

Dass ihr darauf lautes Stöhnen antworten würde, hatte sie erwartet, denn so war es immer. Sie lachte nur. »Übermorgen sind wir dann schon den ganzen Tag unterwegs«, sagte sie, »richtet euch also innerlich darauf ein. Insgesamt wandern wir 68 Kilometer, so lang ist nämlich die Hauptroute des Urwaldsteigs.«

Das Stöhnen war bei der Erwähnung der Gesamtlänge ihrer Route noch lauter geworden. Amüsiert wartete sie, bis sich die Aufregung gelegt hatte, bevor sie fortfuhr: »Ich hoffe, ihr habt alle passende Schuhe an, denn das ist das Wichtigste. Mit Blasen wird jede Wanderung zur Tortur.« Natürlich wusste sie, dass mindestens ein Drittel der Jugendlichen völlig ungeeignetes Schuhwerk trug, auch das war wie immer. Sie hatte stets einen gut bestückten Verbandskasten in ihrem Rucksack, und sie wusste, dass sie ihn brauchen würde. Nicht alle fünfundzwanzig würden bis zum Ende durchhalten, sie hatte ihre Erfahrungen.

»Wenn ihr keine weiteren Fragen habt, sollten wir uns auf den Weg machen. Wir wandern zuerst an den Ruinen der Schlossmauer entlang, von dort aus habt ihr einen sehr schönen Blick über den Edersee. Kurz darauf geht es dann ab in den Wald. Heute Abend übrigens essen wir gemeinsam in eurer neuen Unterkunft. Es soll gegrillt werden, habe ich gehört, weil das Wetter stabil ist, kann man das auch um diese Jahreszeit noch machen.«

Die Gesichter hellten sich bei dieser Aussicht ein wenig auf. »Wo übernachten wir denn überhaupt?«, fragte ein Junge.

»Überraschung«, antwortete Caroline. »Und auf geht’s.«

Sie setzte sich in Bewegung und lief los. Schon bald waren zwei Mädchen neben ihr, Lili und Maike, die ihr von der vergangenen Nacht erzählten und wie aufregend sie es fanden, die nächsten Tage praktisch nur im Wald zu verbringen.

Die beiden waren nett, und vorübergehend vergaß Caroline, dass sich in dieser Gruppe ein Junge befand, der ihr Probleme bereiten konnte. Journalisten hatte sie jedenfalls nirgendwo lauern sehen, und auch sonst war ihr nichts Ungewöhnliches aufgefallen.

Vielleicht hatte sie Glück, und alles ging gut.

*

»Heute Abend?«, fragte Patrick Herrndorf überrascht. »Ja, natürlich, gern. Aber du musst dich nicht verpflichtet fühlen, nur weil ich das neulich vorgeschlagen habe.«

»Ich möchte wirklich gern ein Glas Wein mit dir trinken«, versicherte Corinna Roeder, »wenn du bereit bist, mich in meinem Zimmer hier im Hotel zu besuchen.«

»Natürlich bin ich bereit. Meidest du die Öffentlichkeit denn immer noch? Eigentlich sieht doch alles gut aus für dich, oder?«

»Es sieht schon die ganze Zeit gut aus«, erwiderte sie mit einem etwas müden Lächeln, »aber wir kommen trotzdem nicht richtig voran. Ich hab’s dir ja neulich schon gesagt: Alles, was ich vorlege als Beweis für meine Beziehung mit Fürst Leo, zweifelt seine Familie an. Ich habe wirklich nicht damit gerechnet, dass sie es so weit kommen lassen.«

»Es ist ja auch dumm«, fand Patrick. »Wären sie auf deine Forderung eingegangen, deinem Sohn eine angemessene Ausbildung zu bezahlen, hätte die Öffentlichkeit doch niemals von der ganzen Geschichte erfahren, und alles wäre gut gewesen.«

»So war es zumindest von meiner Seite aus gedacht«, seufzte sie.

»Du siehst müde aus, blass und müde.«

»Wundert dich das?« Ihr Lächeln war bitter. »Seit ich den Brief geschrieben habe, lebe ich praktisch wie eine Gefangene. Sogar den Sport habe ich aufgegeben. Am Anfang habe ich mich ja immer noch verkleidet in mein Fitness-Studio geschlichen, aber das mache ich jetzt auch nicht mehr, denn selbst dahin sind mir die Reporter gefolgt.«

»Es tut mir leid, dass du es zurzeit so schwer hast«, sagte Patrick unbeholfen. »Ich wünschte, ich könnte mehr für dich tun als dir ab und zu einen Kaffee zu bringen und mit dir zu reden.«

»Du tust genug, Patrick, und alle anderen sind auch sehr nett zu mir, wirklich.«

Er wusste, dass das stimmte, er wusste aber auch, warum das so war. Vor der ›Affäre‹ war Corinna von einigen Kolleginnen durchaus angefeindet worden, weil sie wegen ihrer Attraktivität bei den männlichen Gästen ungeheuer beliebt war. Jetzt jedoch, da das Hotel auch dank Corinnas Geschichte Zulauf hatte wie nie, wagte niemand, ein böses Wort über sie zu sagen. Sie stand gewissermaßen unter dem besonderen Schutz der Geschäftsleitung, und mit dem Chef wollte es sich natürlich niemand verderben.

»Die Arbeit ist im Augenblick das Einzige, was mir hilft, das alles durchzustehen«, sagte sie.

»Und dein Sohn?«

»Der ist so erfüllt von seinem neuen Leben in den USA, dass ihn die ganze Aufregung hier nicht sonderlich berührt.«

»Auch nicht, dass sein Vater ein Fürst ist?«, fragte Patrick erstaunt.

»Das ist für ihn viel zu unwirklich, nicht richtig greifbar. Leo ist tot, er wird ihn niemals kennen lernen, und an seinem Leben wird sich auch nichts ändern. Es spielt für ihn eigentlich keine Rolle.«

»Wenn ihr Geld bekämt, sodass er an eine amerikanische Elite-Universität gehen könnte, würde das schon etwas ändern, oder?«

»Wenn«, sagte sie müde. »Das war ja der Grund, weshalb ich das alles überhaupt gemacht habe. Aber wenn sich die Sache weiterhin so zäh entwickelt, bekomme ich das Geld erst, wenn er seine Ausbildung längst beendet hat.«

»Nicht den Mut verlieren, Corinna«, sagte Patrick. »Wir sehen uns heute Abend. Wann soll ich denn kommen?«

»Gegen sieben?«

»Wir bestellen Essen beim Zimmerservice, ja? Ich lade dich dazu ein.«

»Bist du verrückt? Weißt du, was das kostet?«

»Es ist ein besonderer Tag, und ich habe in letzter Zeit sehr, sehr sparsam gelebt.«

An der Tür lächelte er ihr noch einmal zu, dann verließ er ihr Büro, um an die Rezeption zurückzukehren.

*

»Ich komme mit, in Ordnung?«, sagte Konrad zu seiner Schwester Anna, als sie sich anschickte, gemeinsam mit Togo zum Hügel zu gehen. Sie wollte das Versprechen einhalten, das sie Christian gegeben hatte, und seine Eltern besuchen.

»Ja, klar«, antwortete sie erfreut.

Konrad und sie waren nicht immer gut miteinander ausgekommen. Früher hatten sie oft gestritten, Konrad hatte sich einen Spaß daraus gemacht, seine temperamentvolle jüngere Schwester so lange zu reizen, bis sie wie ein Dampfkessel explodiert war. Außerdem hatte es ihm eine Zeit lang gefallen, Anna und Christian zu behandeln, als wären sie noch Kinder, während er, der Sechzehnjährige, sich selbstverständlich schon den Erwachsenen zurechnete. All das war in den vergangenen Monaten ohnehin besser geworden und hatte sich, seit Corinna Roeder ihren folgenreichen Brief geschrieben hatte, vollkommen verloren. Plötzlich stand Konrad nicht mehr abseits, wenn Anna und Christian sich miteinander berieten, sondern er gehörte dazu, sagte seine Meinung, machte wie sie Pläne zur Bewältigung der derzeitigen Situation.

»Was denkst du«, fragte Anna, während sie den Schlosspark durchquerten, »ist es gut, dass Chris sich von Ferdinand von Stade interviewen lassen will?«

»Es ist das einzig Richtige«, antwortete Konrad prompt. »Wir müssen der Frau Roeder endlich etwas entgegensetzen. Die Leute mögen Chris, sie bewundern ihn, weil er sein Schicksal so tapfer trägt. Im Augenblick haben sie diese Gefühle auf Frau Roeder übertragen, aber das muss ja nicht so bleiben.«

Togo war schon vorausgelaufen, mit wenigen Sätzen erklomm er den Hügel und verschwand. Anna und Konrad folgten ihm langsamer.

»Sie ist ziemlich schlau, oder? Bis jetzt hat sie sich noch keinen einzigen richtigen Schnitzer erlaubt.«

»Ja, leider. Und sie sieht gut aus. Sie drückt außerdem auf die Tränendrüse und erweckt den Eindruck, als wollte sie nichts für sich, sondern alles nur für ihren Sohn.«

»Der ist spurlos verschwunden. Ein Wunderkind, das angeblich in den USA ein Austauschjahr macht, aber niemand weiß, wo genau er sich aufhält«, sagte Anna erbittert.

Oben auf dem Hügel lag Togo bereits vor der fürstlichen Gruft und wartete auf sie.

»Hallo, Tante Lisa und Onkel Leo«, sagte Anna. Konrad blieb stumm, er machte sich auch nicht darüber lustig, dass Anna mit zwei Toten sprach.

»Chris ist auf Klassenfahrt«, fuhr Anna fort, »deshalb sind Konny und ich gekommen, damit ihr euch nicht verlassen fühlt.« Sie sprach weiter, völlig unbefangen. Sie erzählte ihrer toten Tante und ihrem toten Onkel, was ihrer Ansicht nach interessant für sie war, denn sie wusste, dass Christian es ebenso machte, nur sprach er nicht laut, wie sie es jetzt tat, sondern in Gedanken. Über ›die Affäre‹ freilich verlor sie kein Wort, es hatte ja auch keinerlei neue Entwicklung gegeben. Dass er ein Interview geben wollte, hatte Christian seinen Eltern vor seiner Abreise gewiss noch selbst erzählt.

Konrad stand die ganze Zeit ruhig neben seiner Schwester, ohne Anzeichen von Ungeduld oder Unwillen. Auch als Anna schließlich sagte: »Wir kommen morgen wieder. Chris ist fast eine Woche weg, aber er denkt an euch – genauso, als wäre er hier. Aber ich glaube, das wisst ihr sowieso«, rührte er sich noch nicht, sondern wartete geduldig auf ein Zeichen von Elisabeth und Leopold, wie es sein Cousin immer tat.

Früher hatte sich Konrad gelegentlich über Christians unbeirrbaren Glauben, dass seine Eltern ihn hören konnten, lustig gemacht, doch das tat er schon lange nicht mehr. Irgendwann einmal hatte er gesagt, es gebe so vieles auf der Welt, das man sich mit dem Verstand nicht erklären könne, da sei es wohl auch denkbar, dass die Verbindung zwischen Menschen auch nach dem Tod nicht abreiße.

