Читать книгу Der kleine Fürst Staffel 15 – Adelsroman - Viola Maybach - Страница 6

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»Was ist eigentlich bei denen da drüben los?«, erkundigte sich Polizeiobermeisterin Lucia von Ballwitz bei ihrer Kollegin Mara Mellen, als sie zusammen in der Kantine zu Mittag aßen. »Man könnte meinen, die Kollegen von der Kripo hätten einen ganz großen Fang gemacht.«

Mara senkte die Stimme. »Haben sie auch. Letzte Nacht haben sie einen Hehlerring ausgehoben und angeblich Schmuck, Gemälde und andere Kunstgegenstände im Wert von über zehn Millionen gefunden.«

»Woher weißt du das denn schon wieder?«

Mara grinste. »Mein Spion.« Sie wurde gleich wieder ernst. »Sie haben eine Sondereinheit gebildet, die Niko von Hohenwege leitet, der Super-Kriminalist.«

»Ausgerechnet«, murmelte Lucia. »Dieser Kotzbrocken.«

»Du kennst ihn doch gar nicht, Lucia!«

»Schon allein, wie er immer guckt! So eiskalt, als sähe er durch die Menschen hindurch. Ich glaube, ich habe ihn noch nie lächeln sehen. Wahrscheinlich schläft er in seinem Büro, denn dass so jemand ein Privatleben hat, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.«

»Seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter halten viel von ihm, auch wenn er zu fast allen Distanz hält. Es heißt, dass keiner so viel arbeitet wie er und dass er nie ungerecht wird. Allerdings verlangt er vollen Einsatz von seinen Leuten.«

»Mir egal, ob er beliebt ist oder nicht, so lange ich bloß nichts mit ihm zu tun haben muss.«

»Ich dachte, du willst zur Kripo?« Mara zog fragend die Augenbrauen hoch.

»Will ich auch.« Lucia schob ihren Teller von sich.

Mara und sie hatten ihre Ausbildung gerade erst beendet, dies war ihr erstes Jahr als Polizistinnen. Sie fuhren Streife, machten Innendienst, sammelten verlorene Kinder wieder ein oder auch ein Haustier. Sie kümmerten sich um die Ausnüchterung von betrunkenen Randalierern, und nicht selten wurden sie gerufen, wenn aus einer Wohnung Schreie oder die Geräusche von Schlägen drangen oder wenn wieder einmal irgendwo eingebrochen worden war. Sie bildeten jeweils mit einem erfahrenen Kollegen ein Team, und bis jetzt fanden sie ihren Berufsalltag jeden Tag neu und aufregend.

»Ich will mal zur Mordkommission«, setzte Lucia hinzu.

»Nie im Leben würde ich das machen«, sagte Mara schaudernd. »Betrugsdezernat, das wäre vielleicht noch was, aber Mord? Geh mir los, da könnte ich ja nachts nicht mehr schlafen.«

Sie merkten nicht, wie viele Blicke auf ihnen ruhten, seit sie die Kantine betreten hatten. Von Anfang an waren sie aufgefallen, weil sie beide nicht nur ausnehmend hübsch waren, sondern außerdem die Ausbildung als Beste ihres Jahrgangs abgeschlossen hatten. Lucia hatte ein aufbrausendes Temperament, da sie jedoch eine sehr zierliche, schmale Blondine war, wurde sie von so manchem Mann völlig falsch eingeschätzt. Dabei verfügte sie sowohl über Stärke als auch über Zähigkeit und Ausdauer, ihrem zarten Aussehen zum Trotz. An ihrem Gesicht fielen zuerst die Augen auf, die je nach Stimmung und Lichteinfall blau oder grün schimmerten. Ihr Mund war jederzeit bereit, sich zu einem Lachen zu verziehen, aber wenn sie sich ärgerte, konnte sie erstaunlich laut werden.

Mara sah eher wie eine Südeuropäerin aus mit ihren dunkelbraunen Haaren, den dunklen Augen und der olivfarbenen Haut – tatsächlich hatte sie eine italienische Mutter. Anders als Lucia jedoch war sie eher ruhig. In der Arbeit war sie gründlich und überlegt, wodurch sie manchmal langsam wirkte, was sie aber gar nicht war.

»Was weißt du noch über diesen Hehlerring?«, fragte Lucia.

»Nicht viel«, antwortete Mara mit einem Achselzucken. »Ist alles geheim, ich musste schwören, mit niemandem darüber zu reden.«

»Ich bin also niemand?«

Sie lachten beide. »Du bist meine Freundin«, stellte Mara fest. »Und ich weiß, dass du nicht weiterträgst, was ich dir erzähle.«

»Wieso haben sie eine Sondereinheit gebildet?«

»Es heißt, dass da noch mehr zu holen ist. Außerdem wollen sie sichergehen, dass kein Unbefugter Zugang zu den Akten oder sichergestellten Wertgegenständen hat.« Mara sah Lucia bedeutungsvoll an. »Du weißt schon, wegen der Korruptionsgeschichte.«

Lucia seufzte. Niemand wusste etwas Genaues, aber es hieß, dass ein Kriminalkommissar jahrelang mit Kriminellen gemeinsame Sache gemacht hatte. Er war dabei reicher geworden als Polizisten normalerweise werden, und irgendwann war die Sache aufgeflogen. So jedenfalls gingen die Gerüchte. Genaueres war bisher nicht bekannt. Sie wussten nicht einmal, um welchen Kollegen es ging. »Schade«, sagte sie. »Ich hätte schon gerne mal gesehen, was im Laufe der Jahre so alles geklaut wird.«

»Ja, ich auch. Wollen wir?«

Lucia nickte. Sie hatte Innendienst diese Woche, Mara fuhr mit einem Kollegen Streife.

»Wollen wir nicht mal wieder ins Kino gehen oder so?«

»Gerne, nur nicht heute, ich bin einfach zu kaputt.«

»Ich eigentlich auch. Dann bis später oder bis morgen, falls wir uns nicht mehr sehen.«

Lucia verbrachte einen mäßig interessanten Arbeitstag an ihrem Schreibtisch. Viel lästiger Papierkram, der besonders gern den Anfängern überlassen wurde, wie sie mittlerweile wusste, ein paar aufgeregte Anrufe von Bürgern, die Verdächtiges beobachtet hatten, und ein Streit unter Kollegen, der lautstark ausgetragen wurde – mehr passierte nicht.

Als sie schließlich ihre Sachen packte, um nach Hause zu gehen, machte sie auf dem Weg zum Ausgang einen Umweg. Die Kriminalpolizei saß im selben Gebäude, aber in einem anderen Trakt. Manchmal durchquerte sie ihn, um die Atmosphäre dort aufzusaugen. Eines Tages würde sie dazugehören.

Auf dem Gang stand ein Farbkopierer, der gerade eifrig Kopien ausspuckte. Unwillkürlich verlangsamte Lucia ihre Schritte. Sie würde im Vorübergehen wenigstens einen Blick auf die Kopien werfen. Aus der offenen Tür in der Nähe des Kopierers hörte sie jemanden sagen: »Ja, die Kopien laufen gerade durch, die Fotos sind sehr gut geworden, darauf kannst du jede Einzelheit erkennen. Ich verteile sie gleich anschließend. Wie bitte? Ja, klar, gib mir zehn Minuten …«

Die Versuchung war einfach zu groß. Lucia blieb stehen und sah sich rasch um. Der Gang war leer, der Kollege telefonierte noch immer. Rasch griff sie nach den Kopien, um sie durchzusehen. Es waren Großaufnahmen von Schmuckstücken, ihr genügte jeweils ein kurzer Blick, um festzustellen, dass es sich um erlesene Arbeiten handelte. Broschen, Colliers, Ringe – ein Stück war schöner als das andere. Ob das alles zur Beute dieser aufgeflogenen Hehlerbande gehörte?

Der Kollege beendete sein Gespräch. Schnell schob sie die Kopien wieder zusammen und wollte weitergehen, als eine zornige Stimme sie aufhielt.

»Was haben Sie denn hier herumzuschnüffeln?«

Sie fuhr herum. Wie ein Racheengel stand Niko von Hohenwege vor ihr, und er war ausgesprochen schlechter Laune. Eine steile senkrechte Falte über der Nasenwurzel teilte seine Stirn in zwei Hälften, seine dunklen Augen waren anklagend auf sie gerichtet. Unwillkürlich zog sie die Schultern hoch. Ausgerechnet der, dachte sie. Wieso konnte er nicht eine Minute später auftauchen? Dann wäre ich längst weg gewesen.

»Ich kam hier nur vorbei und habe die Kopien gesehen«, sagte sie, wohl wissend, dass das keine befriedigende Erklärung und schon gar keine akzeptable Entschuldigung war. Die Reaktion des jungen Kriminalkommissars ließ nicht lange auf sich warten und zeigte ihr, dass ihre Einschätzung richtig gewesen war.

»Und da sind Sie gleich mal stehen geblieben und haben sich alles in Ruhe angesehen? Kopien in unserer Abteilung gehen Sie überhaupt nichts an, was Sie natürlich genau wissen. Wieso liegen die überhaupt unbeaufsichtigt hier herum?«

Seine Stimme donnerte so laut über den Gang, dass an mehreren Türen erschrockene Gesichter auftauchten. Auch der Kollege im benachbarten Büro erschien umgehend, ein großer Blonder mit einem sympathischen Gesicht und sehr blauen Augen. »Ich musste ans Telefon«, sagte er. »Tut mir leid, Niko, ich dachte, wir sind hier unter uns …«

»Du sollst nicht denken, sondern vorsichtig sein«, erwiderte der Kommissar streng. »Du siehst, wie schnell man falsch denkt.« Er wandte sich wieder Lucia zu. »Kommen Sie mal mit.«

»Wieso?« Alles in ihr sträubte sich dagegen, sich jetzt rügen zu lassen, obwohl sie natürlich wusste, dass sie sich, um es vorsichtig auszudrücken, nicht ganz korrekt verhalten hatte. Man schnüffelte nicht in den Unterlagen von Kollegen herum, schon gar nicht, wenn einen deren Ermittlungen nicht das Geringste angingen und wenn man wusste, dass sie an einer Sache arbeiteten, die vertraulich behandelt werden sollte.

»Weil ich es Ihnen sage«, erklärte er mit grimmigem Gesicht. »Oder wollen Sie, dass ich mich offiziell an höherer Stelle über Sie beschwere?«

»Ich habe im Vorbeigehen ein paar Fotos angesehen«, sagte sie mürrisch. »Ist das jetzt ein Kapitalverbrechen? Ich bin schließlich auch Polizistin. Was glauben Sie denn? Dass ich das, was ich gesehen habe, an die nächstbeste Zeitung verkaufe?« Sie wusste, dass ihr Ton unangemessen war, aber das Auftreten des Mannes reizte sie zum Widerspruch.

»Kommen Sie mit«, wiederholte er knapp und ging ihr voraus. Offenbar war er davon überzeugt, dass sie es nicht wagen würde, sich ihm zu widersetzen.

Einen kurzen Moment lang erwog sie genau das, sie hatte schließlich nichts getan. Es war lächerlich, wie er sich aufspielte, aber dann siegte doch die Vernunft, und sie folgte ihm. Die Sache war es nicht wert, sich deshalb größeren Ärger einzuhandeln. Er war Kommissar, sie war eine Anfängerin bei der Schutzpolizei, die Kräfte waren also ungleich verteilt.

Er bot ihr keinen Platz an, als sie sein Büro erreicht hatten. »Also, was hatten Sie hier zu suchen?«, fragte er.

Das werde ich dir gerade erzählen, dachte sie. Du wirst von mir nicht erfahren, dass die Kripo mein Traum ist, denn dann tust du garantiert alles, damit sich dieser Traum nie erfüllt. »Mein Dienst ist zu Ende, ich bin auf dem Heimweg«, erwiderte sie unwillig.

»Ich habe Sie schon öfter bei uns gesehen«, sagte er. Jetzt war er ganz ruhig, aber sein Blick hatte nichts von seiner Wachsamkeit verloren. »Wenn Sie auf dem Heimweg sind, dann führt dieser Weg Sie normalerweise nicht durch unseren Trakt. Ich frage Sie also noch einmal: Was haben Sie bei uns verloren?« Seine Stimme klang kühl, er hatte jetzt die Arme vor der Brust verschränkt.

»Was denken Sie denn?«, fragte sie hitzig. »Dass ich versuche, geheime Dokumente einzusehen und an diesem Wissen ein paar Leute teilhaben zu lassen, die etwas damit anfangen können?«

»Ich vermute bisher gar nichts, ich versuche, die Wahrheit herauszufinden.«

Ihr fiel der Korruptionsfall ein, über den sie mittags mit Mara gesprochen hatte. Dachte er etwa … Sie spürte, wie ihr die Gesichtszüge entgleisten. Heftig sagte sie: »Es gibt keinen besonderen Grund, weshalb ich diesen Weg genommen habe. Mehr gibt es nicht zu sagen.«

»Und wenn Ihnen bei Ihrem Gang über einen Flur Dokumente ins Auge fallen, sehen Sie sich die natürlich an, weil Sie ja Polizistin und deshalb von Natur aus neugierig sind.« Jetzt klang seine Stimme spöttisch.

»Ja, genau!« Sie war jetzt so wütend, dass sie innerlich zu zittern begann, aber sie wollte auf keinen Fall, dass er das merkte. Wie er schon dastand, mit diesen verschränkten Armen und dem verschlossenen Gesicht! Verbrechern konnte er mit seinem Auftreten vielleicht Angst einjagen, aber ihr nicht, sie hatte sich schließlich nichts zuschulden kommen lassen.

»Auch wenn Sie noch grün hinter den Ohren sind, muss ich Ihnen ja wohl nicht erklären, dass wir unsere Arbeit nur machen können, wenn nichts von unseren Erkenntnissen nach außen dringt. Es ist eine Katastrophe, wenn Sie Einblicke in unsere Ermittlungsarbeit gewinnen.«

»Ich habe nichts weiter gesehen als ein paar Fotos von Schmuckstücken, jetzt machen Sie mal einen Punkt! Irgendwann werden Sie mit Ihren Erkenntnissen sowieso an die Öffentlichkeit gehen müssen, wenn Sie die Eigentümer finden wollen. Jeder, der da vorbeikam, hätte die Fotos angesehen, Sie auch, das ist ein normaler menschlicher Reflex.«

»Wieso denken Sie, dass wir die Eigentümer der Schmuckstücke finden wollen?« Seine Augen wurden schmal, aller Spott war aus seiner Stimme verschwunden, jetzt klang sie nur noch kalt. »Und was wissen Sie von unseren Erkenntnissen?«

Zu spät erkannte Lucia, dass sie sich verplappert hatte. Beinahe wenigstens. Wenn Mara das wüsste … Hastig versuchte sie zu retten, was zu retten war. »Ich weiß gar nichts«, sagte sie im selben patzigen Tonfall wie zuvor, »aber ich kann zwei und zwei zusammenzählen. Sie werden ja nicht umsonst Fotokopien von Schmuckstücken machen.«

Seine Augen waren noch immer zusammengekniffen, aber wenigstens schien er ihr zu glauben, dass sie von dem ausgehobenen Hehlerring nichts wusste.

»Die Kopien hätten nicht ohne Aufsicht gemacht werden dürfen«, gab er wenigstens zu. »Aber ich denke nicht, dass ich an Ihrer Stelle sie mir angesehen hätte, denn mir wäre klar gewesen, dass ich einen Kollegen damit in größte Schwierigkeiten bringen würde.«

»Ich betrete diesen Trakt nie wieder«, erklärte Lucia. »Aber eins sage ich Ihnen: Es beleidigt mich, dass Sie mich offenbar für eine Schnüfflerin halten, die nichts Besseres zu tun hat, als überall herumzuerzählen, was sie gesehen hat.«

»Ist alles schon vorgekommen«, lautete die nüchterne Antwort. »Sie wissen doch sicher, dass wir hier gerade einen Fall von Korruption bearbeiten müssen? Das dürfte sich ja herumgesprochen haben. Da können wir keine zusätzlichen Komplikationen gebrauchen. Ich nehme Sie beim Wort: Lassen Sie sich hier nicht mehr blicken.«

Sie wusste, dass sie besser den Mund gehalten hätte, aber das brachte sie nicht fertig. »Allein die Vorstellung, Ihnen noch einmal über den Weg zu laufen, wird mich davon abhalten. Schönen Abend noch.«

Sie drehte sich um und marschierte schnell aus dem Büro. Sie schoss über den Gang, zurück in ihre eigene Abteilung und lief dort die Stufen hinunter zum Ausgang. Wenn sie sich jetzt nicht ausreichend Bewegung verschaffte, würde sie platzen vor Wut, das wusste sie.

Allerdings wusste sie nicht, auf wen sie wütender war: auf sich selbst oder auf den jungen Kommissar. Wieso war sie so dumm gewesen, sich eine solche Blöße zu geben? Natürlich hätte sie sich die Fotos nicht ansehen dürfen. Und wenn sie es schon tun musste, weil die Neugier gar zu groß gewesen war, hätte sie sich niemals erwischen lassen dürfen.

Aber er hätte sich wahrhaftig nicht so aufspielen müssen. Es hatte ihm wahrscheinlich sogar Spaß gemacht, sie abzukanzeln. Von jetzt an würde sie dafür sorgen, dass sie ihm nicht mehr über den Weg lief, das sollte eigentlich nicht allzu schwierig sein. Gut, dass sie beruflich nichts mit ihm zu tun hatte. Und bis sie sich bei der Kripo bewerben konnte, war er hoffentlich nicht mehr da. Einer wie er machte sicherlich schnell Karriere.

Doch so sehr sie auch versuchte, sich aufzumuntern, es wollte ihr nicht recht gelingen. Niko von Hohenwege hatte ihr die Laune gründlich verdorben.

*

»Tut mir echt leid, Niko«, sagte Peter Friese kleinlaut. »Das Telefon hat geklingelt, der Kopierer lief noch, da dachte ich, ich nehme das Gespräch schnell entgegen. Auf dem Gang war niemand, als ich ins Büro gegangen bin, ich konnte doch nicht ahnen …«

»Doch, konntest du«, widersprach Niko von Hohenwege müde. »So etwas darf nicht passieren bei Sachen, die geheim sind, das weißt du. Und so lange der Kopierer hier mitten auf dem Gang steht, was natürlich ein Unding ist, müssen wir eben alle besonders wachsam sein.« Er schüttelte den Kopf. »So eine kleine Giftspritze. Dabei sieht sie aus, als könnte ein Windhauch sie umblasen, aber sie hat es sogar geschafft, das letzte Wort zu behalten. Wenn ich rachsüchtig wäre, würde ich sie bei ihren Vorgesetzten anschwärzen. Sie hatte hier nichts zu suchen.«

Peter Friese nickte, er sah noch immer schuldbewusst aus. Niko war sein Chef, aber zugleich waren sie miteinander befreundet, schon lange. Peter machte sich nichts vor: Niko war der bessere Kriminalbeamte, er hatte einen scharfen Verstand, und er konnte blitzschnell kombinieren. Peter war dafür bei der ›Wühlarbeit‹ besser, er liebte es, sich in Akten zu vertiefen und dort Ungereimtheiten zu entdecken. Sie waren ein gutes Team, und sie schätzten die Fähigkeiten des jeweils anderen. Dass Niko bereits Kommissar geworden war, hatte daran nichts geändert. Peter neidete ihm den schnellen Aufstieg nicht, er fand ihn verdient.

»Ich glaube nicht, dass sie hier vorbeigekommen ist, um herumzuschnüffeln«, sagte er. »Sie und ihre Freundin sollen ziemlich gut sein, sagen die Kollegen drüben. Außerdem nett.« Er lächelte. »Und ausgesprochen hübsch.«

Niko schnaubte ärgerlich. »Als ob es darauf ankäme.«

»Na ja, man wird sich doch noch über den Anblick zweier schöner Frauen freuen dürfen, oder?«

Niko wollte erneut eine unwillige Bemerkung machen, als er Peters Gesicht sah. Endlich entspannte er sich. »Mir geht diese Korruptionsgeschichte an die Nieren«, gestand er. »Und einen Moment lang dachte ich, sie steckt da vielleicht mit drin.«

»Vergiss es«, sagte Peter. »Das war Zufall, sie hat die Kopien gesehen, es war Schmuck abgebildet, sehr edler Schmuck, den hätte jede Frau genauer betrachtet.«

»Wie heißt sie eigentlich?«, fragte Niko.

»Lucia von Ballwitz. Ihre Freundin heißt Mara Mellen. Ehrlich, ich habe noch nicht ein kritisches Wort über die beiden gehört. Sie sind sehr engagiert, nicht zimperlich und auch nicht ängstlich. Du weißt, dass Neue am Anfang immer auf die Probe gestellt werden, bei den beiden haben die Kollegen damit ziemlich schnell wieder aufgehört.«

»Hoffen wir, dass du Recht hast. Wenn sie nämlich vielleicht doch mit dem korrupten Kollegen unter einer Decke steckt, dann kocht die Sache erst richtig hoch, und wir haben hier überhaupt nichts mehr zu lachen.«

»Sie wird sich bei uns nicht mehr blicken lassen, schätze ich.«

»Zumindest hat sie es versprochen«, stellte Niko trocken fest. Er fuhr sich mit beiden Händen durch die dichten schwarzen Haare, sein Blick war bekümmert.

