Читать книгу Der neue Dr. Laurin Staffel 2 – Arztroman - Viola Maybach - Страница 6

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»Was hast du denn erwartet?«, fragte er aufrichtig verwundert. »Dass ich hier wie ein Mönch lebe?«

»Wie ein Mönch? Ich war letzte Woche hier, und vorletzte Woche auch…«

Er kam näher, umfasste mit hartem Griff ihr Kinn. »Na, und?«, fragte er herausfordernd. »Ich bin ein Mann, ich habe meine Bedürfnisse. Jetzt tu doch nicht so, als ­hättest du das nicht gewusst! Ich brauche eine Frau im Bett – aber das hat mit uns überhaupt nichts zu tun.«

Gegen ihren Willen füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie wollte nicht weinen, sie wollte sich von ihm nicht klein machen, nicht demütigen lassen, aber in diesem Moment begriff sie es endgültig: Er war nicht der Mann, den sie bei ihrer ersten Begegnung wenige Wochen zuvor in ihm gesehen hatte. Tröstlich war allein der Gedanke, dass sie­ nicht allzu lange gebraucht hatte für diese Erkenntnis. Sie hatte geglaubt, ihn zu lieben, jetzt erkannte sie, dass sie einem Irrtum erlegen war, ihre Gefühle hatten mit Liebe nicht viel zu tun. Eine rasch aufflackernde Verliebtheit war es gewesen, weil er so attraktiv war, berühmt, begehrt. Alle wollten ihn haben, aber er hatte sich ihr zugewandt. Ja, das hatte ihr geschmeichelt. Jetzt freilich wünschte sie sich, er hätte sie damals übersehen und eine andere Frau mit seiner Aufmerksamkeit beglückt. Aber für solche Überlegungen war es natürlich zu spät.

Der Griff um ihr Kinn lockerte sich, seine Hand wanderte ihren Hals hinunter zu ihrer Schulter, streifte ihren Busen, wanderte zu ihrem Rücken. Er zog sie fest an sich. »Vergiss die anderen Frauen«, flüsterte er, »sie bedeuten mir nichts.«

Sie fühlte sich wie eine Puppe aus Glas. Er will mich zerbrechen, dachte sie, aber sie wusste, dass sie das nicht zulassen würde. Sie hatte seine Eifersucht, seine Wutanfälle für Liebesbeweise gehalten – wie töricht von ihr. Nun wusste sie es besser.

Ihr war klar, was das bedeutete. Sie musste weg. Weg von ihm, weg von hier. Sie konnte natürlich nach dem Wochenende abreisen und ihm ihre Entscheidung schriftlich mitteilen. Aber war das nicht feige? Musste sie es ihm nicht ins Gesicht sagen? Nein, dachte sie, muss ich nicht. Ich bin ihm nichts schuldig, gar nichts.

Sie schob ihn von sich. »Nicht jetzt«, sagte sie so bestimmt, dass er sie tatsächlich losließ.

»Du bist immer noch böse auf mich!«, rief er. »Was soll ich tun, damit du mir verzeihst?«

»Lass dir etwas einfallen«, sagte sie.

Sein Blick war gekränkt, doch im schon im nächsten Moment leuchteten seine Augen auf. »Das tue ich!«, rief er.

Sie hörte, wie er den Zimmerservice anrief und wandte sich ab. Sie ging zum Fenster und sah hinaus in die Nacht, ohne etwas zu sehen. Sie brauchte einen Plan, sie brauchte Mut, sie brauchte Kraft.

Nichts davon hatte sie in diesem Moment. Trotzdem musste sie handeln.

*

»Du bist nicht unbegabt, Konny«, sagte Kevin Laurin zu seinem älteren Bruder, der noch immer mit nassen Augen neben ihm saß. Mitternacht war längst vorüber, aber dieses Gespräch war wichtiger als Schlaf, obwohl sie beide morgen einen anstrengenden Tag vor sich hatten, Kevin in der Schule, Konstantin beim Dreh seines ersten Films. »Ich habe dich gesehen in diesem Theaterstück, ich weiß, worüber ich spreche.«

»Und warum versage ich dann jetzt?«

»Vielleicht bildest du dir das ja nur ein?«

»Nein, ich spüre, wie schlecht ich spiele, wie hölzern. Und ich sehe es an den Gesichtern der anderen. Oliver hat mich gegen den Willen des Produzenten durchgeboxt als Hauptbesetzung für seinen Film, und jetzt geht alles schief. Ich meine, keiner sagt etwas zu mir, alle hoffen, dass ich mich irgendwie fange, aber je mehr ich die allgemeine Enttäuschung spüre, desto verkrampfter werde ich. Und wäre ich wirklich begabt, dann würde ich es trotz meines Lampenfiebers schaffen, richtig gut zu sein.«

Erneut liefen Konstantin Tränen die Wangen hinunter. Seinen großen Bruder weinen zu sehen war das Schlimmste für Kevin. Immer war Konstantin stark gewesen, ein Vorbild. Jetzt brauchte er Hilfe.

»Ich hätte die Schauspielerei weiterhin als mein Hobby ansehen und nicht auf die verrückte Idee kommen sollen, daraus einen Beruf zu machen. Warum habe ich allen gesagt, dass ich nicht mehr Medizin studieren will – oder dass es jedenfalls nicht mehr mein Berufswunsch ist, Arzt zu werden? Ich hätte meinen Mund halten sollen.«

Kevin war erst dreizehn, aber er wusste, wenn er jetzt nicht die richtigen Worte fand, würde sein drei Jahre älterer Bruder vielleicht eine verhängnisvolle Entscheidung treffen. Es stimmte: Er hatte Konstantin auf der Bühne gesehen, bei der Schultheater-Aufführung – und danach hatte es keinen Zweifel mehr an Konstantins wahrer Berufung gegeben, bei niemandem in der Familie, auch bei ihren Eltern nicht, die über die Entscheidung ihres Ältesten zuerst nicht gerade glücklich gewesen waren.

»Ich glaube, du musst mit Oliver darüber reden«, sagte er langsam. »Er ist der Regisseur, er hat dich ausgesucht, und er ist überzeugt davon, dass du die richtige Besetzung bist. Er war es zumindest, er hat gesehen, was in dir steckt. Sag ihm, wie du dich fühlst, dass du selbst merkst, dass du nicht gut bist und dass dir der Druck zu schaffen macht.«

»Aber der Druck wird ja dadurch nicht weniger«, entgegnete Konstantin verzweifelt.

»Vielleicht doch, wenn du darüber redest. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du der Einzige bist, der dieses Problem hat. Nur hast du noch keine Erfahrung, du weißt nicht, wie du damit umgehen musst, damit aus dem Druck ein Antrieb wird, der dich besser macht. Vielleicht brauchst du auch einen Psychologen, der dir hilft. Vor allem hör auf, dir zu sagen, dass du die falsche Entscheidung gefällt hast, denn ich weiß, dass das nicht stimmt.«

»Wie kannst du das wissen?«

»Hab ich doch schon gesagt: Ich habe dich spielen sehen. Mensch, Konny, die Aula hat getobt, als du dich verbeugt hast – was denkst du denn, was die Leute gesehen haben? Denkst du, die haben alle fantasiert und sich eingebildet, dass du gut warst? Du hast so gespielt, dass man Gänsehaut bekommen hat! Und du hast mir selbst gesagt, dass du dich noch nie so glücklich und frei gefühlt hast wie in dem Augenblick, in dem du dich in eine andere Person verwandeln kannst. Das wirst du doch nicht vergessen haben?«

Konstantin wischte sich über die Augen. »Doch«, erwiderte er leise, »das hatte ich vergessen. Ich denke seit Tagen nur noch daran, dass ich alles falsch gemacht habe.«

»Und da liegt der Fehler. Du hast eine richtige und mutige Entscheidung getroffen – mutig, weil du wusstest, dass Mama und Papa nicht begeistert sein würden. Und Opa natürlich auch nicht. Du hast überhaupt nichts falsch gemacht, im Gegenteil! Außerdem: Wer hat dir versprochen, dass es einfach wird? Du bist begabt, aber das heißt ja nicht, dass dir jetzt sofort alles zufliegt.«

»Du redest wie ein Erwachsener.« Überraschung, aber auch Bewunderung schwangen in Konstantins Stimme mit.

»Danke, das muss ich ja auch, damit du morgen anders auftrittst als bisher. Und jetzt sag mir mal ganz genau, warum dir das Drehen mehr Stress macht als ein Theaterstück. Ich meine, auf der Bühne zu stehen ist doch viel gefährlicher, weil das Publikum direkt vor deiner Nase sitzt, während du beim Film alles wiederholen kannst.«

»Das stimmt schon, aber in meiner Theater-AG kannte ich alle, und…« Konstantin verstummte plötzlich.

Kevin wartete geduldig darauf, dass er weitersprach. Er musste eine ganze Weile warten.

»Und alle haben mich bewundert«, sagte Konstantin endlich. »Ich war immer der Beste, weißt du, und ich habe das natürlich gewusst. Ich habe auch gesehen, dass manche von den anderen überhaupt nicht spielen konnten, die haben einfach sich selbst dargestellt. Das hat mir natürlich auch eine gewisse Sicherheit gegeben. Aber jetzt kommen eben die Zweifel, ob ich nicht vielleicht nur deshalb so begabt ausgesehen habe, weil die anderen es eben nicht waren. Die meisten jedenfalls.«

»Soll ich dir mal was sagen? Ich habe, wenn du auf der Bühne warst, die anderen gar nicht mehr gesehen. Es fiel dann auch nicht mehr auf, dass sie nicht spielen konnten. Einige hast du übrigens richtig mitgerissen, fällt mir jetzt auf. Du musst einfach wieder an dich glauben, Konny.«

»Einfach?« Konstantin stieß ein kurzes Lachen aus, fröhlich klang es nicht. »Daran ist überhaupt nichts einfach. Ich weiß jedenfalls nicht, wie ich es anstellen soll.«

»Ich glaube aber doch, dass es einfach ist«, widersprach Kevin. »Erinnere dich an das Gefühl, das du hattest, als du mit dem Spielen angefangen hast. Du hast mir das erzählt an dem Abend, als wir zum ersten Mal darüber gesprochen haben, weißt du noch?«

Konstantin nickte.

»Ich weiß die Worte nicht mehr genau, aber du hast ungefähr gesagt, dass du dich zum ersten Mal frei und glücklich gefühlt hast und dass du wusstest, du bist jetzt am richtigen Platz. Also, so ungefähr.«

»So hat es sich auch angefühlt«, murmelte Konstantin.

»Dann erinnere dich daran, wenn du morgen vor der Kamera stehst: Das ist es, was dich glücklich macht! Das ist es, was du am liebsten auf der Welt tun möchtest.«

»So funktioniert das nicht, Kevin. Wenn ich morgen zum Drehen komme, sehe ich die angespannten Gesichter all der Leute, die jetzt schon denken, dass ich die falsche Besetzung bin.«

»Kann sein, dass sie das denken«, sagte Kevin, »aber sie irren sich, weil sie dich ja noch gar nicht richtig haben spielen sehen. Also zeig es ihnen, du kannst das nämlich. Du musst dich auf das Spielen konzentrieren, auf deine Rolle, auf das, was du dir dazu überlegt hast. Vergiss die Leute. Die haben garantiert schon öfter Schauspieler gesehen, die am Anfang Schwierigkeiten hatten. Ich glaube, dass das ziemlich normal ist.«

Die Tür wurde leise geöffnet, Kaja erschien, sah ihre Brüder auf Konstantins Bett sitzen und schlüpfte ins Zimmer. Sie setzte sich auf Konstantins andere Seite und schlang einen Arm um seine Schultern. »Du schaffst das«, sagte sie.

»Wo … aber woher weißt du denn …?«

»Ich bin dein Zwilling, schon vergessen? Dachtest du, ich merke nicht, dass es dir schlecht geht? Du hast ein paar Startschwierigkeiten, na und? Zeig’s ihnen! Wir Laurins sind Kämpfer.«

Erneut schossen Konstantin Tränen in die Augen, und noch einmal wurde die Tür geöffnet. Kyra, die Jüngste, erschien, schloss die Tür hinter sich und setzte sich ganz selbstverständlich vor Konstantin auf den Boden, lehnte sich an seine Beine und sagte gar nichts.

Konstantin legte ihr beide Hände auf die Schultern. Es war nicht so, dass er keinen Druck mehr verspürte, aber dieser Druck war deutlich geringer geworden. Er würde versuchen, sich seiner Stärken zu besinnen und am kommenden Drehtag einen anderen Eindruck zu hinterlassen als bisher.

Noch wusste er nicht, wie es ihm gelingen könnte, den Schalter umzulegen, aber Kaja hatte es richtig gesagt: Laurins waren Kämpfer.

*

Oliver Heerfeld lief in Ariane Tornows Wohnzimmer wie ein wildes Tier hin und her. Sie hätten beide längst schlafen sollen, aber weder sie noch er dachten daran, ins Bett zu gehen. Oliver fühlte sich wie gelähmt, seit er sich der Erkenntnis stellen musste, dass er eine folgenschwere falsche Entscheidung getroffen hatte, und Ariane fühlte sich mitschuldig an der augenblicklich so unerfreulichen Situation.

Sie war es gewesen, die ihn auf Konstantin aufmerksam gemacht hatte, denn sie leitete die Theater-AG der Schule. Er hatte den Jungen gesehen und sofort gewusst, dass dieser die Idealbesetzung für die Hauptrolle seines neuen Films war. Eine Fehleinschätzung, wie er jetzt wusste. Die traurige Wahrheit: Konstantin Laurin war eine glatte Fehlbesetzung. Vor der Kamera agierte er hölzern und unbeholfen, nichts war mehr zu sehen von dem jungen Mann, der auf der Theaterbühne seines Gymnasiums so glänzend gespielt hatte.

»Warum redest du nicht mal mit ihm?«, fragte Ariane. Sie hatte diese Frage, so oder etwas anders formuliert, schon mehrfach gestellt. »Vielleicht kann er dir erklären, was mit ihm los ist.«

»Ich rede nicht mit ihm, um ihn nicht noch stärker unter Druck zu setzen. Bis heute hatte ich ja immer noch die Hoffnung, dass der Knoten irgendwann platzt und er anfängt, richtig zu spielen. Aber weißt du, was ich mittlerweile glaube? Er hat nur so begabt gewirkt, weil die anderen um ihn herum es eben nicht waren. Ich … ich weiß schon gar nicht mehr, was ich eigentlich in ihm gesehen habe, als ich bei eurer Probe dabei war. Jedenfalls ist nichts davon übrig.«

»Du redest Unsinn«, erklärte Ariane. Sie versuchte, ruhig zu bleiben. Natürlich hatte auch sie sich schon öfter die Frage gestellt, ob sie Konstantin falsch eingeschätzt und Oliver infolgedessen einen falschen Rat gegeben hatte, seit er ihr täglich von den unbefriedigenden Leistungen des Jungen bei den Dreharbeiten berichtete. Aber sie glaubte es nicht.