Es raschelte in den Büschen hinter ihnen. Als sie sich umdrehten, kam ein kleines Häschen zum Vorschein, das nicht sonderlich erschrocken wirkte, obwohl Togo mittlerweile neben ihnen stand und normalerweise jeden Hasen in die Flucht schlug. Doch auch für den jungen Boxer galten auf dem Hügel andere Gesetze als im Park und im Wald. Er rührte sich nicht, sondern hielt sich weiterhin dicht bei Anna.

Das Häschen erhob sich auf die Hinterläufe und schnupperte, gleich darauf machte es einen Satz und verschwand.

Als sie den Hügel verließen, lächelte sowohl Anna als auch Konrad. Vielleicht war das Häschen ein Zeichen von Christians Eltern gewesen, vielleicht auch nicht. Aber die Vorstellung, dass Elisabeth und Leo es geschickt hatten, war viel zu schön, um nicht daran zu glauben.

»Verrückt, oder?«, fragte Anna, als sie sich dem Schloss näherten. »Chris sagt immer, es geht ihm besser, wenn er seine Eltern besucht hat, und ich fühle mich jetzt auch irgendwie …«

»… erleichtert?«, fragte Konrad.

»Ja. Wenn man da oben steht, hat man wirklich den Eindruck, dass sie alles hören und sehen, und das ist einfach schön, finde ich.«

Früher hätte Konrad gelacht und eine spöttische Bemerkung gemacht, jetzt nickte er nur, denn er empfand wie seine Schwester.

*

Caroline übernachtete mit den Jugendlichen in ihrer Unterkunft, das tat sie immer, es stärkte den Zusammenhalt. Von hier aus hätte sie ohne Weiteres zu ihrer Wohnung fahren können, doch in aller Regel verzichtete sie darauf. Es war wichtig, mit einer Gruppe, die sie führte, auch abends zusammen zu sein, da gab es oft die interessantesten Gespräche, und sie hoffte, so würde es auch dieses Mal sein.

Das Grillen war ein voller Erfolg, zumal das Wetter mitspielte. Die Tour dieses Tages war recht gut verlaufen. Drei Mädchen und zwei Jungen hatten sich böse Blasen gelaufen, aber trotzdem bis zum Ende durchgehalten. Caroline hatte die Blasen ordentlich verpflastert und angeregt, über andere Schuhe nachzudenken. Es gab Geschäfte in der Nähe, wo man gute Wanderschuhe kaufen konnte, wenn man genug Geld dabei hatte. Immerhin ein Mädchen und ein Junge waren ihrem Rat gefolgt und hatten gleich noch Wandersocken dazugekauft. Für die anderen musste man sehen, wie es weiterging. Unfälle hatte es nicht gegeben, ihre kleinen Vorträge waren erstaunlich interessiert aufgenommen worden.

Der kleine Fürst war während der ganzen Zeit mit dem Sommersprossigen zusammen gewesen, von dem sie mittlerweile wusste, dass er Manuel hieß. Ein netter, schüchterner Junge mit traurigen Augen, der jedoch überraschend strahlend lächeln konnte, wenn ihm etwas gefiel oder er eine interessante Entdeckung machte. Auch Christian von Sternberg hatte traurige Augen, er wirkte in sich gekehrt. Beide Jungen waren dennoch hilfsbereit, sie trugen zum Beispiel die Rucksäcke von zwei Mädchen, die sich Blasen gelaufen hatten und gegen Ende der Tour sichtlich mit den Tränen kämpften.

Sehr sympathisch, dachte Caroline. Auch die beiden Lehrer waren guter Dinge, stellten ihr eine Menge Fragen und schienen aufrichtig am Naturpark Kellerwald interessiert zu sein.

»Wieso sind Sie eigentlich ausgerechnet hierhergekommen?«, fragte Caroline. »Wäre Bayern für Sie nicht näher gewesen? Landschaftlich ist das auch sehr reizvoll.«

»Wir wollten mal etwas Neues erkunden«, antwortete Martina Früh. »Nach Bayern sind schon so viele Klassen gereist, die nachfolgenden wissen immer schon, was sie dort erwartet, weil die Älteren es ihnen erzählen. Außerdem schadet es den Jugendlichen nicht, wenn sie sehen, was ihre Heimat sonst noch zu bieten hat. Wir haben auch über eine Nordseeinsel nachgedacht, uns dann aber doch anders entschieden. Hier gibt es viel zu sehen und zu entdecken, und es ist, abgesehen vom Reichtum der Natur, eine eher arme Gegend. Auch das fanden wir wichtig.«

Nach dem Essen spielte noch ein Junge Gitarre, es wurde ein bisschen gesungen, dann siegte die Müdigkeit nach der ungewohnten Bewegung an frischer Luft, in kleinen Gruppen zogen sich die Jugendlichen zurück. Es sollte schließlich am nächsten Morgen früh weitergehen.

Caroline half den Wirtsleuten beim Aufräumen und bestellte dann noch ein Glas Wein. »Das scheint eine nette Gruppe zu sein, Caro«, sagte die Wirtin.

»Ja, sehr nett«, bestätigte Caroline. Sie kannte alle Herbergen rund um den See, in denen Gruppen aufgenommen wurden und duzte sich mit den meisten Wirtsleuten. »Allerdings ist die Gruppe ziemlich groß. Bis zwanzig geht es, aber darüber hinaus kann es schwierig werden. Bis jetzt ist aber alles gut gegangen.« Sie nahm ihr Weinglas. »Ich sehe noch mal draußen nach, ob auch wirklich nichts liegen geblieben ist.«

Es war eine sternenklare Nacht, sie sog die Luft tief ein. Die Kälte spürte sie nicht, im Gegenteil. Ihr war warm, sie fühlte sich wohl. Sie bewegte sich gern, für sie war die heutige Tour nicht viel mehr als ein Spaziergang gewesen. Sie freute sich schon auf den nächsten Tag, dann würde sich zeigen, wie belastbar die Jugendlichen waren.

Sie hörte Schritte hinter sich, dann fragte eine leise Stimme: »Störe ich dich?«

Sie drehte sich um, der kleine Fürst stand an der Tür. »Überhaupt nicht, Chris, ich genieße nur noch ein bisschen die Abendluft und trinke ein Glas Wein dazu. Danach werde ich wunderbar schlafen.«

Der Junge trat näher. »Kann es sein, dass du meine Tante kennst? Sofia von Kant?«

»Woher weißt du das?«, fragte sie überrascht.

»Sie hat von dir gesprochen. Ich habe deinen vollen Namen auf einer der Listen gesehen, da ist es mir wieder eingefallen. Ihr arbeitet manchmal zusammen, oder?«

»Ja, wir treiben ehrenamtlich Geld für Bedürftige ein«, erklärte Caroline. »Und wir arbeiten gut zusammen, deine Tante und ich, wir haben eine ähnliche Herangehensweise.«

Er nickte nur. »Das war ein schöner Tag heute.«

»Findest du? Das freut mich.«

Der Lichtschein aus der Wirtsstube fiel auf sein Gesicht, sie sah, dass er lächelte. »Morgen wird es wohl nicht mehr ganz so gemütlich sein, oder?«

Sie musste lachen. »Nein, nicht ganz«, gab sie zu, »aber um dich und Manuel muss ich mir wohl keine Sorgen machen. Ich habe euch beobachtet, ihr seid gute Wanderer, alle beide. Er ist wohl dein Freund?«

»Ja, das ist er«, sagte der kleine Fürst. »Bleibst du noch ein bisschen hier? Dann hole ich mir auch noch was zu trinken, ich kann nämlich noch nicht schlafen, und ich liege nicht gern wach im Bett.«

»Nur zu, ich stehe bestimmt noch eine ganze Weile hier.«

Er verschwand in der Gaststube. Das war also der Junge, der ihren Chef vor der Tour so in Aufregung versetzt hatte. Es sah zum Glück nicht danach aus, als hätten sich irgendwelche Schmierfinken an seine Fersen geheftet und würden ihnen in dieser Woche Ärger bereiten.

Caroline lächelte den Himmel an. Alles bestens, dachte sie.

*

»Ist das jetzt Glück, Zufall oder Planung?«, fragte Lena. »Die Gruppe mit deiner Caroline …«

»Rede bitte nicht so, sie ist nicht meine Caroline …«

»… ist nebenan in der Jugendherberge abgestiegen«, fuhr Lena unbeirrt fort. »Wenn du dich nicht sehr ungeschickt anstellst, kannst du sie morgen früh ganz elegant fragen, ob du sie fotografieren darfst.«

»Das werde ich auf jeden Fall tun«, erwiderte Jakob. »Schlaf gut, Lena, wir sehen uns beim Frühstück.«

»Gute Nacht«, sagte sie.

Er ging zu seinem Zimmer, von dem aus er zur Jugendherberge hinüberblicken konnte. Es war gegrillt worden, das hatten Lena und er beim Abendessen gesehen, jetzt glomm nur noch die Glut, die Jugendlichen waren verschwunden. Nur auf der Terrasse sah er noch zwei Leute stehen, im Licht, das aus der Gaststube fiel. Er kniff die Augen zusammen, konnte jedoch nichts Genaues erkennen. Kurz entschlossen nahm er seinen Fotoapparat und das Objektiv mit dem stärksten Zoom und richtete beides auf die zwei Gestalten auf der Terrasse. Ein Mann, eine Frau …, nein, eine Frau und ein Junge. Der Junge interessierte ihn nicht, wohl aber die Frau, denn es handelte sich um Caroline von Hessen.

Ohne lange zu überlegen nahm er seine Fototasche, hängte sich die Kamera um und verließ sein Zimmer wieder. Eilig lief er nach unten, wo es ebenfalls eine Terrasse gab, nämlich vor dem Frühstücksraum. Oder er suchte sich eine andere Stelle, von der aus er ein paar Fotos machen könnte.

Er dachte gar nicht richtig nach, jetzt war er einfach vom Jagdfieber ergriffen. Normalerweise fragte er immer um Erlaubnis, bevor er fotografierte, aber dieses war ein Sonderfall. Wenn er am späten Abend eine ihm unbekannte Frau fragte, ob er sie fotografieren dürfe, sah das sicherlich aus wie eine billige Anmache. Er würde bis zum nächsten Morgen warten und sich ihre Einwilligung dann eben nachträglich holen. Freilich würde er vermutlich einen Blitz brauchen, obwohl die beiden Gesichter beleuchtet waren. Sogar, dachte er, sehr schön beleuchtet.

Er schlich aus dem Haus, darauf bedacht, niemanden auf sich aufmerksam zu machen. Die Terrasse bot ihm nicht genügend Schutz, also lief er durch den Garten der kleinen Familienpension, in der Lena und er untergekommen waren. In seinem hinteren Teil standen alte Bäume, genau das, was er brauchte. Er suchte nach dem besten Standort, dann blickte er durch den Sucher seiner Kamera. »Perfekt«, murmelte er lautlos. Er hatte einen sehr lichtempfindlichen Film eingelegt. Seine Freunde machten sich über ihn lustig, weil er noch immer auf Film fotografierte, doch das focht ihn nicht an. Er hatte auch zwei Digitalkameras, aber er war noch immer nicht richtig warm geworden mit ihnen.