»Du machst dir zu viel Stress. Die Hehlerbande haben wir jetzt erst einmal erwischt, und die Korruptionsgeschichte kriegst du auch aus der Welt.«

»Je eher, desto besser, so etwas ist schlecht für die Moral der Truppe. Ich hoffe nur, da stecken nicht noch mehr Kollegen drin.« Niko ging zur Tür. »Bis morgen, Peter.«

»Bis morgen. Und entschuldige nochmals, passiert mir nicht wieder.«

Als Peter Friese allein war, setzte er sich noch einmal an den Schreibtisch. Eigentlich war auch sein Dienst jetzt beendet, aber er hatte das Gefühl, seinen Fehler wiedergutmachen zu müssen, und das ging am besten durch verstärkten Arbeitseinsatz.

*

Das Hauptportal von Schloss Sternberg wurde in dem Augenblick geöffnet, als Moritz von Sarnell am nächsten Tag sein Auto davor zum Stehen brachte. Er wandte sich seiner Begleiterin zu. »Was habe ich dir gesagt, Ann-Cathrin? Herr Hagedorn ist einfach perfekt!«

Die zierliche Goldschmiedin Ann-Cathrin Küster schenkte ihm ein zärtliches Lächeln.

Eberhard Hagedorn, der schon seit langen Jahren Butler im Schloss war, öffnete den Wagen, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein. »Willkommen auf Sternberg, Frau Küster«, sagte er. »Und Sie ebenfalls, Herr von Sarnell.«

»Danke, Herr Hagedorn«, erwiderte Moritz. »Es ist sehr liebenswürdig von Baronin Sofia, uns zu empfangen, obwohl dieser Besuch ja eher einem Überfall ähnelt.«

»Die Frau Baronin ist sehr erfreut, Sie sobald nach Ihrem letzten Besuch wiederzusehen, Herr von Sarnell, und der Herr Baron bedauert es außerordentlich, dass er unterwegs ist und Sie deshalb nicht begrüßen kann.«

»Und die Teenager?«, fragte Moritz.

»Sind in der Schule, sie haben doch Ganztagsunterricht.«

»Daran hatte ich nicht gedacht. Schade«, murmelte Moritz.

Der alte Butler führte die beiden Gäste in die Bibliothek, wo Baronin Sofia von Kant sie bereits erwartete. Da der Frühling sich noch immer von seiner frostigen Seite zeigte, brannte im Kamin ein warmes Feuer und sorgte für eine behagliche Atmosphäre. Die Schlossbewohner waren sich einig darin, dass die Bibliothek der gemütlichste Raum des gesamten Gebäudes war. Dazu trugen neben den deckenhohen Bücherregalen auch die schweren alten Ledersessel und die kleinen Tischchen bei, auf denen Lampen ein gedämpftes Licht verbreiteten.

Die Begrüßung fiel außerordentlich herzlich aus. Moritz war ein Freund der Familie, aber auch Ann-Cathrin war im Schloss wohl bekannt: Ihr Vater Johannes Küster hatte zahlreiche Schmuckstücke für die Familie angefertigt, und da Ann-Cathrin seit einigen Jahren mit ihm zusammenarbeitete, hatte er sie den Schlossbewohnern irgendwann vorgestellt.

»Ihr wollt euch also verloben?«, fragte die Baronin.

»Ja, schon bald«, erklärte Moritz. »Und da ihr ja an unserem Glück nicht ganz unschuldig seid, wollten wir es euch zuerst sagen und euch hiermit sehr herzlich zu unserer Verlobung einladen.«

»Wir kommen gern«, erklärte die Baronin. »Und wir freuen uns sehr mit euch. Wollen wir uns duzen, Ann-Cathrin?«

Die junge Frau errötete. »Sehr gern, Frau …, Sofia.«

»Wie geht es euch, Sofia?«, fragte Moritz. »Die ›Affäre‹ ist ja noch immer nicht beendet, nicht wahr?«

Die Baronin schüttelte bekümmert den Kopf. »Dieser Sven Helmgart, der ja der Schlüssel zu allem ist, konnte der Polizei in letzter Sekunde entwischen. Diese Nachricht hat bei uns allen tiefe Niedergeschlagenheit hervorgerufen.«

»Das kann ich mir gut vorstellen. Und Frau Roeder will noch immer nicht gestehen?«

»Nein, sie weiß natürlich auch, dass der alles entscheidende Beweis uns noch fehlt, allen Zeugenaussagen zum Trotz.«

Die ›Affäre‹, auf die Moritz anspielte, wurde dem im vergangenen Jahr gemeinsam mit seiner Frau Elisabeth bei einem Hubschrauberabsturz tödlich verunglückten Fürsten Leopold von Sternberg nachgesagt. Eine Frau namens Corinna Roeder behauptete, ihm in den Anfangsjahren seiner Ehe, als diese noch kinderlos gewesen war, einen Sohn geboren zu haben, der heute knapp siebzehn Jahre alt war. Sie hatte ›Beweise‹ für ihre Behauptung vorgelegt: Fotos, auf denen sie mit Leopold zu sehen war, Fotos ihres Sohnes, der dem jungen Leopold in der Tat sehr ähnlich sah, Briefe des Fürsten, sogar eine Tonaufnahme. Die Gutachter waren unterschiedlicher Auffassung gewesen, aber bei einigen ›Beweisen‹ hatten sie sich darauf einigen können, dass es sich vermutlich um Fälschungen handelte. Doch letzte Zweifel konnten nicht ausgeräumt werden.

Am schlimmsten war diese Situation für den Sohn des Fürstenpaares, den fünfzehnjährigen Prinz Christian von Sternberg. Er lebte seit dem Tod seiner Eltern in der Familie seiner Tante Sofia von Kant, die eine Schwester seiner Mutter gewesen war. Sofia, ihr Mann Friedrich und ihre beiden Kinder Anna und Konrad wohnten schon lange im Schloss, da die Fürstin und ihr Mann bald nach Christians Geburt gewusst hatten, dass er ein Einzelkind bleiben würde. So waren die Kants ebenfalls nach Sternberg gezogen, so dass die drei Kinder gemeinsam aufwachsen konnten. Nach dem Tod der Eltern hatte Christian daher lediglich vom Ost- in den Westflügel ziehen müssen und so mit den Eltern nicht auch noch sein Zuhause und jeglichen familiären Zusammenhalt verloren.

Seit die ›Affäre‹ durch die Medien ging, war der ohnehin eher ernste Junge, der schwer am Verlust seiner Eltern trug, noch stiller und in sich gekehrter geworden. Er hatte das Gefühl, die Ehre seines Vaters verteidigen zu müssen, zugleich erkannte er, dass ihm das unter Umständen nicht gelingen würde. Und es hatte schlimme Zeiten gegeben, in denen alles danach ausgesehen hatte, als träfen Corinna Roeders Behauptungen zu. Zweifel an Leopold waren auch innerhalb der Familie aufgekommen und hatten vor allem Christian an den Rand der Verzweiflung getrieben.

Das hatte sich erst nach der Veröffentlichung einiger Fotos durch die Polizei geändert: Zeugen waren aufgetaucht, und einer von ihnen hatte erklärt, der Mann neben Corinna Roeder auf den Fotos sei nicht Fürst Leopold, sondern ein gewisser Sven Helmgart, der dem verstorbenen Fürsten schon damals sehr ähnlich gesehen habe.

Seitdem wurde überall nach dem Mann gefahndet, bisher jedoch ohne jeden Erfolg. Corinna Roeder saß zwar in Untersuchungshaft, aber sie blieb bei ihrer Aussage, und vermutlich würde man sie in absehbarer Zeit freilassen müssen. Ihr Sohn Sebastian, der Leopold so ähnlich sah, ging in den USA zur Schule und versuchte dort, Reportern möglichst aus dem Weg zu gehen.

»Das Medaillon hat sich ja leider auch nicht gefunden«, seufzte die Baronin. »Weißt du noch, wie ihr danach gesucht habt?«

»Wie könnte ich das vergessen?«

»Ein Medaillon?«, fragte Ann-Cathrin interessiert.

»Ich habe Ann-Cathrin bisher nichts davon erzählt«, erklärte Moritz, »weil ich den Eindruck hatte, dass ihr darüber lieber nichts verlauten lassen wolltet, Sofia.«

»So ist es auch, aber jetzt können wir Ann-Cathrin ruhig einweihen.« Die Baronin wandte sich der jungen Frau zu. »Dein Vater hat ein Medaillon für meine Schwester angefertigt, Leo hat es bei ihm in Auftrag gegeben.«

»Ich weiß, ich erinnere mich daran. Ich erinnere mich auch, dass vor nicht allzu langer Zeit jemand aus dem Schloss angerufen und nach dem Medaillon gefragt hat. Der Verschluss der Kette war defekt, nicht wahr? Es ging darum, ob Fürstin Elisabeth sie schon zu uns geschickt hatte.«

»So ist es. Wir sind erst vor Kurzem darauf gekommen, dass sie es am Tag des Unfalls möglicherweise nicht getragen hat. Herr Hagedorn hat sich erst jetzt an den defekten Verschluss erinnert.«

»Warum ist das so wichtig?«, fragte Ann-Cathrin verwirrt.

»Meine Schwester hat das Medaillon geliebt und es immer getragen. Im Inneren bewahrte sie eine Locke ihres Mannes auf«, erklärte Sofia.

»Eine Locke ihres Mannes«, wiederholte Ann-Cathrin, die Wichtigkeit dieser Erkenntnis noch immer nicht begreifend.

»Mit einer Locke des Fürsten«, warf nun Moritz ein, »hätte man einen Gentest durchführen und ihn mit dem von Corinna Roeders Sohn abgleichen können. Dadurch wäre eindeutig zu klären gewesen, ob Leo der Vater von Sebastian Roeder ist oder nicht. Aber leider haben wir das Medaillon nicht gefunden.«

»Dann hat die Fürstin es also doch getragen, als der Hubschrauber abstürzte?«, fragte Ann-Cathrin.

»Um den Hals vermutlich nicht, sie hatte bestimmt Angst, es zu verlieren, wegen des defekten Verschlusses. Aber wahrscheinlich ist, dass sie es trotzdem bei sich hatte, vermutlich in einer Tasche. So oder so, die Locke ist verloren«, sagte Sofia.

»Wir haben ungelogen den gesamten Ostflügel auf den Kopf gestellt – und zwar mehrmals«, fügte Moritz hinzu. »Wäre es irgendwo gewesen, wir hätten es gefunden.«

»Mein Vater hat sich sehr große Mühe mit dem Medaillon gegeben«, sagte Ann-Cathrin nachdenklich. »Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als er daran gearbeitet hat. Damals war ich noch in der Ausbildung, und ich habe ihm unendlich viele Fragen gestellt, warum er bestimme Sachen so und nicht anders gemacht hat.«

»Er wusste, wie sehr meine Schwester an dem Medaillon hing«, sagte Sofia mit wehmütiger Stimme. »Sie hat ihn einmal angerufen, um ihm zu sagen, wie groß die Freude ist, die sie daran hat.« Unwillkürlich lächelte sie. »Die Sache mit der Locke ist allerdings eher lustig. Sie hat sie meinem Schwager einmal heimlich abgeschnitten, als er schlief. Über diese Geschichte lachen wir heute noch, wenn sie wieder einmal einem von uns einfällt.«

Nach einer Stunde verabschiedeten sich Ann-Cathrin und Moritz, aber sie versprachen der Baronin, sich bald wieder sehen zu lassen. Als sie die lange Auffahrt hinunterfuhren, sagte Ann-Cathrin: »Wenn ich mir vorstelle, dass das Medaillon diese ganze ›Affäre‹ mit einem Schlag hätte beenden können …«

»Deshalb haben wir bei meinem letzten Besuch hier wie die Verrückten danach gesucht. Du kannst dir sicher vorstellen, wie enttäuscht wir waren, als die Suche erfolglos blieb. Besonders Christian hatte sich natürlich große Hoffnungen gemacht, dass das Medaillon endlich die ersehnte Wende bringen würde.«

»Der kleine Fürst«, sagte Ann-Cathrin.

»Ja, der kleine Fürst. Verrückt, dass er diesen Namen immer noch hat. Klein ist er nun wirklich nicht mehr.«

»Warum wird er denn überhaupt so genannt? Ich habe das nie verstanden.«

»Fürst Leopold war so stolz darauf, endlich Vater geworden zu sein, dass er den kleinen Christian schon sehr früh mit auf seine Reisen genommen hat. Damals war Chris vielleicht zwei Jahre alt, höchstens drei. Und Leopold war ja fast zwei Meter groß. Wenn er also mit seinem winzigen Sohn ankam, sagten die Leute, wenn sie von den beiden sprachen: ›der große und der kleine Fürst‹.«

»Und jetzt gibt es nur noch den kleinen Fürsten«, sagte Ann-Cathrin leise.

»Ja«, bestätigte Moritz. »Er ist erst fünfzehn, aber er hat schon mehr Leid erfahren als andere in einem ganzen Leben nicht. Und trotzdem lässt er sich nicht unterkriegen. Ich kann den Jungen nur bewundern.«

»Immerhin ist er nicht allein. Es muss ihm geholfen haben, dass er trotzdem noch eine Familie hat.«

»Ohne die Familie wäre er verloren gewesen, glaube ich.«

Ann-Cathrin nickte. Nach einer Weile fragte sie: »Darf ich meinem Vater von dem Medaillon und der Locke erzählen?«

»Ich denke schon, du hast ja gesehen, dass Sofia auch ganz offen war. Dein Vater wird so wenig darüber reden wie wir, oder?«

»Natürlich nicht. Aber ich glaube, es wird ihn freuen, noch einmal zu hören, wie wichtig der Fürstin das Medaillon war. Dass sie eine Locke ihres Mannes darin getragen hat, wusste er ja nicht.«

Er griff nach ihrer Hand und drückte sie zärtlich. Den Rest der Fahrt verbrachten sie beide in nachdenklichem Schweigen.

*

Als Christian von Sternberg, seine Cousine Anna von Kant und sein Cousin Konrad, Annas Bruder, Schulschluss hatten, sahen sie sich zunächst vorsichtig nach allen Seiten um, bevor sie das Gebäude verließen.

»Sieht so aus, als ob die Luft rein wäre!«, stellte der sechzehnjährige Konrad fest.

»Oder sie verstecken sich wieder, so wie letzte Woche Donnerstag, wisst ihr noch?« Anna war drei Jahre jünger als ihr Bruder, ein lebhaftes, hübsches Mädchen mit blonden Locken und klugen Augen. Sie war stehen geblieben, mit zusammengezogenen Augenbrauen spähte sie die Straße entlang.

Auch Christian hatte sich umgesehen, er kam zur gleichen Erkenntnis wie Konrad. »Keiner da«, sagte er. »Warum auch, es gibt ja nichts Neues.« Seine langen dunklen Haare ließen ihn noch blasser erscheinen, als er ohnehin schon war, und er war schmal geworden, die letzten Wochen hatten sichtlich an seinen Kräften gezehrt.

Am Donnerstag der vergangenen Woche hatten Journalisten und Fotografen erfahren, dass der mit internationalem Haftbefehl gesuchte Sven Helmgart der Polizei in letzter Sekunde entwischt war. Prompt waren sie in großer Zahl vor der Schule der Teenager aufgetaucht, in der Hoffnung, ihnen Kommentare zum Geschehen zu entlocken. Das war ihnen nicht gelungen, aber natürlich hatten sie zahlreiche Fotos geschossen.

Vor Beginn der ›Affäre‹ wäre das undenkbar gewesen. Damals waren Anna, Konrad und Christian weitgehend unbehelligt geblieben, kein Journalist hätte es gewagt, sich ihnen zu nähern. Zu groß war der Respekt, nachdem im Jahr zuvor das Fürstenpaar so tragisch ums Leben gekommen war. Niemand wollte sich nachsagen lassen, dass er trauernde Teenager behelligte. Doch diese Zurückhaltung gehörte zum Leidwesen der Schlossbewohner der Vergangenheit an, seit es die ›Affäre‹ gab. Sie versorgte die bunten Blätter und etliche Fernsehmagazine seit Monaten zuverlässig mit immer neuem Stoff, und darauf wollte niemand freiwillig verzichten, zumal die Bevölkerung starken Anteil an der Geschichte nahm. Eine Schlagzeile über die Sternberger ›Affäre‹ garantierte jeder Zeitschrift mehr verkaufte Exemplare und jeder Sendung eine höhere Einschaltquote.

Sie überquerten den Schulhof und steuerten auf die schwarze Limousine zu, die dezent abseits geparkt worden war. Der Chauffeur Per Wiedemann war bereits ausgestiegen und hielt Ausschau – nicht nur nach den Teenagern, sondern auch nach unerwünschten Journalisten.

Sie hatten ihn schon beinahe erreicht, als drei, vier, fünf Fotografen plötzlich mit ihren Kameras und riesigen Teleobjektiven aus einem Hauseingang stürzten.

»Was sagen Sie zu Corinna Roe­ders Vorwurf, dass der Doppelgänger des Fürsten eine Erfindung ist? Er konnte wieder nicht gefasst werden, vielleicht gibt es ihn ja gar nicht?«

»Prinz Christian, glauben Sie noch immer bedingungslos an Ihren Vater?«

»Baronin Anna, Baron Konrad, sind Ihnen noch nie Zweifel an Ihrem Onkel gekommen?«

»Beabsichtigen Sie, sich mit Sebastian Roeder zu treffen? Vielleicht ist er Ihr Stiefbruder, Prinz Christian?«

Anna spürte, wie Christians Schritt stockte, wie sein Körper steif wurde vor Zorn. Sie packte ihn am Arm und zerrte ihn weiter. Den Fehler, auf die Fragen der Reporter zu reagieren, hatten sie am Anfang ein einziges Mal gemacht, seitdem nicht wieder. Sie verzogen die Gesichter nicht mehr, sie gaben möglichst überhaupt nicht zu erkennen, dass sie gehört hatten, was zu ihnen gesagt wurde. Das gelang mal besser, mal schlechter, aber im Allgemeinen hatten sie sich in der letzten Zeit gut geschlagen.

Christian reagierte sofort auf ihren Griff. Sie merkte, wie er sich wieder entspannte und weiterging. Und jetzt war auch Per Wiedemann bei ihnen, der junge Chauffeur, der diejenigen unter den Fotografen und Reportern, die besonders zudringlich wurden, mit energischen Bewegungen beiseite drängte. Es dauerte nicht lange, bis sie alle drei im Fond des Wagens saßen und Per Wiedemann sich ans Steuer gesetzt hatte.

»Wir dachten, die Luft wäre rein, Herr Wiedemann«, sagte Anna, als sie aus der Stadt fuhren.

»Das dachte ich auch, aber die Jungs werden natürlich auch klüger«, erwiderte der Chauffeur. »Die wissen, wenn sie sich gleich zeigen, haben sie noch weniger Chancen. So haben sie zumindest ein paar Fotos geschossen.«

»Ich hätte den einen beinahe angeschrien«, sagte Christian. »Gut, dass du mich weitergezogen hast, Anna.«

»Die können einem aber auch wirklich auf den Keks gehen«, schimpfte Konrad.

»Sie haben das auch heute wieder sehr gut gemacht«, stellte Per Wiedemann in ruhigem Tonfall fest. »Und bald wird diese unselige Geschichte ohnehin vorbei sein.«

»Glauben Sie das wirklich, Herr Wiedemann?«, fragte Anna zweifelnd.

»Ja, das glaube ich, Baronin Anna«, antwortete er mit fester Stimme. »Und alle anderen Angestellten glauben das auch. Irgendwann wird das Lügengebäude dieser Frau wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen.«

»Das wäre schön.« Christians Stimme war sehr leise, dennoch hatten die drei anderen seine Worte gehört. Er lehnte den Kopf an die Scheibe und sah hinaus. Es war noch nicht einmal ein Jahr her, da war er ein glücklicher Junge gewesen, kurz nach seinem fünfzehnten Geburtstag. Es fiel ihm schwer, sich an diese Zeit zu erinnern, die schon so lange zurückzuliegen schien, dass er manchmal daran zweifelte, ob es sie tatsächlich gegeben hatte.

Annas Hand schob sich in seine. Als er sie ansah, lächelte sie ihm aufmunternd zu, und wieder einmal wurde ihm bewusst, welches Glück er gehabt hatte, dass er nach dem schrecklichen Unfalltod seiner Eltern nicht ganz auf sich gestellt gewesen war. Jetzt war er das dritte Kind seiner Tante Sofia und seines Onkels Friedrich, er hatte Geschwister und war noch immer ein Junge, der in der Geborgenheit einer Familie aufwachsen konnte.

Er erwiderte Annas Lächeln. Gleich darauf hielt die Limousine vor dem Hauptportal und Eberhard Hagedorn erschien mit Togo, Christians jungem Boxer, der laut bellend seiner Vorfreude auf einen ausgedehnten Spaziergang durch den Park und den angrenzenden Wald Ausdruck verlieh.