»Er ist ein außergewöhnlich talentierter Junge, der aber offenbar sein Talent im Augenblick bei euch noch nicht zeigen kann. Entschuldige, wenn ich das so deutlich sage, aber es liegt auch an dir, dem Regisseur, ihm zu vermitteln, dass noch kein Meister vom Himmel gefallen ist und dass Startschwierigkeiten normal sind – selbst bei Schauspielern, die über bedeutend mehr Erfahrung verfügen als Konny. Er ist sechzehn, Oliver! Er ist in der Pubertät, er hat sich gerade auf das größte Abenteuer seines Lebens eingelassen, er braucht Hilfe. Stattdessen merkt er wahrscheinlich, wie enttäuscht du bist, er vernimmt die wachsende Unruhe im Team – und was tust du? Statt ihm zu helfen, überlegst du dir, ihn rauszuwerfen und durch einen der anderen Anwärter auf die Rolle zu ersetzen.«

»Davon habe ich nichts gesagt!«, widersprach Oliver. »Ich weiß wirklich nicht, wie du auf die Idee …«

Ariane winkte ab. »Hör auf«, sagte sie müde, »versuch bitte nicht, mir oder dir selbst etwas vorzumachen. Statt an den Jungen zu glauben – wofür alles spricht, ich kenne ihn schließlich und weiß, was in ihm steckt – lässt du ihn hängen. Ich hätte dir mehr Durchhaltevermögen und auch Feingefühl zugetraut. Natürlich denkst du bereits darüber nach, ihn zu ersetzen. Glaubst du etwa, ich wüsste nicht, wie sehr deine Produzenten dich unter Druck setzen? Konny war deine Wunschbesetzung, wenn da jetzt etwas schiefgeht, lastet der ganze Druck auf dir.«

Sie hatte sich nun doch in Rage geredet und stellte zufrieden fest, dass Oliver ihre Worte nicht länger zurückwies, sondern dass sie ihn erreicht hatte. Sie schätzte ihn sehr, nicht nur als Regisseur, auch als Mensch, aber in diesem Fall war er befangen: Das Drehbuch zum Film hatte er selbst geschrieben, es war ein Teil seiner Lebensgeschichte. Konstantin stellte also den jungen Oliver dar. Kein Wunder, dass er in diesem Fall besonders kritisch war, aber ihr kam es so vor, als sähe er den Wald vor lauter Bäumen nicht. Wo er sonst einfühlsam und geduldig sein konnte, erwartete er bei Konstantin, dass der aus dem Stand Wunder vollbrachte.

Er gibt den Druck, den er selbst spürt, an Konny weiter, dachte sie. Aber das kann er nicht machen.

Das sagte sie ihm nun auch noch, danach schwieg sie.

Seine Wanderung durchs Zimmer hatte er aufgegeben. Jetzt stand er minutenlang am Fenster, ohne sich zu rühren oder etwas zu sagen. Sie ließ ihm Zeit, obwohl sie nun doch spürte, wie müde sie war. Aber das hier musste sie für Konstantin noch tun, sie hätte es als Verrat empfunden, sich an dieser Stelle nicht einzumischen, zu seinen Gunsten.

»Meine Güte«, sagte Oliver schließlich und drehte sich zu ihr um. »Du hast völlig Recht, Ariane. Ich habe mich von den Produzenten unter Druck setzen lassen, und das hat Konstantin abbekommen. Kein Wunder, dass er nicht funktioniert hat, er hat garantiert gespürt, wie nervös ich war und immer noch bin.«

»Davon gehe ich aus«, bemerkte Ariane trocken. »Und ich habe dich immer für einen coolen Typen gehalten.«

»Ich mich auch. Aber du weißt ja, wieviel mir dieser Film bedeutet. Er ist mir wichtiger als alles, was ich bislang gemacht habe.«

»Gerade deshalb solltest du deine Aufmerksamkeit lieber auf Konny richten und darauf, dass er sich wohlfühlt – statt auf deine Produzenten, die immer noch einen bekannten Schauspieler für die Hauptrolle durchsetzen wollen, weil sie sich davon mehr Zuschauer erhoffen.«

Er ließ sich in einen Sessel fallen. »Aber wie rede ich mit ihm? Wie schaffe ich es, ihn aus dieser Angststarre, in der er sich befindet, herauszuholen?« Er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Ich war tatsächlich schon so weit, dass ich dachte, ich habe mich geirrt und mir seine Begabung nur herbeifantasiert.«

»Hauptsache, du siehst es jetzt ein. Was das Gespräch betrifft: Ich würde dir ja helfen, aber ich fürchte, das musst du allein hinbekommen. Mein Unterricht beginnt morgen – nein, heute! – mit der ersten Stunde.« Ariane gab sich keine Mühe, ihre Müdigkeit noch länger zu verstecken. Sie gähnte ausgiebig. »Und deshalb würde ich gerne bald ins Bett gehen.«

Er sprang auf. »Natürlich, entschuldige bitte, dass ich dich so lange mit meinem Problem behelligt habe.«

»Das hast du nicht, es war ja auch mein Problem, jedenfalls habe ich es so empfunden, denn ohne mich hättest du Konny schließlich nie kennengelernt – geschweige denn auf der Bühne gesehen.«

Sie brachte ihn zur Tür, wo er sich mit einer langen Umarmung von ihr verabschiedete. »Ich schulde dir was, Ariane. Ich schulde dir sogar ziemlich viel.«

»Du schuldest mir gar nichts, wenn du diese Geschichte mit Konny wieder in Ordnung bringst.«

Er sah sie unglücklich an. »Ich habe leider noch keine Ahnung, wie ich das schaffen soll.«

»Dann gib dir gefälligst mehr Mühe als bisher!«

Sie schob ihn mit sanftem Nachdruck aus der Wohnung. Keine zehn Minuten später lag sie schon in ihrem Bett. Sie hatte getan, was sie konnte, der Rest lag jetzt bei Oliver.

Natürlich blieb sie, trotz ihrer Müdigkeit, noch lange wach.

*

Noch jemand fand in dieser Nacht nur wenig Schlaf: Hans Gronauer saß in seiner Küche und trank heiße Milch mit Honig, ohne auch nur die geringste Wirkung zu spüren. Erst jetzt hatte er es geschafft, sich einzugestehen, dass er an Liebeskummer litt. Lara, seine große Liebe, hatte sich in einen anderen Mann verliebt, in einen berühmten noch dazu. Er war sicher, sie für immer verloren zu haben. Nie im Leben hatte er sich so elend gefühlt. Wie lebten andere Menschen, die Vergleichbares durchmachen mussten, weiter? Wie schafften sie das? Er konnte sich sein Leben ohne Lara nicht vorstellen.

Hätte er ihr seine Liebe doch wenigstens gestanden! Aber sie waren schon lange gute Freunde, er hatte einfach nicht gewusst, wie er ihr sagen sollte, dass sich seine Gefühle für sie geändert hatten. Wie wäre ihre Reaktion darauf ausgefallen? »Du bist der beste Freund, den ich habe, Hans, aber ich liebe dich nicht«? Ja, wahrscheinlich. Wie hätte sie sich sonst in einen anderen Mann verlieben können?

Er hatte sie verloren, so sah es aus. Sie würden sicherlich auch keine Freunde mehr sein können, denn sie würde kaum auf Dauer in München bleiben, wenn der Mann, den sie liebte, in der ganzen Welt zu Hause war.

Noch lebte sie hier, aber gesehen hatte er sie kaum noch, nur gelegentlich telefoniert …

Er schob die Milch von sich und überlegte, ob er nicht lieber einen Kognak trinken sollte, oder besser zwei oder drei. Sie würden ihm wenigstens das Hirn vernebeln, so dass er vielleicht doch noch etwas Schlaf fand.

Sie hatte so glücklich ausgesehen, so strahlend, als sie ihm von ihrer Liebe erzählt hatte. Freilich war sie bei ihrem letzten Treffen blass und in sich gekehrt gewesen, hatte auch gar nicht von ihrem Freund gesprochen, und er hatte nicht aufdringlich erscheinen wollen und deshalb keine Fragen gestellt. Denn es war ja unmöglich, dass eine Liebe, die gerade erst begonnen hatte, so schnell wieder endete. Er war noch nicht oft verliebt gewesen, aber am schönsten hatte er immer die ersten Monate gefunden, in denen man ständig wie auf Wolken ging und die ganze Welt in den hellsten Farben sah.

Wahrscheinlich, überlegte er, hatten sie gestritten. Der erste Streit war immer schrecklich, weil man so unsanft aus dem Himmel zurück auf die Erde geholt wurde. Ja, so hatte sie ausgesehen, als hätte sie gerade den ersten Streit hinter sich – und dass sie darüber mit ihm nicht hatte reden wollen, war ja verständlich. Dabei hatten sie sich eigentlich immer alles erzählen können, das war beinahe das Schönste an ihrer Freundschaft gewesen. Mit niemandem hatte er so gut reden können wie mit Lara.

Er trank noch etwas von der Milch, obwohl sie ihm nicht half. Ihm stand, trotz seiner trüben Gedanken und der vor ihm liegenden schlaflosen Stunden, nicht der Sinn nach Alkohol.

*

Lara Cornelius lag ganz still, nur ihre Gedanken waren in Bewegung. Der Mann neben ihr schlief. Sie hatte ihm zwei Schlaftabletten in den Champagner getan. Nicht gerade die feine Art, aber sie sah es als eine Art Notwehr an.

Vorsichtig musste sie trotzdem sein, das war ihr klar. Vorsichtig und schnell. Doch sie lag immer noch bewegungslos im Bett und lauschte auf die Atemzüge des Mannes neben ihr. Als sie sich, nicht zum ersten Mal, bewusst machte, was es bedeuten würde, wenn er aufwachte und sie dabei erwischte, dass sie ihre Sachen packte, um dieses Hotel heimlich zu verlassen, stockte ihr der Atem, und sie merkte, wie ihr die Angst in die Eingeweide kroch. Ihr wurde kalt, unwillkürlich zog sie die Bettdecke ein Stück höher.

Andreas Herzog, der Mann neben ihr, war derzeit der beliebteste Schauspieler des Landes, mit einem Bein bereits in Hollywood. Groß, gutaussehend, angebetet von unzähligen Frauen jeden Alters. Sie hatte sich sehr schnell in ihn verliebt, und in den ersten Tagen war es auch großartig gewesen, aber danach hatte er seinen wahren Charakter nicht länger verbergen können. Sein Leinwand- oder Talkshow-Gesicht war nur Fassade. Er war besitzergreifend, rasend eifersüchtig und jähzornig. Überdies glaubte er, dass sich die ganze Welt ausschließlich um ihn zu drehen hatte. Wenn sie einen anderen Mann auch nur mit einem Blick streifte, konnte er schon ausrasten, wobei er sich ganz selbstverständlich jede Freiheit nahm in Bezug auf andere Frauen. »Das hat doch mit uns nichts zu tun, ich brauche das einfach!« Er schlief mit anderen Frauen und verlangte von ihr, dass sie das tolerierte. So wie heute, als sie angereist war und es vermutlich nur einem glücklichen Zufall zu verdanken gewesen war, dass er bei ihrer Ankunft nicht mehr mit der anderen im Bett gelegen hatte. Das war der berühmte Tropfen auf den heißen Stein gewesen.

Ihre Verliebtheit war ja zuvor schon fassungsloser Ernüchterung gewichen, jetzt wollte sie nur noch weg von ihm. Kaum vier Wochen war ihre Beziehung alt, es war Zeit, dass sie handelte.

Er bewegte sich, und einen schrecklichen Augenblick lang dachte sie, er würde aufwachen. Rasch schloss sie die Augen, zwang sich dazu, ganz ruhig weiter zu atmen. Er schnaufte einmal kurz, dann drehte er sich auf die andere Seite, mit dem Rücken zu ihr. Ganz langsam entspannte sie sich wieder. Die zwei Schlaftabletten sollten, zusammen mit der großen Menge Alkohol, die er zu sich genommen hatte, eigentlich ausreichen, um ihn lange schlafen zu lassen.

Hans fiel ihr ein, und im selben Augenblick fühlte sie sich besser. Sobald sie wieder zu Hause war, würde sie mit ihm reden, ihm schildern, wie es ihr ergangen war. Sie hatte ihn vermisst, die Gespräche mit ihm, sein warmes Lächeln, seine schöne Stimme. Noch nie hatte sie sich in seiner Gegenwart unwohl gefühlt.

Ohne noch länger nachzudenken schwang sie lautlos ihre Beine aus dem Bett und richtete sich auf. Sie blieb einen Moment lang sitzen und lauschte, aber Andreas‘ Atemzüge erklangen ganz regelmäßig weiter, er schnarchte sogar leise. Sie stand auf, dankbar für die dicken Teppiche, mit denen diese Luxussuite ausgelegt war, die er während der Dreharbeiten zu seinem neuesten Film bewohnte. Ihre Schritte waren nicht zu hören.

Rasch ging sie ins Bad. Sie machte kein Licht, während sie ihre Toilettensachen einpackte. Wie gut, dass ihr kleiner Koffer im Nebenzimmer stand, dort hingen auch die wenigen Kleidungsstücke, die sie mitgebracht hatte, im Schrank. Sie zog sich an, packte hastig und nicht sehr sorgfältig den Koffer und blieb noch einen Moment stehen, um den schlafenden Mann ein letztes Mal anzusehen. Sie wusste, dass es feige war, auf diese Weise Schluss zu machen – und sie würde ihm später eine Nachricht schicken, um es ihm zu erklären. Aber sie wusste auch, dass sie keine andere Chance hatte, als auf diese Weise zu gehen.

Das war’s, dachte sie, ging zur Tür, öffnete und schloss sie wieder. Unten an der Rezeption sagte sie, sie müsse leider sofort aufbrechen, eine Familienangelegenheit. Nein, vielen Dank, sie brauche kein Taxi.

Was sie nicht sagte: dass sie immer noch Angst hatte, Andreas könnte aufgewacht sein und plötzlich in der Lobby auftauchen und sie im letzten Moment noch aufhalten.

Sie verließ das Hotel. Die Taxis, die davor warteten, ignorierte sie. Sie würde ihren Flug verfallen lassen und mit dem Zug fahren. Es war nicht weit bis zum Hauptbahnhof, dorthin konnte sie laufen.

Sie hatte Glück, dass wenig später ein ICE Richtung Süden fuhr. Erst als dieser sich in Bewegung setzte, ließ ihre Anspannung ein wenig nach.

Die Gefahr, dass Andreas in München auftauchte und ihr dort eine Szene machte, sah sie nicht. Er spielte natürlich die Hauptrolle in seinem neuen Film, er war beinahe in jeder Einstellung zu sehen, musste also ständig am Drehort sein. Außerdem war er zu bekannt, um unliebsames öffentliches Aufsehen zu riskieren. Er würde toben, sich betrinken und mit einer Reihe von Frauen schlafen, um sein angeknackstes Selbstbewusstsein wiederaufzurichten. So funktionierte er, wie sie mittlerweile wusste. Aber das war dann nicht mehr ihr Problem.

Nachdem ihre Fahrkarte kontrolliert worden war, schlief sie ein. Es war ja noch Nacht draußen, und hier im Ruhebereich war es ganz still. Endlich fühlte sie sich sicher.

*

Als Andreas Herzog erwachte, brummte ihm der Schädel. Der Platz im Bett neben ihm war leer. Lara war also im Bad, er hatte nicht gehört, dass sie aufgestanden war.

Er angelte nach seinen Kopfschmerztabletten, die sonst immer griffbereit auf seinem Nachttisch lagen, aber heute nicht. Sie hatten zu viel Champagner getrunken am vergangenen Abend. Lara war ja beleidigt gewesen wegen der kleinen Kostümbildnerin, mit der er schon mehrmals im Bett gewesen war. Um Lara zu versöhnen hatte er ein Luxusessen mit Austern, Kaviar und viel Champagner springen lassen. Leider hatte er danach nicht mehr so funktioniert wie gewünscht, das wollte er jetzt nachholen.

Der Gedanke an Laras weichen, verführerischen Körper machte ihn ganz wild.

Als er lauschte, war aus dem Bad nichts zu hören.

»Lara?«, rief er.

Sie antwortete nicht. War sie etwa immer noch sauer? Das Essen hatte ihn ein Vermögen gekostet, wie konnte sie da immer noch sauer sein?

Er wollte aus dem Bett springen, schrie aber auf, als er sich zu schnell bewegte. Sein Kopf drohte zu zerplatzen. Ihm fiel jetzt auch ein, dass er den Abend nicht mit Champagner, sondern mit Grappa beendet hatte – mit viel Grappa. Oder war es Kognak gewesen? Offenbar erinnerte er sich nicht mehr an alle Einzelheiten, aber dass es unerklärlicherweise mit dem Sex nicht mehr geklappt hatte, das wusste er noch. Dabei konnte er sonst trinken, so viel er wollte, Sex ging bei ihm immer.