In rascher Folge machte er mehrere Fotos, einige nur von Caroline Hessen, auf anderen war sie zusammen mit dem Jungen zu sehen. Dessen Gesicht kam ihm vage bekannt vor, aber er machte sich keine Gedanken darüber. Sahen sich Jugendliche nicht alle ähnlich?

Er wechselte den Standort, um noch ein paar Porträts aus einer anderen Perspektive zu bekommen. Jetzt lag Carolines Gesicht halb im Schatten, und wieder drückte er mehrmals hintereinander auf den Auslöser. Sie hatte ein wundervolles Gesicht mit sehr klaren Konturen. Es wurde von diesen klugen braunen Augen beherrscht, die ihn schon einmal angesehen hatten, einige Sekunden lang, im Informationszentrum des Nationalparks. Nein, er würde sich nicht damit zufriedengeben, sie heimlich bei Nacht zu fotografieren, sondern gleich morgen früh fragen, ob sie bereit war, ihm irgendwann in den nächsten Tagen einmal eine Stunde zu schenken …

Er wechselte noch einmal den Standort. Als er erneut durch den Sucher der Kamera blickte, stand der Junge plötzlich allein auf der Terrasse. Wo war Caroline? Er schwenkte nach links, dann nach rechts, doch sie war verschwunden. Und dann hörte er ihre Schritte, sie war offenbar schon ziemlich nahe. »Verdammt, du mieser kleiner Paparazzo«, rief sie, »wenn ich dich erwische, mach dich auf was gefasst! Wie ein Spanner nachts in Büschen auf der Lauer zu liegen, ist wirklich das Allerletzte …«

Er verließ sein Versteck, überrumpelt und beschämt. »Aber …«, begann er, doch er kam nicht weiter.

Sie starrte ihn fassungslos an. »Sie habe ich schon einmal gesehen!«, stieß sie hervor. »Schon damals also … Wie lange belauern Sie uns schon?«

»Ich belauere Sie überhaupt nicht, ehrlich, ich …«

Sie stürzte sich auf ihn, versuchte, ihm die Kamera zu entreißen, trat, schlug und kratzte ihn wie eine Wildkatze, während sie immer weiter an der Kamera zerrte. Er hatte alle Mühe, ihre Angriffe abzuwehren. Aus dem Augenwinkel sah er, dass der Junge die Terrasse mittlerweile verlassen hatte und sich ebenfalls näherte. Die Verzweiflung – und auch die Scham, dass ihn die beiden für einen Spanner hielten – verliehen ihm ungeahnte Kräfte. Er riss sich mit aller Gewalt los und ergriff schleunigst die Flucht, wobei er nicht zu seiner Pension zurücklief, sondern einen anderen Weg wählte, um sie nicht auf seine Spur zu bringen.

Sie verfolgte ihn noch eine Weile, wobei sie ihm noch immer Drohungen und Beschimpfungen nachrief, aber nach einer Weile gab sie auf. Jakob war ein guter Läufer, er entfernte sich sehr schnell Richtung Wald. Zum Glück hatte die Sache kein Aufsehen erregt, nirgends sah jemand neugierig aus dem Fenster.

Niedergeschlagen und gedemütigt verharrte Jakob noch über eine Stunde in dem Waldstück, in das er sich geflüchtet hatte. Er würde sich am nächsten Morgen erst aus der Pension bewegen, wenn die Jugendgruppe aufgebrochen war, denn auf eine weitere Begegnung mit Caroline von Hessen legte er unter den gegebenen Umständen keinen Wert mehr.

*

»Jetzt muss ich aber wirklich gehen«, sagte Patrick Herrndorf nach einem Blick auf seine Armbanduhr. Er erhob sich. »So lange wollte ich eigentlich gar nicht bleiben, Corinna.«

»Es war doch schön«, erwiderte sie. »Jedenfalls für mich.«

»Für mich auch. Wenn du willst, könnten wir das bei Gelegenheit wiederholen.«

»Gern«, sagte sie.

Er stand vor ihr und wusste nicht, wie er sich von ihr verabschieden sollte. Sie lächelte ihn an und küsste ihn auf beide Wangen. »Dann bis morgen«, sagte sie. »Danke für deinen Besuch – und für das leckere Essen.«

Er hatte tatsächlich Essen beim Zimmerservice bestellt, was vermutlich Klatsch im Hotel nach sich ziehen würde, doch das war ihm gleichgültig. Er mochte Corinna, und wäre nicht ihre Geschichte mit dem Fürsten gewesen, hätte er wohl richtig um sie geworben. Manchmal träumte er von ihr, aber er wehrte sich mit aller Macht dagegen, sich in sie zu verlieben, denn er glaubte, dass er keine Chance bei ihr hatte. Eine Frau, die einmal den Fürsten von Sternberg geliebt hatte, war keine Frau für ihn.

»Was ist?«, fragte sie.

Sie stand so dicht vor ihm, dass ihm ihr Duft in die Nase stieg. Er musste an sich halten, um sie nicht in seine Arme zu ziehen. Verwirrt fragte er sich, was wohl geschehen würde, wenn er es täte. Würde sie ihn heftig zurückstoßen oder sich sanft von ihm lösen? Oder würde sie sich vielleicht sogar in seine Arme schmiegen und …

Sie trat einen Schritt zurück. »Du solltest jetzt wirklich gehen, Patrick«, sagte sie leise. »Es ist schon spät, und wir haben beide Frühdienst. Außerdem möchte ich nicht, dass auch hier im Hotel geklatscht wird. Gerüchte über mich gibt es schließlich auch so schon mehr als genug.«

Ernüchtert kehrte er in die Gegenwart zurück. »Ja, natürlich, du hast vollkommen Recht. Gute Nacht, Corinna«, erwiderte er.

Er öffnete die Tür, nickte ihr noch einmal zu und ging eilig davon, ohne sich noch einmal nach ihr umzusehen.

*

»Tut mir leid«, sagte Caroline, als sie schwer atmend auf die Terrasse des Gasthauses zurückkehrte, »aber der Kerl war zu schnell für mich.«

»Dass du ihn überhaupt bemerkt hast«, wunderte sich der kleine Fürst. »Mir ist nichts aufgefallen.«

»Mir zuerst auch nicht, aber dann hat er sich bewegt. Es war nicht mehr als das Huschen eines Schattens, aber mein Chef hatte mich gewarnt, dass so etwas passieren könnte, deshalb war ich aufmerksam.«

»Danke jedenfalls«, sagte Christian verlegen. »Ich bin nicht einmal auf die Idee gekommen, die Journalisten könnten auch hier auf der Lauer liegen. Außerdem trauen sie sich meistens nicht, mich zu fotografieren. Meine Tante und mein Onkel klagen sofort, wegen Verletzung der Privatsphäre, das wissen alle, deshalb riskieren sie das nicht. Jedenfalls jetzt nicht mehr. Am Anfang, als diese …, diese Affäre noch neu war, galt das noch nicht, da gab es ja so etwas wie ein öffentliches Interesse, aber jetzt …« Er brach ab.

»Der Typ kommt nicht wieder, glaube ich, und wenn er es wagt, die Fotos zu veröffentlichen, wird er sich wünschen, es nicht getan zu haben«, sagte Caroline grimmig. »Dann klage nämlich ich. Wie kommt der dazu, uns beide einfach zu fotografieren? Das ist wirklich eine Unverschämtheit.«

»Er hat bestimmt einen Schock fürs Leben bekommen, als du auf ihn losgegangen bist.« Unversehens lächelte Christian. »Ich hatte keine Ahnung, dass du so wütend werden kannst. Wie eine Furie.«

»Ehrlich?«, fragte Caroline verlegen. »Es stimmt schon, wenn ich richtig wütend werde, vergesse ich meine gute Erziehung. Ich habe schon einige Leute erschreckt, die mich vorher noch nie so erlebt hatten. Aber aufdringliche Fotografen und Journalisten finde ich wirklich das Letzte, da raste ich einfach aus.« Sie sah Christian an. »Ich hole mir noch ein Bier, sonst kann ich nicht schlafen. Willst du auch noch etwas trinken?«

»Ein halbes Bier vielleicht?«, fragte er. »Ich habe noch nie welches getrunken.«

»Du bist ja auch noch jung. Aber ich würde sagen, dieses ist der passende Augenblick für den ersten Versuch.«

Das Bier schmeckte dem kleinen Fürsten nicht sonderlich, er ließ fast alles stehen, aber es war trotzdem ein gutes Gefühl, neben einer Frau zu stehen, die seinetwegen einen aufdringlichen Fotografen gejagt hatte. Und auch, wenn der Grund für ihr Handeln natürlich unerfreulich war, so gehörte doch ihre Reaktion zum Nettesten, was ihm in letzter Zeit widerfahren war.

*

»Hast du dich beim Rasieren geschnitten?«, fragte Lena am nächsten Morgen, als Jakob mit verschlossenem Gesicht zum Frühstück erschien. Sie beugte sich näher zu ihm. »Oder bist du überfallen worden? Du hast Kratzer im Gesicht.«

Er hatte schon eine unwillige Antwort auf der Zunge, schluckte sie aber hinunter. Es war nicht Lenas Schuld, dass er sich hatte erwischen lassen.

Da er nicht antwortete, fragte Lena weiter: »Und was ist mit Caroline von Hessen?« Sie machte eine Kopfbewegung hinüber zur Jugendherberge. »Die brechen sicher bald auf.«

Ihm blieb nichts anderes übrig, als ihr die Wahrheit zu sagen, wenn er verhindern wollte, dass sie ihn weiter mit ihren Fragen löcherte, und so lieferte er ihr einen stark verkürzten Bericht seines spätabendlichen Erlebnisses.