*

»Setzen Sie sich einen Moment zu mir, Herr Hagedorn«, bat Marie-Luise Falkner, die junge Köchin auf Sternberg. Sie hatte es innerhalb kürzester Zeit geschafft, die Küche des Schlosses über die Grenzen des Landes hinaus bekannt zu machen. Wie so oft saß sie auch jetzt wieder da und kritzelte in ihr Buch, das ihre Rezeptsammlung enthielt. Diese versah sie ständig mit Anmerkungen, wie ein Gericht noch verbessert werden konnte. »Ich koche uns einen Espresso, Sie sehen so aus, als könnten Sie einen gebrauchen.«

»So ist es auch, Marie«, gab der alte Butler zu.

»Schade, dass Frau Küster und Herr von Sarnell nicht zum Essen geblieben sind«, seufzte Marie, während sie die Espressomaschine bediente, die wie immer blank geputzt war. »Ich fände es schön, wieder einmal Gäste zu haben.«

Sie wechselten einen kurzen Blick, jeder wusste vom anderen, was er dachte: Früher, was so viel bedeutete wie ›vor der Affäre‹, war Schloss Sternberg geradezu von magischer Anziehungskraft für viele, sehr unterschiedliche Menschen gewesen, doch diese Zeiten waren offensichtlich vorbei. Seit der verstorbene Fürst in den Verdacht geraten war, seiner Frau, der Familie und nicht zuletzt der Öffentlichkeit jahrelang seinen unehelichen Erstgeborenen verschwiegen zu haben, hatten sich viele von den Sternbergern abgewandt. Das war ganz beiläufig geschehen, es hatte keine großen Erklärungen gegeben, nur waren die Anrufe und Besuche unterblieben, kaum jemand meldete sich, um wie früher zu fragen, ob er vielleicht für ein Wochenende auf Sternberg willkommen war. Geschah es doch, kam das jetzt einem Großereignis gleich.

Baronin Sofia hatte schon mehrmals bitter bemerkt, dass sich in Zeiten wie diesen offenbar erst herausstellte, wer die wahren Freunde waren, und sie hatte sich vorgenommen, in Zukunft nicht mehr so gutgläubig ihr Vertrauen zu verschenken. Eins jedenfalls hatte die Familie lernen müssen: Ihr Freundeskreis war erheblich kleiner als angenommen.

»Es kommen auch wieder andere Zeiten, Marie«, erwiderte Eberhard Hagedorn auf die Bemerkung der jungen Köchin.

Sie kam mit zwei gefüllten Espressotassen zum Tisch zurück und stellte eine davon vor ihm ab. Auf dem Rand der Untertasse lag eine kleine Schokopraline.

»Sie verwöhnen mich«, stellte der alte Butler fest.

»Muss auch mal sein, wir machen ja alle schwere Zeiten durch. Was wollten denn eigentlich Frau Küster und Herr von Sarnell?«

Er sah keinen Grund, es ihr zu verheimlichen. Eberhard Hagedorn konnte Geheimnisse bewahren, wenn es darauf ankam, aber in diesem Fall war er sicher, dass Geheimhaltung nicht erforderlich war. »Sie werden sich verloben«, antwortete er.

»Das war doch klar.« Marie lächelte. »Oder haben Sie etwas anderes erwartet?«

Er schüttelte den Kopf. »Das Medaillon ist auch noch einmal zur Sprache gekommen, Frau Küster wusste gar nichts von unserer Suche danach.«

»Es ist ja auch vertrackt, dass jede Spur, die bisher gefunden wurde, ins Nichts geführt hat«, murmelte Marie-Luise. »Wissen Sie übrigens, wen ich neulich gesehen habe, Herr Hagedorn? Rosa Gehring. Erinnern Sie sich an sie? Ich könnte schwören, dass sie mich auch gesehen hat, aber sie hat sich hastig umgedreht, und weg war sie. Das fand ich schade, ich mochte sie eigentlich, obwohl wir nicht viel miteinander zu tun hatten.«

»Rosa Gehring«, wiederholte Eberhard Hagedorn nachdenklich. »An die habe ich seit damals nicht mehr gedacht. Sie war sehr zuverlässig, ich wusste immer, wenn sie eine Suite für Gäste zurechtgemacht hatte, dass ich keine Schlamperei entdecken würde.«

»Dass sie dann einfach gekündigt hat!«, sagte Marie-Luise. »Wir haben uns doch alle gewundert, wissen Sie noch? Ich meine, im Schloss arbeiten zu können, ist für die meisten wie ein Sechser im Lotto, und sie geht freiwillig.«

»Private Gründe hat sie angegeben, aber wie genau die ausgesehen haben, hat sie nicht gesagt. Ich habe angenommen, dass sie sich vielleicht um ihre Eltern kümmern muss. Ich meine mich zu erinnern, dass ihre Mutter schwer krank war.«

»Sie war ja vor allem im Ostflügel, vielleicht wollte sie nicht für die Kants arbeiten, vielleicht hat sie sehr an dem Fürstenpaar gehangen und gedacht, dass sie deshalb besser gehen sollte.«

»Ja, möglich«, murmelte Eberhard Hagedorn. »Später hat mir noch jemand etwas über sie erzählt, aber das habe ich gleich wieder vergessen, weil ich es für bösartigen Klatsch gehalten habe.« Er trank seinen Espresso aus.

Von draußen waren Rufe und fröhliches Gebell zu hören. Marie-Luise Falkner lächelte. »Zumindest Togo geht es wieder gut«, stellte sie fest. »Der ist ja in letzter Zeit auch ein bisschen zu kurz gekommen.«

Eberhard Hagedorn nickte, aber sie sah ihm an, dass er mit seinen Gedanken woanders war. Kurz darauf verließ er die Küche, und sie wandte sich wieder ihrem Notizbuch zu. Die Gäste würden Sternberg ja nicht ewig fernbleiben. Irgendwann, in hoffentlich nicht allzu ferner Zukunft, würde sie wieder für große Abendgesellschaften kochen, und darauf bereitete sie sich vorsichtshalber jetzt schon einmal vor.

*

»Jetzt nimm das doch nicht so persönlich«, sagte Mara.

Sie saßen in Maras Wohnung. »Ich muss mit dir reden«, hatte Lucia ihrer Freundin schon morgens erklärt, »aber unter vier Augen.« Und dann war sie nach Dienstschluss gekommen und hatte Mara ausführlich von ihrem Zusammenstoß mit Niko von Hohenwege berichtet. Sie hatte ihrem Ärger einfach Luft machen müssen.

»Der ist halt so«, fuhr Mara fort. »Das hat nichts mit dir zu tun. Der Mann will immer alles hundertprozentig machen, er ärgert sich über jeden Fehler schwarz.«

»Und er reibt einem ziemlich deutlich unter die Nase, wenn man einen gemacht hat«, murmelte Lucia. »Ein richtiges Ekelpaket ist er, ich fühle mich in meiner schlechten Meinung über ihn bestätigt.«

»Aber er sieht gut aus, findest du nicht?«

Lucia sah ihre Freundin erstaunt an. »Wenn ich jemanden nicht leiden kann, sehe ich nicht, wie er aussieht«, erklärte sie. »Das ist mir dann vollkommen gleichgültig.«

»Er ist ziemlich groß, hat pechschwarze Haare …«, begann Mara, doch Lucia ließ sie nicht ausreden.

»Das weiß ich«, rief sie halb ärgerlich, halb amüsiert. »Aber mir ist trotzdem nicht aufgefallen, dass er irgendwie attraktiv ist.«

»Dann bist du entweder blind oder borniert. Entschuldige, dass ich das so deutlich sage, aber der Mann sieht umwerfend aus. Wäre er ein bisschen charmanter und würde öfter mal lächeln, könnte er sich vermutlich vor weiblichen Fans nicht retten.«

»Also, ich werde garantiert niemals dazugehören«, bemerkte Lucia trocken. »Ein Miesepeter ist er. Und eine Frau wird er auch niemals haben, denn was soll die mit einem Mann, der seine Nächte im Büro verbringt?«

Mara fing an zu lachen. »Er hat sich’s ja richtig mit dir verdorben«, stellte sie vergnügt fest.

»Mach du dich nur über mich lustig«, grollte Lucia. »Wenn du dabei gewesen wärst und miterlebt hättest, wie er sich mir gegenüber verhalten hat, würdest du ihn jetzt nicht so milde beurteilen.«

»Hör schon auf, Lucia! Er ist sensationell erfolgreich bei der Aufklärungsquote der Verbrechen, die er bearbeitet, und dass jetzt diese Hehlerbande gefasst werden konnte, ist auch sein Verdienst. Er ist ein Spitzen-Polizist, wie sie selten geworden sind. Wir sollten ihn uns zum Vorbild nehmen.« Nach kurzer Pause setzte sie mit spitzbübischem Lächeln hinzu: »Du vor allem, wo du doch zur Kripo willst.«

»Ich suche mir lieber andere Vorbilder. So wie der möchte ich niemals werden, auch wenn er Erfolg hat. Ich meine, ich möchte schon auch erfolgreich sein, aber wenn ich darüber vergesse, dass es auch noch etwas anderes gibt im Leben eines Menschen …« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, danke.«

»Woher weiß du, dass er das vergisst? Er ist mit Peter Friese befreundet, und Peter liebt das Leben. Der wäre nicht mit jemandem befreundet, der verbissen ist und nur für seine Arbeit existiert.«

»Lass uns das Thema wechseln«, bat Lucia, »wir sind in diesem Fall eben unterschiedlicher Meinung. Das ist ja auch nicht weiter schlimm.«

»Sag mir nur noch eins: Was hast du denn auf diesen Fotokopien so wahnsinnig Interessantes gesehen?«

»Schmuckstücke, sonst nichts. Ich nehme an, das ist das Zeug, was sie den Hehlern abgenommen haben. Edle Sachen, so viel konnte ich auf die Schnelle erkennen. Keine Ahnung, was daran so geheimnisvoll war, dass er sich so anstellen musste.«

»Du hast doch eine Freundin, die Goldschmiedin ist. Versuch doch mal herauszufinden, ob die etwas weiß.«

»Was soll sie denn wissen?«

»Na ja, vielleicht hat sie was gehört. Es hat ja genug Einbrüche bei Juwelieren gegeben in letzter Zeit, und aus diesen Einbrüchen werden sich vielleicht auch ein paar Sachen gefunden haben, meinst du nicht? Und bestimmt wissen die Juweliere längst, dass da ein Hehlerring aufgeflogen ist.«

»Bei den Küsters ist nicht eingebrochen worden in letzter Zeit, und ich glaube auch nicht, dass sich schon etwas herumgesprochen hat. Diese ganze Sondereinheit betreibt doch eine solche Geheimniskrämerei …«

»Wir wissen es auch«, gab Mara zu bedenken.

»Aber nur wegen deines Spions.«

»Glaubst du? Ich hatte den Eindruck, dass es sich im Haus allmählich herumgesprochen hat.«

Lucia zuckte mit den Schultern. »Ich bin nicht daran interessiert etwas herauszufinden – was auch immer. Ich kümmere mich darum nicht. Es geht mich nämlich nichts an, das hat mir Herr Miesepeter noch einmal überdeutlich gesagt, und daran werde ich mich halten.

Mara lächelte nur. Sie kannte Lucia besser. Es war nicht ihr Gebiet, tatsächlich ging die Sache sie nichts an, aber dass sie deshalb kein Interesse daran hatte, war eine reine Lüge.

*

»Machst du nicht allmählich Schluss?«, erkundigte sich Peter Friese, als er an Nikos Tür vorbeikam und seinen Freund noch immer am Schreibtisch sitzen sah.

Niko sah auf, seine Augen waren rot vor Müdigkeit. »Das sollte ich wohl, aber je mehr ich mich in diese Akten vertiefe, desto fassungsloser werde ich. Der Kollege Kurrer hat da offenbar ein richtiges System aufgebaut und arbeitet seit Jahren mit Dieben, Hehlern, Schmugglern zusammen. Es war reiner Zufall, dass er aufgeflogen ist, sonst hätte er noch jahrelang so weitermachen können. Und wir hatten keine Ahnung, sondern haben ihn sogar für einen zuverlässigen Mann gehalten.«

Anton Kurrer war der Kriminalbeamte, der seit zwei Wochen in Untersuchungshaft saß. Der Fall schlug nach wie vor hohe Wellen. Ein neidischer Nachbar hatte die Sache ins Rollen gebracht, der mehrere Briefe gleichen Inhalts an verschiedene offizielle Stellen im Polizeipräsidium und ein paar nach außerhalb verschickt hatte: Wie es sein könne, dass sich ein einfacher Kriminalkommissar ein Haus für mehrere Millionen, teure Kreuzfahrten und zwei Luxusautos leisten könne? Dazu Kleidung vom Feinsten, Rennpferde und ausgedehnte Golfurlaube? Ein solches Schreiben war an eine seriöse Zeitung gegangen, die ausgezeichnete Rechercheure hatte und der Sache einfach mal nachgegangen war. Kurz danach war die Lawine ins Rollen gekommen.

»Aber das liegt doch alles schon auf dem Tisch«, wandte Peter ein. »Warum suchst du immer noch weiter?«

»Weil er jemanden hier im Haus gehabt haben muss, der ihn gedeckt hat«, erklärte Niko. »Er kann das nicht allein durchgezogen haben, mindestens einen Helfer muss er gehabt haben.«

»Jedenfalls war er einerseits clever genug, so etwas aufzuziehen, aber andererseits auch zu dämlich, mit seinem unrechtmäßig erworbenen Reichtum nicht anzugeben. Wie kann man nur so auffällig zur Schau stellen, was man hat, wenn man genau weiß, dass man damit Misstrauen erregt?«

»Er hat immer erzählt, dass er eine reiche Frau geheiratet hat, weißt du das nicht mehr?«

»Stimmt«, murmelte Peter. »Und das war gelogen?«

»Von vorne bis hinten erfunden. Seine Schwiegereltern sind ganz einfache Leute, die sich den Reichtum ihres Schwiegersohns nicht recht erklären konnten. Denen hat er was von einer Erbschaft erzählt. Eine reiche Großmutter, die ihn bedacht hat.«

»Und was hat er seiner Frau erzählt?«

»Weiß ich noch nicht, aber ich schätze mal, weitgehend die Wahrheit.«

»Du meinst, sie hat mit ihm unter einer Decke gesteckt?«

»Ja, das glaube ich.«

Peter nickte und wiederholte seine Aufforderung: »Mach Schluss für heute, komm schon. Lass uns noch ein Bier zusammen trinken.«

Zuerst sah es so aus, als würde Niko ablehnen, aber dann nickte er doch. »In Ordnung, der Kopf will sowieso nicht mehr richtig«, murmelte er. »Lass uns gehen.«

Aber in dem Lokal, in dem sie gleich darauf ihr Bier tranken, blieb er in sich gekehrt und ließ sich von seinen Gedanken nicht ablenken, obwohl Peter sich sehr bemühte. Schließlich gab er auf. Wenn Niko in dieser Stimmung war, ließ man ihn am besten in Ruhe.

Als sie sich voneinander verabschiedeten, sagte Niko mit reumütigem Lächeln: »Tut mir leid, ich weiß, dass ich heute nicht sehr unterhaltsam war.«

»Macht nichts«, erwiderte Peter und meinte es auch so. »Wir haben alle mal einen schlechten Tag. Sieh nur zu, dass du dich nicht allzu sehr in die Sache verbeißt.«

»Hast ja recht«, murmelte Niko.

Peter sah ihm nach, wie er mit gesenktem Kopf die Straße überquerte. Die meisten Leute wussten nicht, dass Niko eine zarte Seele hatte. Man musste ihm schon ziemlich nahekommen, um das zu erkennen. Er wünschte seinem Freund, dass er irgendwann vielleicht doch eine Frau fand, der es gelang, seinen Schutzpanzer zu durchbrechen, denn wenn jemand es verdient hatte, glücklich zu sein, dann war es Niko.

*

»Lass uns nach Hause gehen, Barbara«, schlug Dr. Hagen von Boldt seiner jüngeren Kollegin Dr. Barbara von Kreyenfelss vor. »Heute finden wir die Lösung ohnehin nicht mehr.«

»Wenn wir sie überhaupt jemals finden«, murrte sie.

Die beiden Anwälte vertraten das Haus Sternberg in allen Rechtsfragen – Hagen schon lange, Barbara erst, seit er sie als Partnerin in seine Kanzlei geholt hatte. Er war sich mit seinen sechzig Jahren alt vorgekommen und hatte nach einem zeitraubenden Auswahlverfahren unter unzähligen Bewerbern schließlich die sehr viel jüngere Barbara ausgewählt und sie in seine Kanzlei aufgenommen. Sie war Mitte dreißig, blond, attraktiv und energisch. Seit er mit ihr zusammenarbeitete, fühlte er sich bedeutend jünger. Manchmal legte sie ein solch atemberaubendes Tempo vor, dass ihm buchstäblich die Luft wegblieb.

»Schlechte Laune?«, erkundigte er sich freundlich. Normalerweise war er derjenige, der eher pessimistisch in die Zukunft sah.

»Ja«, antwortete sie rundheraus. »Ich habe einen Verehrer, schon seit einiger Zeit, und gestern habe ich mich endlich breitschlagen lassen, mit ihm zu Abend zu essen. Es war furchtbar.«

»Das tut mir leid.«

»Ein solcher Langweiler, das kannst du dir nicht vorstellen. Entweder hat er mir Komplimente gemacht oder er hat mit seinem vielen Geld angegeben. Un-er-träg-lich!«

»Und ich dachte, Frauen lieben Komplimente«, sagte Hagen mit harmloser Miene.

Sie funkelte ihn an. »Aber doch nicht drei Stunden lang! Mir ist nach einer Weile richtig schlecht geworden. Und als ich ihm schließlich gesagt habe, dass wir meiner Ansicht nach nicht zusammenpassen, ist er auch noch ausfallend geworden.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich mag eine ganz gute Anwältin sein, aber in Liebesdingen muss ich, glaube ich, noch sehr viel lernen. Ich habe den Typen für klug und amüsant gehalten – bis zum gestrigen Abend.«

»Darf ich dir einen Vorschlag machen?«

»Willst du mir helfen, einen Mann zu finden?«, fragte sie spöttisch.

»Lass mich in Zukunft vorher einen Blick auf die Männer werfen, mit denen du ausgehen willst, dann passieren dir solche Sachen wie gestern Abend nicht mehr, das garantiere ich dir.«

»Du möchtest also nicht nur mit mir zusammenarbeiten, sondern auch noch meine Männer auswählen?«, fragte sie.

»Nein, und das weißt du auch genau. Ich möchte dir nur die schlimmsten Enttäuschungen ersparen, sozusagen die Spitze des Eisbergs.«

Jetzt glitzerten ihre Augen interessiert. Sie beugte sich vor. »Und du glaubst, das kannst du? Du meinst, du hättest meinen Angeber von gestern Abend vorher durchschaut?«

»Mit absoluter Sicherheit, ja.«

Plötzlich streckte Barbara eine Hand aus. »Abgemacht!«, sagte sie.

Er war überrascht, denn damit hatte er nicht gerechnet, aber er schlug lächelnd ein. »Und jetzt zurück an die Arbeit«, sagte er. »Irgendwelche neuen Hinweise im Fall Sternberg?«

»Nullkommanichts«, sagte sie. »Sven Helmgart, den die Polizei aufgrund eines Hinweises aus der Bevölkerung beinahe geschnappt hätte, ist erneut spurlos verschwunden.«

»Vielleicht war es gar nicht Sven Helmgart, der entwischt ist«, sagte Hagen nachdenklich.

»Doch, er war es, die Polizei ist ihrer Sache sicher. Und damit sind wir leider schon am Ende unserer Neuigkeiten. Soll ich dir mal was verraten, Hagen? Ich habe keine Lust mehr auf diese ganze miese sogenannte ›Affäre‹.«

Als er ihr antwortete, hörte sie milden Tadel in seiner Stimme. »Niemand hat Lust darauf, Barbara, am allerwenigsten die Sternberger, wie du dir denken kannst.«

»Ja, ja, schon gut, ich weiß. Was ist eigentlich mit Cosima? Sie war doch sonst immer so gut darin, neue Spuren zu finden.«

Cosima von Orth war eine junge Ermittlerin, die ihnen zu Beginn der ›Affäre‹ wertvolle Dienste geleistet hatte. In der jetzigen Phase konnte sie freilich nur noch wenig für sie tun, und das sagte Hagen auch. »Die Sache ist doch, vor allem auch dank ihrer Vorarbeit, einigermaßen klar: Corinna Roeder hat mit Hilfe von Sven Helmgart, der dem verstorbenen Fürsten Leopold sehr ähnlich sieht, versucht, Geld von den Sternbergern zu bekommen …«

»… zu erpressen, meinst du wohl.«

»Sie hat nicht gedroht«, erinnerte er sie. »Sie hat um Geld für die kostspielige Ausbildung ihres hochbegabten Sohnes gebeten.«

»Ja, das war ziemlich schlau«, murmelte Barbara. »Es wirkte bescheiden, dabei hatte sie in Wirklichkeit im Kopf, dass die Sternberger eine Kuh sind, die sie immer wieder melken kann. Sie hätten sich nur auf ihr Spiel einlassen müssen.«

»Das haben sie aber nicht getan.«

»Meinst du, sie bereuen das manchmal?«

»Ich glaube nicht. Zu zahlen wäre für sie keine Option gewesen, vor allem für Prinz Christian nicht. Denn das hätte ja bedeutet, dass sie einen unehelichen Sohn Leopolds für möglich halten. Für den kleinen Fürsten wäre eine Welt zusammengebrochen.«

»Meinst du nicht, dass sie das sowieso ist? Denk mal zurück, Hagen, wie die letzten Monate verlaufen sind! Die Geschichte ist doch in allen Medien breitgetreten worden, mit zahlreichen Spekulationen, Gerüchten, Behauptungen, Vermutungen. Da hat vieles in der Zeitung gestanden, was ich über meinen Vater nur sehr ungern gelesen hätte. Allein all diese angeblichen Fachleute, die die möglichen Motive des Fürsten, sich in eine außereheliche Affäre zu stürzen, beleuchtet und dabei seinen Charakter buchstäblich in seine Einzelteile zerlegt haben …«

»Ja, schrecklich«, seufzte Hagen. »Also bereiten wir uns weiter auf den möglichen Prozess gegen Frau Roeder vor?«

»Lieber wäre es mir, wir hätten einen Beweis dafür in der Hand, dass sie ihre Geschichte erfunden hat. Dann wäre ich wesentlich ruhiger, Hagen.«

»Ich auch, aber genau dieser Beweis fehlt uns leider immer noch.«

Sie seufzten beide, danach machten sie sich wieder an die Arbeit.