Er merkte, wie Ärger in ihm aufstieg. Das war Laras Schuld ge­wesen, weil sie immer so ein Theater machte, wenn er mit anderen ­Frauen schlief. Lächerlich! Ein Mann wie er hatte doch wohl das Recht, sich zu nehmen, was er wollte. Er brauchte das, er war sonst als Schauspieler einfach nicht gut.

»Lara, verdammt noch mal!«, schrie er.

Sie antwortete noch immer nicht. Er brauchte erst einmal Tabletten gegen den Kater, so viel stand fest. Aber sie fanden sich auch in der Schublade nicht, ausgerechnet heute, wo er sie dringender als sonst brauchte. Sein Ärger wuchs. Viel fehlte nicht, und er würde ausrasten, das spürte er.

Endlich stand er, aber er musste sich am Bett abstützen, um ihn drehte sich alles, die Kopfschmerzen wurden unerträglich. Langsam tastete er sich zum Bad vor, warf auf dem Weg dorthin einen Blick ins zweite Zimmer seiner Suite, dort war Lara jedenfalls nicht. Er riss die Badezimmertür auf und starrte entgeistert in den leeren Raum.

Sie konnte ja nicht weg sein! Er stolperte zurück ins Zimmer, dann ins zweite, riss die Türen der Schränke auf – ihre Sachen waren nicht mehr da. Ihr Koffer war ebenfalls verschwunden. Doch noch immer wollte er nicht glauben, was doch offensichtlich war. Er versuchte, sie anzurufen, erreichte sie aber nicht. Er rief bei der Rezeption an und bekam die Auskunft, Frau Cornelius sei abgereist – ja, noch in der Nacht. Sie habe von einem Notfall gesprochen.

Er griff nach der Kognakflasche, in der sich noch ein Rest befand, den er direkt aus der Flasche trank. Als er sie geleert hatte, schleuderte er sie in den großen Spiegel gegenüber vom Bett, der sofort in tausend Stücke zersprang. Aber das war noch nicht genug, noch lange nicht. Er ergriff einen Stuhl, den er mit einem wuchtigen Schlag zertrümmerte, während er zugleich einen Schrei ausstieß, der weithin zu hören war. Sie war gegangen, heimlich wie eine Diebin hatte sie sich aus dem Zimmer geschlichen. Aber er war Andreas Herzog, und einen Andreas Herzog verließ man nicht!

Er sah rot. Seine Kopfschmerzen waren kaum noch zu ertragen. Er griff nach dem nächsten Stuhl und schleuderte ihn Richtung Fenster. Doch das Glas widerstand, was seine Wut verstärkte. Erneut griff er nach dem Stuhl und hieb ihn in das Fenster, bis das Glas splitterte. Die Zerstörung zu sehen, das brechende Glas zu hören, tat ihm gut, aber noch immer war es nicht genug. Er fegte alles, was sich auf dem Schreibtisch befand, auf den Boden, zertrümmerte den Fernsehapparat, riss das Telefonkabel aus der Wand und stürzte den Schreibtisch um, nachdem er zwei leere Champagnerflaschen darauf zerschlagen hatte. Anschließend machte er sich über das Bad her.

Er zertrümmerte jede Spiegelfläche, danach setzte er das Bad unter Wasser. Als er gerade das zweite Zimmer betreten hatte, um auch hier alles kurz und klein zu schlagen, betraten mehrere Polizeibeamte den Raum.

Ihre Uniformen stachelten seine Wut von neuem an, obwohl ihm eine innere Stimme sagte, er solle jetzt besser aufhören. Aber er dachte nicht daran, auf diese Stimme zu hören, er ging mit erhobenen Fäusten auf die Beamten los und gleich darauf zu Boden. Einer der Männer hatte ihn mit einem gezielten Schlag kampfunfähig gemacht.

Schreien aber konnte er noch, und das tat er auf dem ganzen Weg durch das Hotel – bis zu dem wartenden Polizeiauto, das direkt vor dem Eingang stand. Er war in Handschellen abgeführt worden.

Erst als das erste Blitzlicht aufflammte und danach noch mehrere andere, wurde er schlagartig nüchtern und dachte: ›Was habe ich getan?‹ Aber für Reue war es zu spät, das wusste er. Und er wusste auch, dass Angriff die beste Verteidigung war.

Also würde er angreifen.

*

»Habt ihr alle vier schlecht geschlafen oder was ist los mit euch?«, fragte Antonia Laurin ihre Kinder beim Frühstück.

Auch ihr Mann Leon, der sich in diesem Moment zu ihnen setzte, warf einen verwunderten Blick in die Runde. »Ihr seht aus, als hättet ihr eine Party gefeiert. Dabei standen doch heute wichtige Dinge an, oder? In der Schule und beim Drehen.«

Kaja, Kyra und Kevin sahen ihren Bruder an, als wollten sie ihm die Antwort überlassen.

Antonia und Leon wechselten einen fragenden, aber auch beunruhigten Blick. Etwas war hier im Gange, von dem sie bislang offenbar noch nichts wussten.

»Ich hatte heute Nacht so etwas Ähnliches wie einen Zusammenbruch«, sagte Konstantin endlich. »Weil ich nämlich richtig schlecht bin beim Drehen bisher. Und weil ich dachte, dass ich eine falsche Entscheidung getroffen habe. Ich dachte, ich habe euch enttäuscht und Opa – und alles war umsonst, weil ich nämlich gar nicht begabt bin, sondern mir das nur eingebildet habe.«

»Aber …«, begann Antonia, doch Konstantin unterbrach sie sofort.

»Nicht, Mama, lass mich reden. Es ist wichtig, dass ich es euch sage, denn ich muss nachher mit Oliver reden und versuchen, ihm klarzumachen, was mit mir los ist. Ich glaube, er denkt darüber nach, mich zu ersetzen, weil ich seinen Erwartungen nicht gerecht werden kann. Ihr könnt mir glauben, dass ich wirklich schlecht war bisher, ich habe das gespürt. Alles wirkt falsch, unecht, meine Bewegungen stimmen nicht, ich leiere meinen Text herunter, ich …« Er schüttelte den Kopf. »Alles, was mir in der Theater-AG bei Frau Tornow leichtgefallen ist, ist weg. Ich komme mir vor wie jemand, der einen schweren Unfall hatte und alles neu lernen muss: laufen, hören, sehen, sprechen. Es ist, als könnte ich gar nichts mehr. Deshalb habe ich angefangen, an mir zu zweifeln – so sehr, dass ich entschlossen war, alles hinzuwerfen, euch um Verzeihung zu bitten und nie wieder einen Gedanken daran zu verschwenden, dass ich gerne Schauspieler wäre. Aber zugleich hatte ich das Gefühl, ich würde, wenn ich darauf verzichten muss, nie wieder glücklich sein können. Und genau in dem Moment, als ich das dachte, kam Kevin zur Tür herein und hat mir gesagt, dass sich nicht alle, die mich spielen gesehen haben und fanden, dass ich gut war, geirrt haben können, zumal ja auch Fachleute dabei waren – und dass ich wahrscheinlich blockiert bin und darüber offen mit Oliver reden muss und … na ja, dann kam Kaja und zum Schluss Kyra, und irgendwann konnte ich dann aufhören zu weinen und zu zittern. Und deshalb gehe ich heute früher los und rede zuerst mit Oliver. Deshalb jedenfalls sehen wir so müde aus. Wir haben alle zu wenig geschlafen – meinetwegen. Aber ich … ich war noch nie so froh wie heute, dass ich … dass ich so eine Familie habe.«

Sie mussten nicht mehr viel sagen, erkannten Antonia und Leon. Das hatten ihre anderen drei Kinder bereits erledigt.

Als Konstantin sich verabschiedete, schlossen sie ihn nacheinander fest in die Arme und drückten ihn an sich. »Alles Gute«, flüsterte Antonia, und Leon sagte: »Du schaffst das, Konny!«

Zu Kaja, Kyra und Kevin aber sagte Antonia, als Konstantin gegangen war: »Das habt ihr sehr gut gemacht.«

»Wir danken euch dafür«, setzte Leon hinzu.

*

Oliver fragte sich, wie er diesen Tag durchstehen sollte. Er war unausgeschlafen, miserabel vorbereitet, und er musste dieses schwierige Gespräch mit Konstantin führen, vor dem ihm graute. Er würde sehr behutsam vorgehen müssen, um den Jungen nicht noch weiter zu verschrecken, aber er fragte sich jetzt doch, wie es Konstantin gelingen sollte, von einem Tag zum anderen den Schalter umzulegen und wieder der beeindruckende junge Schauspieler zu werden, den er auf der Bühne des Gymnasiums gesehen hatte.

Wenn er ehrlich war: Keine von den bislang gedrehten Szenen mit dem Jungen war gut genug für seinen Film. Sie würden sie noch einmal drehen müssen oder er musste die eine oder andere unter den Tisch fallen lassen. Zum Glück hatten sie mit weniger wichtigen Szenen begonnen, aber bald würde die erste Schüsselszene auf dem Drehplan stehen. Wenn sich bis dahin nichts Entscheidendes getan hatte, wenn sich die Blockade des Jungen als hartnäckig erwies, so dass sie nicht so schnell gelöst werden konnte …

Ihm wurde allein von diesem Gedanken schon übel.

Er stellte sich unter die Dusche – immerhin mit dem Resultat, dass er danach einigermaßen wach war. Ein starker Kaffee würde ein Übriges tun, aber er musste ja nicht nur die nächsten Stunden durchstehen, sondern den ganzen langen Tag, an dem auch ohne Probleme mit dem Hauptdarsteller genug Arbeit auf ihn wartete.

Sein Telefon meldete sich, sein Regieassistent Sven Tobler war am Apparat. »Hast du es schon gehört?«, fragte er. Er klang beneidenswert munter.

»Nein, was denn?« Bloß kein neues Problem, dachte Oliver. Ich schaffe das einfach nicht.

»Andreas Herzog hat in Hamburg eine Hotelsuite kurz und klein geschlagen. Die haben ihn rausgeschmissen, stell dir vor. Die Polizei ist angerückt und hat ihn mitgenommen. Na ja, ist ja nicht das erste Mal, dass er ausrastet, aber rausgeschmissen hat ihn bis jetzt noch niemand. Sei also froh, dass er die Rolle des Vaters in deinem Film abgelehnt hat, weil sie ihm zu klein war. Ich habe dich damals, als die Produzenten diese Idee hatten, ja gleich gewarnt.«

»Das haben danach noch andere getan. Da werden die Produzenten seines Films ja einiges zu tun haben. Weiß man, warum er ausgerastet ist?«

»Seine Freundin hat ihn angeblich verlassen, das hat er nicht gut verkraftet.«

»Diese schöne Blonde? Ich habe ein paar Fotos von ihr gesehen, sehr schöne und elegante Frau.«

»Sie hat offenbar ziemlich schnell begriffen, was er für einer ist, lange war sie ja nicht mit ihm zusammen. Sei froh, dass du dich jetzt nicht auch noch um so ein Problem kümmern musst.«

»Ich rede heute mit Konstantin«, sagte Oliver. »Das hätte ich besser schon vor zwei Tagen tun sollen, aber ich hatte einfach Angst, ihm noch mehr Druck zu machen. Er wirkt ja so schon wie gelähmt.«

»Ich glaube immer noch an ihn«, sagte Sven. »Ich war ja damals bei dieser Schultheater-Aufführung dabei. Er hat’s drauf, aber er steht im Augenblick neben sich, und bisher war er auch nicht ansprechbar. Ich habe es einmal versucht, aber er hat sofort zugemacht.«

»Ich hoffe, ich kann ein offenes Gespräch mit ihm führen. Dafür brauche ich ein bisschen Zeit, kannst du mir die irgendwie verschaffen?«

»Äh …« Oliver hörte ein Geräusch im Hintergrund und Sven, der etwas sagte, was er nicht verstand. Gleich darauf war seine Stimme aber wieder klar zu hören. »Komm einfach so schnell wie möglich zum Drehort. Du wirst nicht glauben, wer hier gerade hereinspaziert ist.«

»Konny?«

»Konny! Er meinte, er müsste mit dir reden.«

»Ich bin gleich da.« Vielleicht wollte Konstantin von sich aus hinschmeißen? War das nicht vielleicht sogar die beste Lösung?

Kaum hatte Oliver das gedacht, als er sich auch schon schämte. Er hatte nicht vergessen, was Ariane ihm gesagt hatte, und im Grunde seines Herzens glaubte er auch immer noch an Konstantins Talent. Er musste es nur endlich zeigen …

*

Konstantin war blass und sah müde aus, aber er wirkte anders als der Junge, der jeden Tag ein wenig verkrampfter zu den Dreharbeiten erschienen war, das sah Oliver sofort, als er zum Drehort kam. Die Beleuchter trafen gerade ein, auch eine Maskenbildnerin war schon da. Drehbeginn würde in anderthalb Stunden sein.

»Ich wollte auch mir dir reden, Konny«, sagte Oliver. »Entschuldige bitte, dass ich dir kein guter Begleiter war an diesen ersten Tagen. Ich hätte dir besser zur Seite stehen müssen.«

»Ja, vielleicht«, erwiderte Konstantin, »aber ich hätte ja auch von mir aus auf dich zugehen und dir sagen können, dass ich mich plötzlich wie gelähmt fühle, weil ich denke, alle anderen sind gestandene Schauspieler und viel besser als ich, ich schaffe es einfach nicht, neben ihnen zu bestehen. Dieser Gedanke lähmt mich, ich werde ihn einfach nicht los, dabei habe ich es versucht.«

»Mach mal die Augen zu«, sagte Oliver.

Konstantin sah verwundert aus, gehorchte aber.

»Und jetzt stell dir eure Bühne in­ der Schule vor, versetz dich in die­ Rolle, die du in dem Stück gespielt hast. Lass die Augen geschlossen.«

Konstantins Haltung veränderte sich unwillkürlich, ebenso wie sein Gesichtsausdruck. Er hatte einen unangenehmen Charakter gespielt, man sah es ihm jetzt an. Oliver lächelte.

»Und jetzt stell dir den Drehort vor, die Küche, in der die nächste Szene spielt, wo du eine Auseinandersetzung mit deiner Mutter hast, die anfängt zu weinen, als sie hört, dass du weggehen willst. Vielleicht fällt dir eine Szene ein, die sich bei euch zu Hause so ähnlich abgespielt hat. Stell sie dir vor.«

Wieder veränderte sich Konstantins Haltung, sein Gesicht wurde weich, verletzlich, seine eben noch straffen Schultern sackten nach vorn.