Er sah das Aufblitzen in ihren Augen, aber sie beherrschte sich mustergültig, weitere Anzeichen dafür, dass sie sich amüsierte, gab es nicht. Als er geendet hatte, sagte sie ganz sachlich: »Das war natürlich blöd. Was willst du jetzt machen?«

»Ich denke«, sagte er und begriff erst, als er es aussprach, dass er diese Entscheidung offenbar schon am Vorabend gefällt hatte, ohne sich dessen richtig bewusst geworden zu sein, »ich breche meine Zelte hier ab.«

»Schon?«, fragte sie. Er hörte die Enttäuschung in ihrer Stimme. »Aber wir wollten doch noch …« Sie brach ab, als sie sein Gesicht sah. »Egal. Du hast dich entschieden, wie ich sehe. Die Frau hat dich wirklich sehr beeindruckt, nicht?«

»Ja«, bestätigte er. »Auch gestern Abend wieder. Ich bin mir zwar schrecklich vorgekommen, als ich vor ihr Reißaus genommen habe, aber du hättest sie mal hören sollen, wie sie mich beschimpft hat. Mich wundert, dass nicht alle Leute ringsum wach geworden sind.«

»Ich schlafe hier so tief, dass mich vermutlich nicht einmal Kirchenglocken aufwecken würden«, bemerkte Lena. »Eins wüsste ich aber gern noch: Wieso bist du eigentlich weggelaufen? Du hättest ihr doch einfach die Wahrheit sagen können.«

Er sah sie so verblüfft an, dass sie fragte: »Was ist denn? Stimmt doch, oder? Du hast sie fotografiert, das hat ihr nicht gepasst, aber du hattest schließlich nichts Böses im Sinn.«

»Das hätte sie mir nicht geglaubt«, antwortete er schließlich. »Sie war so sauer, dass es mir bestimmt nicht gelungen wäre, sie von meinen guten Absichten zu überzeugen. Sie hat mich als Spanner beschimpft, weißt du.«

»Das hast du eben gar nicht erzählt.«

»Weil mir die ganze Geschichte ziemlich peinlich ist, das kannst du mir glauben.«

»Also endet unsere gemeinsame Tour hier und heute?«, fragte sie. »Ich kann das noch gar nicht glauben.«

»Tut mir leid, Lena.«

»Mir tut es auch leid«, erwiderte sie. »Weißt du, als wir uns kennen gelernt haben, dachte ich, zwischen uns könnte mehr sein als eine Wanderfreundschaft.«

Ihre Offenheit brachte ihn erneut in Verlegenheit, er wusste nicht, was er sagen sollte, und so wiederholte er: »Tut mir leid.«

Sie lächelte, halb traurig, halb spöttisch. »Hör schon auf, dich zu entschuldigen, du kannst ja nichts dafür, dass du mein Typ bist.«

»Ich wusste nicht, dass du solche … Hoffnungen hast.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Es wäre schön gewesen, aber wenn es nicht klappt, klappt es nicht. Keine Sorge, ich bin nicht am Boden zerstört. Vorsichtshalber habe ich mich nicht richtig in dich verliebt, nur ein bisschen. Wahrscheinlich hatte ich gleich so eine Ahnung, dass das nichts wird mit uns beiden. Und spätestens als Caroline von Hessen aufgetaucht ist, war mir klar, dass ich nicht dein Typ bin.«

»Ich habe überhaupt keinen Typ!«, wehrte er ab. »Das ist Quatsch, Lena.«

Sie lächelte. »Ich habe deinen Gesichtsausdruck gesehen bei ihrem Anblick, Jakob, und der sprach, wie es so schön heißt, Bände. Also erzähl mir nichts.« Sie warf einen Blick aus dem Fenster. »Da, siehst du? Sie brechen auf.«

Unwillkürlich zuckte er zusammen. Lena lachte. »Die sehen dich hier nicht, keine Sorge.«

Er riskierte nun ebenfalls einen Blick nach draußen. Da war sie, Caroline von Hessen mit ihrem Pferdeschwanz, der sportlichen Kleidung und dem klaren, schönen Gesicht. Er würde sie nie wiedersehen, und diese Gewissheit verursachte ihm einen erstaunlich scharfen Schmerz. Er kannte sie kaum, dennoch breitete sich in ihm das Gefühl eines großen Verlusts aus. Immerhin, dachte er mit einem Anflug von Galgenhumor, kann ich mir zu Hause ihre Fotos ansehen.

Eine Stunde später verabschiedete er sich mit einer schüchternen Umarmung von Lena. »Alles Gute weiterhin«, sagte er.

»Vielleicht ist deine Geschichte mit der schönen Caroline noch gar nicht zu Ende«, erwiderte sie. »Manchmal geschehen die erstaunlichsten Dinge, mit denen man nie und nimmer gerechnet hätte.«

»Danke, dass du versuchst, mich aufzumuntern. Überhaupt: Danke für deine Begleitung. Wir waren ein gutes Team.«

Sie streichelte kurz seine Wange. »Ja, das waren wir«, erwiderte sie leise. Dann drehte sie sich um und kehrte in ihr Zimmer zurück, während Jakob sich auf den Heimweg machte.

*

»Geht es dir auch so, Fritz«, fragte die Baronin zögernd, »dass du manchmal anfängst zu zweifeln?«

Sie musste ihm nicht näher erklären, was sie meinte, er wusste es sofort, und er wirkte aufrichtig erleichtert, als er zurückfragte: »Du also auch?«

Die Baronin nickte stumm, und so fuhr er fort: »Ja, mir kommen manchmal Zweifel an Leo, vor allem nachts, wenn ich aufwache und nicht wieder einschlafen kann. Dann frage ich mich, ob Frau Roe­der vielleicht doch die Wahrheit sagt, ob wir uns irren, ob Leo Seiten hatte, die wir nicht kannten und die er sorgfältig vor uns verborgen hat.«

»Das alles kann sein, Fritz«, sagte Sofia nach einer Weile, »aber wäre er imstande gewesen, Lisa und uns alle jahrzehntelang zu belügen? Das ist die Frage, die ich mir jedes Mal stelle, wenn mich die Zweifel wieder überkommen, und jedes Mal gebe ich mir die gleiche Antwort darauf: Nein, das hätte er nicht fertig gebracht. Er hätte es vielleicht versucht, um Lisa keinen Kummer zu bereiten, aber irgendwann hätte er ihr doch lieber die Wahrheit gesagt. Und da das nicht geschehen ist, glaube ich nicht an Frau Roeders Geschichte, mag auch noch so viel dafür sprechen.«

»So ähnlich verlaufen meine Gedankengänge auch«, erklärte der Baron, »aber die vielen Leute, die Leo nicht kannten, sehen das mittlerweile anders, sie glauben Frau Roeders Geschichte, weil sie eben so nachvollziehbar ist. Die Frau ist attraktiv, offenbar sympathisch, die meisten Männer hätten sich nur zu gern auf eine Affäre mit ihr eingelassen – warum also nicht Leo.« Er machte eine kurze Pause. »Und weil das so ist und weil sich die öffentliche Meinung immer mehr gegen uns wenden wird, je länger diese Geschichte andauert, bin ich mittlerweile doch der Ansicht, wir sollten Anzeige gegen Frau Roeder erstatten.«

»Frau von Kreyenfelss ist skeptisch, wie du weißt, und Herr Overbeck hat uns auch gewarnt.«

»Ja, das weiß ich, aber letzten Endes ist es unsere Entscheidung.«

Sofia lehnte sich an ihren Mann. »Ich wünsche mir so sehr, dass das endlich vorbei ist, Fritz.«

»Das wünschen wir uns alle.« Er umarmte sie, und so blieben sie eine Weile stehen, ohne zu reden. Endlich fragte er: »Bist du einverstanden?«

»Ohne Chris sollten wir diese Entscheidung nicht fällen.«

»Das hatte ich auch nicht vor. Wir warten auf seine Rückkehr, dann soll er sein Interview geben, und zeitgleich könnten wir Anzeige gegen Frau Roeder wegen versuchten Betruges und Verleumdung erstatten.«

»Komisch«, sagte Sofia nach einer Weile, »jetzt fühle ich mich besser. Ob das damit zusammenhängt, dass wir beschlossen haben, etwas zu unternehmen?«

»Ich denke schon. Hoffen wir nur, dass Christian mit unseren Plänen einverstanden ist.«

Wenig später wurde der Baron vom Stallmeister angerufen, da ein Problem mit einem der Pferde aufgetreten war, und so verließ er seine Frau, die nachdenklich, aber nicht mehr ganz hoffnungslos zurückblieb. Vielleicht führte ihre Entscheidung zum Gegenangriff ja dazu, die Geschichte einem baldigen Ende zuzuführen.

*

»Offenbar haben wir unseren Paparazzo in die Flucht geschlagen, Chris«, sagte Caroline am vorletzten Tag der Wanderung mit Christians Klasse. Sie waren von kleineren und größeren Katastrophen weitgehend verschont geblieben, die Gruppe war noch immer vollzählig, und das Gejammer der ersten beiden Tage hatte fast vollständig aufgehört. Nicht wenige der Jugendlichen hatte der Ehrgeiz gepackt, ihrer schönen Führerin zu beweisen, dass sie durchaus imstande waren, acht Stunden am Tag zu wandern. Manche machten sogar eine erstaunliche Entwicklung durch, wie Caroline von den beiden Lehrkräften bestätigt wurde. Erst gestern hatte Martina Früh zu ihr gesagt: »Nie im Leben hätte ich es für möglich gehalten, dass selbst die Aufsässigsten der Klasse sich hier nahezu problemlos einordnen. Das ist für uns eine sehr schöne Erfahrung.« Natürlich war Caroline sehr erfreut gewesen über diese Worte, denn sie bedeuteten ja auch eine Bestätigung ihrer Arbeit.

»Zum Glück«, erwiderte Christian jetzt auf ihre Bemerkung. »Das wäre nicht angenehm gewesen, wenn der uns weiterhin verfolgt hätte.«

Sie hatten kaum über den Mann gesprochen, der ihnen am ersten Abend mit seinem Fotoapparat aufgelauert hatte, was auch daran lag, dass Caroline meistens von einer ganzen Gruppe von Jugendlichen umringt war, sie aber kein Interesse daran hatten, anderen von diesem Erlebnis zu erzählen. Christian hatte lediglich Manuel eingeweiht, von dem er jedoch sicher war, dass er den Mund halten würde. Nur ab und zu hatte er Caroline gegenüber eine knappe Bemerkung fallen lassen, aber die Augen hatten sie beide aufmerksam offengehalten, schließlich wollten sie kein zweites Mal unangenehm überrascht werden.

»Er wäre seines Lebens nicht mehr froh geworden, verlass dich drauf. Immerhin sind die Fotos bisher nirgends aufgetaucht, ich habe das aufmerksam verfolgt. Auch im Internet nicht, das hatte ich nämlich am ehesten befürchtet«, berichtete Caroline.

»Du hast gesagt, dass du den Mann schon mal gesehen hattest. Wann war das?«

»Lass mich überlegen. Zwei Tage, bevor ihr kamt, glaube ich. Oder sogar am Tag vorher? Genau weiß ich es nicht mehr. Ich hatte eine Besprechung mit meinem Chef …« Caroline unterbrach sich, als ihr einfiel, dass Henning ausgerechnet über den Jungen mit ihr hatte sprechen wollen, mit dem sie jetzt hier über aufdringliche Fotografen und Journalisten redete. War das etwa keine Ironie der Geschichte?

»Und als ich sein Büro verließ«, fuhr sie fort, »stand dieser Typ da und hat mich angestarrt.«

»Angestarrt?«

»Na ja, intensiv angesehen jedenfalls.« Caroline lächelte verlegen. »Ich fand ihn sogar interessant und gut aussehend, ich konnte ja nicht ahnen, dass er nur deshalb so geguckt hat, weil er sich vermutlich überlegt hat, wie er uns am besten auf den Fersen bleibt.«

»Aber ich war doch noch gar nicht da! Vielleicht fand er dich einfach nur attraktiv, bist du schon mal auf den Gedanken gekommen?«

»Und deshalb fotografiert er dann dich und mich mitten in der Nacht? Das glaubst du doch selbst nicht.« Caroline schüttelte den Kopf, dass die braunen Haare flogen. »Nein, nein, der wusste, dass du mit deiner Klasse herkommst, dann hat er ein bisschen herumgeschnüffelt und herausgefunden, wer eure Klasse führt – und dann hat er mich vermutlich nicht mehr aus den Augen gelassen. Ekelhaft, solche Leute, die ihr Geld damit verdienen, dass sie andere Leute belauern.«

Christian nickte, er sah es genauso. Für ihn war das Thema damit erledigt, und so sagte er nach einer Weile: »Es war eine tolle Zeit mit dir, Caro.«

»Sie ist noch nicht vorüber«, erinnerte sie ihn lächelnd, »also rede bitte nicht in der Vergangenheitsform davon.«

Zwei Mädchen gesellten sich jetzt zu ihnen, die Caroline mit Fragen bestürmten, was Christian zum Anlass nahm, nach Manuel Ausschau zu halten.