*

»Was ist denn los?«, fragte Lucia ein paar Tage später. Ann-Cathrin Küster hatte sie angerufen und um ein Gespräch gebeten. Ausgerechnet Ann-Cathrin, die Goldschmiedin.

Aber sie würde garantiert nicht vorsichtig nachforschen, ob ihre Freundin etwas über die Aushebung des Hehlerrings wusste. Wozu sollte das außerdem gut sein? Die Betrüger waren bereits gefasst, da gab es nichts mehr zu holen, abgesehen davon, dass die Sache sie ja, wie Niko von Hohenwege ihr unmissverständlich klargemacht hatte, sowieso nichts anging.

Nur waren da eben die Gerüchte, die sich hartnäckig hielten, dass die Sache offenbar noch weitere Kreise zog, dass sie noch längst nicht alle geschnappt hatten, die darin verwickelt waren. Und da konnte es durchaus sein, dass Ann-Cathrin eben vielleicht doch etwas Interessantes gehört hatte …

Ihre Freundin zögerte. »Ich sollte dir das gar nicht erzählen, Lucia, und du musst mir bitte versprechen, es für dich zu behalten. Aber die Sache beschäftigt mich, und ich finde eigentlich, die Polizei sollte darüber Bescheid wissen. Dabei steht es mir überhaupt nicht zu …« Sie verstummte.

Lucia hatte ihr mit wachsendem Erstaunen zugehört. Es sah Ann-Cathrin nicht ähnlich, so herumzustammeln. »Ich habe verstanden, dass du mir etwas erzählen willst«, sagte sie. »Wenn ich darüber nicht reden soll, tue ich es selbstverständlich auch nicht, aber du musst dich schon ein bisschen klarer ausdrücken, wenn du willst, dass ich verstehe, worum es geht.«

»Moritz und ich waren auf Schloss Sternberg am letzten Wochenende«, sagte Ann-Cathrin endlich. »Du weißt ja, dass wir uns verloben wollen, und es war sein Wunsch, es zuerst seinen Sternberger Freunden zu erzählen. Also sind wir nachmittags für zwei Stunden dort gewesen.«

Lucia wartete auf die Fortsetzung, doch Ann-Cathrin versank in Schweigen.

»Und was ist dort passiert?«, erkundigte sich Lucia, als ihr das Schweigen zu lange dauerte.

»Mein Vater hat vor Jahren ein Medaillon für die Fürstin angefertigt«, fuhr Ann-Cathrin fort. »Fürst Leopold wollte es ihr schenken, er hat es in Auftrag gegeben. Ich war damals noch in der Ausbildung, aber ich erinnere mich sehr gut an diese Zeit. Er hat sich unendlich viel Mühe gegeben, und schließlich ist ein richtiges Meisterwerk entstanden. Er war selten mit seinen Arbeiten zufrieden, aber bei dem Medaillon hat er gesagt, als es fertig war: ›Besser kann ich es nicht.‹ Die Fürstin hat es jeden Tag getragen.«

Lucia fragte sich noch immer, worauf diese Geschichte wohl hinauslief.

»Im Inneren des Medaillons lag eine Locke von Fürst Leopold«, fuhr Ann-Cathrin fort. »Es hat sich erst jetzt herausgestellt, dass sie es vermutlich am Unglückstag nicht trug, weil nämlich sein Verschluss defekt war.«

Diese letzten Sätze genügten, damit sich die Gedanken in Lucias Kopf überschlugen, nicht umsonst wollte sie zur Kriminalpolizei. Sie hatte schon immer gut kombinieren können. »Mit einer Locke des Fürsten«, sagte sie atemlos, »könnte diese ganze Vaterschaftsgeschichte geklärt werden.«

Ann-Cathrin nickte. »Deshalb haben sie sich, als herauskam, dass die Fürstin das Medaillon beim Absturz vielleicht nicht getragen hat, auf die Suche danach gemacht. Sie haben das Schloss auf den Kopf gestellt, das Medaillon aber nicht gefunden.«

»Sie könnte es in einer Tasche bei sich gehabt haben.«

»Ja, möglich«, sagte Ann-Cathrin.

»Haben sie die Polizei über diese Angelegenheit in Kenntnis gesetzt?«

»Eben nicht«, antwortete Ann-Cathrin. »Sofia von Kant meinte, es wäre ganz sinnlos, alle verrückt zu machen mit dem Medaillon, wo es doch wahrscheinlich sei, dass die Fürstin es im Hubschrauber bei sich gehabt hat.«

In Gedanken ging Lucia die Fotokopien mit den Schmuckstücken durch. Es war zu schnell gegangen, sie hatte sich ja nicht einmal alle ansehen können – aber war nicht ein Medaillon dabei gewesen? Sie spürte, wie es in ihren Fingerspitzen zu kribbeln begann, es gelang ihr kaum, vor Ann-Cathrin zu verbergen, wie aufgeregt sie war. Eins jedenfalls stand fest: Die abgebildeten Schmuckstücke waren ohne Ausnahme sehr wertvoll gewesen, mussten also aus vermögenden Häusern stammen. Sie atmete tief durch

»Warum hast du mir das jetzt erzählt, Cathy?«

»Ich glaube, vor allem, weil du bei der Polizei bist«, gestand Ann-Cathrin. »Immerhin ist es doch möglich, dass das Medaillon gestohlen wurde, oder nicht?«

»Möglich schon«, erwiderte Lucia, »aber nicht besonders wahrscheinlich, wie du zugeben musst.«

»Ich weiß.« Ann-Cathrin klang kleinlaut. »Wahrscheinlich hat sie es in die Tasche gesteckt, weil es so eine Art Talisman für sie war. Aber trotzdem, Lucia, ich dachte, du könntest dich vielleicht unauffällig umhören. Oder würde das sehr viel Arbeit machen? Es würde mich einfach beruhigen, glaube ich. Ich will mir nicht später sagen müssen, dass ein Hinweis von mir genügt hätte …« Sie verstummte, es war nicht nötig, den Satz zu beenden.

»Nein, das kann ich schon machen. Es kommt nur wahrscheinlich nichts dabei heraus, das muss dir klar sein, Cathy.«

»Das ist es ja auch, aber ich wäre beruhigt.«

»Du müsstest mir das Medaillon beschreiben, ich muss ja wissen, wonach ich suchen soll«, sagte Lucia. Es kribbelte immer noch in ihren Fingerspitzen. Natürlich, es war alles sehr vage, viel ›wenn‹ und ›aber‹ und ›vielleicht‹ – aber unmöglich war es nicht, dass sie hier einer großen Sache auf der Spur war.

Ann-Cathrin holte einen Zettel und einen Stift aus ihrer Tasche und zeichnete mit wenigen Strichen das Schmuckstück so genau, dass Lucia es direkt vor sich sah. »So sieht es aus, und es hat eine Inschrift, von der außer uns nur das Fürstenpaar wusste. Ich weiß nicht, ob jemand aus der Familie eingeweiht ist, der kleine Fürst vielleicht. Wie die Inschrift heißt, wollte mein Vater mir nicht verraten, Fürst Leopold hatte ihn darum gebeten, die Worte für sich zu behalten. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass es eine Liebeserklärung an seine Frau ist.«

»Wann war das, Cathy? Wie alt war der kleine Fürst, als dein Vater das Medaillon angefertigt hat?«

»Fünf oder sechs, schätze ich. Ja, das kommt hin, es muss ungefähr zehn Jahre her sein, dass Fürst Leopold es in Auftrag gab.«

»Mhm.«

»Du denkst an die ›Affäre‹?«, fragte Ann-Cathrin. »Ob es eine Art Wiedergutmachungsgeschenk gewesen sein könnte?«

»Ja, in diese Richtung habe ich gedacht«, gab Lucia zu.

»Das wäre dann aber sehr spät gekommen«, meinte Ann-Cathrin. »Diese Affäre, wenn es sie gegeben hätte, muss ja schon Jahre vorher beendet gewesen sein. Außerdem glaube ich sowieso nicht daran.«

»Warum nicht? Frau Roeder beharrt noch immer darauf, dass ihr Sohn auch der Sohn des Fürsten ist.«

»Wenn du ihn gekannt hättest, wüsstest du, dass er nicht imstande war, seine Frau jahrelang zu hintergehen und zu belügen. Er hat die Fürstin über alles geliebt.«

»Andere Männer lieben ihre Frauen auch und betrügen sie trotzdem.«

»Er nicht«, sagte Ann-Cathrin mit fester Stimme.

Lucia überlegte, ob sie es wagen konnte, ihrer Freundin von dem Hehlerring zu erzählen, doch sie entschied sich dagegen. Es reichte, dass sie schon einmal unangenehm aufgefallen war, es war besser, wenn sie sich keine weiteren Fehler erlaubte.

Sie musste es nur schaffen, sich die Fotos der sichergestellten Schmuckstücke noch einmal ansehen zu dürfen, ohne über das Medaillon zu reden, denn das wollte sie auf keinen Fall, jedenfalls nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Dazu war die ganze Geschichte viel zu vage, immerhin war es trotz allem immer noch am wahrscheinlichsten, dass das Medaillon sich zum Zeitpunkt des Absturzes im Hubschrauber befunden hatte.

»Ich höre mich um, Cathy, nur solltest du dir keine allzu großen Hoffnungen machen, dass meine Nachforschungen zu etwas führen.«

Ann-Cathrin lächelte. »Danke, Lucia, mehr wollte ich nicht hören.«

»Ich werde niemandem sagen, warum ich mich für ein vielleicht gestohlenes Medaillon interessiere, aber dir ist doch klar, dass die Sache öffentlich wird, wenn ich tatsächlich etwas finden sollte?«

»Natürlich, in dem Fall hätte gewiss niemand etwas dagegen.«

Lucia nahm das auch an. Sie hatte es eilig, sich von Ann-Cathrin zu verabschieden, denn sie musste ihr weiteres Vorgehen genau planen.

»Und du meldest dich, wenn du etwas herausfindest, ja?«

»Natürlich melde ich mich«, versprach Lucia.

Auf dem Heimweg versuchte sie mit aller Kraft, sich noch einmal die Schmuckstücke zu vergegenwärtigen, deren Bilder sie zum Ärger des Kriminalkommissars von Hohenwege betrachtet hatte.

War nun ein Medaillon dabei gewesen oder nicht? Hätte Niko von Hohenwege sie nicht wie ein lästiges Insekt fortgescheucht, sie hätte sich sicher besser erinnern können. Stattdessen war sie wütend geworden, was ihrer Konzentration und ihrem Erinnerungsvermögen nicht eben förderlich gewesen war.

Typischer Anfängerfehler, dachte sie voller Zorn auf sich selbst. Das passiert mir garantiert nie wieder!

*

Als Corinna Roeder den Raum betrat, in dem die Untersuchungshäftlinge Besucher empfangen durften, erschrak Patrick Herrndorf. Sie war schmaler geworden, unter ihren Augen lagen dunkle Schatten. Er hatte sie schon einige Male hier besucht und war jedes Mal erstaunt gewesen, wie wenig die Untersuchungshaft ihr auszumachen schien. Jetzt jedoch sah man, dass sie nicht spurlos an ihr vorüberging. Es wäre auch ein Wunder gewesen.

Corinna und er hatten zusammen in einem Hotel der Luxusklasse gearbeitet, an der Rezeption. Patrick fand, dass sie dort das beste Team gewesen waren. Aber dann hatte Corinna ihren Brief an die Sternberger geschrieben und Geld für die Ausbildung ihres hochbegabten Sohnes verlangt, von dem sie behauptete, er sei auch der Sohn des Fürsten. Danach war nichts mehr so gewesen wie zuvor. Die Sache war an die Öffentlichkeit gelangt, und die Medien hatten sich gierig auf diese Geschichte gestürzt. Zuerst hatte das Hotel durchaus davon profitiert, dass ›die Geliebte des Fürsten‹ dort arbeitete, aber als sich der Wind zu drehen begann und es immer mehr danach aussah, als hätte sie ihre Geschichte vielleicht doch nur erfunden, war die Hotelleitung deutlich zurückhaltender in ihren Sympathiebekundungen für Corinna geworden.

Er war im Hotel ihr einziger Vertrauter gewesen, und das hatte ihn mit Stolz erfüllt. Corinna hatte ihm oft von ›Leo‹ erzählt, wie sie den Fürsten grundsätzlich nannte, und nie hatte er Zweifel an der Wahrhaftigkeit ihrer Worte gehabt. Erst in den letzten Wochen war das anders geworden. Es gab Zeugen, die sie von früher kannten und diesen Mann, der dem Fürsten so ähnlich sah, ebenfalls. Nach wie vor las Patrick jeden Artikel über die ›Affäre‹, und ganz allmählich ergab sich für ihn ein anderes Bild als dasjenige, das Corinna entworfen hatte. Doch noch immer war er eher bereit, ihr zu glauben, als ihre Geschichte in Zweifel zu ziehen.

Woran das lag, wusste er genau: Er war eben nicht nur ihr Vertrauter gewesen, sondern er hatte sich auch in sie verliebt. Lange Zeit hatte er seine Gefühle sogar vor sich selbst verleugnet, doch das tat er jetzt nicht mehr. Er liebte Corinna, und er würde sie wohl auch dann noch lieben, wenn sich eines Tages herausstellen sollte, dass ihre Geschichte tatsächlich erlogen war.

»Hallo, Patrick«, sagte sie leise, als sie sich ihm gegenübersetzte. »Es ist schön, dich zu sehen.«

Wie müde sie aussah! Corinna war eine schöne Frau mit ihren knapp vierzig Jahren, das fand er immer noch, obwohl er wusste, dass sie einiges an sich hatte machen lassen: Ihre Nase war operiert, und der Mund war wohl nicht immer so voll gewesen wie jetzt. Ihn störte es nicht. Er kannte sie nur so, und so gefiel sie ihm. »Hast du schlecht geschlafen?«, fragte er. »Du bist so blass. Und ich glaube, du bist schmaler geworden.«

»Das Essen hier schmeckt mir nicht«, berichtete sie betont sachlich.

Er wusste, dass sie nicht bemitleidet werden wollte, und so nickte er nur.

»Und schlecht geschlafen habe ich tatsächlich, weil man hier nicht richtig zur Ruhe kommt. Heute Nacht hat wieder jemand randaliert. Außerdem …« Sie brach ab und biss sich auf die Lippen, als hätte sie bereits zu viel gesagt.

»Außerdem was?«, fragte er.

Sie sah sich rasch um, ob jemand ihrem Gespräch zuhörte, doch vom Personal schien sich niemand für sie zu interessieren.

»Die anderen Häftlinge«, sagte sie leise. »Ich kann das nur schwer ertragen, Patrick. Wenn man sich gegen sie stellt, machen sie einem das Leben zur Hölle. Wenn man aber mitmacht, ist es auch nicht viel besser.«

»Was willst du damit sagen?«

»Ich brauche ständig Geld, um mir ein bisschen Ruhe zu erkaufen«, sagte sie.

»Soll ich dir etwas leihen?«, fragte er.

»Nein, das sollst du nicht. Ich hoffe ja, dass ich nicht mehr lange hierbleiben muss.«

»Hast du gehört, dass ihnen dieser Sven Helmgart entwischt ist, quasi in letzter Minute?«

»Ich kenne den Mann ja nicht«, bemerkte sie mit spöttisch gekräuselten Lippen, »aber ich weiß immerhin, dass er der Doppelgänger sein soll, den die Sternberger erfunden haben. Ein genialer Schachzug, das muss man ihnen lassen.«

Wieder einmal fragte er sich, ob sie so abgebrüht sein konnte, dass sie eine Lügengeschichte selbst jetzt noch aufrechterhielt. Da er das für unwahrscheinlich hielt, kam er einmal mehr zu dem Schluss, dass sie wohl doch die Wahrheit gesagt hatte, denn sonst wäre sie doch unter dem wachsenden Druck der Öffentlichkeit, vor allem der Medien, doch gewiss längst zusammengebrochen.

»Es gibt Leute, die behaupten, euch damals gekannt zu haben.«

»Ja, ich weiß. Es finden sich immer Zeugen, die alles Mögliche aussagen. Nur haben sie diesen Mann, der offenbar die einzige Möglichkeit ist, die Sache im Sinne der Sternberger zu beenden, bisher nicht gefunden. Ich habe es dir ja schon früher gesagt: Er ist der berühmte ›große Unbekannte‹, der immer dann herhalten muss, wenn jemand nicht weiter weiß.«

Patrick hatte keine Ahnung, wie sie es machte, aber jedes Mal, wenn er mit ihr sprach, lösten sich seine Zweifel, so er sie sich überhaupt eingestand, in Wohlgefallen auf, und so war es auch dieses Mal: Er glaubte ihr.

»Hast du von deinem Sohn gehört?«, fragte er.

Sie nickte langsam. »Er hat mich gefragt, ob er kommen und mir helfen soll, weil er denkt, dass mein Anwalt vielleicht nicht genug für mich tut – was Unsinn ist.«

»Und was hast du ihm geantwortet?«

»Dass er um Himmels Willen bleiben soll, wo er ist. Ich habe ihn schließlich in die USA geschickt, damit er dort aus der Schusslinie ist, ich habe ja geahnt, was auf uns zukommen könnte, wenn die Sternberger sich querstellen. Und das haben sie ja dann wirklich getan. Nein, ich bin froh, dass er so weit weg ist und diese Geschichte nur aus der Ferne mitbekommt. Außerdem: Wie sollte er mir helfen?«

»Wird er auf dich hören?«

Sie sah ihn erstaunt an. Er bemerkte, dass sich in ihr Erstaunen auch ein wenig Unruhe mischte. »Ich bin seine Mutter«, erwiderte sie. »Du denkst doch nicht etwa, er würde sich über meinen Willen hinwegsetzen?«

»Na ja«, gab er zu bedenken, »dieses ist eine sehr ungewöhnliche Situation, wie du zugeben musst. Du sitzt in Untersuchungshaft, da ist es doch verständlich, wenn sich dein Sohn wünscht, in deiner Nähe zu sein.«

»Aber er kann hier nichts tun, und das habe ich ihm auch ganz klar gesagt. Er soll die Schule beenden, damit er auf die Uni gehen kann, so war das geplant, und so werden wir es auch durchziehen.«

»Ohne Geld?«, fragte Patrick vorsichtig. »Für seine Ausbildung wolltest du doch Geld vom Fürstenhaus haben.«

»Das will ich immer noch, aber wir haben uns bis jetzt auch so durchgeschlagen, Patrick. Mit Stipendien, Darlehen, was weiß ich.«

»Hast du schon einmal daran gedacht, dass sie dich auch verurteilen könnten, wenn es dir nicht gelingt, deine Geschichte zu beweisen?«

»Ich habe nichts Unrechtes getan«, erklärte sie mit trotzig vorgerecktem Kinn. »Ich habe nur versucht, unserem Sohn einen besseren Start ins Leben zu ermöglichen. Wenn das ein Verbrechen sein soll …«

»Das meinte ich nicht, Corinna«, sagte Patrick. »Was wirst du tun, wenn du im Gefängnis bleiben musst? Dann wird Sebastian ganz auf sich gestellt sein, und du wirst überhaupt kein Geld mehr verdienen.«

Sie war noch blasser geworden bei seinen Worten. »Darüber denke ich nicht nach, denn wenn ich es täte, würde ich verrückt. Eines Tages werden sie erkennen, dass ich die Wahrheit gesagt habe.«

Er hütete sich, ihr noch weitere Fragen zu stellen, schließlich wollte er sie nicht in Angst und Schrecken versetzen, und so schob er ihr ein Päckchen über den Tisch. »Für dich«, sagte er, »etwas zu lesen«

Zum ersten Mal während dieses Besuchs lächelte sie. Rasch griff sie nach seiner Hand und drückte sie. »Ich danke dir, Patrick«, sagte sie mit warmer Stimme.