»Das ist es«, sagte Oliver. »Du kannst die Augen wieder öffnen. Konzentrier dich auf dich, vergiss alle, die herumstehen und sich dieses und jenes denken. Es ist nicht wichtig. Sehr viele Schauspieler machen am Anfang die Erfahrung, die du jetzt gemacht hast – und wäre ich nicht so verbohrt gewesen, hätte ich dir das schon längst gesagt. Aber dieser Film ist ein sehr persönliches Werk, er erzählt viel von mir – das soll jetzt keine Entschuldigung sein, aber eine Erklärung dafür, warum ich mehr mit mir beschäftigt war als mit dir. Entschuldige bitte, ich hätte dir helfen müssen und habe es nicht getan. Nicht rechtzeitig jedenfalls. Du kannst alles spielen, Konny, du hast es in dir. Es gibt keinen Grund, an dir zu zweifeln, glaub mir.«

»Aber du hast auch an mir gezweifelt. Das haben alle getan.«

Oliver lächelte. »Dann zeig allen, dass sie sich geirrt haben. Schaffst du das?«

Konstantin antwortete nicht sofort. »Ja, ich glaube schon, dass ich das jetzt schaffen kann«, sagte er. »Aber ich habe eine Bedingung: Du arbeitest richtig mit mir, ohne Rücksicht zu nehmen. Und du sagst nicht mehr, dass etwas gut war, wenn es das nicht war.«

Das hatte er also gemerkt! Oliver schämte sich noch mehr. Was bisher geschehen war, war allein sein Versagen, nicht das des Jungen, das hatte Ariane richtig gesehen. »Ich verspreche es dir.«

»Dann beeilen wir uns heute besser. Wir müssen ja bestimmt einiges nachdrehen, oder? Was ich bisher gespielt habe, kannst du nicht verwenden.«

Oliver trat auf Konstantin zu und schloss ihn in die Arme. »Wir fangen neu an«, sagte er. »Und irgendwie kriegen wir das alles schon noch auf die Reihe.«

*

»Ich hatte ja keine Ahnung, Lara«, sagte Hans erschüttert. »Und das war von Anfang an so?«

»Na ja, eine Woche ungefähr hat er sich zusammengenommen, und dann fing er an, mich zu kontrollieren und mir zu sagen, was ich anziehen und wie ich mich zurechtmachen sollte, wenn wir zusammen ausgingen. Wobei er sich natürlich jede Freiheit genommen hat.« Sie schüttelte den Kopf, lächelte müde. »Es ist meine Schuld, ich bin auf eine schöne Fassade hereingefallen, und natürlich hat es mir auch geschmeichelt, dass sich ein so bekannter Mann für mich interessiert. Ich hätte klüger sein müssen. Ich habe ihm noch von unterwegs geschrieben, dass ich nicht länger mit ihm zusammen sein kann und auch keinen Kontakt mehr zu ihm haben möchte. Zuerst dachte ich, dass es feige ist, wenn ich es ihm nicht ins Gesicht sage, aber ich weiß, was passiert wäre, hätte ich es getan. Also habe ich es lieber gelassen, und ich hoffe, ich höre und sehe nie wieder etwas von ihm.«

»Dabei ist das halbe Land verrückt nach ihm«, murmelte Hans. »Ich kenne auch viele Männer, die ihn bewundern.«

»Ja, so lange man nur sieht, was man sehen soll, scheint er ein toller Typ zu sein. Aber ich versichere dir: Das ist er nicht.« Sie legte ihre Hand auf seine. »Ich war keine gute Freundin in den letzten Wochen, das tut mir leid.«

»Du hast mir gefehlt«, gestand er. »Und ich hatte Angst, du würdest dich noch weiter von mir entfernen. Ich habe dich sehr gern Lara.«

»Ich habe dich auch gern«, sagte sie weich. »Schon bevor ich dich richtig kannte, hatte ich dich gern. Und ich habe auch nicht vergessen, dass du versucht hast, mich vor Andreas zu warnen.«

»Habe ich das? Ich erinnere mich nicht mehr daran, ich kenne ihn ja nicht, kann mir also kein Urteil erlauben.«

»Du hast auch nicht über ihn geurteilt, sondern nur gesagt, dass er, weil er gerade so erfolgreich ist, vermutlich in einer anderen Welt lebt als wir und dass das für mich schwierig sein könnte. Womit du mehr als Recht hattest.«

»Wenn auch anders, als ich es gemeint hatte. Ich hoffe, du kannst diese Geschichte schnell verarbeiten.«

»Damit habe ich ja schon begonnen, als sie noch gar nicht beendet war. Und dass ich ihn nicht liebte, wusste ich schon sehr bald. Aber von dieser Erkenntnis bis zur Trennung sind dann noch einmal ein paar Wochen ins Land gegangen.«

Als sie sich mit einer Umarmung von ihm verabschiedete, hätte er sie gerne fest an sich gedrückt, aber er widerstand der Versuchung. Für eine solche Annäherung war es definitiv der falsche Zeitpunkt.

*

Es war nicht so, dass Konstantin vor der Kamera von einem Tag zum anderen wie ausgewechselt gewesen wäre, aber alle spürten die Veränderung in seiner Haltung und seiner Herangehensweise. Sobald er sich verkrampfte und wieder in seine hölzerne Spielweise verfiel, unterbrach Oliver und erinnerte ihn an das, was sie besprochen hatten. Und er hielt sein Versprechen, nichts mehr durchzuwinken, bis er hundertprozentig zufrieden war. Er ließ Konstantin nichts mehr durchgehen und seltsamerweise war es offenbar genau diese Haltung, die dem Jungen half, das Vertrauen in seine Fähigkeiten wiederzufinden und zu zeigen, was er konnte. Nach und nach spielte er sich frei, und die Stimmung im Team, die in der ersten Woche eher bedrückt gewesen war, hellte sich immer mehr auf. Bald zweifelte niemand mehr daran, dass Konstantin in diesem Film zu Recht die Hauptrolle spielte.

Während also die Dreharbeiten bei Olivers Film gute Fortschritte machten, suchte der Produzent des Films, in dem Andreas Herzog in Hamburg die Hauptrolle spielte, nach Möglichkeiten, den entstandenen Schaden so gering wie möglich zu halten. Zwar hatte Andreas einen höflichen Entschuldigungsbrief an die Hoteldirektion geschrieben und sofort eine Summe überwiesen, die die Schadenssumme überstieg, aber dennoch war die öffentliche Reaktion katastrophal. Zum ersten Mal wandten sich etliche Fans von ihrem Idol ab, in den sozialen Netzwerken wurde er scharf kritisiert – und offenbar nagte es an ihm, dass durch eine Indiskretion bekannt geworden war, dass seine ›schöne Münchener Freundin‹ ihn verlassen hatte. Er zeigte sich daher mit ständig wechselnden attraktiven Frauen an seiner Seite, aber den ›Makel‹, verlassen worden zu sein, wurde er nicht los, und das verkraftete er so wenig wie die nachlassende Liebe seiner Fans. So fand er vor der Kamera nur schwer zu seiner gewohnten Form zurück, was seinen Regisseur insgeheim zur Verzweiflung brachte.

Lara äußerte sich mit keinem Wort über ihn, sie verweigerte jedes Interview, sie versuchte, so gut es ging, den Fotografen zu entgehen. Dennoch wurden Hans und sie eines Tages, als sie auf dem Weg ins Kino waren, aufgespürt und fotografiert. Die Fotos verbreiteten sich über das Internet rasend schnell, mit Begleittexten, in denen die Frage gestellt wurde: »War dieser Mann der Grund für die Trennung von Andreas Herzog?«

»Entschuldige bitte«, sagte sie zu Hans, »dass du da jetzt auch noch hineingezogen wirst. Das tut mir wirklich leid, Hans, aber irgendwann werden die Leute hoffentlich das Interesse an mir verlieren. Je eher, desto besser.«

»Mir macht das nicht so viel aus«, behauptete er, obwohl das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Aber wie Lara ging auch er davon aus, dass das Medieninteresse bald nachlassen würde.

Und irgendwann, wenn es um sie beide wieder ruhiger geworden war, würde er ihr sagen, was er für sie empfand.

*

»Nicht weinen«, sagte Antonia mit sanfter Stimme zu dem kleinen Jungen, der bitterlich schluchzte, als sie die Wunde an seinem böse aufgeschrammten Knie behandelte. »Ich weiß, das tut weh, aber gleich ist es vorbei, dann mache ich dir ein schönes Pflaster auf die Wunde. Jeder wird dich fragen, was dir passiert ist, und das kannst du dann erzählen.«

Tatsächlich versiegten wenig später die Tränen, der Kleine beobachtete sogar aufmerksam jede ihrer Bewegungen. Auch die noch sehr junge Mutter entspannte sich allmählich. Sie machte sich Vorwürfe, weil der Junge ihr mit seinem kleinen Fahrrad entwischt und mit einem anderen Kind zusammengestoßen war.

»Alles wieder gut?«, fragte Antonia.

Mutter und Sohn nickten und verließen erleichtert die Praxis.

Das Wartezimmer war leer, die Sprechstunde beendet. Auch Maxi Böhler, Antonias Praxispartnerin, verabschiedete ihre letzte Patientin. Sie sah müde aus. »Viel los heute«, murmelte sie. »Echt, mir tut sogar der Rücken weh, das habe ich ganz selten.«

»Sie sollten sich ab und zu eine Massage gönnen, Frau Doktor«, bemerkte Carolin Suder, die kluge und liebenswürdige Studentin, die sie als Praxisorganisatorin eingestellt hatten, weil sie keine Fachkraft hatten finden können. Doch längst war ihnen klar, dass sie keine Bessere als Carolin hätten finden können. Allerdings hatte sie ihnen gleich gesagt, sie würde nur bleiben, bis sie ihr Studium beendet hatte. Seitdem hofften sie beide, dass Carolin ihre Meinung vielleicht doch noch änderte.

»Gute Idee«, sagte Maxi. »Aber nicht heute, zu Hause wartet ein unangenehmes Gespräch auf mich. Mein Bruder will, dass wir unser Elternhaus verkaufen, und ich will das nicht. Es wird Streit geben, dabei bin ich viel zu müde zum Streiten.«

»Dann verschieb das Gespräch«, riet Antonia. »Leg dich lieber ins Bett und schlaf dich aus.«

»Mal sehen, bis morgen.«

Auch Carolin verabschiedete sich, und so war Antonia die Letzte. Sie ging noch einmal durch alle Räume, bevor sie abschloss und sich ebenfalls auf den Heimweg machte. Immerhin: Sie erwartete zu Hause kein unangenehmes Gespräch, sondern ein schmackhaftes Essen, gekocht vom ›Haushaltsmanager‹ Simon Daume.

Diesen Titel hatte Kevin dem jungen Mann verliehen, den sie an Stelle einer Haushälterin eingestellt hatten. Es verging kein Tag, an dem Antonia sich nicht zu dieser Entscheidung gratulierte. Es hatte ein paar Anfangsschwierigkeiten gegeben, vor allem mit Kaja, aber seit diese überwunden waren, lief der Haushalt wie geschmiert, und auch die Kinder beklagten sich nicht mehr darüber, dass ihre Mama zu wenig zu Hause war. Es hatte sich tatsächlich alles gut eingespielt.

Nur der Streit mit ihrem Vater war noch immer nicht beigelegt, obwohl Teresa, ihre Stiefmutter, sich sehr darum bemühte, zwischen Vater und Tochter zu vermitteln. Aber wann immer Antonia darüber nachdachte, kam ihr der Zorn wieder hoch, weil Professor Dr. Joachim Kayser, der berühmte Chirurg und Klinikgründer, ihr Vater, sie wegen ihrer Entscheidung, wieder als Ärztin zu arbeiten, als verantwortungslos ihren Kindern gegenüber bezeichnet hatte. Sie konnte ihm das einfach nicht verzeihen!

Sie schob die Gedanken beiseite. Jetzt hatte sie Feierabend, würde mit den Kindern und hoffentlich auch mit Leon essen, was Simon vorbereitet hatte, und anschließend würden sie sich vielleicht einen Film ansehen oder lesen oder sogar, was sie lange nicht mehr getan hatten, mit den Kindern etwas spielen.

Konstantin ging es von Tag zu Tag besser, das war ihm anzusehen, und er sagte es auch so – und andere Probleme ihrer Kinder standen derzeit zum Glück nicht an. Ein seltener, aber umso schönerer Zustand.

Die Sache mit ihrem Vater musste warten.

*

Linda Kauer ließ es zunächst langsam angehen, dann verschärfte sie das Tempo. Sie war eine gute Läuferin, sie trainierte für einen großen Marathonwettbewerb. Ihr Sportverein unterstützte sie, und je besser sie wurde, desto mehr Spaß machte es ihr. Irgendwann würde sie sich an einen Triathlon wagen – schwimmen, Rad fahren, laufen – aber das war Zukunftsmusik. Jetzt lief sie erst einmal. Sie hatte erst an zwei großen Läufen teilgenommen und war auf Anhieb unter die ersten zehn gekommen. Sie wusste, sie konnte sich noch steigern.

Vor ihr überquerte ein Mann sehr schnell die Straße, er rannte beinahe. Dann erst sah sie, dass er offenbar einem anderen folgte, der ein Stück weiter vorn ging. Sonst war niemand zu sehen. Sie setzte bereits zum Überholen an, als der Mann ebenfalls anfing zu rennen. Was dann geschah, spielte sich so schnell ab, dass sie es gar nicht richtig mitbekam. Der Mann erreichte den anderen, hatte plötzlich seine Hände an dessen Hals, woraufhin dieser in die Knie ging, sich aber wiederaufrichtete. Sie sah etwas blitzen, der Angreifer machte eine weitere Bewegung zum Hals des anderen, dann sah er sie und wandte sich zur Flucht.

Instinktiv setzte sie ihm nach, sie war natürlich schneller als er, aber sie hatte nicht mit seiner Kraft gerechnet. Zwar gelang es ihr, ihn am Arm zu packen und zum Stehenbleiben zu zwingen, aber er schlug ihr zweimal kräftig ins Gesicht und stieß sie so hart vor die Brust, dass sie zurücktaumelte und um ein Haar gestürzt wäre. Als sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, war er bereits verschwunden.

Also drehte sie sich zu dem Opfer um und sah, dass der Mann irgendwie wieder auf die Beine gekommen war. Er torkelte wie ein Betrunkener über die Straße und hinterließ eine Blutspur.

*

Simon Daume pfiff leise vor sich hin, als er vom Einkaufen kam. Er war ziemlich schwer beladen, aber das machte ihm nichts aus. Andere trainierten in teuren Fitness-Studios mit schweren Hanteln, er trug dafür schwere Einkaufstaschen – und das brachte sogar noch Geld ein, schließlich bezahlten ihn die Laurins gut dafür, dass er ihren Haushalt managte. Es war sogar noch besser: Er trainierte nicht nur, er hatte bei der Arbeit auch noch Spaß.

Er gratulierte sich jeden Tag, weil es ihm gelungen war, diesen Job zu ergattern, der geschaffen worden war, weil Frau Dr. Laurin ihre eigene Kinderarztpraxis eröffnet hatte. Er bewunderte sie sehr. Sie sah toll aus, hatte vier Kinder zur Welt gebracht und großgezogen – und jetzt kümmerte sie sich um die kranken Kinder anderer Leute, statt es sich zu Hause gemütlich zu machen.

Er bewunderte auch Herrn Dr. Laurin, der eine Klinik leitete, aber trotzdem versuchte, seine Familie so oft wie möglich zu sehen. Er hoffte, er hatte den Kindern klarmachen können, wie froh sie sein konnten, solche Eltern zu haben. Er hatte seine vor ein paar Jahren verloren und war seitdem für seine beiden jüngeren Schwestern verantwortlich. Leicht war das nicht, aber sie kamen klar, weil sie ein Team waren, und das würden sie bleiben.

Er war heute früher dran als sonst, weil er sich vorgenommen hatte, abends etwas aufwendiger als sonst zu kochen. Das machte er gelegentlich, wenn er Zeit und Lust hatte. Also hatte er bereits eingekauft und würde seinen Dienst heute eine gute Stunde früher antreten als sonst. Wie immer freute er sich auf die Arbeit, die vor ihm lag. Das Haus war so schön – und die Küche so perfekt eingerichtet, es war eine Freude, das alles in Ordnung zu halten.

Er blieb verunsichert stehen, als er einen Mann über die Straße torkeln sah. War der um diese Zeit schon betrunken? »Das darf doch wohl nicht wahr sein«, murmelte er. Dann jedoch sah er etwas Rotes am Hals des Mannes, zugleich kam eine drahtige junge Frau in Joggingkleidung angerannt. »Er hat ihn einfach angegriffen«, schrie sie schon von weitem, »ich hab’s genau gesehen, ich wollte ihn festhalten, aber er hat sich losgerissen und ist weg.«

Simon ließ alle Einkaufstaschen einfach fallen und stürzte auf den blutenden Mann zu, der sich jetzt an einen Laternenpfahl klammerte. Als Simon ihn erreichte, versuchte er, etwas zu sagen. Stattdessen knickten seine Beine ein, und er brach zusammen. Simon konnte ihn gerade noch auffangen.