Er sah ihn weit vorn allein laufen und beeilte sich, zu ihm aufzuschließen.

*

»Baron von Kant hat angerufen«, berichtete Hagen von Boldt. »Wenn Christian einverstanden ist, wollen sie Anzeige erstatten gegen Frau Roeder. Verleumdung, versuchter Betrug – und was uns noch so alles einfällt.«

»Heikel«, bemerkte Barbara von Kreyenfelss sachlich. »Sie scheinen ihrer Sache sehr sicher zu sein.«

»Anders als wir, meinst du?«

Sie nickte. »Ich habe schon zu viele ehrenwerte Männer ihre Unschuld, ihre Treue, ihre Ahnungslosigkeit beteuern sehen – und am Ende mussten sie doch zugeben, dass sie nicht ganz so unschuldig, treu und ahnungslos gewesen waren wie behauptet. Warum sollte das bei Fürst Leopold von Sternberg anders sein?«

»Er selbst kann ja nichts mehr beteuern«, murmelte Hagen von Boldt. »Ich stimme dir zur, dass es heikel ist, aber ich denke, es ist an der Zeit, ein Zeichen zu setzen. Und mit dem Interview zusammen sind es dann schon zwei Zeichen. Ich halte die Strategie für gut, auch wenn wir leider Frau Roeders Behauptungen noch immer nicht entkräften können.«

»Wenn wir das könnten, wäre die Geschichte zu Ende«, bemerkte Barbara. »Aber anders als neulich bin ich jetzt wieder eher auf Kampf eingestellt. Das wechselt bei mir täglich, aber mittlerweile denke ich wieder, wir haben zwar keine Chance, aber wir sollten sie nutzen.«

»Sehr witzig, Barbara«, murmelte Hagen von Boldt. »Ich schicke dann also heute noch unsere Bemerkungen für Prinz Christian los, damit er sich auf das Interview vorbereiten kann, und wir beide machen uns an die Klageschrift.«

»Endlich mal wieder was Handfestes zu tun«, sagte Barbara strahlend. »Ich hasse es, zur Untätigkeit verdammt zu sein, weißt du?«

»Du wirst dich in nächster Zeit nicht beklagen können, da kommt sehr viel Arbeit auf uns zu.«

»Ich kann es kaum erwarten.«

*

Jakob stand in der Dunkelkammer und entwickelte seine Fotos. Ihm waren ein paar wirklich außergewöhnliche Bilder gelungen, aber die Freude, die er sonst bei solchen Entdeckungen empfand, blieb dieses Mal aus. Die Reise in den Kellerwald war mit zu vielen widersprüchlichen Erinnerungen belastet, als dass er sich ganz unbefangen über ein paar gelungene Fotos hätte freuen können.

Den Film, auf dem die Bilder von Caroline von Hessen waren, entwickelte er erst zum Schluss. Er hatte sogar überlegt, sie überhaupt nicht zu entwickeln, doch das hatte er dann doch nicht fertig gebracht, und so siegte die Neugier.

Als ihr Gesicht zum ersten Mal im Entwicklerbad Konturen annahm, spürte er sein Herz schneller schlagen, denn unwillkürlich musste er daran denken, wie sie ihn mit wilden Beschimpfungen durch die Nacht gejagt hatte. Jenes Gefühl der Demütigung, das er dabei empfunden hatte, kam wieder hoch, und für einen kurzen Moment schloss er die Augen. Sie wusste nicht, wer er war, sie würde ihn nie wiedersehen, das Beste war, wenn er die ganze Angelegenheit so schnell wie möglich vergaß. Doch wie sollte er das fertigbringen, wo ihr Gesicht ihn doch vom ersten Augenblick an fasziniert hatte?

Jetzt, da dieses Gesicht ein ums andere Mal im Entwicklerbad auftauchte, wurde ihm klar, dass er wie im Rausch fotografiert und sich dabei verliebt hatte: in die Augen, den Mund, die ganze lebhafte Person, die kaum einen Moment stillzustehen schien. Auch ihr wippender Pferdeschwanz war auf mehreren der Bilder eingefangen.

Irgendwann begann er, sich auch den Jungen genauer anzusehen, mit dem sie sich unterhalten hatte. Gut sah er aus, sympathisch und klug. Erneut kam er Jakob vage bekannt vor, aber da er sich nicht für ihn interessierte, wandte er sich bald wieder Caroline von Hessen zu.

Als er alle Bilder zum Trocknen aufgehängt hatte, verließ er die Dunkelkammer. Er war hungrig, hatte aber keine Lust zum Kochen. Also würde er irgendwo eine Pizza essen, das ging schnell und würde ihn nicht allzu lange von seiner Dunkelkammer fernhalten.

Er wollte gerade die Wohnung verlassen, als es an seiner Tür klingelte.

»Du bist also tatsächlich schon zurück!«, rief Felix Hubfeld, sein Freund und Kollege. Felix war ein Jahr, nachdem Jakob seine Rahmen-Werkstatt eröffnet hatte, dazugestoßen und seitdem ein unverzichtbarer Mitarbeiter geworden, der sich wie kein Zweiter auf das Handwerk des Rahmenbaus verstand. »Wolltest du nicht länger bleiben?«

»Doch, wollte ich, aber es ist etwas dazwischengekommen. Woher weißt du denn, dass ich schon zurück bin?«

»Einer unserer Kollegen hat behauptet, dich gesehen zu haben. Und, wie war’s? Lässt du mich herein?«

»Ich habe Hunger«, erklärte Jakob. »Kommst du mit, eine Pizza essen?«

»Klar, gerne, aber erst will ich ein paar Bilder sehen. Du hast doch bestimmt die ersten schon entwickelt.«

»Die ganze Dunkelkammer hängt voll«, erklärte Jakob.

»Darf ich?«

»Du würdest dich doch von einem ›Nein‹ nicht abhalten lassen, oder?«

Felix grinste, betrat die Wohnung und steuerte zielstrebig die Dunkelkammer an. »Oh, Mann!«, rief er. »Du warst aber wirklich fleißig.«

»Ja, war ich«, bekannte Jakob, der hoffte, dass seinem Freund die Fotos von Caroline von Hessen nicht auffallen würden.

In der Tat bewunderte Felix etliche der Baumskulpturen, die Jakob fotografiert hatte – urzeitliche Riesen, die Formen angenommen hatten, die man heute kaum noch irgendwo sah. Er staunte über die Felsgebilde und Schluchten, über Aufnahmen seltener Pflanzen, doch dann rief er: »Wer ist das denn hier?«

»Wen meinst du?«, fragte Jakob betont gleichmütig.

»Die Frau hier, von der du eine ganze Serie fotografiert hast. Die Frau und den Jungen … Moment mal!«

Jakob sah seinen Freund näher an die Fotos herangehen, eins nach dem anderen betrachten und sich dann mit fassungslosem Blick umwenden.

»Ich wusste nicht, dass du neuerdings auch Fotos für die Boulevardpresse machst, Jakob.«

»Für die Boulevardpresse? Wie kommst du denn auf die Idee?«, fragte Jakob aufrichtig erstaunt.

Felix tippte auf eins der Fotos von Caroline von Hessen. »Na, was soll das hier denn sonst sein? Allerdings wäre ich vorsichtig mit einer Veröffentlichung, in der Regel wird sofort geklagt.«

Jakob verstand immer weniger, wovon sein Freund sprach. »Ich weiß nicht, was du meinst. Ich will kein einziges der Fotos veröffentlichen. Warum sollte ich?«

»Warum fotografierst du dann eine ganze Serie vom kleinen Fürsten?«, erkundigte sich Felix.

Jakob starrte ihn verständnislos an. »Vom kleinen Fürsten?«, fragte er.

Felix wandte seinen Blick wieder den Bildern zu. »Du willst mir jetzt aber nicht erzählen, dass du nur Augen für die Frau gehabt und nicht gemerkt hast, dass der Junge, mit dem sie sich unterhalten hat, Prinz Christian von Sternberg ist?«

Etwas klickte in Jakobs Kopf. Er trat zu seinem Freund und betrachtete nun ebenfalls die Fotos. Der Junge war ihm bekannt vorgekommen, aber er hatte ja tatsächlich nur Caroline von Hessen gesehen, und so war ihm nicht aufgefallen, wen er außerdem noch auf seinen Film gebannt hatte. Und nun erklärte sich natürlich auch die zunächst übertrieben erscheinende Reaktion der jungen Frau. Sie war nicht ihretwegen so erbost gewesen, sondern wegen des Jungen. Sie hatte angenommen, Jakob sei einer von denen, die nur auf der Lauer lagen, um lohnende Motive ›abzuschießen‹. Ihm stieg noch im Nachhinein die Schamesröte ins Gesicht. Für ›so einen‹ hatte sie ihn also gehalten, deshalb hatte sie ihn als Spanner beschimpft …

»Du hattest tatsächlich keine Ahnung?«, fragte Felix, der ihn beobachtet hatte.

»Nicht die geringste.« Jakob lächelte verlegen. »Du hast das schon richtig vermutet, der Junge hat mich überhaupt nicht interessiert, mir ging es nur um die Frau. Ich hatte sie zufällig einige Tage zuvor im Informationszentrum gesehen, sie hat mich sofort fasziniert, aber ich konnte sie nicht ansprechen, weil ich …, weil ich nicht allein war. Und dann habe ich sie also wiedergesehen und die Gelegenheit genutzt, allerdings ohne vorher ihre Erlaubnis einzuholen.«

Da er nun schon einmal begonnen hatte, erzählte er Felix auch noch den Rest der Geschichte. Er schonte sich nicht, beschrieb in drastischen Worten, wie er die Flucht ergriffen hatte. »Du glaubst nicht, wie ich mich geschämt habe, Felix. Ich wollte ihr erklären, dass sie mich falsch einschätzt, dass sie sich irrt, aber sie ist auf mich losgegangen wie eine Wildkatze. Du hättest sie sehen sollen. Jetzt verstehe ich das erst: Sie wollte den Jungen verteidigen.«

»Und was machst du jetzt mit den Bildern?«, fragte Felix. »Als ewiges Mahnmal aufheben, damit du nie wieder heimlich Fotos von jemandem machst?«

»Mal sehen«, antwortete Jakob. »Ich weiß ja erst seit einigen Minuten, wen ich da unabsichtlich fotografiert habe. Darüber muss ich erst einmal nachdenken, bevor ich eine Entscheidung fälle, wie ich damit umgehe.«

»Dann lass uns jetzt Pizza essen gehen«, schlug Felix vor. »Oder hat es dir den Appetit verschlagen?«

»Ein bisschen schon«, gestand Jakob. »Du bist sicher, dass der Junge auf den Bildern der kleine Fürst ist?«

»Hundertprozentig sicher«, erklärte Felix. »Sieh ihn dir doch an! Erkennst du ihn etwa nicht? Du hast doch auch schon Fotos von ihm gesehen.«

Jakob nickte ergeben. »Ja, ja, du hast Recht. Aber es wäre sehr schön gewesen, wenn du dich geirrt hättest. Ich muss das irgendwie wieder in Ordnung bringen, denke ich.«

»Du kennst die Familie doch überhaupt nicht. Vergiss die Sache, sie werden sie irgendwann auch vergessen, und spätestens in einem Jahr denkt niemand mehr daran.«

Jakob sah das anders, doch er widersprach seinem Freund nicht. Er würde, sobald er wieder allein war, noch einmal in aller Ruhe über die Angelegenheit nachdenken.