Wenig später war die Besuchszeit zu Ende, sie standen beide auf. »Wirst du zulassen, dass ich dir helfe, falls du Hilfe brauchen solltest?«, fragte er.

Er sah ihr an, dass sie eine ablehnende Antwort bereits auf der Zunge hatte, aber die schluckte sie hinunter. »Ja«, sagte sie stattdessen, »von dir würde ich Hilfe annehmen.«

Wie nach jedem seiner Besuche im Untersuchungsgefängnis fühlte er sich leicht betäubt, als er danach auf die Straße trat. Es war eine fremde Welt da drinnen, sie machte ihn beklommen, und auch heute brauchte er einige Minuten, bis er wieder frei atmen konnte.

Er hatte Spätdienst im Hotel. Als er die elegante Lobby betrat, blieb er stehen, sobald er die Drehtür hinter sich gelassen hatte. Was für ein Gegensatz, dachte er!

*

»Frau von Ballwitz möchte dich sprechen«, sagte Peter.

Niko sah ihn ungläubig an. »Soll das ein Witz sein?«

»Nein, sie hat dein Vorzimmer angerufen, ich habe es gerade mitbekommen.«

In diesem Moment erschien die Sekretärin an der Tür. »Eine Polizeiobermeisterin von Ballwitz möchte Sie sprechen. Sie macht es ziemlich dringend, Chef.«

»Was habe ich gerade gesagt? Aber du wolltest mir ja nicht glauben.« Peter grinste breit und zog sich zurück.

»Ist sie noch in der Leitung?«, fragte Niko.

»Sie wollte gleich rüberkommen, als sie hörte, dass Sie hier sind. Sie hat mich überhaupt nicht ausreden lassen …«

»Typisch«, murmelte Niko. »Lassen Sie sie durch, aber tauchen Sie nach spätestens zehn Minuten auf und erinnern Sie mich an meinen Termin. Wahrscheinlich bin ich schon vor Ende der zehn Minuten mit meiner Geduld am Ende.«

Die Sekretärin lächelte verschwörerisch, bevor sie Niko mit seinen Gedanken allein ließ. Was konnte Frau von Ballwitz von ihm wollen? Sich noch einmal entschuldigen? Gewiss nicht, sie war nicht der Typ dafür. Sich noch einmal beschweren, weil er sie zurechtgewiesen hatte? Das konnte er sich schon eher vorstellen, aber sollte sie das wagen, würde sie etwas zu hören bekommen …

»Frau von Ballwitz ist jetzt da«, hörte er die Sekretärin sagen. Sie hatte kaum ausgesprochen, als die junge Polizeiobermeisterin sich bereits ins Zimmer drängte.

»Sie haben es offenbar mächtig eilig, mit mir zu sprechen«, bemerkte Niko spöttisch. »Ich hätte nicht angenommen, dass Sie sich nach unserem unglücklichen ersten Zusammentreffen so schnell wieder hier blicken lassen würden.«

»Ich habe eine Bitte«, stieß sie hervor.

Langsam wurde es interessant. Er überlegte, ob er ihr einen Platz anbieten sollte, ließ es dann aber. Ihr Verhalten vor einigen Tagen hatte ihn sehr geärgert, das durfte sie ruhig merken. »Und die wäre?«

»Kann ich mir bitte noch einmal die Fotos von den gestohlenen Schmuckstücken ansehen?«

Er lehnte sich auf seinem Bürostuhl zurück und verschränkte beide Arme vor der Brust. »Warum?«, fragte er knapp. »Wir haben doch neulich schon festgestellt, dass diese Angelegenheit Sie nichts angeht, und daran hat sich bis jetzt nichts geändert, so weit ich das überblicke.« Er sah sie scharf an. »Ich hoffe, Sie haben mit niemandem darüber gesprochen?«

»Natürlich nicht! Ich möchte mir nur die Fotos ansehen!« Ihre Blicke verrieten, dass sie ihn zum Teufel wünschte.

»Aus rein beruflichem Interesse, nehme ich an.« Seine Stimme troff vor Ironie.

»Ja!«, bestätigte sie mit Nachdruck.

Er beugte sich vor. »Sie wissen nichts über unsere Nachforschungen, sie haben auch nichts damit zu tun. Welches berufliche Interesse könnte das also sein?«

Sie antwortete nicht sofort, sodass er, noch spöttischer als zuvor, hinzusetzte: »Geben Sie es ruhig zu, Ihnen geht es wie allen Frauen: Sie interessieren sich für Schmuck. Sie haben ein paar Abbildungen von außergewöhnlichen Stücken gesehen, und jetzt möchten Sie sich die noch einmal ansehen.«

»Darum geht es ganz bestimmt nicht!« Ihre Stimme zitterte vor Ärger über seine Unterstellung.

»Dann sagen Sie mir, worum es geht«, verlangte er. Er hätte tatsächlich gern erfahren, warum sie hier war, aber ihm war klar, dass sie ihm die Wahrheit auf keinen Fall sagen würde. Trotzdem begann die Situation ihm Spaß zu machen. Lucia von Ballwitz war wirklich sehr hübsch, besonders wenn sie wütend war. Interessante Augen hatte sie. Wären ihre Blicke Pfeile gewesen, er hätte dieses Gespräch mit Sicherheit nicht überlebt.

»Das kann ich nicht.« Sie verlor die Beherrschung, was er vorhergesehen hatte. Wenn sie nicht lernte, ihr Temperament zu zügeln, würde sie irgendwann Schwierigkeiten bekommen. »Verdammt, müssen Sie es mir so schwer machen? Ich kann Ihnen vielleicht helfen, und ich verlange nichts weiter, als dass Sie mich diese Fotos noch einmal in Ruhe ansehen lassen.«

Er fing an zu lachen. »Mir helfen?«, fragte er. »Wobei denn, wenn ich fragen darf? Wie schon gesagt: Sie wissen doch überhaupt nichts über unsere Ermittlungen. Wie also wollen Sie uns dann helfen?«

Sie war offensichtlich um eine Antwort verlegen, was ihn sofort wieder misstrauisch machte. »Oder wissen Sie doch etwas?«, fragte er. »Dann reden Sie gefälligst – und sagen Sie mir, von wem Sie etwas gehört haben. Unsere Ermittlungen sind streng vertraulich …«

»Es geht um ein ganz bestimmtes Schmuckstück, ein Medaillon, das vielleicht gestohlen worden ist, mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Ich will doch nur die Kopien noch einmal durchsehen.«

»Ihre Erklärung reicht mir leider nicht«, erwiderte er gelassen. »Sonst könnte nämlich jeder irgendwelche Behauptungen aufstellen, und wir würden den lieben langen Tag nichts anderes tun, als Leuten Dinge zu zeigen, die sie eigentlich nichts angehen.«

»Sie sind unverschämt!«, stieß sie hervor. »Ich bin nicht bei der Kripo, und ich bin noch Anfängerin, aber das gibt Ihnen nicht das Recht, mich zu beleidigen.«

Er zog die Augenbrauen in die Höhe und lächelte amüsiert. »Beleidigen?«, fragte er und zog das Wort ordentlich in die Länge. »Sie verkennen doch wohl die Tatsachen, Frau Kollegin. Sie haben neulich hier herumgeschnüffelt, in Unterlagen, die Sie nicht sehen sollten – und jetzt wollen Sie, ohne vernünftige Erklärung, da weitermachen, wo Sie neulich gestört worden sind. Nennen Sie mir einen einzigen vernünftigen Grund, weshalb ich Ihnen vertrauen sollte. Nun?« Er wartete zwei Sekunden. »Ich dachte mir schon, dass Ihnen keiner einfällt. Mir nämlich auch nicht, und damit ist der Fall erledigt. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden? Ich habe heute noch sehr viel zu tun, anders als Sie offenbar.«

Mehrere Sekunden lang stand sie schwer atmend vor ihm, bevor sie sich wortlos umdrehte und aus seinem Büro stürmte.

Es dauerte nicht lange, bis Peter wieder auftauchte. »Und? Was wollte sie?«

Niko gab ihm eine kurze Zusammenfassung des Gesprächs und schloss mit den Worten: »Sie wollte mir nicht erklären, warum sie sich für die Fotos interessiert. Angeblich ging es um ein Medaillon, das vielleicht – ich betone ›vielleicht‹ – gestohlen worden ist. Das war mir zu wenig, also habe ich sie abblitzen lassen.«

»Vielleicht war das ein Fehler. Sie gehört nicht zu denen, die sich wichtig machen, Niko.«

»Aber vielleicht zu denen, die sich gern schöne Schmuckstücke ansehen. Sie hätte mir ja ihre Überlegungen nur mitzuteilen brauchen, dann hätte ich es mir vielleicht überlegt. Sie hat sich aber ausgeschwiegen.«

»Das war natürlich blöd, aber vielleicht lag es auch an dir. Du bist ja neulich schon mit ihr aneinandergeraten, da kann ich mir schon vorstellen, dass sie nicht ausgerechnet dir etwas anvertrauen will, was sie vielleicht in Erfahrung gebracht hat.«

»Was sollte das schon sein? Über den Hehlerring kann sie nichts wissen.«

»Aber über den Schmuck vielleicht. Sie stammt aus einer vermögenden Familie, da erkennt man wertvolle Stücke, nehme ich an. Womöglich ist ihr ein Diebstahl zu Ohren gekommen.«

Niko machte eine unwillige Bemerkung. »Wir sind hier nicht im Fernsehen und nehmen an einer Quizsendung teil«, sagte er ärgerlich. »Wenn sie etwas zu sagen hat, soll sie es ausspucken, ich habe nicht die Zeit, mich an Rätselspielen zu beteiligen. Geheimniskrämerei ist in einem solchen Fall fehl am Platze.«

Dagegen konnte Peter nichts einwenden, denn Niko hatte zweifellos Recht. Dennoch sah er, dass seine Worte nicht ohne Wirkung geblieben waren, und mehr hatte er eigentlich nicht erreichen wollen. Er jedenfalls hielt es für durchaus möglich, dass Lucia von Ballwitz etwas wusste, was für ihre Kollegen von der Kripo von Interesse war.

*

»Mir ist noch etwas eingefallen, Marie«, sagte Eberhard Hagedorn, als er nachmittags wieder einmal einen Espresso mit der jungen Köchin trank. »Erinnern Sie sich, dass wir neulich über Rosa Gehring sprachen?«

»Ja, natürlich erinnere ich mich daran, Herr Hagedorn.«

»Wir sprachen darüber, dass sie so schnell nach dem Tod des Fürstenpaares gekündigt hat und wie verwundert wir darüber waren.«

Marie-Luise Falkner nickte. »Viele andere hatten Angst, ihre Arbeit zu verlieren, weil niemand wusste, wie es weitergehen würde, und Rosa hat von sich aus gekündigt. Das fand ich sehr merkwürdig, denn ihre Stelle war ja gar nicht in Gefahr, weil sie als besonders zuverlässig galt. Das haben Sie doch neulich auch noch einmal gesagt.«

»So ist es. Sie war eine Spitzenkraft.«

»Und was ist Ihnen nun eingefallen?«

»Ich sagte Ihnen doch, dass mir damals Klatsch über sie zu Ohren gekommen sei, den ich aber sofort wieder vergessen hätte, weil mich so etwas nicht interessiert. Offenbar hatte ich ihn aber doch nicht vergessen, denn er ist mir wieder eingefallen. Erinnern Sie sich ­daran, dass sie einen Freund hatte?«

Ein überraschter Blick traf ihn. Das Privatleben der anderen Angestellten war normalerweise kein Thema bei ihren Gesprächen in der großen Schlossküche. »Kaum«, antwortete sie zögernd. »Ich weiß noch, dass mal jemand gesagt hat: ›Die Rosa muss verliebt sein, so wie sie jetzt immer strahlt.‹ Daraufhin habe ich sie mir genauer angesehen und fand auch, dass sie glücklicher wirkte als vorher.«

»Ja, daran erinnere ich mich auch. Ich hatte nämlich Sorgen, dass sie vielleicht nachlässiger würde in ihrer Arbeit, aber diese Sorgen hätte ich mir nicht machen müssen. Sie ist zuverlässig geblieben.«

»Ja, und?«, fragte Marie-Luise ratlos. Sie hatte noch immer keine Ahnung, worauf der alte Butler hinauswollte.

»Es hat damals Gerüchte über ihren Freund gegeben«, sagte Eberhard Hagedorn langsam. »Das war der Klatsch, den ich gehört hatte. Unter anderem hieß es, der junge Mann sei schon einmal straffällig geworden.«

»Stimmt, das hatte ich völlig vergessen, Herr Hagedorn«, rief Marie-Luise. »Das ist mir auch zu Ohren gekommen. Er hatte etwas gestohlen, war aber mit einer Bewährungsstrafe davongekommen, weil er sich vorher noch nie etwas hatte zuschulden kommen lassen. Ich habe sogar einmal mit Rosa darüber gesprochen.«

»Tatsächlich? Und was hat sie gesagt?«

»Sie wollte nichts auf ihn kommen lassen, ich glaube, damals war sie noch ganz frisch verliebt. Jedenfalls hat sie ihn mit flammenden Reden verteidigt und gesagt, ein paar Freunde hätten ihn verführt. Sie war bereit, beide Hände dafür ins Feuer zu legen, dass er eine solche Dummheit nie wieder begehen würde.«

Eberhard Hagedorn nickte. »Ja, das war mir auch zu Ohren gekommen, Marie.«

»Ehrlich gesagt, ich begreife noch nicht, worauf Sie hinauswollen«, erklärte die junge Köchin zaghaft.

»Der Verschluss des Medaillons war defekt, Marie«, begann er langsam. »Nehmen wir einmal an, die Fürstin hat es hier liegen lassen, weil es ihr zu heikel war, es zu tragen. Natürlich rührt ein zuverlässiges Zimmermädchen ein solches Schmuckstück nicht an, weil es ja weiß, dass es zuerst in Verdacht geraten wird. Nehmen wir weiter an, ihr Freund hat schon einmal vorsichtig nachgefragt, ob es überhaupt auffallen würde, wenn sie im Schloss, das ja verschwenderisch ausgestattet ist, eine wertvolle Kleinigkeit mitgehen lassen ließe. Für Rosa undenkbar, sie liebt ihre Arbeit und will sie nicht verlieren. Aber vielleicht ist er unter Druck geraten, wodurch auch immer. Er braucht Geld und hat sie dann auch unter Druck gesetzt. Und dann stürzt der Hubschrauber mit dem Fürstenpaar ab. Keiner denkt an das Medaillon, keiner weiß, dass es da liegt, wo die Fürstin es abgelegt hat. Rosa nimmt es, und kurz darauf kündigt sie. Alle gehen davon aus, dass die Fürstin das Medaillon bei dem Unglück getragen hat, niemand schöpft Verdacht.«

Marie-Luise war seinen Ausführungen atemlos gefolgt, ihre Augen waren immer größer geworden. »Wenn es so war, Herr Hagedorn, dann muss das Medaillon noch irgendwo sein.«

Er nickte. »Wie Sie ganz richtig sagen: irgendwo. Ob der, in dessen Händen es jetzt ist, es herausgäbe, ist ungewiss. Wenn es, auf welchen Wegen auch immer, zu einem seriösen Händler gelangt ist, gäbe es vielleicht eine Chance, es noch zu finden, wenn aber nicht …« Eberhard Hagedorn ließ seinen Satz unbeendet ausklingen.

Nach einer Weile sagte er: »Ich kann aber auch völlig falsch liegen, Marie. Es ist ja nichts weiter als eine Theorie.«

»Weiß die Polizei eigentlich von dem Medaillon?«

»Nein, bis jetzt nicht. Da es sich auch nach mehrmaligem Suchen im Schloss nicht gefunden hat, sind die Frau Baronin und der Herr Baron davon ausgegangen, dass die Fürstin es doch bei sich trug, als der Hubschrauber abstürzte. Und sie wollten wohl verhindern, dass in den Medien auch noch diese Geschichte ausgeschlachtet worden wäre.«

»Sie müssen mit ihnen reden, Herr Hagedorn. Dann entscheiden sie vielleicht anders.«

»Ich schwanke noch«, gestand der alte Butler. »Sicher, die Theorie klingt nicht völlig abwegig, aber sie kann trotzdem falsch sein. Außerdem ist es noch immer sehr unwahrscheinlich, dass sich das Medaillon finden ließe, und ich möchte ungern falsche Hoffnungen wecken. Davon gab es in letzter Zeit eindeutig zu viele.«

»Überlassen Sie es der Frau Baronin und dem Herrn Baron, eine Entscheidung zu fällen. Oder der gesamten Familie. Aber ich finde, die Polizei müsste jetzt von dem Medaillon erfahren. Wir haben doch nichts mehr zu verlieren. Es kann eine falsche Spur sein, dann ist trotzdem nichts verloren.«

»Doch«, widersprach Eberhard Hagedorn leise, »eine weitere Hoffnung.«

Dieser Einwand jedoch überzeugte Marie-Luise Falkner nicht. »Dann darf sich eben niemand Hoffnungen machen!«, sagte sie energisch. »Wenn sich alle darüber im Klaren sind, dass Ihre Theorie auch falsch sein kann, besteht doch eigentlich keine Gefahr.«

Er sah es anders, widersprach ihr aber trotzdem nicht. Sie war noch jung und hatte viel Kraft. Sie konnte sich wohl nicht vorstellen, wie erschöpft die Familie von den vergangenen Monaten war. Da konnte jede noch so kleine Spur schnell zum Strohhalm werden, an den man sich klammerte, weil es sonst nichts mehr gab, das Halt gab.

Trotz dieser Überlegungen kam er zu dem Schluss, dass Marie-Luises Rat richtig war, und das sagte er ihr auch. Es war nicht seine Entscheidung, sondern die der Familie.

»Bitte, sagen Sie es ihnen noch heute, Herr Hagedorn«, drängte die junge Köchin, als er sich erhob, um die Küche zu verlassen.

»Ich werde um eine Unterredung nach dem Essen bitten«, erklärte er. »Ein bisschen Zeit brauche ich noch, um mich innerlich darauf vorzubereiten.«

»Sie tun das Richtige, Herr Hagedorn.«

Er nickte ihr noch einmal zu, dann ging er.

*

»Wieso bist du eigentlich so sauer?«, erkundigte sich Mara, als sie abends mit Lucia zusammen die Polizeiwache verließ. »Die Kollegen tuscheln schon, weil du angeblich den ganzen Tag nicht ein einziges Mal gelächelt hast, und jetzt schließen sie Wetten ab, ob du unglücklich verliebt bist.«

»Ich war noch mal bei Niko von Hohenwege«, erklärte Lucia. »Das reicht, um einem die Laune für eine ganze Woche zu vermiesen, nicht nur für einen Tag.«

»Du warst noch mal bei ihm?«, fragte Mara überrascht. »Freiwillig?«

»Ja, stell dir vor, absolut freiwillig.«

»Aber wieso denn? Er hat dich doch neulich so zusammengefaltet, dass du geschworen hast, ihm für alle Zeiten aus dem Weg zu gehen.«

»Ich wollte, dass er mich die Fotos von den Schmuckstücken noch einmal ansehen lässt.«

Mara blieb stehen. »Bist du verrückt geworden? Was ist denn auf einmal mit dir los? Er hat dir doch gesagt, dass die dich nichts angehen. Hast du etwa gesagt, dass du von dem Hehlerring weißt?« Sie wurde immer aufgeregter.

»Natürlich nicht, jetzt beruhige dich mal wieder. Es ging um etwas, was Ann-Cathrin mir erzählt hat, ich kann darüber nicht reden. Es ging um ein bestimmtes Schmuckstück, und ich wollte mich nur vergewissern, ob es zufällig bei der Hehlerware aufgetaucht ist.«

»Und das wollte er nicht zulassen?«

»So genau habe ich ihm das ja nicht sagen können, ich durfte den Hehlerring doch nicht erwähnen, und Ann-Cathrin möglichst auch nicht. Jedenfalls haben ihm meine Erklärungen nicht gereicht, da bin ich gegangen.«

»Das heißt, du kannst nichts machen«, stellte Mara fest, die nicht beleidigt war, weil Lucia ihr Informationen vorenthielt. Manchmal musste man auch einer Freundin gegenüber verschwiegen sein, in bestimmten Fällen hielt sie es genauso.

»So ist es, und deshalb bin ich sauer. Um genau zu sein: stocksauer. Wenn ich könnte, würde ich dem Kerl den Hals umdrehen, glaub mir.«

»Ich bin sicher, das hast du dir anmerken lassen«, stellte Mara trocken fest.

»Ja, und? Soll ich ein freundliches Gesicht machen, während er mich wie ein dummes Mäuschen behandelt? Er hat mir unterstellt, dass es mir nur darum ging, mir noch einmal schöne Schmuckstücke anzusehen, dieser …, dieser …« Ihr fiel kein passendes Schimpfwort ein.