Aus dem Hals des Mannes sprudelte Blut. Ohne nachzudenken legte Simon eine Hand fest auf die Wunde. Zuerst quoll weiterhin Blut durch seine Finger, aber als er fester drückte, hörte der Blutfluss auf.

Die Frau war mittlerweile bei ihnen angelangt.

Sie wurde schneeweiß im Gesicht, als sie die blutdurchtränkte Kleidung des Mannes und Simons blutige Finger sah. »Ich … ich kann kein Blut sehen«, murmelte sie, dann drehte sie sich zur Seite und übergab sich.

Simon schloss die Augen. Er musste einen Rettungswagen rufen, aber er traute sich nicht, die Hand vom Hals des Mannes zu nehmen oder sich auch nur zu bewegen, um an sein Handy zu kommen. Er war auf die Hilfe der Frau angewiesen, die würgend neben ihm stand und am ganzen Körper zitterte.

Oder auf jemanden anders, der vielleicht zufällig vorbeikam, denn der Verletzte, schätzte er, hatte nicht mehr viel Zeit.

*

Joachim Kayser schalt sich selbst dumm und sentimental, dass er mindestens einmal am Tag an dem Haus vorbeifuhr, in dem seine Tochter Antonia mit ihrer Familie lebte. Sie hatte jeglichen Kontakt mit ihm abgebrochen, seit er sie – ziemlich heftig, wie er zugeben musste – für ihre Entscheidung, wieder als Ärztin zu arbeiten, kritisiert hatte. Ihre Jüngste war erst elf, er war der Ansicht gewesen, dass Antonia sich unverantwortlich verhielt, ihre Kinder, vor allem Kyra, mehr oder weniger sich selbst zu überlassen.

Natürlich hatte er seine Ansicht mittlerweile überdacht, auch weil Teresa das Thema immer wieder anschnitt. Seine Reaktion war vielleicht überzogen gewesen, und es war auch nicht von der Hand zu weisen, dass er seiner Tochter nichts mehr zu sagen hatte. Sie war erwachsen und hatte ihr Leben bis jetzt ziemlich gut gemeistert, er war der Erste, der das anerkannte. Aber das einzusehen und es offen zuzugeben waren zwei unterschiedliche Dinge!

Er näherte sich dem Haus, das dieser junge Mann, Simon, bemerkenswert gut in Schuss hielt, das musste er schon sagen. Auch den Garten hielt er in Ordnung, da gab es nichts zu kritisieren. Er hatte ja eher mit Chaos gerechnet. Einen Zweiundzwanzigjährigen als Haushälter einzustellen – was für eine Idee! Aber das Ergebnis schien seiner Tochter und seinem Schwiegersohn Recht zu geben.

Etwas lenkte ihn ab. Jemand stand am Straßenrand und übergab sich, daneben kauerte jemand – und lag da nicht auch eine Person am Boden? Er sah, wie der Mann, der neben dem am Boden Liegenden kauerte, sich aufrichtete und heftig winkte. Joachim lenkte den Wagen an den Straßenrand und stieg aus.

Der Mann, der gewunken hatte, war Simon Daume, der ihn fassungslos ansah. »Sie?«, stieß er hervor. »Haben Sie …« Er brach ab, wandte sich wieder dem Mann zu, der am Boden lag.

Dessen Kleidung war voller Blut, jetzt erst sah Joachim, dass Simon seine rechte Hand fest auf den Hals des Mannes drückte.

Er kniete sich auf dessen andere Seite. »Wie ist das passiert?«

»Ich … Sie haben nichts damit zu tun?«

»Ich? Wie kommen Sie denn auf die Idee?«, fragte Joachim entgeistert. »Ich … äh … bin zufällig hier vorbeigekommen und habe Sie gesehen …«

In diesem Moment richtete sich die Frau, die sich übergeben hatte, auf. »Er wurde angegriffen«, sagte sie. »Von einem Mann, der weggerannt ist. Ich wollte ihn festhalten, aber er hat mich weggestoßen und weg war er. Der Mann war eher jung. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, er hat eine Sonnenbrille getragen und eine Kappe ganz tief in die Stirn gezogen.«

»Er blutet aus dem Hals«, setzte Simon hinzu, »wenn ich auch nur ein bisschen Druck wegnehme, sprudelt das Blut aus seinem Hals.«

Joachim Kayser nickte nur. Er hatte sein Handy bereits in der Hand. Mit ruhiger Stimme gab er durch, dass dringend ein Rettungswagen benötigt wurde – und wo sie sich befanden. »Der Mann blutet stark aus einer Halswunde, wenn nicht schnell Hilfe kommt, wird er verbluten. Bringen Sie ihn in die Kayser-Klinik, sie ist hier ganz in der Nähe.«

Anschließend rief er in der Klinik an und gab das Gleiche noch einmal durch. »So, das wäre erledigt«, sagte er. »Die werden sich sicher beeilen.«

Die Frau hatte aufgehört zu zittern, allmählich kehrte Farbe in ihr Gesicht zurück. »Mir ist immer noch schlecht«, murmelte sie.

»Das ist normal«, erklärte Joachim Kayser, »machen Sie sich deshalb keine Gedanken. Und Sie«, fuhr er an Simon gewandt fort, »lassen Ihre Hand, wo sie ist. Sein Leben hängt davon ab, dass Sie jetzt keinen Fehler machen.«

Simon nickte. Sein Arm fühlte sich taub an, auch in seinen Beinen hatte er kein Gefühl mehr, dabei hockte er ja noch nicht lange hier, aber die Haltung war denkbar unbequem und da er sich nicht zu bewegen wagte, aus Angst, dabei auch die Hand zu bewegen, würde er also ausharren müssen, bis der Rettungswagen eintraf.

Ein Stöhnen ließ ihn aufblicken. Zuerst begriff er nicht, was los war, als er sah, dass Professor Kayser sich ans Herz griff. Er war fast so bleich wie die Frau es gewesen war, bevor sie sich übergeben hatte. Sein Blick erschreckte Simon, die Lippen des Professors bewegten sich, aber es kam kein verständliches Wort heraus. Mit einem weiteren Stöhnen sackte er zusammen.

»Was hat er denn?«, rief die Frau in heller Panik.

Das wüsste ich auch gern, dachte Simon und zwang sich zur Ruhe. Wenn er jetzt auch noch durchdrehte oder zusammenbrach, würde der Mann mit der Wunde am Hals sterben – und der Professor vielleicht auch.

»Jetzt müssen Sie anrufen«, sagte er mit fester Stimme. »Los, schnell, die müssen noch einen Rettungswagen schicken, dringend. Sagen Sie, es handelt sich um Professor Kayser, und er hat vielleicht einen Herzinfarkt erlitten.«

*

»Gut, Eckart«, sagte Leon zu seinem Freund und Kollegen Eckart Sternberg, »so machen wir das, das scheint mir ein vernünftiger Plan zu sein …«

Weiter kam er nicht, denn die Tür zu seinem Büro wurde aufgerissen, von Timo Felsenstein, dem Leiter der Notaufnahme. »Professor Kayser hat angerufen, er hat ein Opfer mit Halsverletzung auf der Straße gefunden, offenbar ist der Mann kurz vor dem Verbluten. Ich bin auf dem Weg zu einer Notoperation, also wäre es gut, wenn ihr beide …«

Sie waren schon aufgesprungen. »Geh operieren, wir machen das«, sagte Leon.

In der Notaufnahme hatte Schwester Marie bereits alles zur Aufnahme des Patienten vorbereitet. Wie immer war sie die Ruhe selbst. Gleich darauf ertönte ein Martinshorn, die Sirene wurde rasch lauter, bis sie vor den Türen der Notaufnahme verstummte.

Als die Sanitäter mit dem Patienten hereinkamen, lief ein Mann neben der fahrbaren Trage her, in dem Leon zu seinem größten Erstaunen Simon Daume erkannte, den ›Haushaltmanager‹ im Hause Laurin. Simon sah furchtbar aus, war blass und zitterte, seine Kleidung war voller Blut.

»Der Mann hat schon zu viel Blut verloren«, sagte einer der Sanitäter, »wir wollten nicht riskieren, dass Herr Daume seine Hand wegnimmt. Kümmern Sie sich um ihn oder um Ihren Schwiegervater, Herr Dr. Laurin?«

Leon und Eckart wechselten einen befremdeten Blick. »Um meinen Schwiegervater?«, fragte Leon.

»Hat die Nachricht Sie nicht erreicht? Professor Kayser war vor Ort, hat den Notruf betätigt, danach dann selbst einen Herzanfall erlitten, möglicherweise einen Infarkt.«

Es war Eckart, der die Entscheidung fällte. »Kümmere du dich bitte um diesen Mann, Leon«, sagte er. »Ich halte es für besser, wenn ich deinen Schwiegervater übernehme.«

Leon nickte, er fühlte sich wie betäubt. Wie lange hatte er Joachim nicht gesehen wegen dieses verflixten Streits?

Er sah noch, wie sich die Türen der Notaufnahme ein zweites Mal öffneten, dann begegnete er Eckarts Blick. Eckart machte eine knappe, auffordernde Kopfbewegung, die so viel hieß wie: Los, beweg dich.

Leon riss sich zusammen. Er nickte und folgte den Sanitätern und Simon in den Behandlungsraum.

Der Pfleger Manuel Degenhardt hatte ebenfalls Dienst in der Notaufnahme. Er war ein verschlossener Mensch, der nie ein Wort zu viel sagte. Medizinisch war er außerordentlich fit. Es gab Gerüchte, er habe sein Medizinstudium geschmissen, weil er den Stress nicht ausgehalten hatte. Leon war Manuels Vorgeschichte gleichgültig. Er war ein erstklassiger Pfleger, das allein zählte. Er legte in Windeseile eine Infusion

»Soll ich?«, fragte Manuel. Seine Hand schwebte schon über der von Simon.

»Ja, bitte«, antwortete Simon mit schwacher Stimme, obwohl die Frage sich nicht an ihn gerichtet hatte.

»Nein«, sagte Leon. »Tut mir leid, Simon, Sie müssen noch ein paar Minuten durchhalten. Schaffen Sie das?«

»Wenn es gar nicht anders geht«, murmelte Simon.

»OP drei steht für Sie bereit, Chef«, meldete Marie.

»Gut, dann bringen wir ihn nach oben. Im OP übernehmen Sie dann, Manuel. Und, Marie, wir brauchen Blutkonserven.«

»Schon bestellt, Chef.«

Simon hatte Mühe, nicht über seine eigenen Füße zu stolpern, als sie den Verletzten zum Aufzug brachten. Doch auf der OP-Station ging dann alles sehr schnell. »Wir erlösen Sie jetzt, Simon«, hörte er. »Auf drei, in Ordnung? Eins, zwei, und drei!«

Eine Blutfontäne schoss aus dem Hals des Patienten, aber ganz kurz nur, dann lag Manuels Hand genau dort, wo zuvor Simons Hand gelegen hatte.

Schwester Marie führte Simon zurück zur Notaufnahme, wo sie ihm ein Glas Wasser in die Hand drückte. »Trinken«, befahl sie. »Und bleiben Sie sitzen, bis es Ihnen besser geht. Wir haben schon wieder ein Unfallopfer hereinbekommen, ich weiß auch nicht, was heute los ist – und dann noch der Professor! Jedenfalls kann ich mich leider nicht mehr um Sie kümmern. Kommen Sie zurecht?«

Er nickte nur. Seine Beine fühlten sich an, als wären sie aus Watte. Selbst wenn er gewollt hätte: Er hätte nirgendwo hingehen können. Er würde einfach hier sitzen bleiben, Wasser trinken und vorsichtig seinen tauben Arm bewegen.

*

Joachim Kayser war kaum ansprechbar. Ab und zu öffnete er die Augen, aber er erkannte weder Eckart noch Marie und murmelte unverständliche Sätze. Sie kümmerten sich um seine Erstversorgung, bevor sie ihn an die Kolleginnen und Kollegen in der Kardiologie übergaben, denn in der Notaufnahme wartete bereits der nächste Patient. Eckart hatte eigentlich Antonia anrufen und informieren wollen, aber der Zustand des neuen Patienten war kritisch, um ihn mussten sie sich zuerst kümmern.

»Was ist mit Herrn Daume?«, fragte er Marie, während sie die Wunden des Mannes versorgten und ihm eine Infusion anlegten, die seinen Kreislauf stabilisierte. Er hatte sich bei dem Unfall mehrere Knochen gebrochen, sobald er stabil war, würde auch er operiert werden müssen. Dieses war ein ziemlich verrückter Tag, so viele schwere Notfälle innerhalb einer Stunde – das war selten.

»Er sitzt noch draußen, aber er hat sich immerhin schon notdürftig das Blut von den Händen gewaschen. Ich denke, wir sollten ihn mit einem Taxi nach Hause schicken.«

»Oder nach nebenan in die Praxis«, murmelte Eckart. »Ich muss dort anrufen, wegen Professor Kayser.«

»Fragen Sie lieber erst noch einmal nach, wie es jetzt um ihn steht«, riet Marie. »Dann können Sie vielleicht schon sagen, dass sein Zustand stabil ist – und der Schock für Frau Dr. Laurin fällt weniger schlimm aus.«

Eckart nickte, das war ein guter Rat. Leon würde länger zu tun haben mit seinem Patienten, sonst hätte er es besser gefunden, wenn er selbst seiner Frau die schlechte Nachricht überbracht hätte. So lange wollte er jedoch nicht warten, er würde es also wohl oder übel selbst übernehmen müssen, mit Antonia zu reden. Keine angenehme Aufgabe.

Doch zuerst musste er sich um den Mann kümmern, der jetzt vor ihm lag mit seinen zahlreichen Brüchen und der schweren Gehirnerschütterung, die er bei dem Unfall erlitten hatte.

Als Marie das nächste Mal einen Blick auf den Stationsflur warf, war Simon Daume nicht mehr zu sehen.

*

»Wir sind gut in der Zeit«, stellte Maxi Böhler fest, als Antonia, Carolin und sie sich eine kleine Kaffeepause gönnten.

»Ja, endlich mal«, sagt Antonia. »Nie im Leben hätte ich erwartet, dass die Praxis von Anfang an so gut läuft.«

»Wir sind ein gutes Team, Sie eingeschlossen, Carolin.«

»Leider muss ich Ihnen jetzt trotzdem sagen, dass die Pause vorüber ist, denn ich sehe die nächsten Patienten kommen.« Carolin hatte diesen Satz kaum beendet, als das Telefon klingelte. »Sie haben Glück, Herr Dr. Sternberg«, sagte sie. »Frau Dr. Laurin steht gerade neben mir.«

Maxi verschwand wieder in ihrem Sprechzimmer, Antonia nahm das Gespräch entgegen. »Eckart?«, fragte sie. »Habt ihr Patienten für uns?«

»Nein … äh … darum geht es nicht. Antonia. Es ist … also, dein Vater ist bei uns eingeliefert worden, er hatte einen Herzinfarkt und wird jetzt in der Kardiologie behandelt. Die Kollegen sagen, es war ein mittelschwerer Infarkt, es war ein großes Glück, dass er umgehend zu uns gebracht wurde.«

Antonia konnte nichts sagen, ihr Kopf war leer.

»Bist du noch dran?«, fragte Eckart vorsichtig.

»Ja«, sagte sie. »Ist er stabil?«

»Ja, und es geht ihm bereits besser, die akute Gefahr ist erst einmal gebannt. Ich dachte, du würdest es sofort wissen wollen. Leon steht noch im OP, wir haben heute Hochbetrieb hier. Ich weiß, ihr habt gerade kein gutes Einvernehmen, dein Vater und du, aber …«

»Ich komme«, sagte Antonia, »ich muss hier nur in der Praxis ein paar Dinge klären. Ich bin dir sehr dankbar für deinen Anruf, Eckart.« Sie wartete seine Erwiderung nicht ab, sondern legte einfach auf.