*

Der Abschied fiel herzlich aus. Caroline wurde von vielen aus Christians Klasse umarmt, sie bekam jede Menge Komplimente zu hören, und sie stellte fest, dass sie das Ende der gemeinsamen Zeit aufrichtig bedauerte. Christian flüsterte ihr zum Abschied zu: »Komm uns doch mal besuchen, wenn du bei uns in der Nähe bist. Sternberg ist eine Reise wert, und ich glaube, meine Familie würde sich freuen, dich kennen zu lernen.«

»Wenn es sich einrichten lässt, mache ich das vielleicht sogar, Chris«, erklärte Caroline, obwohl sie genau wusste, dass sie es nicht tun würde. Sie kannte solche Einladungen, die im Überschwang der Gefühle ausgesprochen wurden und im selben Moment auch ernst gemeint waren. Aber ein halbes Jahr später war das Leben weitergegangen und die Woche im Kellerwald nicht viel mehr als eine ferne Erinnerung.

Sie winkte dem Bus nach, dann fuhr sie ins Informationszentrum und klopfte an die Tür zum Büro ihres Chefs.

Henning Kuhlmann sah ihr gespannt entgegen. »Setz dich«, sagte er, »du hättest dich zwischendurch ruhig öfter mal melden können.«

»Ich war schwer beschäftigt, Henning, aber ich muss sagen, das war eine ausgesprochen nette Gruppe. Solche hätte ich gern öfter. Und alle haben durchgehalten bis zum Schluss, sogar die mit dem untauglichen Schuhwerk, in dem sie sich Blasen gelaufen haben.«

»Und Christian von Sternberg?«

Sie zögerte. Von dem nächtlichen Erlebnis mit dem Fotografen hatte sie ihm bei ihren kurzen Telefonaten zwischendurch noch nichts erzählt, und sie war auch jetzt noch nicht sicher, ob sie es überhaupt erwähnen sollte. Henning würde sich nur darüber aufregen. Aber es war zu spät, ihr Zögern hatte ihn aufmerksam gemacht.

»Heraus mit der Sprache!«, forderte er energisch. »Was ist passiert?«

Also erzählte sie ihm, wie sie den Fotografen in die Flucht geschlagen hatte. Zu ihrer Erleichterung fing er an zu lachen, statt sich aufzuregen. »Das hätte ich gern gesehen und gehört, wie du den Mann verfolgt und beschimpft hast«, lachte er. »Dem hast du bestimmt einen Heidenschrecken eingejagt. Ich erinnere mich, als ich dich das erste Mal so wütend erlebt habe. Da bin ich ja aus dem Staunen gar nicht mehr herausgekommen. Dass du temperamentvoll bist, wusste ich, aber was da zum Vorschein kam, war ein richtiger Vulkan …«

Caroline grinste verlegen. »Erinnere mich bitte nicht daran, ich bin nicht stolz darauf. Außerdem gerate ich nur noch selten so außer mir. Aber sich spätabends auf die Lauer zu legen und zu fotografieren, das hat mich wirklich zornig gemacht. Außerdem hatte ich den Typen vorher schon mal gesehen, hier im Zentrum. Allerdings dachte ich da, er wollte vielleicht mit mir flirten, weil er mich nicht aus den Augen gelassen hat.«

»War er attraktiv?«

»Ja«, antwortete Caroline ohne zu zögern. »Ich fand ihn sehr attraktiv, jedenfalls in dem Moment. In der Nacht dann überhaupt nicht mehr, da fand ich ihn nur noch eklig, aber vorher …«

»Schade, dass wir nicht wissen, wer der Kerl ist«, sagte Henning. »Es ist immer gut, wenn man ihre Gesichter kennt, dann haben sie es nicht mehr ganz so leicht, ihrem Geschäft nachzugehen.«

»Er wird nicht wiederkommen, Henning«, meinte Caroline. »Der kleine Fürst ist abgereist, und andere Prominente verirren sich ja eher selten hierher. Hier ist kein gutes Pflaster für Paparazzi.«

»Zum Glück«, seufzte Henning.

»Ich fahre dann mal nach Hause, Wäsche waschen und ein paar Tage lang meine Wohnung genießen«, sagte Caroline. »Die nächste Gruppe kommt ja schon nächste Woche.«

»Aber nur drei Tage, oder?«

Sie nickte. »Ich freue mich, mal wieder zu Hause zu sein. Weißt du, ich bin ja gern unterwegs, und die letzten Tage habe ich wirklich genossen, aber es ist auch anstrengend, acht bis zehn Stunden jeden Tag Fragen zu beantworten und sich Geschichten anhören zu müssen. Ich werde jetzt erst einmal die Stille genießen.«

»Dann viel Spaß dabei, Caro.«

*

Zwei Tage nach seiner Rückkehr nach Sternberg gab der kleine Fürst Ferdinand von Stade das vereinbarte Interview. Der junge Journalist kam zu diesem Zweck ins Schloss, darum hatten Baronin Sofia und Baron Friedrich gebeten. Und sie hatten darauf bestanden, gemeinsam mit Anna, Konrad und Barbara von Kreyenfelss in Hörweite bleiben zu dürfen, um gegebenenfalls eingreifen zu können, wenn sie das Gefühl hatten, dass der Junge zu viel von sich preisgab.

Doch diese Sorge hätten sie nicht haben müssen. Christian war durch die gründliche Vorarbeit der Anwälte bestens auf diesen Termin vorbereitet. Er wirkte offen und verletzlich, war aber zugleich konzentriert und präzise in seinen Antworten. Als Ferdinand von Stade die Frage stellte, ob er schon einmal auf den Gedanken gekommen sei, sein Vater könnte seine Mutter tatsächlich betrogen haben, hielten seine Zuhörer den Atem an.

»Ja«, antwortete der kleine Fürst. Er war blass, wirkte aber ruhig und gelassen. »Natürlich bin ich auf diesen Gedanken schon gekommen. Viele Männer betrügen ihre Frauen, warum also nicht auch mein Vater? Aber wenn er es getan hätte, hätte er es meiner Mutter irgendwann erzählt. Und wohl auch uns anderen. Er konnte nicht lügen. Selbst wenn er mal versucht hat zu schwindeln, hat er schon kurz darauf alles zugegeben. Er konnte sich nicht verstellen. Jeder, der ihn kannte, wird Ihnen das bestätigen. Und ein Mann, der nicht lügen kann, kann nicht fast zwanzig Jahre lang ein solches Geheimnis für sich behalten. Wenn ich wieder einmal an ihm zweifele, dann denke ich daran, dass er nicht lügen konnte, und dann verschwinden die Zweifel sofort.«

»Ein Beweis ist das nicht«, stellte Ferdinand von Stade fest.

»Beweise hat auch Frau Roeder bisher nicht vorgelegt«, erwiderte der Junge.

Der Journalist beugte sich vor. »Würden Sie mir davon erzählen?«, bat er.

»Sie hat uns Fotos geschickt, auf denen sie zusammen mit meinem Vater zu sehen ist, aber es können Fotomontagen sein, das lässt sich nicht feststellen. Und dann hat sie die Kopie eines Briefs geschickt, den angeblich mein Vater an sie geschrieben hat.«

»Und?«

»Zwei Gutachter haben gesagt, es sei seine Schrift.«

»Spricht das nicht gegen Ihren Vater?«

Der kleine Fürst nickte nachdenklich, bevor er seine nächste Antwort gab. Über diesen Teil des Interviews hatte er besonders lange mit den Anwälten gesprochen. Was Ferdinand von Stade nicht wusste, war, dass zur Stunde die Anzeige bei der Polizei einging, die die Sternberger gegen Corinna Roe­der erhoben hatten. »Es spräche gegen meinen Vater«, sagte er ruhig, »wenn nicht auf dem Computer eines Mannes, den Frau Roe­der regelmäßig aufgesucht hat, eine Schriftprobe meines Vaters gefunden worden wäre. Dieser Mann beschäftigt sich unter anderem mit der Herstellung von Fotomontagen. Wenn Sie so wollen also: mit Fälschungen.«

Ferdinand von Stade beugte sich vor. Diese Aussage war eine Sensation, denn zum ersten Mal ließen die Sternberger sich in die Karten blicken. Von diesem Mann war bisher nirgends die Rede gewesen. »Und dafür gibt es Zeugen?«, fragte er, mühsam seine Aufregung unterdrückend. »Dass Frau Roeder Kontakt mit diesem Mann hatte?«

»Dazu möchte ich mich nicht äußern«, erklärte Christian. »Es ist jedenfalls nicht alles so eindeutig und klar, wie es für manche bis jetzt vielleicht ausgesehen hat.«

»Das mag sein. Aber Sie sind natürlich befangen, als Sohn des Mannes, um den es hier geht. Es ist klar, dass Sie Partei für ihn ergreifen.«

»Mein Vater ist von sehr vielen Menschen verehrt und geliebt worden«, sagte der kleine Fürst, »viele verehren und lieben ihn noch heute. Wer ihn kannte, weiß, dass mein Bild von ihm nicht falsch ist. Und wer ihn nicht kannte, sollte sich nicht auf die Aussagen einer Frau verlassen, der es nur ums Geld geht.«

Barbara von Kreyenfelss stieß kaum hörbar die Luft aus und murmelte Sofia zu: »Er macht das großartig, besser kann man es gar nicht machen.«

Die Baronin nickte. Sie hatte Tränen in den Augen, so sehr wühlte das Gespräch, das ihr Neffe mit dem Journalisten führte, sie auf. Lisa, dachte sie, du wärst sehr stolz auf deinen Sohn, wenn du ihn jetzt sehen und hören könntest.

Anna war sehr blass, ihre beiden Hände waren zu Fäusten geballt. Auch Konrad wirkte angespannt, aber beide ließen ihren Cousin nicht aus den Augen, als könnten sie ihm auf diese Weise Kraft spenden.

Wenig später war das Interview beendet. Ferdinand von Stade bedankte sich bei Christian und auch bei Baronin Sofia und Baron Friedrich. »Wir bringen das Interview übermorgen«, sagte er. »Ich lege Ihnen die Druckfassung morgen vor, wie vereinbart.«

Als er sich verabschiedet hatte, umarmte Sofia ihren Neffen. »Gut gemacht, Chris«, sagte sie.

Barbara von Kreyenfelss reichte Christian feierlich die Hand. »Sie werden ein würdiger Nachfolger Ihres Vaters sein, Prinz Christian«, sagte sie ernst. »Es ist mir eine Ehre, für Sie arbeiten zu dürfen.«

Nach diesen Worten ging sie. Wenig später veröffentlichte die erste Nachrichtenagentur, dass Prinz Christian von Sternberg, vertreten durch seine Tante Sofia von Kant und deren Mann, Friedrich von Kant, Anzeige gegen Corinna Roe­der erstattet hatte, wegen Verleumdung und Betrugs und zahlreicher weiterer Vergehen, sowie gegen einen gewissen Bodo Kleinert wegen Beihilfe zum Betrug.

Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile, und mit einem Mal schien sich der Wind in der Sache ›Roeder gegen Sternberg‹ gedreht zu haben.

*

Bodo Kleinert ließ sich widerstandslos von zwei Polizeibeamten abführen, wobei er beteuerte, keine Ahnung zu haben, was man ihm eigentlich vorwerfe. Die Polizei beschlagnahmte sämtliche Computer, die sich in der Werkstatt des Buchbinders fanden – und das bedeutete, dass diese nach dem Einsatz mehr oder weniger leer war. Begleitet wurde die Aktion von einem riesigen Presseaufgebot.

Ebenso verlief der Einsatz bei Corinna Roeder, die ebenfalls zur Vernehmung ins Polizeipräsidium gebracht wurde. Sie wirkte blass, aber gefasst und äußerte sich vor der Presse nicht. Ihr Anwalt ließ verlauten, die Aktion werde bald im Sande verlaufen, denn in Wirklichkeit habe man nichts gegen seine Mandantin in der Hand.

Auch die Sternberger hüllten sich in Schweigen, niemand wollte einen Kommentar abgeben, und so kochte die Gerüchteküche beinahe über. Lediglich der Polizeisprecher gab eine kurze Erklärung ab: Gegen Bodo Kleinert sei Anzeige erstattet worden, ebenso gegen Corinna Roeder, beide würden jetzt erst einmal vernommen, anschließend jedoch vermutlich wieder auf freien Fuß gesetzt, von einer Verhaftung könne keine Rede sein. Man habe die Ermittlungen ja gerade erst aufgenommen, es bestehe ein Anfangsverdacht. Nein, zu einer Verbindung zwischen Frau Roeder und Herrn Kleinert wolle man sich nicht äußern.

Einen Tag später erschien in der Süddeutschen Allgemeinen Zeitung das Interview, das der kleine Fürst Ferdinand von Stade gegeben hatte. Es hätte zu jedem denkbaren Zeitpunkt für großes Aufsehen gesorgt, doch nun schlug es ein wie eine Bombe, und tatsächlich geschah, was Christian und seine Familie sich erhofft hatten: Die Stimmung begann sich einmal mehr zu drehen. Viele Menschen, die längst auf der Seite Corinna Roeders gewesen waren, schwenkten wieder um angesichts der klaren Antworten des fünfzehnjährigen Fürstensohnes, der auch dann nicht auswich, wenn ihm eine Frage unangenehm war. ›Der kleine Fürst‹ war auf einmal wieder in aller Munde, und nicht wenige Leute schämten sich, an seinem Vater gezweifelt zu haben, zumal Corinna Roeders Vernehmung daraufhin zu deuten schien, dass sie vielleicht doch etwas zu verbergen hatte.

»Der Fall ist praktisch entschieden«, verkündete ein Nachrichtensprecher abends in den Fernsehnachrichten, und so dachten die meisten.

Auf Schloss Sternberg kehrte zum ersten Mal seit Wochen so etwas wie Ruhe ein. Hoffnung auf eine baldige Aufklärung der Affäre hatte es zwischendurch immer wieder gegeben, aber nie schien das glückliche Ende näher gewesen zu sein als jetzt. Christian verbrachte viel Zeit auf dem Hügel, vor der Gruft seiner Eltern, zumal er sie in der Woche am Edersee nicht hatte besuchen können. Er fühlte sich von einer schweren Last befreit, stets kehrte er mit einem Lächeln ins Schloss zurück.

Einige Tage nach dem Erscheinen des Interviews und den Vernehmungen von Corinna Roeder und Bodo Kleinert, die zunächst einmal nichts erbracht hatten, sagte die Baronin, als ihr Neffe wieder einmal von einem Besuch auf dem Hügel zurückkehrte: »Du hast Post bekommen, Chris, von einem Mann namens Jakob von Falckenberg.«

»Wer ist das?«, erkundigte sich der kleine Fürst.

»Das wollte ich dich gerade fragen. Es ist ein ziemlich dickes Päckchen.« Die Baronin zögerte. »Wenn du den Mann gar nicht kennst, sollten wir vielleicht vorsichtig sein. Seit die Wellen so hochschlagen, kann man ja nicht sicher sein, dass nicht irgendein Verrückter auf dumme Ideen kommt.«

»Dann hätte er bestimmt nicht seinen Absender auf das Päckchen geschrieben, Tante Sofia«, widersprach Christian. Er hatte die Verpackung bereits aufgerissen und hielt nun einen Stapel Fotos in den Händen, sowie mehrere Streifen Negative. Erstaunt betrachtete er die Fotos. »Das glaube ich einfach nicht!«, rief er.

Seine Tante nahm ihm die Fotos auf der Hand. »Das ist ja Caroline von Hessen, mit der du dich da unterhältst«, sagte sie.

Der Junge nickte. »Wir haben uns eines Abends ziemlich spät noch unterhalten, dabei hat uns ein Fotograf aufgenommen. Sie ist ziemlich wütend auf ihn losgegangen, er konnte aber entwischen. Ich habe euch das nicht erzählt, um euch nicht zu beunruhigen.«

»Und das sind die Fotos, die er gemacht hat?«

»Scheint so. Sieht aber eher so aus, als hätte er die Fotos von ihr gemacht und nicht von mir, oder?«

»Allerdings«, murmelte die Baronin.

»Warte mal, hier ist auch noch ein Brief.«

Es war ein nicht sehr langes Schreiben, das Christian rasch überflog. Als er aufsah, lächelte er. »Das ist ja ein Ding«, sagte er.

»Was denn?«

»Lieber Prinz Christian, verzeihen Sie die vielleicht zu vertrauliche Anrede, aber ich habe Ihr Gesicht in den letzten Tagen so oft in meiner Dunkelkammer gesehen, dass Sie mir mittlerweile wie ein sehr guter Bekannter vorkommen. Es gibt einiges, das ich erklären muss, aber zu allererst möchte ich mit dem Missverständnis aufräumen, dass ich ein ›Spanner‹ bin oder ein Paparazzo, der Ihnen und Caroline von Hessen aufgelauert hat, um sie zu fotografieren und die Fotos dann meistbietend zu verkaufen.

Es war ganz einfach so, dass ich Frau von Hessen bereits vorher einmal gesehen hatte und fasziniert von ihr war. Normalerweise frage ich in solchen Fällen, ob ich ein paar Fotos machen darf, das ging in diesem Fall nicht, weil ich nicht allein war – und dann war mein wunderschönes Motiv auch schon weggegangen. Ich konnte jedoch ermitteln, wie sie heißt und dass sie als nächstes eine Gruppe Jugendlicher aus Süddeutschland führen würde, und die geplante Tour bekam ich auch heraus. Der Abend, an dem ich Sie mit ihr auf der Terrasse stehen sah, war ein unverhofftes Geschenk für mich. Wie gesagt, normalerweise hätte ich um Erlaubnis gebeten, aber stattdessen habe ich einfach die Gunst der Stunde genutzt – und mich, während ich fotografierte, in mein Motiv verliebt. Es kränkt Sie hoffentlich nicht, wenn ich gestehe, dass Sie mir dabei kaum aufgefallen sind. Und hätte nicht ein Freund mir gesagt, wen ich da so ganz nebenbei auch noch fotografiert hatte, ich wüsste es wohl jetzt noch nicht.

Unter diesen Umständen möchte ich die Fotos nicht behalten, zumal ich es mir mit Frau von Hessen wohl für immer und ewig verdorben habe. Jedenfalls schicke ich Ihnen sämtliche Abzüge – bis auf einen, den ich zur Erinnerung behalte – und die Negative zur weiteren Verwendung. Außerdem bitte ich vielmals um Entschuldigung dafür, dass ich Ihnen beiden ›aufgelauert‹ habe. Es tut mir unendlich leid, dass dabei ein falscher Eindruck entstanden ist. Es lag mir wirklich fern, jemanden zu verletzen oder mich an Bildern von Ihnen zu bereichern.

In der Hoffnung, dass Sie mir verzeihen, verbleibe ich mit freundlichen Grüßen Ihr Jakob von Falckenberg.« Christian sah seine Tante an. »Er hat sich in Caroline verliebt«, sagte er. »Deshalb hat er sie fotografiert. Es ging überhaupt nicht um mich, Tante Sofia.«

»Ein erstaunlicher Brief«, stellte die Baronin fest. »Er wirkt ehrlich.«

»Ich rufe ihn an«, beschloss der kleine Fürst. »Und dann …« Er verstummte und lächelte plötzlich in sich hinein.

»Und dann?«, fragte die Baronin.

Er sagte ihr, welche Idee ihm gerade gekommen war, und sie brachte es nicht über sich, ihm seine Bitte abzuschlagen. Endlich beschäftigte ihn wieder einmal etwas anderes als die angebliche Affäre seines Vaters, das wollte sie ihm nicht kaputt machen.

»Du kannst es ja versuchen«, sagte sie. »Wenn es klappt, spiele ich mit, und die anderen tun das sicherlich auch.«

Er umarmte sie dankbar und eilte hinaus. Togo, der draußen in der Eingangshalle auf ihn gewartet und auf einen Spaziergang im Park gehofft hatte, winselte kläglich, als der kleine Fürst nach oben lief.

Das sah nicht nach einem Spaziergang aus.

*

»Was hat er gesagt?«, fragte Patrick Herrndorf besorgt, als Corinna mit blassem, verschlossenem Gesicht aus dem Büro des Direktors zurückkehrte. »Er hat dich doch nicht etwa entlassen?«

Sie schüttelte den Kopf. Als sie die Tür zu ihrem Büro öffnete, folgte er ihr. »Darf ich? Oder willst du lieber allein sein?«

»Im Gegenteil, ich will jetzt auf keinen Fall allein sein.« Ihre Stimme zitterte kaum merklich. »Er hat mich nicht entlassen, Patrick, aber er hat mir gesagt, dass es dem Hotel auf Dauer schadet, wenn ich schlechte Presse habe. Noch ist es nicht so, weil viele Leute unbedingt einen Blick auf die Frau werfen wollen, die den Vater des kleinen Fürsten zu Unrecht beschuldigt hat, aber …« In ihre Augen traten Tränen.

Er musste an sich halten, um sie nicht in die Arme zu nehmen. »Du weißt doch, wie schnell sich die öffentliche Meinung ändert«, sagte er besänftigend. »Die ganze Zeit war die Stimmung eher für dich, jetzt dreht sie sich ein bisschen, aber das geht bald wieder anders herum. Die Polizei hat doch praktisch schon zugegeben, dass sie nichts gegen dich in der Hand haben.«

»Wie denn auch?«, rief sie verzweifelt. »Ich sage doch die Wahrheit, sie KÖNNEN überhaupt nichts gegen mich in der Hand haben.«

»Dann versuch, dich zu beruhigen«, riet er. »Lass dir nicht anmerken, wie es in dir aussieht. Bisher hat das Hotel nur Nutzen aus deiner Geschichte gezogen, und das weiß der Chef auch ganz genau.«

Sie nickte, aber ihre Augen waren immer noch feucht. »Du bist ein echter Freund, Patrick, ich werde dir das nie vergessen«, sagte sie leise.