»Komm mal wieder runter«, verlangte Mara. »Er hat dich beim Schnüffeln erwischt, das hätte dir im umgekehrten Fall auch nicht gepasst. Kurz darauf verlangst du von ihm, dass du noch einmal schnüffeln darfst, und du weigerst dich sogar, ihm Gründe für deinen Wunsch zu nennen. Also, wenn ich ehrlich sein soll: Ich hätte an seiner Stelle nicht anders gehandelt.«

Lucia blieb stehen und funkelte ihre Freundin zornig an. »Aber du hättest dir keinen Spaß daraus gemacht, mich mit Hohn und Spott zu übergießen, oder?«

»Nein, das nicht«, gab Mara zu. »Vielleicht hast du sein Verhalten aber auch als schlimmer empfunden als es war. Du kannst ihn nicht leiden, also kannst du alles, was er sagt oder tut, auch nicht leiden.«

Kopfschüttelnd setzte sich Lucia wieder in Bewegung. »Du brauchst ihn nicht zu verteidigen, Mara. Er mag in seinem Job gut sein, aber als Mensch ist er eine Katastrophe.«

»Ich habe andere Meinungen über ihn gehört«, wagte Mara zu widersprechen. »Er gilt als gerecht und loyal, wenn jemand in Schwierigkeiten ist, lässt er ihn nicht hängen. Und manche behaupten sogar, dass er im Grunde genommen ein richtig netter Mensch ist.«

»Von mir aus«, murrte Lucia. »Solange ich nichts mit ihm zu tun haben, muss, kann er sein, wie er will.«

»Ist dir schon mal die Idee gekommen, dass er noch bei der Kripo sein könnte, wenn du dich dort bewirbst?« Mara hatte diese Frage betont beiläufig gestellt.

Lucia blieb wieder stehen. »Nein!«, antwortete sie entschieden. »Das kann überhaupt nicht passieren, denn wenn er noch hier ist, bewerbe ich mich auf jeden Fall woanders.«

»In einer anderen Stadt?«

»Zur Not auch das.«

»Dann verlieren wir uns aus den Augen.«

Ärgerlich lief Lucia weiter. »Wieso reden wir eigentlich über lauter ungelegte Eier? Erstens bewerbe ich mich noch nicht, weil ich noch Erfahrungen sammeln will, und zweitens wird der Herr Kriminalkommissar bestimmt bald befördert und sitzt dann im Präsidium.«

»Mann, Mann«, stellte Mara fest, »wenn es sich jemand erst einmal mit dir verdorben hat, kriegt er kein Bein mehr an die Erde, Lucia. Du bist, was Niko von Hohenwege angeht, einfach nicht mehr zu objektiver Betrachtung fähig.«

»Kann sein«, gab Lucia zu, »aber zum Glück muss ich das ja auch nicht sein, oder? Ich darf es mir erlauben, ihn nicht ausstehen zu können.«

Mara musste lachen, und dadurch löste sich die kleine Spannung zwischen ihnen in Wohlgefallen auf.

*

Nach Eberhard Hagedorns langer Rede herrschte Stille in der Bibliothek. Die ganze Familie war zusammengekommen, nachdem der alte Butler darum gebeten hatte, einige Überlegungen vortragen zu dürfen, die er in den vergangenen Tagen angestellt habe. Eingedenk Marie-Luise Falkners Warnung hatte er noch hinzugefügt, niemand solle glauben, er habe eine Sensation zu verkünden, aber er wolle die Herrschaften doch wissen lassen, was ihm durch den Kopf gegangen sei. Und das hatte er jetzt also getan, ruhig und überlegt wie immer.

»Wenn das stimmt …«, sagte Anna schließlich.

»Dann gäbe es die Locke noch irgendwo«, setzte Christian hinzu.

»Aber vielleicht stimmt es ja auch nicht.« Eberhard Hagedorn hielt es für geboten, die Erwartungen gleich zu dämpfen.

»Oder es gibt nur das Medaillon noch, und der neue Besitzer hat die Locke längst entfernt«, gab Konrad zu bedenken.

Eberhard Hagedorn nickte. Auch diesen Gedanken hatte er bereits gehabt. Alles in allem war seine Theorie zwar schlüssig, fand er, aber leider keinesfalls zwingend.

Der Baron war aufgestanden und zum Fenster gegangen, wo er eine Weile nachdenklich in den Park geblickt hatte. Jetzt drehte er sich um. »Vielen Dank, Herr Hagedorn, dass Sie uns das alles erzählt haben. Ich stimme Ihnen völlig zu: So kann es gewesen sein. Weiter sind wir deshalb allerdings nicht.«

»Das ist mir klar, Herr Baron.«

»Dennoch bin ich der Überzeugung, dass wir der Polizei nun doch die Geschichte des Medaillons erzählen müssen. Was immer sie damit anfangen – sie müssen informiert werden.«

»So sehe ich das auch«, ließ sich Baronin Sofia vernehmen. »Wahrscheinlich hätten wir das längst tun sollen. Die Hoffnung, dass es sich wiederfindet, ist zwar gering, aber es gibt ja manchmal seltsame Zufälle, die dann doch zur Lösung eines Problems führen, das man vorher für unlösbar hielt.«

»Ich werde Kriminalrat Overbeck anrufen«, beschloss der Baron. »Er kann das, was Ihnen zu dem Zimmermädchen wieder eingefallen ist, sicherlich besser einordnen als wir, Herr Hagedorn, und er wird diese Informationen so weiterleiten, wie es für die Ermittlungen am besten ist.«

Der alte Butler lächelte erleichtert, denn insgeheim hatte er befürchtet, seine Theorie werde trotz seiner vorsichtigen Einführung für neue Aufregung sorgen, doch allem Anschein nach war das nicht der Fall. Er zog sich mit einer angedeuteten Verbeugung zurück.

»Komisch«, sagte Konrad, als die Familie unter sich war, »noch vor ein paar Wochen hätte mich so eine Möglichkeit elektrisiert. Jetzt denke ich nur: Kann sein, kann auch nicht sein. Erst einmal abwarten.«

Die anderen nickten. Es ging allen wie ihm. Die immer wieder enttäuschten Hoffnungen im Verlauf der ›Affäre‹ hatten sie vorsichtig gemacht – und misstrauisch gegenüber neuen, Erfolg versprechenden Spuren.

Erst einmal abwarten, so hieß jetzt die Losung.

*

»Setzen Sie sich, Niko«, sagte Kriminalrat Volkmar Overbeck, der die steile Karriere des jungen Mannes seit Jahren wohlwollend verfolgte. Aus Niko von Hohenwege würde seiner Meinung nach einmal einer der ersten Kriminalisten des Landes werden.

Niko nahm Platz. Er fühlte sich unbehaglich. Wenn man zum Kriminalrat zitiert wurde, hatte das meistens nichts Gutes zu bedeuten. Er ging im Kopf rasch noch einmal seine bisherigen Erkenntnisse zum Fall des korrupten Kollegen Anton Kurrer durch, konnte aber keine Versäumnisse erkennen. Sie waren noch immer dabei, alle Unterlagen zusammenzutragen, für eine Anklage reichte das, was sie bisher gefunden hatten, schon dreiMal aus. Die andere Frage war natürlich, warum Kurrer sich so lange hatte bereichern können, ohne aufzufallen, aber das war zum Glück nicht sein Problem.

Was nun den Hehlerring anging, so mussten sie entscheiden, ob sie ihren Fahndungserfolg jetzt veröffentlichen wollten, was Niko für das Beste hielt. Die Bestohlenen sollten ihre Schmuckstücke, Bilder und anderen Wertgegenstände ja möglichst bald zurückerhalten. Also …

»Jetzt machen Sie doch nicht so ein besorgtes Gesicht«, sagte der Kriminalrat. »Es geht bei dieser Unterredung nicht um Versäumnisse oder andere unerfreuliche Dinge – auch nicht um den Korruptionsfall, der für einigen Wirbel in der Polizeiführung sorgt, wie Sie sich vielleicht vorstellen können.«

»Nicht nur dort, auch bei uns«, erklärte Niko.

»Kann ich mir vorstellen, aber das ist heute nicht unser Thema.«

»Sondern?«, fragte Niko. »Ich bin schon all meine Sünden durchgegangen auf dem Weg zu Ihnen.«

Der Kriminalrat lächelte. »Ja, ich weiß, so war es bei mir früher auch immer. Manchmal kann ich es heute noch nicht fassen, dass ich jetzt derjenige bin, vor dem manche Leute sich fürchten.« Das Lächeln verschwand so schnell von seinem Gesicht, wie es aufgetaucht war. Zu Nikos größter Überraschung sagte er: »Sie wissen, ich habe gute Kontakte zum Hause Sternberg. Kontakte, die über das rein Berufliche hinausgehen.«

Niko nickte, insgeheim höchst überrascht. Über Sternberg wollte der Kriminalrat mit ihm reden? Mit der ›Affäre‹ hatte er bisher – zum Glück – nichts zu tun gehabt. Das war eine so unerfreuliche Geschichte, dass er froh war, wenn er möglichst wenig darüber hörte. Er legte auch jetzt keinerlei Wert darauf, aber natürlich konnte er das so nicht sagen.

Der Kriminalrat hatte ihn beobachtet und offenbar die richtigen Schlüsse gezogen. »Keine Sorge, ich will Sie nicht in die Ermittlungen über die ›Affäre‹ hineinziehen, obwohl das, was ich Ihnen zu sagen habe, damit in Zusammenhang steht. Lassen Sie mich zuerst eine Frage stellen: Ist Ihnen bei den sichergestellten Schmuckstücken ein Medaillon aufgefallen?«

Niko hatte sich dieses Mal gut unter Kontrolle, er wollte nicht, dass der Kriminalrat weiterhin in ihm las wie in einem offenen Buch, und so gelang es ihm, bei dem Wort ›Medaillon‹ nicht zusammenzuzucken. Natürlich fiel ihm sofort die zweite unerfreuliche Begegnung mit Lucia von Ballwitz ein, denn die hatte auch von einem Medaillon gesprochen. Zufall? Oder war es ein Fehler gewesen, ihre Bitte, die Fotos noch einmal ansehen zu dürfen, abschlägig zu bescheiden? Ihm wurde heiß und kalt, doch auch das ließ er sich nicht anmerken.

»Es waren zwei oder drei Medaillons dabei«, sagte er langsam. »Darf ich fragen, weshalb Sie sich dafür interessieren?«

»Deshalb habe ich Sie rufen lassen, um Ihnen das zu erzählen.«

Es folgte eine längere Geschichte, deren Brisanz Niko sehr schnell erfasste. Wenn der alte Butler, der sich diese Gedanken gemacht hatte, richtig lag, und wenn sich das Medaillon dann bei der Hehlerware fand … Er spürte ein Ziehen im Bauch, wie immer, wenn eine Spur heiß wurde. Die ›Affäre‹ war nicht seine Sache, aber das spielte keine Rolle. Wenn er dazu beitragen konnte, sie zu beenden, würde er es mit Freuden tun.

»Können Sie sich darum kümmern, ohne Aufsehen zu erregen?«, fragte der Kriminalrat. »Das frage ich, weil die Sternberger in dieser Angelegenheit schon genug erduldet haben. Weitere öffentliche Aufmerksamkeit, neue Spekulationen, neue unverschämte Geschichten über die Gründe, warum der Fürst seiner Frau das Medaillon geschenkt hat, braucht kein Mensch. Und falsche Hoffnungen brauchen sie auch nicht.«

»Wie erkenne ich das Medaillon?«, fragte Niko, während er gleichzeitig überlegte, ob er dem Kriminalrat vom Vorstoß der Kollegin von Ballwitz erzählen sollte. Aber das konnte er immer noch tun, wenn er mit ihr gesprochen hatte. Wozu sollte er vorher die Pferde scheu machen? Außerdem legte er keinen gesteigerten Wert darauf, Volkmar Overbeck zu erklären, dass eine Kollegin der Schutzpolizei Gelegenheit gehabt hatte, sich Fotos der sichergestellten Hehlerware anzusehen. Das musste der Kriminalrat nicht erfahren, fand er. Und seine beiden Unterhaltungen mit Lucia von Ballwitz wollte er auch nicht unbedingt in allen Einzelheiten schildern. Er war nicht stolz auf sein Verhalten. Etwas mehr Souveränität hätte ihm gut angestanden, zu dieser Erkenntnis war er mittlerweile gelangt.

»Es soll eine Inschrift darin geben«, erklärte der Kriminalrat. »Und, wenn wir ganz großes Glück haben, eben auch die Haarlocke des Fürsten, die im Augenblick natürlich viel wichtiger ist als das Medaillon.«

»Wie lautet die Inschrift?«

»Das konnte mir Baron von Kant nicht sagen. Es war wohl so, dass außer dem Juwelier nur das Fürstenpaar die Inschrift kannte. Auch Baronin von Kant hat sie niemals zu Gesicht bekommen, obwohl sie und ihre Schwester, die Fürstin, eng miteinander verbunden waren.«

»Der kleine Fürst auch nicht?«

»Es war wohl eine Liebeserklärung des Fürsten, und die war nur für seine Frau bestimmt.«

»Verstehe«, murmelte Niko. »Ich sehe sofort nach.«

»Die Sachen sind doch streng unter Verschluss?«

»Ja, natürlich, das gesamte Lager wird doppelt und dreifach bewacht, aber da ich in der Sache ermittele, kann ich jederzeit Nachforschungen anstellen.«

»Und dann rufen Sie mich bitte sofort an. Wäre es nicht so auffällig gewesen, hätte ich die Sachen selbst in Augenschein genommen, aber Aufsehen möchte ich unter allen Umständen vermeiden.«

»Schade, dass der Name des Freundes von dieser Frau Gehring nicht bekannt ist«, sagte Niko. »Aber vielleicht bekomme ich ihn heraus, dann könnte man zumindest nachforschen, ob er rückfällig geworden ist.«

Der Kriminalrat winkte ab. »Verschwenden Sie damit nicht Ihre kostbare Zeit. Jetzt geht es erst einmal nur um das Medaillon.«

»Ihnen ist aber klar, wie unwahrscheinlich es ist, dass es sich unter den von uns sichergestellten Schmuckstücken befindet, Herr Overbeck?«

»Ja, mir ist es klar«, seufzte der Kriminalrat, »und den Sternbergern ist es auch klar. Deshalb bringen Sie es so schnell wie möglich hinter sich, bevor doch noch Hoffnungen aufkeimen, die wir dann nur wieder zerstören müssen.«

Niko nickte und verabschiedete sich. Es war ihm bis zum Schluss gelungen, seine wachsende Erregung vor Kriminalrat Overbeck zu verbergen. Im Lichte dessen betrachtet, was er soeben erfahren hatte, war Lucia von Ballwitz’ Bitte neulich, sich die Fotos noch einmal ansehen zu dürfen und natürlich ihre Erwähnung eines Medaillons von außerordentlicher Bedeutung. Zwar konnte er sich nicht erklären, wie sie an entsprechende Informationen gelangt war, aber diese Frage würde er ihr gleich stellen.

Diese und noch einige andere dazu.

*

»Wenn Herr Hagedorn Recht hat«, sagte Anna, während sie mit Christian, Konrad und Togo durch den Schlosspark auf den nahen Waldrand zulief, »dann sähe die Sache gleich ganz anders aus.«

»Wie oft haben wir das schon gesagt, Anna?«, fragte Konrad seine Schwester. »Und jedes einzelne Mal haben sich alle Hoffnungen zerschlagen. Ich finde, es wäre das Beste, die Sache gleich wieder zu vergessen. Morgen kommt dann die Nachricht von der Kripo, dass sie zwar eine Menge Diebesgut in ihren Tresoren gelagert haben, aber leider kein wertvolles Medaillon mit einer dunklen Haarlocke im Inneren.«

Er warf einen schnellen Blick zu Christian hinüber, der mit verschlossenem Gesicht neben ihnen lief. »Entschuldige, Chris, das klingt vielleicht hart, aber ich glaube einfach nicht mehr an wundersame Wendungen in diesem Fall.«

»Ich auch nicht«, erklärte der kleine Fürst. »Du musst dich also nicht entschuldigen.«

»Ihr seid blöd«, schmollte Anna. »Es geht doch nicht um Wunder oder übertriebene Hoffnungen. Ich will nur ein bisschen über Herrn Hagedorns Theorie nachdenken.«

»Mach ruhig, Anna«, sagte Christian. »Nur möchte ich mich dieses Mal nicht daran beteiligen, sonst fange ich doch wieder an zu überlegen, was wäre, wenn …«

Aber Anna hatte die Freude an ihren Gedankenspielen jetzt ebenfalls verloren, und so blieben die drei Teenager dieses Mal eher in sich gekehrt. Bei anderen Gelegenheiten diskutierten sie lebhaft, heute jedoch war jeder in seine eigenen Gedanken vertieft.

Togo, dem lebhaften Boxer, blieb die verhaltene Stimmung nicht verborgen. Immer wieder musste er einfordern, dass ihm ein Stöckchen geworfen wurde – bei sonstigen Spaziergängen verstand sich das von selbst. Doch heute war nichts wie sonst, und schließlich fand er sich damit ab und trollte sich, um im Wald auf eigene Faust interessante Spuren zu erschnüffeln, denn nicht nur Stöckchenwerfen konnte einen Hund glücklich machen. Da gab es noch viele andere Dinge, von denen Menschen nicht die geringste Ahnung hatten.

*

»Kino heute Abend?«, fragte Mara, als sie zur Mittagspause auftauchte. »Möglichst etwas zum Lachen, ich brauche Aufheiterung.«

»Ich auch«, erklärte Lucia. »Der Morgen war eine einzige Katastrophe. Manchmal hat man echt das Gefühl, dass man es nur mit Verrückten zu tun hat. Ein betrunkener Autofahrer, der sich im Recht glaubt, nachdem er eine alte Frau angefahren hat; ein Junge, der denkt, es sei in Ordnung, einem Obdachlosen Geld zu stehlen; ein Dieb, der so blöd ist, unter den Augen eines Polizisten ein Auto aufzubrechen und ein durchgeknallter Rentner, der mit einem Luftgewehr auf Jugendliche feuert, weil sie seiner Meinung nach zu laut sind.«

Mara winkte ab. »Kenne ich alles, glaub bloß nicht, dass es besser ist, wenn du Streife fährst.«

»Doch, ist es«, widersprach Lucia. »Da trifft man wenigstens ab und zu auch noch ein paar nette, normale Leute …«

»Heute jedenfalls nicht«, stellte Mara fest. »Es war durchweg trostlos. Also: Kino? Ja oder nein?«

»Ja.«

»Gut, kommst du jetzt mit zum Essen?«

Lucia stand auf. »Bin schon unterwegs«, sagte sie.

Aber weit kamen sie nicht. »Wenn mich nicht alles täuscht«, sagte Mara nach wenigen Schritten leise, »dann kommt da hinten der Herr von Hohenwege angestürmt, und ich finde, er sieht so aus, als ob er zu dir wollte.«

»Bestimmt nicht, wir beide sind fertig miteinander«, murmelte Lucia. »Ich tue einfach so, als sähe ich ihn nicht.«

»Er findet doch sonst den Weg kaum jemals in unseren Trakt«, konnte Mara gerade noch sagen, da hatte Niko von Hohenwege die beiden jungen Frauen auch schon erreicht. Er nickte Mara kurz zu, bevor er sich an Lucia wandte. »Ich muss Sie sprechen, Frau von Ballwitz. Jetzt sofort.«

»Jetzt habe ich Pause«, erklärte Lucia störrisch, was ihr einen heftigen Stoß von Maras Ellenbogen eintrug.

»Die Pause müssen Sie verschieben«, sagte der junge Kommissar. »Kommen Sie.« Er drehte sich um und schien, wie schon bei ihrer ersten Begegnung, ganz selbstverständlich davon auszugehen, dass sie ihm folgte.

Sie fand sein Verhalten wie gehabt: selbstherrlich und empörend, und so öffnete sie bereits den Mund, um ihm das laut und deutlich mitzuteilen, als Mara leise sagte: »Jetzt geh schon, verdammt noch mal. Du siehst doch, dass er was Dienstliches auf dem Herzen hat.«

Das hatte Lucia überhaupt nicht gesehen. Sie hatte vielmehr den Eindruck gehabt, der Kollege von der Kripo wollte sie ein weiteres Mal fertigmachen.

Er schien endlich zu merken, dass er allein seinem Büro zustrebte, und so blieb er stehen und sah sich um. »Bitte, kommen Sie«, sagte er, und zum ersten Mal klang es auch für Lucias Ohren eher nach Bitte als nach Befehl.

»Bis später«, sagte Mara und setzte ihren Weg zur Kantine fort. Lucia sah ihr neidisch hinterher, bevor sie sich in Bewegung setzte, um Niko von Hohenwege zu seinem Büro zu folgen.

Dieses Mal bat er sie, sich zu setzen. Mit hochgezogenen Augenbrauen kam sie seiner Bitte nach. Er wollte offenbar etwas von ihr, sonst wäre er gewiss nicht plötzlich so höflich geworden. Sie nahm also Platz und verschränkte die Arme vor der Brust. Das hatte sie von ihm gelernt, es wirkte abweisend und unnahbar, und genauso wollte sie jetzt wirken.