Carolin stellte keine Frage, sondern wartete darauf, dass Antonia redete, was sie nach einigen Sekunden auch tat. »Mein Vater hatte einen Herzinfarkt, Carolin. Können Sie die Termine, die ich heute noch habe, verlegen? Denken Sie, das geht?«

Carolin warf einen Blick auf den Plan und nickte. »Das geht auf jeden Fall«, sagte sie dann. »Wollen Sie mit Frau Dr. Böhler sprechen oder soll ich das übernehmen?«

»Ich mache es selbst – es ist doch noch niemand bei ihr im Sprechzimmer?«

»Nein, noch nicht.«

Antonia betrat also nach kurzem Klopfen das Sprechzimmer ihrer Kollegin. Sie sah aus wie eine Statue, und sie sagte kaum mehr als drei Sätze.

Maxi tat das einzig Richtige: Sie sagte nichts, sondern nahm Antonia in den Arm.

*

Mehr als einmal während der Operation dachte Leon, er werde seinen Patienten verlieren. Das Herz versagte zweimal, aber sie konnten ihn in beiden Fällen wieder zurückholen. Der massive Blutverlust machte dem Mann zu schaffen. Sie hatten aufgehört zu zählen, wie viele Blutkonserven er schon bekommen hatte.

»Ein Glück, dass er noch jung und widerstandsfähig ist, ein älterer Mensch hätte eine solche Attacke nicht überlebt«, sagte er zu Manuel Degenhardt, als sie das Herz des Patienten zum zweiten Mal mit dem Defibrillator wieder zum Schlagen gebracht hatten.

Er hätte heute eigentlich seine gynäkologische Sprechstunde abhalten sollen, stattdessen stand er nun hier und versuchte, das Leben eines Mannes zu retten, das ein anderer gerade hatte auslöschen wollen. In welchen Zeiten lebten sie eigentlich? Da lief ein Mann mit einem Messer in der Tasche herum und stach auf einen anderen ein?

»Hoffentlich findet die Polizei den Täter«, erwiderte Manuel. »Ich kann es immer noch nicht glauben, dass in unserer Nähe ein Mann am helllichten Tag auf offener Straße niedergestochen wird. Nach friedlichen Zeiten klingt das nicht gerade.«

Leon nickte, er hatte ja gerade etwas Ähnliches gedacht. Und natürlich geisterte auch Simon immer wieder durch seine Gedanken, ebenso wie sein Schwiegervater. Eckart war so umsichtig gewesen, ihm eine Nachricht in den OP zu schicken, dass Joachim Kaysers Zustand sich stabilisiert hatte – akute Lebensgefahr bestand demnach nicht.

Und er hatte Antonia informiert.

Er ist ein guter Freund, dachte Leon, während er sorgfältig die zerfetzten Gefäße wieder zusammenfügte, wobei er immer wieder einen Blick auf den Überwachungsmonitor warf.

Lange würde der Mann nicht mehr durchhalten. Er musste sich beeilen, wenn er nicht wollte, dass alle Mühe umsonst gewesen war.

*

Jemand hatte tatsächlich die Einkaufstaschen, die Simon fallen gelassen hatte, bis zum Haus getragen und vor der Haustür abgestellt. Er fragte sich, wer das gewesen war, vermutlich einer von den Nachbarn.

Auf der Straße war noch das Blut zu sehen, aber er wandte den Blick ab. Die Polizei hatte ihn noch in der Klinik befragt, aber zum Tathergang hatte er ja nichts sagen können. Und die Aussagen der Frau, Linda Kauer, waren natürlich auch ziemlich vage gewesen. Sie hatte den Täter nicht gut beschreiben können. Er verstand das. Wer achtete denn schon auf Äußerlichkeiten, wenn er einen solchen Überfall beobachtete? Oder musste man sagen: einen Mordanschlag? Denn das war es ja offenbar gewesen. Er hätte sicherlich auch keine vernünftige Beschreibung zustande gebracht.

Er betrat das Haus, räumte die Einkäufe weg – und dann verließ ihn ganz plötzlich die Kraft. Wie sollte er denn jetzt seine Arbeit erledigen? Putzen, kochen … das erschien ihm alles so weit weg. Er merkte, dass er zitterte, und dann kamen die Tränen. Er weinte sonst nie, aber jetzt konnte er nicht aufhören, es schüttelte seinen ganzen Körper und je länger er weinte, desto schlimmer wurde es. In der Klinik hatte er sich eisern zusammengerissen, aber das ging jetzt nicht mehr. Er war am Ende.

Er hörte nicht, dass die Haustür geöffnet wurde, er sah auch nicht, dass Kaja an der Küchentür erschien und bei seinem Anblick den Schrecken ihres Lebens bekam – nicht nur, weil er so verzweifelt weinte, sondern auch, weil seine Kleidung voller Blut war.

»Simon«, sagte sie.

Er hob den Kopf, aber er konnte nicht aufhören zu weinen und zu zittern. In seinem Blick las sie Verzweiflung, Panik, Angst und Trauer, und sie begriff, dass er Hilfe brauchte. Zuerst wusste sie nicht, was nun zu tun war, aber dann handelte sie, ohne noch weiter darüber nachzudenken. Sie betrat die Küche, setzte sich neben ihn und umschlang ihn fest mit beiden Armen. Sofort klammerte er sich an sie, wie sich Ertrinkende an ihre Retter klammern, und sie ließ es zu. Sie gab leise beruhigende Laute von sich und streichelte seinen Rücken, bis sie merkte, dass er allmählich ruhiger wurde. Trotzdem wagte sie noch nicht, ihn zu fragen, was passiert war.

Es schien sehr lange zu dauern, bis Simon aufhörte zu zittern und bis endlich keine Tränen mehr kamen. Dennoch zog er sich nicht zurück, sondern lehnte sich sogar an Kaja, als brauchte er ihre Nähe noch immer.

So saßen sie noch, als Kevin nach Hause kam. Er öffnete schon den Mund, um etwas zu sagen, dann bemerkte er die Blutflecken auf Simons Kleidung sowie Kajas warnenden Blick und klappte den Mund wieder zu. Schweigend setzte er sich zu ihnen an den Küchentisch. Ähnlich verlief Kyras Heimkehr. Konstantin würde erst abends nach Hause kommen, die Dreharbeiten waren selten vor dem frühen Abend beendet.

Endlich löste sich Simon aus Kajas Armen und richtete sich auf. Stockend berichtete er ihnen, was sich ereignet hatte. Sie hörten ihm atemlos zu, als er erzählte, wie Joachim Kayser ganz ruhig einen Rettungswagen gerufen hatte, während er, Simon sich nicht hatte bewegen können, weil der Verletzte dann verblutet wäre.

»Und dann ist euer Opa zusammengebrochen«, sagte Simon zum Schluss, die Augen noch immer voller Tränen. »Verdacht auf Herzinfarkt.«

*

Antonia saß am Bett ihres Vaters. Er öffnete gelegentlich die Augen, sah sie an, sagte aber nichts. Nur einmal hatte er leise ihren Namen gemurmelt. Sie hatte mittlerweile auch Teresa angerufen, die auf dem Weg hierher war – und sie wartete auf Leon, der aber noch immer im OP stand.

Sie wusste jetzt mehr über die Umstände, unter denen ihr Vater zusammengebrochen war. Sie hatte auch schon versucht, Simon zu erreichen, es war ihr jedoch nicht gelungen.

Sie konnte nur hoffen, dass es ihm gelungen war, heil nach Hause zu kommen. Er musste doch unter Schock stehen! Aber sie verstand, warum sich niemand um ihn hatte kümmern können, die Notaufnahme war an diesem Tag an ihre Grenzen gelangt.

Als sich ihr Handy meldete, warf sie einen Blick auf das Display und nahm den Anruf sofort entgegen. »Kaja?«, sagte sie.

»Carolin hat gesagt, dass du bei Opa bist«, erwiderte Kaja. »Wie geht es ihm?«

»Den Umständen entsprechend, er ist stabil. Kaja, ist Simon bei Euch?«

»Ja«, antwortete Kaja. »Er konnte zuerst nicht reden, aber jetzt geht es besser. Er duscht gerade, wir geben ihm ein paar von Konnys ­Klamotten. Er will unbedingt noch kochen für heute Abend, das ver­suchen wir ihm gerade auszureden.«

»Er soll überhaupt nichts mehr tun, sag ihm das bitte, sondern sich im Wohnzimmer aufs Sofa legen. Aber es wäre wahrscheinlich gut, wenn ihr seine Schwestern anrufen würdet. Er sollte nicht allein sein, denke ich. Hier war so viel los, dass niemand sich um ihn kümmern konnte. Wenn du das Gefühl hast, dass er ärztliche Hilfe braucht, ruf mich noch einmal an, dann sorge ich dafür, dass er hierhergebracht wird. Er steht mit Sicherheit unter Schock nach allem, was er heute mitgemacht hat.«

»Das war so, als ich nach Hause kam, er hat geweint, aber jetzt geht es ihm besser. Er hat uns alles erzählt, ich glaube, das war gut für ihn.«

»Ganz bestimmt sogar.«

»Sollen wir später in die Klinik kommen?«

»Nein, heute nicht. Euer Opa ist nicht ansprechbar, und zu viel Unruhe ist auch nicht gut für ihn. Er schwebt nicht in Lebensgefahr.«

»Denkst du …« Kaja zögerte, bevor sie weitersprach. »Glaubst du, unser Gespräch mit ihm neulich hat ihn vielleicht so aufgeregt, dass er deshalb jetzt den Infarkt hatte?«

»Ganz bestimmt nicht! Es ist möglich, dass diese Stress-Situation mit dem verblutenden Mann auf der Straße zu dem Infarkt beigetragen hat, aber die Gefäße müssen schon vorher geschädigt gewesen sein.«

»Weiß Papa schon, was passiert ist?«

»Ja, und Teresa auch, sie wird bald hier sein, schätze ich, ich habe sie angerufen. Papa steht immer noch im OP, sie hatten heute mehrere Schwerverletzte und daher auch mehrere Notoperationen. Kümmert euch auf jeden Fall um Simon.«

»Das machen wir«, versprach Kaja.

Wenig später traf Teresa ein. Sie war blass, wirkte aber gefasst und erlaubte sich auch beim Anblick ihres Mannes keine Schwäche. Sie legte Antonia zur Begrüßung eine Hand auf die Schulter, dann beugte sie sich über Joachim und küsste ihn leicht auf die Wange.

Er öffnete die Augen und versuchte zu lächeln, als er sie erkannte. Sie setzte sich zu ihm, umschloss seine rechte Hand mit ihren beiden Händen und hielt sie fest. Seine Lider sanken wieder herab. »Danke für deinen Anruf, Antonia«, sagte Teresa leise. »Und noch mehr danke ich dir dafür, dass du hier bist.«

»Natürlich bin ich hier«, erwiderte Antonia, und so empfand sie es tatsächlich: als natürlich. Joachim Kayser war ihr Vater, und er blieb es, trotz allem.

Sie würde, wenn er sich wieder erholt hatte, nicht einfach alles vergeben und vergessen, aber sie würde den Streit nicht weiterführen, sich nicht länger weigern, mit ihm zu reden. Nur ihre Meinung, die würde sie nicht ändern.

Als Leon hereinkam und sowohl Antonia als auch Teresa bei seinem Schwiegervater sah, atmete er auf und sagte: »Er ist stabil, hörte ich.«

»Ja, er ist stabil. Ich schätze mal, Simon hat auch ihm das Leben gerettet, weil er die Nerven behalten hat«, erwiderte Antonia.

Teresa sagte nichts. Sie nickte Leon nur kurz zu, dann wandte sie sich wieder ihrem Mann zu, dessen rechte Hand sie noch immer fest umklammerte. Jetzt standen Tränen in ihren Augen, es war das erste Zeichen von Schwäche, das sie sich gestattete.

*

Kriminalobermeisterin Sara Braun hatte von Schwester Marie den Namen und die Adresse des überfallenen Mannes erfahren. Hans Gronauer hieß er. Er hatte einen Festnetzanschluss, sie hatte dort angerufen, jedoch niemanden erreicht. Vielleicht lebte er allein, vielleicht war seine Frau aber auch nicht zu Hause. Verwandte, die bei einem möglichen Unfall benachrichtigt werden sollten, waren nicht bekannt. Also klingelte sie zunächst an seiner Wohnungstür und dann, als niemand sich meldete, bei seinen Nachbarn. Beim dritten Versuch hatte sie Glück.

Normalerweise wäre jetzt ihr Kollege Alfons Schüler an ihrer Seite gewesen, aber er war überraschend krank geworden, niemand hatte ihn ersetzen können. Personalmangel – aber diese Aufgabe würde sie ja wohl auch allein bewältigen können.

Ein alter Mann öffnete ihr und ließ sie eintreten, als sie ihm ihre Marke gezeigt hatte. Er musste an die achtzig sein, erwies sich aber als bemerkenswert fit. Er hieß Wilfried Hellinghausen.

»Wir spielen manchmal Schach zusammen, der Hans und ich«, sagte er, »er ist der netteste Nachbar, den ich je hatte. Der sieht sofort, wenn es mir nicht gut geht, dann fragt er, ob er was für mich tun kann. Warum suchen Sie ihn denn? Es wird ihm doch nichts passiert sein?«

Sara bemühte sich, diese Frage zu überhören, obwohl sie Herrn Hellinghausen gern die Wahrheit gesagt hatte, sie glaubte ihm seine Besorgnis. Aber man ließ sich ja manchmal auch täuschen, und so lange war sie noch nicht im Polizeidienst, dass sie es sich zutraute, echte Besorgnis von gespielter sicher zu unterscheiden.

»Wir müssten mit jemandem aus seiner Familie sprechen«, sagte sie. »Können Sie uns da weiterhelfen?«

Wilfried Hellinghausen betrachtete sie prüfend, als sei er sich noch immer nicht ganz im Klaren darüber, ob er ihr vollkommen vertrauen konnte. »Seine Eltern sind in Norddeutschland zuhause – so sind wir uns ja überhaupt erst nähergekommen. Er stammt aus Ostfriesland, genau wie ich, allerdings aus einer anderen Ecke. Ich bin aus Oldenburg, er stammt aus der Gegend von Emden. Wie genau der Ort heißt, in dem er groß geworden ist, weiß ich nicht. Seine Eltern und seine Großeltern leben da immer noch.«

Das war doch schon mal ein Anfang, dachte Sara. »Und hier in München?«, fragte sie weiter. »Hat er eine Frau oder Freundin?«

Ein Leuchten lief über das Gesicht des alten Herrn. »Frau Cornelius«, sagte er mit beinahe andächtiger Stimme. »Lara Cornelius, mit der ist er wieder häufig zusammen, seit … Na ja, Sie wissen schon, seit wann.«

Bei dem Namen ›Lara Cornelius‹ klingelte etwas bei Sara, aber ihr fiel­ nicht gleich ein, in welchem Zusammenhang sie ihn schon einmal gehört hatte. »Ehrlich gesagt, nein, ich weiß nicht, seit wann«, gestand sie.

Ein beinahe mitleidiger Blick traf sie. »Sie war doch mit diesem bekannten Schauspieler zusammen, diesem Andreas Herzog«, sagte Wilfried Hellinghausen, »aber nur ziemlich kurz.«

Ja natürlich, dachte Sara, daher kannte ich den Namen!