Nun umarmte er sie doch, aber nur ganz leicht und nur sehr kurz. Danach verließ er schnell ihr Büro, damit sie nicht merkte, wie sehr es ihn aufwühlte, ihr so nahe zu kommen. Er musste gut auf sich aufpassen, sonst verliebte er sich am Ende doch noch in sie, und das konnte, wie er sich ja schon oft genug klar gemacht hatte, eigentlich nur schief gehen.

*

»Ich kann es noch immer nicht richtig glauben, dass ich jetzt hier sitze und mit Ihnen allen Tee trinke«, sagte Jakob. »Schloss Sternberg ist schließlich berühmt, ich hatte mir schon oft vorgenommen, es mir einmal aus der Nähe anzusehen, aber es ist immer beim Vorsatz geblieben. Ich danke Ihnen sehr für die Einladung.«

»Wir duzen uns mit allen Gästen«, klärte Anna ihn auf. »Mama und Papa nicht, aber Chris, Konny und ich. Was hast du dir gedacht, als Chris dich angerufen hat?«

»Anna, du bist vorlaut«, rügte die Baronin. »Vielleicht möchte Herr von Falckenberg sich gar nicht mit euch duzen.«

»Doch, gerne, Frau von Kant, es fällt mir, ehrlich gesagt, schwer, Jugendliche zu siezen.« Jakob wandte sich Anna zu. »Ich bin aus allen Wolken gefallen, was dachtest du denn? Zuerst habe ich sogar überlegt, ob mich vielleicht jemand auf den Arm nimmt – aber er hat dann ja meinen Brief zitiert, und da war ich ziemlich sicher, dass er der ist, der er behauptet zu sein.« Er lächelte Christian zu. »Nochmals vielen Dank, Chris, dass du mir nicht mehr böse bist. Die Entdeckung, wen ich da zusammen mit Frau von Hessen fotografiert hatte, war ein ziemlicher Schock für mich.«

Eberhard Hagedorn erschien an der Tür und räusperte sich kurz. »Frau Baronin, Herr Baron«, sagte er, »es wäre dann so weit …«

Christian sprang auf. »Komm mit, Jakob, wir haben dir doch eine Überraschung versprochen.«

Jakob erhob sich. »Ich bin aufrichtig gespannt«, sagte er.

»Du musst Herrn Hagedorn folgen«, erklärte Christian. »Wir anderen bleiben hier.«

Fragend sah Jakob Baronin Sofia und Baron Friedrich an. »Wissen Sie, worum es bei dieser Überraschung geht?«, erkundigte er sich.

»Ja, und Sie brauchen keine Angst zu haben«, antwortete der Baron mit breitem Lächeln.

Jakob folgte also dem alten Butler mit dem sympathischen Gesicht und den klugen Augen, der zu seinem Erstaunen das Hauptportal öffnete. »Es ist Besuch angekommen, mit dem Sie einiges zu klären haben, Herr von Falckenberg«, sagte er. »Ein Spaziergang im Schlosspark würde sich für das Gespräch sicherlich anbieten, das Wetter lässt das ja heute zu.«

Jakob trat aus dem Gebäude und fing an zu blinzeln, als er sah, wer soeben aus einem Auto stieg und auf ihn zukam: Es war Caroline von Hessen. Sie schien ebenso unvorbereitet zu sein wie er, denn sie blieb wie angewurzelt stehen, als sie ihn erkannte.

»Was soll das denn?«, fragte sie. »Ich …« Sie brach ab, sichtlich verwirrt. »Ich glaube, Sie sind mir ein paar Erklärungen schuldig«, sagte sie schließlich.

»Gerne«, erwiderte er. »Wollen wir in den Park gehen?«

»Ich weiß nicht, ich werde erwartet, ich bin eingeladen worden …, wobei mir das schon ein wenig seltsam vorkam. Christian von Sternberg sprach von einer Überraschung …«

»Ich nehme an, die Überraschung bin ich«, erklärte Jakob. »Mich haben sie auch hierhergelockt, jetzt wird mir einiges klar. Ich glaube, sie wollten uns nur helfen, uns auszusprechen.«

»Auszusprechen?«, fragte Caroline, und ihr Gesichtsausdruck wurde abweisend. »Ich wüsste nicht, warum ich mich mit Ihnen aussprechen sollte.«

»Gehen wir? Ich erkläre Ihnen alles.«

Widerwillig folgte sie ihm in den Schlosspark. Er begann ein wenig überstürzt mit seinen Erklärungen, aber schon bald wurde er ruhiger, als er merkte, wie aufmerksam sie ihm zuhörte und dass alle Feindseligkeit aus ihren Zügen wich. Sie lächelte sogar, als er ihr seine Verzweiflung nach dem missglückten nächtlichen Abenteuer beschrieb. »Am Tag darauf bin ich abgereist, habe die Bilder entwickelt, und dann kommt zufällig ein Freund vorbei und fragt mich, ob ich überhaupt eine Ahnung hätte, wen ich da fotografiert habe – außer Ihnen, meine ich. Ich hatte wirklich nur Augen für Sie.«

Er beschrieb ihr auch noch, wie die Geschichte weitergegangen war und schloss mit den Worten: »Jedenfalls hat Christian mich angerufen und mir gesagt, ich müsste unbedingt herkommen, seine Tante und sein Onkel bestünden darauf, mich kennen zu lernen. Na ja, ich hatte ja noch Urlaub, weil ich zu früh aus dem Kellerwald abgereist war, also habe ich mich auf den Weg nach Sternberg gemacht. Und jetzt laufe ich mit Ihnen durch den Schlosspark, wo ich eigentlich davon ausgegangen bin, Sie nie wiederzusehen.«

»Geben Sie immer so schnell auf?«, fragte sie.

»Aufgeben? Na, hören Sie mal, nachdem Sie mir das Gesicht zerkratzt und auch sonst ziemlich deutlich gemacht hatten, was Sie von mir hielten …«

»Es tut mir leid«, sagte sie mit überraschend sanftem Lächeln. »Ich war furchtbar sauer, weil ich dachte, Sie hätten schon im Informationszentrum nur wegen Christian auf der Lauer gelegen, wo ich doch insgeheim gehofft hatte, Sie hätten sich für mich interessiert.«

»Das haben Sie gehofft?«, fragte Jakob. Sein Herz schlug schneller. »Aber das hieße ja …, das hieße ja …«

Sie blieb stehen und sah ihn an. »Ja, natürlich, das heißt es ja auch«, sagte sie. »Du bist mir nicht aus dem Kopf gegangen, und dann ertappe ich dich dabei, wie du Fotos vom kleinen Fürsten machst. Wundert es dich da, dass ich sauer geworden bin?«

Er legte den Kopf in den Nacken und begann zu lachen. Es war ein lautes, glückliches, erleichtertes Lachen, mit dem die Anspannung der letzten Woche endlich von ihm wich. Alle Gedanken, die er sich gemacht hatte, seine Scham, seine Reue, sein Zorn – alles war ganz überflüssig gewesen. Er hätte diese eigenwillige junge Frau nur dazu bringen müssen, ihm zuzuhören und ihm seine Geschichte zu glauben.

»Bist du bald fertig mit Lachen?«, fragte sie.

Er gluckste noch immer leise, als er sie in die Arme nahm und an sich zog. »Caroline von Hessen«, murmelte er, bevor er sie küsste, »ich wusste sofort, dass ich dich kennen lernen wollte.«

Ihr Mund öffnete sich willig unter seinem Kuss, sie erwiderte seine Umarmung und schmiegte sich an ihn. Noch immer konnte er es kaum glauben, dass er die Frau in seinen Armen hielt, die ihn seit ihrer ersten Begegnung nicht aufgehört hatte zu beschäftigen.

Sie löste sich ein wenig von ihm. »Sind die Fotos eigentlich gut geworden?«, flüsterte sie.

»Hinreißend«, antwortete er, bevor er sie erneut küsste.

*

Der kleine Fürst kam mit einem Lächeln auf den Lippen vom Hügel zurück, wo er seinen Eltern ausführlich Bericht erstattet hatte über die neuesten Entwicklungen – vor allem, so weit sie Caroline und Jakob betrafen. Es hatte ihm gutgetan, endlich wieder einmal von einer Liebesgeschichte zu berichten, und er war fest davon überzeugt, dass auch seine Eltern sich über die Neuigkeiten, die er ihnen gebracht hatte, freuten. Sie hatten ihm zum Zeichen, dass sie ihn gehört hatten, einige wunderschöne Sternschnuppen geschenkt.

In Gedanken war er noch auf dem Hügel, als er sich dem Hauptportal näherte, und erst da merkte er, dass noch ein später Besucher gekommen war: Kriminalrat Overbeck eilte vom Parkplatz herüber.

Der kleine Fürst blieb stehen, noch immer das Lächeln auf dem Gesicht. »Gibt es Neuigkeiten, Herr Overbeck?«, rief er.

Erst als der Kriminalrat direkt vor ihm stand, sah Christian, wie ernst der Mann aussah, wie besorgt. »Was ist denn?«, fragte er ängstlich.

Das Hauptportal wurde geöffnet, Eberhard Hagedorn erschien und mit ihm die ganze Familie. »Neuigkeiten, Herr Overbeck?«, fragte auch der Baron.

Der Kriminalrat holte tief Luft. »Schlechte Neuigkeiten für Sie, fürchte ich. Wir haben auf keiner Festplatte von Bodo Kleinert belastendes Material gefunden. Den Brief des Fürsten erklärt er damit, dass er ein Buch über ihn schreiben wolle und deshalb Material sammele.«

»Aber das ist doch gelogen!«, rief Anna erbost. »Das glauben Sie ihm doch wohl nicht etwa?«

»Ruhig, Anna«, bat die Baronin. »Das war noch nicht alles, Herr Overbeck, oder?«

»Wir konnten ferner nicht nachweisen, dass Frau Roeder und Herr Kleinert sich kennen. Es gibt buchstäblich niemanden, der die beiden jemals zusammen gesehen hat.«

»Aber Frau von Orth hat doch …«

»Tut mir leid, Baronin von Kant, aber sowohl Frau Roeder als auch Herr Kleinert sagen, dass sie einander nie im Leben gesehen haben. Das sind zwei Aussagen gegen eine. Außerdem muss Frau von Orth ab sofort sehr vorsichtig sein.«

»Warum denn?«, fragte Konrad.

»Herr Kleinert hat Anzeige wegen Einbruchs und Diebstahls wichtiger Daten erstattet«, antwortete Volkmar Overbeck. »Von einer seiner Festplatten seien Daten kopiert worden. Die Anzeige erstreckt sich außerdem auf üble Nachrede und Verleumdung.«

Alle standen da wie angewurzelt und starrten den Polizeibeamten an. Christian war der Erste, der sich wieder rührte. Er rannte die Treppe hinauf, gleich darauf fiel oben mit gewaltigem Knall eine Tür ins Schloss.

Niemand sagte ein Wort.

Der kleine Fürst Staffel 14 – Adelsroman

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