»Diese Unterredung muss vertraulich behandelt werden, unter allen Umständen«, sagte er. »Bitte, sichern Sie mir das zu.«

»Selbstverständlich«, erwiderte sie spöttisch. »Sie wollen mir also ein unanständiges Angebot machen, über das ich dann mit niemandem reden darf.«

Einen Moment lang sah er sie verständnislos an, dann zeigte sich unerwartet ein Lächeln auf seinem Gesicht. »Sie können also auch witzig sein.«

»Und Sie können lächeln, wenn es Ihnen auch sichtlich schwerfällt.«

Sofort verschwand das Lächeln, sein Tonfall wurde dienstlich. »Sie haben sich neulich für ein Medaillon interessiert. Können Sie mir sagen, warum?«

»Nein, das kann ich nicht.«

»Und warum nicht?«

»Weil ich der Person, die mir davon berichtet hat, Stillschweigen versprochen habe.«

»Dann erzähle ich Ihnen jetzt eine Geschichte, und ich habe auch versprochen, darüber Stillschweigen zu wahren«, erklärte er. »Danach sind Sie an der Reihe, und anschließend sehen wir uns gemeinsam noch einmal die Fotos von den Schmuckstücken an.«

Sie vergaß ihren Vorsatz, sich abweisend zu verhalten, so sehr überraschten sie seine Worte. Unwillkürlich beugte sie sich vor. »Wieso?«, fragte sie.

»Erst meine Geschichte, dann hoffentlich Ihre Geschichte – und dann sehen wir weiter.«

Er begann zu reden, und schon bald stockte ihr der Atem. Natürlich war alles bis jetzt nur graue Theorie, mehr als ein paar äußerst vage Hinweise gab es nicht, aber trotzdem war es nicht unmöglich, dass die Überlegungen des Sternberger Butlers in die richtige Richtung gingen. Aber selbst wenn das Medaillon damals gestohlen worden war, hieß das natürlich noch längst nicht, dass sie es finden würden. Andererseits …

Da er seinen Bericht in diesem Augenblick beendete und sie erwartungsvoll ansah, stand sie auf. »Einen Moment bitte«, sagte sie. »Ich muss etwas holen.«

Er sagte nichts, nickte nur. Sie holte Ann-Cathrins Zeichnung aus einem verschlossenen Fach ihres Schreibtischs und kehrte damit in Niko von Hohenweges Büro zurück. Schweigend legte sie ihm die Zeichnung hin.

»Das ist es?«, fragte er.

»Ja, das ist es. Der Vater einer Freundin von mir hat es angefertigt. Sie hat die Geschichte mit dem Medaillon, das die Fürstin am Unglückstag vielleicht nicht getragen hat, erst jetzt gehört und mich gebeten, mich einmal umzuhören, ob vielleicht irgendwo ein gestohlenes Medaillon aufgetaucht ist.«

»Wie ist sie darauf gekommen, es könnte gestohlen worden sein? Sie konnte doch von den Überlegungen, die der Sternberger Butler jetzt angestellt hat, noch gar nichts wissen?«

»Sie hat vor allem mit mir geredet, weil ich bei der Polizei bin und weil sie das Gefühl hatte, etwas tun zu müssen. Sie hatte ja erfahren, dass die Polizei von dem Medaillon zu dem Zeitpunkt noch gar nichts wusste. Ich habe ihr versprochen, ein paar Erkundigungen einzuziehen, ohne damit zu rechnen, dass ich etwas herausfinden würde, muss ich gestehen. Ich wollte ihr eigentlich nur einen Gefallen tun, weil sie meine Freundin ist. Deshalb wollte ich die Fotokopien noch einmal ansehen, weil ich mich nicht genau erinnern konnte, ob ein Medaillon dabei gewesen war oder nicht.«

»Als Sie die Kopien angesehen haben, da wussten Sie bereits etwas, was Sie eigentlich nicht hätten wissen dürfen, oder?«

Sie zögerte nur kurz, bevor sie nickte. »Ja, ich weiß von der Hehlerbande, die Sie hochgenommen haben, und ich dachte mir gleich, dass das Fotos der Sachen sind, die bei diesem Coup gefunden wurden. Aber ich hatte kein spezielles Interesse daran, bis ich die Geschichte von dem Medaillon gehört habe. Das hat natürlich alles geändert.«

»Haben Sie Ihrer Freundin von dem Hehlerring erzählt?«

Der Blick, den sie ihm zuwarf, verriet, dass die Frage sie kränkte. »Natürlich nicht. Ich habe nur gesagt, ich würde mich umhören. Ich trage doch keine internen Vorgänge nach außen!«

Er schwieg einen Moment, bevor er sagte: »Ich habe Ihnen Unrecht getan, entschuldigen Sie bitte.«

Lucia lächelte schwach. »Ich habe ja wohl tatsächlich wie eine Frau gewirkt, die ihre Nase in Sachen steckt, die sie nichts angehen.« Es wunderte sie selbst, wie leicht sie das jetzt zugeben konnte. »Und wie machen wir jetzt weiter?«, fragte sie.

»Wir sehen gemeinsam die Fotos durch.«

»Ich meine, es wäre ein Medaillon dabei gewesen«, murmelte Lucia, »aber sicher bin ich, ehrlich gesagt, nicht.«

»Wir werden es gleich wissen, Frau Kollegin.«

»Was ist mit diesem Zimmermädchen?«, fragte sie. »Und dem Freund?«

»Mein Kollege Peter Friese kümmert sich schon darum. Rosa Gehring ist auf jeden Fall nirgends aktenkundig, das haben wir sofort feststellen können. Aber wir werden den Namen des Mannes, mit dem sie damals zusammen war, bald wissen.« Er griff zum Telefon und wies seine Sekretärin an, ihm die Fotos von den Schmuckstücken zu bringen. »Sie sind nämlich unter Verschluss«, sagte er erklärend zu Lucia.

»Meinetwegen?«, fragte sie.

»Sagen wir es so: Weil eine Person sie gesehen hat, die sie nicht hätte sehen sollen«, erwiderte er diplomatisch. Dieses Mal erreichte das Lächeln auch seine Augen.

Seltsamerweise fand sie ihn mittlerweile beinahe sympathisch.

*

»Es gibt wohl noch keine Neuigkeiten, Herr Hagedorn?«, fragte Marie-Luise Falkner, als sie mit einem sehr lecker aussehenden Törtchen und einem Espresso zu dem alten Butler an den großen Holztisch in der Küche trat, an dem er kurz zuvor Platz genommen hatte. Er sah müde und nachdenklich aus.

»Nein, so schnell kann das ja auch nicht gehen. Danke, Marie. Sie sollten mich nicht so verwöhnen.«

»Das tue ich doch gar nicht!« Die junge Köchin spann ihren Gedankengang weiter. »Immerhin haben die Frau Baronin und der Herr Baron sofort die Polizei benachrichtigt. Sie hätten ja auch sagen können, dass das, was Sie sich überlegt haben, ziemlich weit hergeholt ist.«

»Es ist eine gute Theorie, die aber trotzdem falsch sein kann, Marie. So haben sie das auch gesehen. Zu dumm, dass wir den Namen von Rosa Gehrings damaligem Freund nicht wussten. Dann hätte die Polizei viel schneller feststellen können, ob die beiden mit dem Verschwinden des Medaillons etwas zu tun haben.«

»Ich wage gar nicht, mir auszumalen, dass es gefunden wird«, sagte Marie-Luise leise.

»Das tue ich lieber auch nicht. Enttäuschungen hatten wir in den letzten Monaten genug. Überlegen Sie mal, wie viele Spuren schon verfolgt wurden, und keine davon hat zu einem Ergebnis geführt. Das war jedes Mal schlimm.«

»Ganz besonders für Prinz Christian«, sagte die junge Köchin mitleidig. »Ich kann ihn nur bewundern, wie er das alles erträgt. Kein Fünfzehnjähriger sollte innerhalb eines Jahres so viel mitmachen müssen.«

Eberhard Hagedorn leerte seine Tasse und aß mit Genuss das Törtchen, bevor er sich wieder erhob. »Danke, Marie. Sobald es Neuigkeiten gibt, lasse ich es Sie wissen.«

»Ich wünsche mir so sehr, dass die ›Affäre‹ endlich beendet werden kann.«

»Das wünschen wir uns alle«, erwiderte Eberhard Hagedorn, bevor er mit langsamen Schritten die Küche verließ.

*

»Kriminalpolizei?«, fragte die kleine dunkelhaarige Frau mit den rehbraunen Augen erschrocken.

»Ja«, antwortete Peter Friese und stellte seinen Kollegen Gero Hartmann und sich vor. »Sie sind Frau Rosa Gehring, ist das richtig?«

Sie nickte, ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich wusste es«, flüsterte sie. »Ich wusste es von Anfang an.«

Gero und Peter wechselten einen kurzen Blick. »Dürfen wir hereinkommen, Frau Gehring?«

Sie nickte nur. Nach einem raschen Blick ins Treppenhaus schloss sie die Wohnungstür und ging voran in ein kleines, sehr aufgeräumtes Wohnzimmer. »Bitte schön«, sagte sie.

Sie nahmen auf zwei Sesseln Platz, während Rosa Gehring, die ehemalige Schlossangestellte, sich auf das Sofa setzte. Sehr gerade saß sie da, gespannt wie eine Feder.

»Was wussten Sie von Anfang an, Frau Gehring?«, fragte Peter ruhig.

»Dass die Sache rauskommen würde«, flüsterte sie. »Sie sind doch wegen des Medaillons hier?«

Die beiden erfahrenen Beamten ließen sich nicht anmerken, dass diese Frage sie förmlich elektrisierte. Eberhard Hagedorn, der Sternberger Butler, hatte mit seinen Vermutungen also einen Volltreffer gelandet! »Ja, deshalb sind wir hier, Frau Gehring«, antwortete Peter ruhig.

Sie nickte, das hatte sie erwartet. »Ich hätte mich darauf niemals einlassen dürfen, aber als ich zur Besinnung gekommen bin, war es zu spät, und ich konnte es nicht mehr rückgängig machen. Ulf hat mich immer ausgelacht, er hat meine Angst nicht ernst genommen.«

»Ihr Freund?«, fragte Peter.

»Wir sind schon lange nicht mehr zusammen«, erklärte sie stockend. »Er hatte mir geschworen, dass es eine einmalige Sache bleiben würde. Ein Freund hatte ihn betrogen, er war in Schwierigkeiten und brauchte dringend Geld. Er hatte schon öfter Andeutungen gemacht, dass es im Schloss doch so viele wertvolle Sachen gäbe, bestimmt würde es nicht auffallen, wenn mal eine Kleinigkeit fehlte. Ich habe solche Bemerkungen zuerst gar nicht ernst genommen.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich glaube, er war nur mit mir zusammen, weil ich diese Stelle hatte. Jedenfalls habe ich ihm von dem Medaillon erzählt, dessen Verschluss kaputt war. Die Fürstin hatte es schon einmal beinahe verloren, wir haben es gemeinsam gesucht und wiedergefunden, das war zwei Tage vor dem Unglück. An ihrem Todestag hat sie es im Schloss gelassen, es lag in ihrem Nachttisch, ich habe es beim Saubermachen gesehen. Und dann …«

Sie stockte, Tränen liefen ihr über die Wangen. Die beiden Beamten verhielten sich still, um nur ja ihren Erzählfluss nicht zu unterbrechen. »Ich habe Ulf davon erzählt, abends noch, als alles wegen des Unglücks in heller Aufregung war. Da hat er gesagt, dass das ein Wink des Schicksals wäre: Alle würden denken, dass die Fürstin das Medaillon bei dem Absturz getragen hat, so wie immer. Niemand würde es vermissen. Ich sollte es einfach einstecken und mitnehmen, dann wäre er mit einem Schlag all seine Probleme los. Und es käme ja im Grunde auch niemand zu Schaden. Er hat so lange auf mich eingeredet, bis ich es wirklich getan habe, am nächsten Tag. Aber ich hatte dann so ein schlechtes Gewissen, dass ich nicht mehr im Schloss arbeiten konnte, also habe ich gekündigt, obwohl ich dort so gern gearbeitet habe.«

Sie tupfte sich die Augen trocken. »Kurz danach habe ich gemerkt, dass Ulf das Interesse an mir verlor – und ich bin ihm drauf gekommen, dass er überhaupt nicht vorhatte, mit den kriminellen Sachen aufzuhören, also habe ich mich von ihm getrennt. Er hat mir damals gedroht, wenn ich jemals über die Geschichte rede, würde ich es bereuen. Außerdem sagte er, dass ich jetzt ja selbst eine Kriminelle bin, weil ich das Medaillon gestohlen hatte, und dass es deshalb nur gut für mich wäre, den Mund zu halten.« Sie warf den beiden Beamten einen traurigen Blick zu. »Das habe ich dann auch getan, aber ich habe ungelogen jeden einzelnen Tag an diese Geschichte gedacht und mich geschämt. Verhaften Sie mich jetzt?«

Peter sah sie nachdenklich an. »Ich nehme nicht an, dass Sie die Absicht haben zu fliehen, Frau Gehring?«

»Nein, natürlich nicht. Ich …, ich arbeite jetzt in einem wirklich guten Hotel, die Stelle möchte ich nicht verlieren.« Nun flossen die Tränen wieder. »Aber wenn sie hören, dass ich im Schloss ein Schmuckstück der Fürstin gestohlen habe, werfen sie mich sowieso raus, ich würde das an ihrer Stelle auch tun. Dabei …« Sie schlug beide Hände vors Gesicht. »Ich schäme mich so«, schluchzte sie. »Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr ich mich schäme.«

Peter und Gero verständigten sich abermals wortlos, dann sagte Gero ruhig: »Vielleicht muss Ihr neuer Arbeitgeber gar nichts von der Sache erfahren, Frau Gehring. Sie haben sich zu einer Straftat anstiften lassen, aber ich nehme an, Sie haben von dem Geld, das Ihr Freund für das Medaillon bekommen hat, nichts gesehen?«

Sie sah ihn verständnislos an. »Ich? Natürlich nicht, damit wollte er doch seine Schulden bezahlen.«

Noch immer glaubte sie offenbar den Lügen, die der Mann ihr erzählt hatte.

»Ich weiß nicht einmal, wie viel er dafür bekommen hat, außerdem haben wir uns ja kurz danach getrennt«, setzte sie hinzu.

»Das alles entlastet Sie, ebenso wie Ihr Geständnis. Natürlich wird Ihr Freund behaupten, dass er Sie niemals angestiftet hat, aber ich denke nicht, dass ihm jemand Glauben schenken wird angesichts seiner kriminellen Karriere. Wie ist sein vollständiger Name?«

»Ulf Brenner«, antwortete Rosa Gehring mit zitternder Stimme.

»Wissen Sie, ob er noch hier in der Gegend wohnt?«

Aber diese Frage konnte die junge Frau nicht beantworten.

»Macht nichts, wir finden ihn schon. Sie müssten uns jetzt begleiten, Frau Gehring, damit wir Ihr Geständnis aufnehmen und Sie es unterschreiben können.«

»Bin ich verhaftet?« Sie hatte noch immer Tränen in den Augen.

»Nein, danach können Sie nach Hause gehen. Allerdings bitten wir Sie, in der nächsten Zeit nicht zu verreisen. Es kann sein, dass wir Ihnen noch weitere Fragen stellen müssen.«

»Bitte, schicken Sie mich nicht ins Gefängnis, ich habe noch nie etwas gestohlen außer diesem Medaillon, und ich schwöre Ihnen, ich stehle in meinem Leben nie wieder etwas. Es gibt nichts, was ich so sehr bereue wie diesen Augenblick, in dem ich es aus dem Nachttisch genommen und eingesteckt haben.«

Die beiden Beamten bezweifelten nicht, dass ihre Worte ernst gemeint waren.

*

»Ausgerechnet!«, schimpfte Ni­ko. »Ich dachte, wir hätten mittlerweile von allem, was in dem Hehlerlager gefunden wurde, Fotos, aber das ist nicht so. Ich höre gerade, dass noch weitere Schmuckstücke gefunden wurden, die Listen werden gerade erstellt. Erst wenn diese Listen fertig sind, können die Fotos gemacht werden.« Er platzte fast vor Ärger und Ungeduld.

Lucia stand auf. Sie hatten sämtliche verfügbaren Fotos durchgesehen, doch das Medaillon, das Johannes Küster für die Fürstin von Sternberg angefertigt hatte, war auf keinem abgebildet. Ihre Enttäuschung war natürlich riesengroß gewesen, doch zum Glück war Niko von Hohenwege auf die Idee gekommen, bei den Kollegen noch einmal nachzufragen, ob die Fotosammlung vollständig war. Und siehe da: Sie war es nicht. »Dann gehe ich jetzt zurück an meine Arbeit«, sagte sie. »Wir müssen doch ohnehin warten, oder?«

Er nickte. »Im Augenblick können wir nichts weiter tun. Ich habe zwar versucht, Druck zu machen, aber den sind die Kollegen natürlich gewöhnt. Jeder hat es eilig und glaubt, dass sein Fall am dringendsten bearbeitet werden muss.«

»Wo befinden sich die Sachen denn jetzt eigentlich?«

Er warf ihr einen schrägen Blick zu, lächelte dann aber. »Noch dort, wo wir sie gefunden haben, und dieser Ort wird rund um die Uhr schwer bewacht.«

»Wegen Anton Kurrer?«, fragte sie.

»Ja«, gab er zu. »Diese Korruptionsgeschichte macht uns hier sehr zu schaffen.« Er stockte kurz, bevor er hinzusetzte: »Behalten Sie es für sich, aber ich glaube, dass mein Vorgänger da mit drinhängt. Allein hätte Kurrer so etwas niemals durchziehen können.«

»Ihr Vorgänger?«, fragte Lucia überrascht. »Aber der ist doch …«

»… befördert worden, ich weiß. Ich steche direkt in ein Wespennest, wenn ich diesen Verdacht laut äußere.«

»Ist es nur ein Verdacht oder haben Sie auch etwas in der Hand.«

Er sah sie nachdenklich an. »Schon seltsam, dass ich ausgerechnet mit Ihnen darüber rede, nicht wahr? Wir beide hatten ja nun wirklich einen ziemlich schlechten Start.«

»Wissen Ihre Kollegen nichts von diesem Verdacht?«

»Nein, nicht einmal Peter Friese, mit dem ich befreundet bin.«

Er hatte diesen Satz kaum ausgesprochen, als es kurz klopfte, bevor auch schon die Tür geöffnet wurde und Peter Friese hereinkam. Er blieb sofort stehen, als er Lucia sah. »Oh, Entschuldigung«, sagte er, sichtlich überrascht.

»Komm rein, Peter«, bat Niko. »Frau von Ballwitz ist wegen unserer Sache hier.« Er sah Lucia fragend an. »Darf ich ihn einweihen?«

»Unter der Bedingung, dass Sie ihm auch von Ihrem Verdacht erzählen«, erwiderte sie. »Diese Nummer ist für einen allein zu groß, man muss das auf mehrere Schultern verteilen.«

»Was ist hier eigentlich los?«, erkundigte sich Peter verwirrt. »Ich dachte, ihr beide …«

Niko winkte ab. »Vergiss es, Schnee von gestern. Hast du Neuigkeiten?«

»Und ob!«, sagte Peter.

*

»Herr Hagedorn hatte also Recht?«, fragte Baron Friedrich.

Kriminalrat Volkmar Overbeck nickte. »Ja, er hat hundertprozentig ins Schwarze getroffen, Baron von Kant. Rosa Gehring, Ihre ehemalige Angestellte, ist voll geständig. Eine sehr sympathische junge Frau übrigens, die richtig erleichtert war, endlich alles erzählen zu können. Ich kann nur hoffen, dass sie verständnisvolle Richter findet, die ihr keine Steine in den Weg legen. Die Frau wird garantiert nie wieder straffällig werden.«

»Und der Freund?«

»Nach dem suchen wir jetzt. Wenn einer weiß, wo das Medaillon geblieben ist, dann er. Leider kann ich Ihnen keine großen Hoffnungen machen, dass wir es finden. Das müsste schon ein großer Zufall sein.«

»Immerhin wissen wir jetzt, dass wir im Schloss nicht weiter danach zu suchen brauchen«, murmelte der Baron. »Wir haben ja alles auf den Kopf gestellt hier, sobald wir von der Möglichkeit hörten, dass meine Schwägerin es am Unfalltag nicht getragen hat.«

»Es ist ein merkwürdiger Gedanke, dass ohne den Diebstahl von Frau Gehring die ›Affäre‹ niemals dieses Ausmaß angenommen hätte. Das Medaillon lag im Nachttisch der Fürstin, es wäre bald gefunden worden, mit der Locke darin, so dass ein Gentest schnell Klarheit geschaffen hätte.«

»Wer weiß, wozu es gut war, Herr Kriminalrat. Wir haben schlimme Monate hinter uns, aber sie hatten auch ihr Gutes, obwohl ich selbstverständlich lieber auf diese Erfahrung verzichtet hätte. Wir haben erfahren, dass wir stark sind, auch in Krisenzeiten. Wir hatten Zweifel zu überwinden, Ängste, Tage und Nächte voller Verzweiflung, aber wir haben uns davon nicht überwältigen lassen. Vor allem von den Zweifeln nicht, und ich darf Ihnen versichern, das war das Schwerste.«

»Bewundernswert, dass Sie es so sehen können, Herr von Kant. Ich weiß nicht, ob es mir an Ihrer Stelle gelingen würde, den vergangenen Monaten auch positive Aspekte abzugewinnen.«

»Man lernt das, weil einem schlicht nichts anderes übrig bleibt«, erklärte der Baron.