»In der Zeit hat sie Hans nur selten gesehen, er war ziemlich traurig deswegen, aber seit der Trennung sind sie oft zusammen«, fuhr der alte Herr fort. Er legte den Kopf ein wenig schief und betrachtete sie prüfend, bevor er hinzusetzte: »Ich denke, er ist in sie verliebt, aber ich glaube, sie weiß das noch gar nicht. Für sie ist er ein guter Freund. Und vielleicht schätzt er selbst seine Gefühle für sie auch falsch ein. Menschen sind in Liebesdingen ja gelegentlich erstaunlich blind.«

In Saras Kopf ging in diesem Moment ziemlich viel durcheinander. Ihre Gedanken überschlugen sich geradezu, bevor sie sich zur Ruhe zwang. Voreilige Schlüsse waren der Tod jeder sorgfältigen Ermittlungsarbeit, wie sie wusste, aber sie konnte es direkt in den Fingerspitzen spüren, dass der alte Herr Hellinghausen ihr soeben etwas sehr Wichtiges mitgeteilt hatte. Beinahe bedauerte sie es, dass sie an der weiteren Ermittlungsarbeit garantiert nicht mehr beteiligt sein würde. Ein Mordanschlag mitten am Tag auf einer Straße in einem eher beschaulichen Teil von München – das war etwas für die erfahrenen Kolleginnen und Kollegen, nichts für eine, die erst so kurz dabei war wie sie.

»Es ist etwas passiert, nicht wahr?«

Sie sah in das alte Gesicht, sah die Angst in den Augen des Mannes und hörte seiner Stimme an, wie beunruhigt er war. »Ja«, antwortete sie, »es ist etwas passiert, Herr Hellinghausen. Herr Gronauer wurde überfallen, die Ärzte in der Kayser-Klinik kümmern sich um ihn. Er hat zum Glück schnell Hilfe bekommen. Sie haben nicht zufällig eine Telefonnummer, unter der Frau Cornelius zu erreichen ist?«

Der alte Mann schien ihre letzte Frage nicht gehört zu haben. »Wie schlimm ist es?«, fragte er. »Sagen Sie mir die Wahrheit, bitte. Ich … er … Hans ist mir wirklich ans Herz gewachsen, wissen Sie.«

»Er war stabil, als ich die Klinik verlassen habe«, sagte Sara. »Mehr weiß ich auch nicht.«

»Warten Sie einen Augenblick.« Wilfried Hellinghausen verschwand im Flur, kehrte jedoch gleich wieder zurück. »Hier, das ist ihre Nummer. Die hat Hans mir gegeben, nur für alle Fälle, falls er mal nicht erreichbar ist, wenn ich Hilfe brauche. Das ist nämlich schon mal vorgekommen, da war ich gestürzt. Also … Wo ist Hans jetzt?«

»In der Kayser-Klinik. Sie können dort anrufen, Herr Hellinghausen, aber besuchen sollten Sie Herrn Gronauer nicht. Er ist nach dem Überfall ziemlich lange operiert worden und vermutlich, wenn alles gut geht, erst morgen wieder ansprechbar.«

»Wenn alles gut geht.«

»Ja. Ich hätte Ihnen das wahrscheinlich besser gar nicht erzählt.«

»Nein«, widersprach er lebhaft, »es ist gut, dass Sie es mir gesagt haben. Was denken Sie denn, wie ich mich aufgeregt hätte, wenn er heute Abend nicht zum Schachspielen gekommen wäre? Wir sind doch verabredet! Vorher wollte er sich mit Lara zum Essen treffen und danach wollten wir spielen. Ich kann nicht mehr gut schlafen, deshalb gehe ich immer sehr spät ins Bett – und er ist auch eine Nachteule. Insofern ergänzen wir uns gut.«

Sara ging, nachdem sie sich vielmals bei ihm bedankt hatte. Seine Informationen waren außerordentlich hilfreich für sie gewesen – und sie hatte deshalb jetzt jede Menge zu tun.

*

Lara fragte sich, wo Hans blieb. Er war sonst immer pünktlich, aber jetzt war er bereits über eine halbe Stunde zu spät, und sie konnte ihn nicht erreichen, auf ihre Nachrichten reagierte er nicht. Das war mehr als ungewöhnlich.

Sie hatte sich auf dieses Essen gefreut, wie sie sich auf jedes Treffen mit ihm freute. Manchmal fragte sie sich, ob er wirklich nichts anderes für sie war als ein guter Freund oder genauer gesagt: ihr bester Freund, aber sie schob solche Gedanken jedes Mal schnell wieder von sich. Seit der Erfahrung, die sie mit Andreas Herzog gemacht hatte, war sie vorsichtig geworden. Sie traute ihren eigenen Gefühlen nicht mehr.

Von Andreas hatte sie nichts mehr gehört, jedenfalls nicht direkt. Sie nahm aber an, dass sein Verhalten und einige seiner öffentlichen Äußerungen mehr oder weniger an sie gerichtet gewesen waren. Nie sah man ihn ohne Frau an seiner Seite, fast jeden Tag tauchte er mit einer neuen attraktiven Begleiterin auf, und einige Male hatte er erwähnt, die Geschichte in Hamburg sei ja völlig falsch dargestellt und interpretiert worden, jedenfalls wisse er von keiner Frau, die vor ihm geflohen sei. Er hatte das auf seine übliche charmante Art gesagt und alle, die es gehört hatten, waren daraufhin dankbar in Gelächter ausgebrochen. Natürlich war es undenkbar, dass eine Frau vor einem Mann wie Andreas Herzog davonlaufen könnte. Für die Zerstörung der Suite hatte er sich mehrmals öffentlich entschuldigt und reumütig bekannt, zu viel getrunken zu haben. Außerdem hatte er beteuert, so etwas werde ihm niemals wieder passieren. Daraufhin waren die gehässigen Kommentare über ihn weniger geworden, seine Fans standen ja ohnehin treu zu ihm, nach dem Motto: ›Jeder macht mal einen Fehler‹.

Sie zog unwillkürlich die Schultern hoch. Noch immer wurde ihr unbehaglich zumute, wenn sie an ihn dachte, davon hatte sie sich leider noch nicht freimachen können. Aber auch das würde ihr irgendwann gelingen. Was er bis dahin von sich gab, war ihr gleichgültig, sie hatte nur einen Wunsch: ihm nie wieder zu begegnen. Das sollte ihr eigentlich ohne größere Anstrengung gelingen.

Als sich ihr Handy meldete, nahm sie an, dass es Hans war, aber ihr wurde eine unbekannte Nummer angezeigt. »Ja, hallo?«, sagte sie reserviert. Es gefiel ihr nicht, wenn Unbekannte ihre Handy-Nummer hatten.

»Frau Cornelius?«, fragte eine junge Frauenstimme. »Hier ist Kriminalobermeisterin Sara Braun. Sie sind doch Frau Lara Cornelius?«

»Kriminalpolizei?«, fragte Lara, ohne die Frage zu beantworten. Sie hörte selbst, wie atemlos ihre Stimme auf einmal klang. »Wie kommen Sie denn an meine Nummer?«!

»Herr Hellinghausen war so freundlich, sie mir zu geben.«

»Herr Hellinghausen?« Lara merkte, wie ihr Mund trocken wurde. Wenn die Kripo bei Hans‘ altem Nachbarn gewesen war, hieß das doch wohl … »Ist etwas passiert?«

»Ich fürchte ja. Wo sind Sie gerade? Ich möchte Ihnen nicht am Telefon davon erzählen.«

»In einem Restaurant, ich wollte mit einem Freund essen gehen …«

»Ja, das weiß ich schon von Herrn Hellinghausen. Sagen Sie mir einfach die Adresse, ich hole Sie dort ab.«

Lara musste den Ober nach der Adresse fragen, dann bezahlte sie, was sie bisher getrunken hatte, entschuldigte sich und verließ das Restaurant. Nur Sekunden später hielt ein grauer Kleinwagen direkt neben ihr, die Beifahrertür wurde von innen geöffnet. »Ich bin Sara Braun«, rief die junge Frau, die am Steuer saß, »steigen Sie ein.«

Wie benommen ließ sich Sara auf den Sitz gleiten.

Sara Braun stellte den Motor aus und sagte ihr, was passiert war.

»Jemand hat ihn mit einem Messer angegriffen?«, fragte Lara tonlos, als die junge Beamtin ihren Bericht beendet hatte. »Wer denn? Jugendliche? Oder ein Betrunkener?«

»Wir ermitteln noch«, lautete die vorsichtige Antwort.

»Und Sie sind sicher, dass Hans lebt?«

»Ich bin sicher.«

»Ich muss sofort in die Kayser-Klinik. Denken Sie, die Ärzte lassen mich zu ihm?«

»Das denke ich schon.«

Sara Braun ließ den Motor wieder an, wendete und schlug den Weg zur Kayser-Klinik ein. »Wissen Sie, ob Herr Gronauer Feinde hatte?«, fragte sie.

Lara sah sie verständnislos an. »Hans? Bestimmt nicht. Er ist … er ist der liebenswürdigste Mensch, den ich kenne. Ich habe ihn noch nie schlecht über jemanden reden hören. Wie sollte so jemand Feinde haben? Er muss zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen sein, anders ist das nicht zu erklären. Er ist einem Verrückten in die Arme gelaufen, das kann sich nicht gegen ihn gerichtet haben.«

Ganz plötzlich verlor sie die Fassung, sie fing an zu weinen. Sara Braun störte sie nicht, sie hing ihren eigenen Gedanken nach. Wenig später sagte sie: »Da wären wir. Sollte Ihnen doch noch etwas einfallen, etwas, das uns eventuell weiterhelfen könnte, rufen Sie mich bitte an, ja? Hier ist meine Karte.«

Lara hatte sich wieder gefangen. Sie trocknete ihre Tränen, nahm die Karte, bedankte sich und stieg aus dem Auto.

Sara Braun sah ihr mitleidig hinterher, dann jedoch beeilte sie sich, zurück ins Büro zu kommen. Es gab einiges, das sie in Erfahrung bringen musste.

*

Kaja hatte schließlich Lili und Lisa angerufen, Simons Schwestern. Lisa war erst zwölf, aber Lili mit ihren sechzehn Jahren war eine sehr energische kleine Person, die nicht so schnell den Kopf verlor. Simon hatte schon öfter erwähnt, dass er ohne Lilis Beistand die Jahre seit dem Tod ihrer Eltern nicht hätte durchstehen können.

Die beiden Mädchen standen eine knappe halbe Stunde, nachdem Kaja angerufen hatte, bei Laurins vor der Haustür. Lisa hatte geweint, das war ihr anzusehen, Lili war zwar blass, ließ sich aber nicht anmerken, was in ihr vorging.

Simon saß immer noch am Küchentisch, er hatte sich beharrlich geweigert, sich irgendwo auszustrecken und vielleicht eine halbe Stunde zu schlafen. Als er seine Schwestern sah, fuhr er auf. »Wieso …« Er wandte sich Kaja zu. »Wieso habt ihr sie angerufen? Ich … ich bin völlig in Ordnung.«

»Bist du nicht«, sagte Kaja. »Das Beste wäre, wenn du dich in der Klinik noch einmal untersuchen lassen würdest, aber du willst ja nicht. Wollt ihr einen Tee? Ich fände es gut, wenn ihr noch bleiben könntet, bis unsere Eltern nach Hause kommen. Sie können besser als wir beurteilen, was jetzt das Beste für Simon wäre.«

»Das Beste wäre, wenn ich wieder arbeiten dürfte«, sagte Simon, aber so, wie er es sagte, klang es nicht überzeugend. Er wusste das natürlich. Er hätte nicht einmal eine Zwiebel schneiden können in seinem jetzigen Zustand, aber zugeben wollte er das auf keinen Fall.

Lisa war schon bei ihm und umschlang ihn mit beiden Armen, Lili setzte sich neben ihn und griff nach seiner Hand.

Kaja sah, dass sich seine Augen wieder mit Tränen füllten.

Zum Glück sah Lili es auch und als sie Kajas besorgten Blick auffing, begriff sie, dass Simon nur eine mühsam gespielte Fassade zur Schau trug.

»Steh auf«, sagte sie ziemlich barsch zu ihm, »du legst dich jetzt hier auf ein Sofa, Lisa bleibt bei dir, während die anderen mir noch einmal genau erzählen, was eigentlich passiert ist.«

»Wir sagen ihm schon die ganze Zeit, er soll sich hinlegen«, erklärte Kevin. »Los, komm, Simon, jetzt machst du endlich mal, was wir dir sagen.«

Das Wunder geschah, Simon erhob sich und ließ sich von Lisa, Kyra und Kevin aus der Küche führen. Offenbar hatte er keine Kraft mehr zum Widerstand.

»Er hatte einen richtigen Zusammenbruch, als ich nach Hause gekommen bin«, sagte Kaja. »Ich hatte echt Angst um ihn. Ich bin so froh, dass ihr jetzt hier seid.«

»Kannst du mir noch einmal etwas genauer erzählen, was eigentlich passiert ist? Ich war vorhin am Telefon so geschockt, dass ich die Hälfte nicht mitbekommen habe.«

Kaja beschrieb also ihre Ankunft zu Hause. »Es war so komisch still, und dann habe ich ihn am Küchentisch sitzen sehen in seinen blutverschmierten Klamotten, mit so einem ganz starren Blick, dass ich richtig Angst bekommen habe. Dann hat er mich angesehen und ich habe begriffen, dass er selbst Angst hatte. Dass er halb verrückt war vor Angst. Ich bin zu ihm gegangen, und er hat angefangen zu weinen und konnte nicht mehr aufhören. Ich habe gar nichts gemacht, nur dagesessen, ihn festgehalten und gewartet, dass er sich beruhigt.«

Und dann erzählte sie, was sie von Simon in Erfahrung gebracht hatte.

Lili hörte ihr zu, äußerlich fast unbewegt, aber innerlich zerriss es sie fast. Simon war der tollste große Bruder, den man sich vorstellen konnte, er hatte es verdient, nach den schweren letzten Jahren endlich einmal eine unbeschwerte Zeit zu verleben – und da widerfuhr ihm so etwas!

»Na ja«, sagte Kaja, »er hat dem Mann jedenfalls das Leben gerettet und unserem Opa auch, weil er diese Frau, die Zeugin, dazu gebracht hat, noch einen Rettungswagen zu rufen. So haben beide schnell Hilfe bekommen. Andere wären schon bei dem Anblick von so viel Blut weggerannt, schätze ich, aber Simon hat die Wunde mit seiner Hand verschlossen. Und er hat die Ruhe bewahrt, als unser Opa dann auch noch zusammengebrochen ist. Blöd ist nur, dass in der Notaufnahme so viel los war, dass keiner auf Simon geachtet hat. Die hätten ihn normalerweise nicht einfach gehen lassen, schätze ich, aber da muss heute das reinste Chaos geherrscht haben.«

»Danke, dass ihr euch um ihn gekümmert habt.«

»Es ist schwierig, sich um ihn zu kümmern, er kann das nicht gut akzeptieren.«

»Weil er sich in den letzten Jahren um uns gekümmert hat, um Lisa und mich«, sagte Lili leise. »Er hat sich nie Schwäche erlauben dürfen, er musste ständig für uns kämpfen. Die haben uns damals trennen wollen, als unsere Eltern beide tot waren – mit dem Argument: Er ist viel zu jung, er kann sich nicht um zwei Mädchen kümmern. Aber wir haben so ein Theater gemacht, dass sie schließlich nachgegeben haben. Aber bis heute kommen regelmäßig Sozialarbeiter vorbei und gucken, ob bei uns alles in Ordnung ist.«

»Das wusste ich nicht«, sagte Kaja betroffen.

In diesem Augenblick hörten sie, wie die Haustür aufgeschlossen wurde. Im nächsten Augenblick erschien Antonia an der Küchentür. Sie sah blass und mitgenommen aus. »Wie geht es Simon? Oh, hallo, Lili.«

Kevin erschien im Flur, er hatte die Frage seiner Mutter gehört. »Wir haben ihn endlich dazu gekriegt, sich hinzulegen«, berichtete er.

Nun kam auch Kyra, um ihre Mutter zu begrüßen, Lisa jedoch blieb bei ihrem Bruder und hielt seine Hand.