Als der Kriminalrat sich verabschiedet hatte, machte sich Friedrich auf den Weg zur Bibliothek. Sofia war unterwegs, er wartete ungeduldig auf ihre Rückkehr, um ihr berichten zu können, was er soeben erfahren hatte.

*

»Ich habe gehört, dass du heute länger bei deinem Feind warst«, sagte Mara, als sie kurz vor Dienstschluss bei Lucia auftauchte.

»Er ist nicht mehr mein Feind, und mehr kann ich dir leider nicht sagen, Mara.«

»Ich hatte es schon befürchtet«, seufzte ihre Freundin. »Aber mein Spion hat mir erzählt, dass ihr gemeinsam noch einmal die Fotos angesehen habt. Also reime ich mir einiges zusammen.« Sie grinste vergnügt, als sie Lucias erschrockenes Gesicht sah. »Keine Sorge, meine Lippen sind versiegelt, du kennst mich doch. Gehen wir nun ins Kino oder nicht?«

»Ich kann nicht, ich habe ziemlich viel nachzuholen, weil Herr von Hohenwege mich lange von meiner eigentlichen Arbeit abgehalten hat. Ich muss das heute Abend noch machen, ich will die Kollegen nicht gegen mich aufbringen.«

»Dann also ein andermal. Ciao, meine Süße, bis morgen.«

»Bis morgen, Mara.«

Lucia zwang sich zur Konzentration auf die Protokolle und Berichte, die sie noch zu schreiben hatte, aber es fiel ihr schwer. Viel lieber hätte sie über das Medaillon nachgedacht und welchen Weg es im letzten Jahr wohl genommen hatte. Unglaublich, dass der Sternberger Butler praktisch im Alleingang auf die richtige Idee gekommen war, wenn auch mit Verspätung. Offenbar war an ihm ein richtiger Kriminalist verloren gegangen.

Es war schon fast neun Uhr, als eine Stimme hinter ihr sagte: »Müssen Sie meinetwegen Überstunden machen?«

Es war Niko von Hohenwege, der an der Tür stand und jetzt näher trat.

»Ja«, gab sie zu. »Ich kann das nicht bis morgen liegen lassen, aber jetzt bin ich fertig, endlich.«

»Haben Sie Hunger? Es ist zwar schon spät, aber ich wette, Sie haben noch nicht zu Abend gegessen.«

Sie merkte erst jetzt, dass ihr Magen tatsächlich leer war. »Hunger habe ich schon, ja.«

»Dann lade ich Sie zum Essen ein, ja? Kleine Wiedergutmachung, weil ich Sie heute Nachmittag so lange aufgehalten habe.«

»Das hat mir nichts ausgemacht, mich interessiert diese Sache.«

»Nehmen Sie meine Einladung an?«

»Ja, gern, vielen Dank.«

Er steuerte ein Restaurant an, das sie zu Fuß erreichen konnten. Jetzt, mitten in der Woche, war es nur mäßig besucht. Sie fanden sofort einen Platz, ein wenig abseits der übrigen Tische, sodass sie sich ungestört unterhalten konnten.

Nachdem sie ihre Bestellungen aufgegeben hatten, fragte Lucia: »Hat sich noch etwas Neues ergeben?«

»Wir suchen den Freund von Frau Gehring, er ist ja der Schlüssel zu allem. Was hat er mit dem Medaillon gemacht? Lässt sich sein Weg noch verfolgen?«

»Und vor allem: Befindet sich die Locke noch in seinem Inneren?«, setzte Lucia nachdenklich hinzu. »Das ist zwar für Sie nicht interessant – ich meine, es spielt für Ihren Fall von Diebstahl und Hehlerei keine Rolle – aber für das Haus Sternberg ist es das Wichtigste.«

»Ja, ich weiß, aber ich gebe keine Prognose ab. Zufall und Glück müssen uns in die Hände spielen, und auf beides haben wir keinen Einfluss.«

Das Essen war ausgezeichnet, es fehlte ihnen nicht an Gesprächsstoff, und so verging die Zeit schnell. »Es ist fast Mitternacht!«, rief Lucia beinahe erschrocken, als sie schließlich auf ihre Armbanduhr blickte.

Auch Niko wunderte sich. »Das hätte ich nicht gedacht. Wohnen Sie weit von hier entfernt?«

»Überhaupt nicht, ich kann zu Fuß zur Arbeit gehen.«

»Dann bringe ich Sie nach Hause.«

Er bat um die Rechnung, wenig später verließen sie das Restaurant. »Das war ein sehr schöner Abend, Lucia«, sagte Niko leise. Es war das erste Mal, dass er sie mit dem Vornamen ansprach. »Für mich der schönste seit Langem.«

»Ich fand ihn auch schön«, erwiderte sie. »Sie sind ganz anders, als ich dachte.«

Er lachte leise. »Danke, gleichfalls. Wir hatten, wie ich schon einmal festgestellt habe, einfach einen schlechten Start. Sollen wir noch einmal von vorn beginnen?«

»Gerne. Und wir könnten uns auch duzen, immerhin haben wir schon Geheimnisse miteinander.«

Er blieb stehen, wobei er sie am Arm festhielt, so dass auch sie nicht weitergehen konnte.

»Was ist denn?«, fragte sie.

»Das ›Du‹ muss mit einem Kuss besiegelt werden«, antwortete er und bevor sie den Sinn seiner Worte richtig begriffen hatte, verschlossen seine Lippen bereits ihren Mund. Ihr erster Impuls war, ihn zurückzustoßen, schließlich kannten sie sich kaum und noch vor Kurzem hatten sie einander nicht ausstehen können. Aber ihr Körper wollte etwas anderes als ihr Kopf: Er schmiegte sich an diesen ihr beinahe unbekannten Mann, ihre Arme umschlangen ihn, und ganz von selbst öffnete sich ihre Lippen.

»Es war mir nicht bewusst«, sagte Niko, als sie sich schließlich voneinander lösten, »und ich hätte es auch niemals zugegeben, aber ich glaube, das habe ich mir schon gewünscht, als wir bei unserem ersten Zusammentreffen aneinander geraten sind.«

»Das glaube ich dir nicht. Du warst doch so wütend auf mich!«

»Ja, das war ich, ich fand dich unerträglich. Aber zugleich auch sehr, sehr anziehend.«

Sie küssten sich erneut, bevor sie ihren Weg fortsetzten, Hand in Hand und mit glücklichen Gesichtern.

*

Ulf Brenner wurde zwei Tage später in Stuttgart festgenommen. Er versuchte zu fliehen, als er begriff, dass es zwei Kriminalbeamte waren, die in dem Moment auf ihn zutraten, da er das Haus verlassen wollte, aber Peter Friese und Gero Hartmann waren nicht allein unterwegs, und so konnte der junge Mann nach wenigen Metern gestoppt werden. Eine genaue Durchsuchung seiner Wohnung brachte genügend Beweise für Straftaten ans Licht. Unter anderem hatte er in einem Zimmer, das ihm offenbar als Lager diente, eine hübsche Sammlung elektronischer Geräte in Originalverpackung. Auch mehrere wertvolle Taschenuhren fanden sich und noch einiges andere. Er erzählte wilde Geschichten, um zu erklären, wie die Sachen in seine Wohnung gekommen waren, doch ein Hinweis darauf, dass man anhand der Fingerabdrücke schon feststellen werde, wer sie dorthin geschafft hätte, ließ ihn verstummen. Von da an sagte er kein Wort mehr, sondern verlangte nach seinem Anwalt.

Natürlich leugnete er, mit dem Diebstahl des Medaillons auch nur das Geringste zu tun zu haben, doch Peter und Gero hatten gründliche Vorarbeit geleistet. Als sie ihn mit der Aussage eines Komplizen von damals konfrontierten, brach sein Widerstand zusammen, zumal ihm auch sein Anwalt riet, auszusagen. »Das kann Ihre Lage nur verbessern, Herr Brenner«, sagte er. »Ein Geständnis wirkt sich oft strafmildernd aus.«

Es dauerte dann noch einmal einen halben Tag, bis Ulf Brenner zu reden anfing. Aber er mischte Lüge mit Wahrheit, so dass die Ermittler nicht so schnell weiterkamen, wie sie gehofft hatten. Die Wende brachte dann erst einer der Hehler, die die Beamten vor Kurzem festgenommen hatten. Dieser Mann, Hubert Dahmer, sagte unter Eid aus, dass er seit Langem mit Ulf Brenner zusammenarbeite und dass er in der Tat jenes Medaillon von ihm angekauft habe.

»Und wo ist es jetzt?«, fragte Niko, der dieses Verhör selbst führte.

»Na, noch im Lager, denke ich«, antwortete Hubert Dahmer, ein verknitterter kleiner Mann mit listigen Augen. Gekleidet war er erstklassig, aber seriös sah er trotzdem nicht aus. Niko schätzte ihn auf etwa fünfzig Jahre. »Ich habe mich schwarz geärgert, dass ich es dem kleinen Gauner abgekauft habe, er hat mir nämlich nicht gesagt, wo er es herhat. Das habe ich zufällig erfahren, als ich gehört habe, wie er sich mit seiner Freundin gestritten hat. Die hat ihm nämlich die Ohren vollgeheult, solche Vorwürfe hat sie sich gemacht. Ich gehe doch nicht mit so heißer Ware auf den Markt! Das Fürstenpaar von Sternberg war sehr beliebt, hätte ich gewusst, dass es das Medaillon der Fürstin ist, ich hätte es nicht angerührt. Man hat ja schließlich noch Ehre im Leib!«

Niko konnte an dieser Stelle ein Lächeln nur schwer unterdrücken, gleichzeitig bekämpfte er seine wachsende Erregung. Er durfte sich nicht anmerken lassen, was diese Aussage bedeuten konnte! Sie hatten nämlich noch immer nicht von allen gestohlenen Sachen Fotos. Das Lager war so groß, dass die Katalogisierung mehr Zeit in Anspruch nahm als ursprünglich angenommen. Sobald er dieses Verhör hinter sich hatte, würde er den Kollegen aber Beine machen, von ihrer Arbeit hing, wie sich jetzt herausstellte, unter Umständen die Aufklärung der Sternberger ›Affäre‹ ab!

»Sie glauben also, es befindet sich noch in dem Lager, das wir gefunden haben.«

»Ja«, knurrte Hubert Dahmer. »Ich habe es in irgendeine Ecke gepackt, damit es mir bloß aus den Augen kam. Allerdings habe ich neulich mal daran gedacht, es nun doch auf dem Markt anzubieten. Ich meine, der Fürstin kann es ja jetzt egal sein …«

»Haben Sie es geöffnet?«, fragte Niko.

»Geöffnet? Nee, ich wusste gar nicht, dass man das kann.«

Niko wollte die Locke nicht erwähnen, außerdem fiel ihm ein, dass er noch andere Ermittlungen zu führen hatte. Die Sternberger ›Affäre‹ stand ja nur zufällig mit seinem Fall in Zusammenhang, und so fragte er, ohne weiter auf das Medaillon einzugehen: »Kennen Sie Anton Kurrer persönlich?«

Hubert Dahmer nickte langsam. »Dieser Idiot!«, knurrte er. »Wäre er nicht so ein Angeber gewesen, hätten wir noch lange so weitermachen können. Lief doch alles bestens. Haben Sie seinen Chef auch schon festgenommen?«

Nikos Hals wurde trocken, aber äußerlich blieb er vollkommen gelassen. »Wir sind gerade dabei«, log er. »Mit dem hatten sie also auch zu tun?«

»Nee, der war vorsichtig, aber ich wusste trotzdem Bescheid, ich habe die beiden einmal beobachtet, und auch ein paar interessante Fotos gemacht. Unglaublich, dass die Polizei den sogar noch befördert hat …«

Niko brauchte danach noch eine halbe Stunde, bis Hubert Dahmer den Namen des Mannes aussprach, dessen Stelle Niko jetzt innehatte. Noch ein Skandal, dachte er. Nicht nur ein korrupter Kommissar, sondern auch noch ein korrupter Vorgesetzter.

Ihm war ein wenig schwindelig, als er in sein Büro zurückkehrte und Kriminalrat Volkmar Overbeck anrief. Er hatte ihm sehr viel zu erzählen.

*

»Verliebt?«, fragte Mara ungläubig. »Du hast dich in Niko von Hohenwege verliebt? Ich glaube dir nicht, Lucia. Du machst dich über mich lustig.« Aber ein Blick in das verträumte Gesicht ihrer Freundin belehrte sie eines Besseren. »Ich fasse es nicht«, murmelte sie. »Ausgerechnet …«

»Ja, ausgerechnet«, bestätigte Lucia. »Er ist ganz anders, als ich dachte, Mara. Alles, was ich dir über ihn gesagt habe, war falsch.« Sie umarmte ihre Freundin. »Bald erzähle ich dir alles genau, aber ein bisschen musst du dich noch gedulden.«

Mara erwiderte die Umarmung. »Einiges weiß ich schon«, erklärte sie vergnügt. »Und ziemlich viel habe ich mir selbst zusammengereimt, mach dir also keine Sorgen um mich. Ich sterbe schon nicht vor Neugier, ich kann warten, bis du reden darfst über die geheimnisvollen Vorgänge da drüben.« Sie beugte sich vor und flüsterte Lucia ins Ohr: »Die Geheimnisse um das verschwundene Medaillon.« Dann lachte sie laut über Lucias betroffenes Gesicht und verließ das Büro.

Kurz danach klingelte Lucias Telefon. Es war Niko. »Halt dich fest«, sagte er. »Wir beide fahren mit Peter Fries und Kriminalrat Overbeck nach Sternberg.«

Sie verstand nicht, was er meinte. »Was sollen wir denn in Sternberg?«

»Wir werden im Schloss erwartet, Lucia.«

Sie war froh, dass sie saß. »Kein Witz?«, fragte sie.

»Kein Witz. Abfahrt um siebzehn Uhr. Der Kriminalrat meinte, wir sollten unbedingt dabei sein, und ich habe ihm nicht widersprochen. Habe ich dir heute schon gesagt, dass ich dich liebe?«

»Ich glaube, höchstens fünf Mal«, antwortete sie zärtlich. »Ich liebe dich auch, Niko, bis nachher.«

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Es war eine ziemlich große Versammlung in der Bibliothek von Schloss Sternberg an diesem Abend. Außer Sofia, Friedrich und den Teenagern hatten sich die Sternberger Anwälte Hagen von Boldt und Barbara von Kreyenfelss sowie vier Kriminalbeamte eingefunden. Niko von Hohenwege, Peter Fries und Lucia von Ballwitz hatten zwar eigentlich nichts mit der Sternberger ›Affäre‹ zu tun, doch waren sie es gewesen, die entscheidend zum jetzigen Stand der Ermittlungen beigetragen hatten, weshalb Kriminalrat Overbeck darum gebeten hatte, sie ebenfalls zu dieser Besprechung einzuladen. Er hatte den Schlossbewohnern nur mitgeteilt, dass sie einen entscheidenden Schritt vorangekommen waren, Einzelheiten wussten sie noch nicht.

»Bitte, sagen Sie uns, was Sie herausgefunden haben«, bat Baronin Sofia, als alle Platz genommen hatten. »Herr Overbeck hat uns nur gesagt, dass Sie wichtige Neuigkeiten für uns haben, spannen Sie uns nicht länger auf die Folter.

»Niko, wollen Sie beginnen?«, fragte der Kriminalrat.

Niko sah einmal kurz in die Runde. Auch Eberhard Hagedorn war anwesend, darum hatten die Beamten ausdrücklich gebeten, schließlich waren seine Überlegungen der Schlüssel zum Erfolg gewesen. »Alles fing damit an, dass Frau von Ballwitz und ich heftig aneinandergeraten sind«, sagte er. »Ich habe sie wüst beschimpft, weil sie sich auf unserem Flur Fotos angesehen hat, die sie meiner Meinung nach nichts angingen …«

Er hatte den richtigen Einstieg gewählt, um auch die Teenager zu fesseln, die offenbar einen langweiligen, trockenen Vortrag befürchtet hatten, aus dem man sich die interessanten Einzelheiten mühsam würde herauspicken müssen. Lucia und er wechselten sich bald ab mit ihrem Bericht, schließlich schaltete sich auch Peter noch ein, um von seinem Teil der Ermittlungen zu sprechen.

Es war dann wieder Niko, der zum Ende kam – mit den Worten: »Um es auf den Punkt zu bringen: Unsere Kollegen vor Ort suchen mit Hochdruck nach dem Medaillon, es hat sich aber bis jetzt noch nicht gefunden. Der Hehler sagt selbst, er hat es versteckt, weil er es aus den Augen haben wollte. Aber es muss dort sein. Sobald es gefunden wird, bitten wir Sie oder einen von Ihnen, es zu identifizieren.«

»Und die Locke?«, fragte Christian. »Die Locke meines Vaters? Hat er dazu etwas gesagt?«

»Ich habe ihn gefragt, ob er das Medaillon geöffnet hat. Offensichtlich war er nicht einmal auf die Idee gekommen, dass das möglich ist.«

Mit einem Mal war es so still in der Bibliothek, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Es war erneut der kleine Fürst, der das Wort ergriff: »Das heißt, die Locke ist ziemlich sicher noch drin?«, fragte er. Seine Stimme klang heiser.

Niko nickte langsam. »So sehe ich das«, sagte er.

Er sah zu Lucia hinüber, die ihm zärtlich zulächelte, dann wandte er sich wieder an den Jungen. »Werden Sie uns begleiten, Prinz Christian, um das Medaillon Ihrer Mutter zu identifizieren, sobald wir es gefunden haben?«

Der kleine Fürst nickte stumm. In seinen Augen standen Tränen. Er erhob sich. »Ent…, entschuldigen Sie mich bitte.« Mit diesen Worten verließ er die Bibliothek.

Niko warf den anderen einen betroffenen Blick zu. »Haben wir etwas falsch gemacht?«

»Aber nein«, erwiderte die Baronin. »Im Gegenteil. Ohne Sie …«

Doch Niko ließ sie nicht ausreden. »Ohne Herrn Hagedorn«, sagte er mit fester Stimme. »Seine Überlegungen haben uns erst in die richtige Richtung geführt. Dafür können wir Ihnen nicht genug danken, Herr Hagedorn.«

Der alte Butler wollte bescheiden abwehren, doch das ließen die anderen nicht zu. Baron Sofia erhob sich und ging auf ihn zu. Er erhob sich hastig.

Sie wollte etwas sagen, stattdessen schloss sie ihn in die Arme.

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Der kleine Fürst verließ das Schloss gemeinsam mit Togo. Nach allem, was er gehört hatte, zog es ihn zum Hügel am Rande des Schlossparks. Dort, auf dem Familienfriedhof, hatten auch seine Eltern die letzte Ruhe gefunden, und es verging kein Tag, an dem er sie nicht besuchte. Für ihn war dieses Ritual ein wichtiger Teil der Bewältigung seiner Trauer. Wenn er vor der Gruft seiner Eltern stand, ›sprach‹ er in Gedanken mit ihnen, berichtete ihnen, was ihn bewegte und wartete auf ›Antwort‹ von ihnen, die er in kleinen Begebenheiten fand, denen andere nicht einmal Beachtung geschenkt hätten. Auf diese Weise hielt er die Erinnerung an Elisabeth und Leopold aufrecht, sie blieben ihm präsent, und er fühlte sich weiterhin von ihnen begleitet.

Er lief hinter Togo den schmalen Weg hinauf, der auf den Hügel führte und steuerte direkt auf die fürstliche Gruft zu. »Ich musste euch unbedingt noch einmal besuchen«, sagte er in Gedanken zu seinen Eltern, »es gibt nämlich Neuigkeiten. Die Chancen stehen gut, dein Medaillon zu finden, Mama, und damit deine Haarlocke, Papa. Ihr wisst, was das bedeutet? Dann können wir beweisen, dass du nicht der Vater von Sebastian Roeder bist. Ich kann euch gar nicht sagen, wie ich mich im Augenblick fühle. So, als könnte ich fliegen. Ich dachte, ich würde nie wieder glücklich sein können, nachdem ihr mit dem Hubschrauber abgestürzt seid, aber jetzt weiß ich es besser. Heute bin ich beinahe glücklich. Ich hoffe, ihr seid es auch.«

Er wartete geduldig auf das Zeichen seiner Eltern, dass sie ihn gehört hatten. Ein leises Rascheln hinter ihm ließ ihn sich umdrehen: Es war ein Igel, den die späten Besucher des Hügels in seiner Ruhe gestört hatten. Togos Nähe konnte ihn nicht schrecken. Er richtete sich ein wenig auf und spähte neugierig in ihre Richtung, dann gab er ein seltsames kleines Schmatzen von sich und trippelte eilig davon.

»Danke«, flüsterte der kleine Fürst. »Bis morgen, vielleicht weiß ich dann schon mehr. Wir werden die Wahrheit ans Licht bringen, Papa, du kannst dich auf mich verlassen!«

Togo lief fröhlich voraus, zurück zum Schloss, wo die Versammlung in der Bibliothek noch immer tagte. Als der kleine Fürst seinem Boxer folgte, fühlte er sich leicht und frei wie lange nicht.

Der kleine Fürst Staffel 15 – Adelsroman

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