Antonia betrat das Wohnzimmer. »Hallo, Lisa«, sagte sie. »Lässt du mich einen Moment mit deinem Bruder allein?«

Lisa nickte schüchtern und ging zu den anderen in die Küche.

»Ich möchte mit Ihnen in die Klinik fahren, Simon.« Antonia sagte es ganz ruhig. »Sie haben einen Schock erlitten, damit ist nicht zu spaßen.«

»Zwei Schocks«, murmelte Simon. »Wie geht es Ihrem Vater?«

»Er ist stabil. Es war ein Warnschuss, er wird in Zukunft mehr auf sich achten müssen. Ich glaube, er hat sich für unsterblich gehalten. Als ich ging, schlief er, meine Stiefmutter bleibt heute Nacht bei ihm in der Klinik.«

»Und der andere Mann?«

»Lebt auch noch und ist ebenfalls stabil. Sie haben zwei Leben gerettet heute.«

»Ganz ehrlich? Es wäre mir lieber gewesen, wenn das jemand anders getan hätte. Ich lege keinen Wert auf blutige Albträume heute Nacht.«

»Sie haben jedenfalls instinktiv das Richtige getan.«

Er sah sie an. »Ich weiß, dass ich einen Schock hatte, Frau Dr. Laurin, aber glauben Sie mir: Ich muss nicht in die Klinik. Vielleicht, wenn ich allein wäre, aber das bin ich ja nicht. Ich kann zu Hause jederzeit mit Lili reden, und ich habe mich heute schon gründlich bei Kaja ausgeweint.«

»Ausgerechnet bei Kaja?«

Er lächelte plötzlich und sah beinahe wieder so aus wie der Simon, den sie kannte. »Ja, ausgerechnet, und sie hat das ganz toll gemacht. Ich bin in Tränen ausgebrochen und sie hat sich nicht über mich lustig gemacht, sondern mich weinen lassen. Ich glaube, danach war das Schlimmste vorbei. Ich war echt fertig, und jetzt bin ich ziemlich müde, aber ich komme klar. Wenn es nicht so wäre, würde ich es Ihnen sagen.«

»Würden Sie mit Ihren Schwestern heute Nacht gerne hierbleiben?«

»Nein, vielen Dank. Das wäre bestimmt lustig, aber ich denke, meine Schwestern und ich sollten jetzt nach Hause gehen – wenn Sie für heute Abend mal ohne mein Essen auskommen?«

»Nicht nur heute, ich finde Sie sollten ein paar Tage Urlaub nehmen.«

Er richtete sich auf. »Nein!«, sagte er so entschieden, dass sie ein wenig erschrocken zurückfuhr. »Auf gar keinen Fall! Schließen Sie mich nicht aus, verurteilen Sie mich nicht zur Untätigkeit, bitte! Lassen Sie mich ganz normal arbeiten, dabei erhole ich mich am schnellsten. Heute will ich nichts mehr tun, das stimmt, aber wenn ich morgen Urlaub habe, fange ich nur an zu grübeln. Bitte, Sie tun mir damit keinen Gefallen!«

Sie nahm sogar an, dass er Recht hatte. Normalerweise konnte er ganz gut einschätzen, was er sich zumuten durfte und was nicht. »Dann essen Sie aber wenigstens noch mit uns«, sagte sie. »Es wird zwar nichts Warmes geben, aber ich bin die Meisterin der belegten Brote. Einverstanden?«

Er wollte sich erheben, aber sie ließ das nicht zu, sondern drückte ihn zurück aufs Sofa. »Sie bleiben, wo Sie sind. Wenn alles fertig ist, dürfen Sie aufstehen. Lisa? Du kannst dich wieder zu deinem Bruder setzen und pass gut auf, dass er nicht aufsteht. Ich bereite für uns alle ein kaltes Abendessen zu. Bis es fertig ist, soll er noch liegen bleiben.«

Lisa nahm ihren Auftrag sehr ernst, und so musste Simon zuhören, wie in ›seiner‹ Küche eine Mahlzeit zubereitet wurde, während er dazu verurteilt war, untätig auf dem Sofa zu liegen.

Aber ganz tief in seinem Inneren war er froh, dass er nicht einmal einen kleinen Finger zu rühren brauchte.

*

»Was ist denn noch, Sven?«, fragte Oliver Heerfeld, der gerade in Gedanken die Szene durchging, mit der die Dreharbeiten am nächsten Morgen beginnen würden. Sie waren gerade erst fertig geworden für heute – nicht zum ersten Mal hatten sie überzogen.

An Konstantin lag das nicht mehr. Der Junge wurde von Tag zu Tag besser und sicherer. Er war froh, dass er nach den ersten Drehtagen nicht gleich aufgegeben, sondern auf Arianes Rat gehört und mit Konstantin gesprochen hatte.

»Hast du schon Nachrichten gehört oder gesehen?«

Oliver schüttelte abwesend den Kopf. »Keine Zeit«, murmelte er abwehrend, »ich habe genug mit dem Film zu tun, da kann ich mich nicht auch noch …«

Sven unterbrach ihn. »Wir haben doch neulich über Lara Cornelius gesprochen, erinnerst du dich?«

»Lara …?« Oliver zog die Stirn in Falten. »Ach so, die schöne Blonde, mit der Andreas Herzog kurz zusammen war.«

»Ihr Freund ist heute mit einem Messer bei einem Angriff auf offener Straße schwerstens verletzt worden. Er hat mehr oder weniger durch einen Zufall überlebt. Das ist schon heute Morgen passiert, aber erst jetzt rücken sie allmählich damit heraus. Es soll ein einzelner Mann gewesen sein, der spurlos verschwunden ist. Eine Zeugin hat das beobachtet, sie hat sogar versucht, ihn festzuhalten, ab er hat sie offenbar locker abgeschüttelt. Sie konnte ihn kaum beschreiben, weil das Opfer so geblutet hat, dass sie panisch geworden ist vor Schreck.«

»Ein Messerangriff, mitten am Tag? Wer macht denn so was? Und weshalb?«, fragte Oliver. Dann sah er Svens Gesicht und deutete dessen Ausdruck sofort richtig. »Nein!«, rief er. »Das glaubst du doch selbst nicht!«

»Wer Hotelzimmer in wilder Raserei kurz und klein schlägt, macht vielleicht auch so etwas«, sagte Sven.

»Nie im Leben, Sven, du verrennst dich da. Ich weiß, du kannst Andreas Herzog nicht leiden, aber das heißt noch lange nicht, dass er zu einer solchen Tat fähig wäre! Außerdem wäre er sofort erkannt worden, das würde er niemals riskieren. Außerdem hat er kein Motiv.«

»Kein Motiv?«, fragte Sven. »Ein Mann, der sich für den Größten hält, wird schwer gekränkt von einer Frau, die es wagt, ihn zu verlassen. Er muss Rache nehmen, um sein beschädigtes Ego wieder etwas aufzurichten. Entweder also, er tut ihr etwas an oder dem Mann, den er vielleicht für den Trennungsgrund hält.«

»Deine Fantasie geht mit dir durch«, stellte Oliver fest. »Hör auf, dir solche Geschichten auszudenken, ich bitte dich.«

»Wieso ausdenken? Ich nehme, was ich weiß, und denke von da aus weiter. Es gibt jedenfalls eine Verbindung zwischen Andreas Herzog und dem Opfer. Die Verbindung ist Lara Cornelius.«

»Sag das lieber nicht laut, du könntest dir eine Menge Ärger einhandeln«, warnte Oliver. »Ich glaube, du liest zu viele Krimis.«

»Und du zu wenige«, konterte Sven, aber er wirkte nicht beleidigt. »Wir sprechen uns wieder, wenn die Polizei noch ein bisschen weiter gegraben hat, sie sind ja erst ganz am Anfang der Ermittlungsarbeit. Bis morgen dann – und arbeite nicht wieder die halbe Nacht. Läuft doch alles super jetzt.«

»Mit Konny meinst du? Ja, darüber bin ich auch sehr erleichtert, aber wir hängen im Zeitplan hinterher und da ich einige von den Szenen vom Anfang gern noch einmal drehen würde …«

»Wir schaffen das, vertrau mir einfach. Ich habe schon ein paar Ideen, wo wir noch Zeit einsparen können. Morgen kriegst du dazu ein paar Vorschläge von mir.«

Nach dieser Ankündigung verschwand Sven, und Oliver wandte sich wieder seiner Arbeit zu, doch er konnte sich nicht mehr konzentrieren. War es möglich, dass Sven mit seinem Verdacht Recht hatte?

Nein, dachte er wieder, das kann nicht sein. Andreas Herzog mag ein egozentrisches Ekel sein, aber von da zum Mörder ist es ein weiter Weg. Außerdem kann er fast jede Frau auf diesem Planeten haben, da werden ihn doch die paar, die er nicht haben kann, nicht groß jucken, oder?

Aber sicher war er nicht. Er kannte durchaus Männer, für die es eine tödliche Beleidigung gewesen wäre, wenn sie von einer Frau verlassen würden. Und gesetzt den Fall, Andreas Herzog wäre einer von diesen Männern? War es dann nicht doch denkbar, dass er mit einem Messer auf jemanden losging, von dem er annahm, er habe mit dieser tödlichen Beleidigung etwas zu tun?

»Denkbar vielleicht«, sagte er leise, »aber das heißt ja noch lange nicht, dass es deshalb auch so geschehen ist.«

Doch der Zweifel war gesät, wie er in den folgenden Stunden feststellen musste, denn immer wieder sah er von seinem Drehbuch auf und gestattete es seinen Gedanken, von der Geschichte abzuschweifen und sich wieder dem zuzuwenden, was Sven ihm erzählt hatte.

Und dieser Andreas Herzog hätte um ein Haar in seinem Film mitgespielt! Er durfte gar nicht daran denken.

*

»Ich fahre nach Hause, Teresa«, sagte Leon leise, als er das letzte Mal für diesen Tag das Zimmer betrat, in dem sein Schwiegervater jetzt lag.

Antonia war bereits gegangen, es war ja klar, dass die Kinder sie brauchten – nicht nur die Kindern, sondern auch Simon, der tatsächlich von der Klinik aus nicht in die Wohnung gegangen war, die er mit seinen Schwestern bewohnte, sondern er war zu Laurins zurückgekehrt, hatte seine Einkäufe, die noch draußen standen, eingesammelt – und erst dann eine Art Zusammenbruch erlitten. Antonia hatte ihm das in aller Kürze erzählt und nicht vergessen zu erwähnen, dass es ihm jetzt wieder gut ging und dass sie keine Veranlassung mehr sah, mit ihm noch einmal in die Klinik zu fahren.

Teresa warf ihrem schlafenden Mann noch einen Blick zu, bevor sie sich erhob, um Leon in die Arme zu schließen. »Danke für alles«, sagte sie leise. »Bei Herrn Daume bedanke ich mich, sobald ich ihn sehe. Ich werde ihm nie vergessen, was er heute für Joachim getan hat.«

»Falls er noch bei uns zu Hause ist, werde ich ihm das schon mal ausrichten«, versprach Leon.

»Und sag auch Antonia, dass ich ihr Verhalten heute zu schätzen weiß. Sie ist sofort gekommen, hat nicht gezögert, ich rechne ihr das hoch an.«

»Ach, Teresa«, sagte er, küsste sie liebevoll auf beide Wangen und verließ das Zimmer.

Aber er verließ die Klinik noch nicht, sondern machte sich, ebenfalls zum wiederholten Mal, auf den Weg zur Intensivstation. Im Aufwachraum stand er lange am Bett von Hans Gronauer. Dessen Zustand war nach wie vor stabil, zum Glück.

Wie bei jedem seiner Besuche fragte er sich, ob sie jemals erfahren würden, wer diese Messerattacke verübt hatte. War das ein gezielter Mordanschlag gewesen oder war Hans Gronauer ein zufälliges Opfer geworden?

Sein Schwager Andreas Brink, der Mann seiner Schwester Sandra, war mit dem Fall befasst, er hatte ihn vorhin angerufen, aber offenbar tappte die Kripo auch noch im Dunklen. Oder Andreas hatte, was er wusste, für sich behalten, das war natürlich auch möglich.

Er war müde. Es war ein langer Tag gewesen, er wäre gern schon mit Antonia nach Hause gefahren, aber das war natürlich unmöglich gewesen, er war ja hier noch gebraucht worden. Seine Gedanken wanderten weiter zu Simon. Der war in seinen Augen der Held des Tages.

Eine Schwester kam herein, um die Werte des Patienten zu überprüfen. Er nickte ihr zu und verließ den Raum.

*

Lara hatte beim Eintreffen in der Kayser-Klinik gesagt, sie sei Hans Gronauers Freundin, seine Eltern wohnten hunderte von Kilometern weit weg und könnten so schnell nicht nach München kommen. Niemand hatte daraufhin versucht, ihr einen Besuch bei Hans zu verwehren.

Tatsächlich hatte sie bereits mit seinen Eltern telefoniert, denn bei einem ihrer Besuche in München hatte sie sie kennengelernt und sich auf Anhieb gut mit ihnen verstanden. Sie war froh gewesen, dass die Gronauers von der Polizei schon informiert worden waren, so dass sie das nicht hatte übernehmen müssen. Sie würden sich gleich am nächsten Morgen auf den Weg machen.

Als sie die Intensivstation betrat und dort nach Hans fragte, kam ihr ein großer, gutaussehender Arzt entgegen, der sich ihr als Dr. Laurin vorstellte. Der Klinikchef also. »Wie geht es Hans?«, fragte sie.

»Er ist stabil«, antwortete er. »Zu sagen, dass keinerlei Gefahr mehr besteht, wäre übertrieben, aber den Umständen entsprechend geht es ihm gut. Ich war gerade bei ihm.«

»Ich … ich kann das immer noch nicht fassen. Wie kommt jemand, der ihn überhaupt nicht kennt, dazu, ihn mit einem Messer anzugreifen?«

»Woher wissen Sie, dass der ­Angreifer Herrn Gronauer nicht kennt?«

Sie sah ihn verwirrt an. »Niemand, der ihn kennt, würde so etwas tun«, sagte sie. »Er ist kein Mensch, der Aggressionen weckt. Bitte, sagen Sie mir die Wahrheit! Geht es ihm wirklich gut?«

»Ja, den Umständen entsprechend. Es war natürlich eine schwere Operation, ich habe sie selbst durchgeführt. Während des Eingriffs gab es durchaus kritische Situationen, das will ich nicht verhehlen, und es stimmt auch, dass er verblutet wäre, wenn er nicht so schnell Hilfe bekommen hätte. Es war ja ein mehr als glücklicher Zufall, dass praktisch sofort unser … äh, ich meine, dass fast sofort jemand zur Stelle war.«

»Das habe ich gehört«, sagte sie. »Ein junger Mann, nicht wahr? Ich würde ihm gern persönlich meinen Dank aussprechen.«

»Dazu werden Sie sicherlich noch Gelegenheit haben. Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo Herr Gronauer liegt.«

Er begleitete sie zum Aufwachraum, dort verabschiedete er sich von ihr.

Ihr Blick saugte sich an dem Mann fest, der still in seinem Bett lag. Er kam ihr sehr fern vor. Sie sagte leise seinen Namen, als sie nähertrat und scheu über seine Hand strich, aber natürlich reagierte er mit keiner Regung darauf. Fremd sah er aus, gar nicht mehr wie der Hans, den sie kannte, und plötzlich griff die Angst nach ihr, er könnte das hier vielleicht doch nicht überleben. Sie würde dann ohne ihren besten Freund leben müssen, ohne Hans, der immer Rat zu wissen schien, wenn sie Rat brauchte. Ohne Hans, der nicht einmal auf die Idee gekommen war, ihr Vorwürfe zu machen, als sie ihre Freundschaft wegen der Beziehung zu Andreas vernachlässigt hatte. Hans, der immer großherzig und großzügig war und stets Zeit hatte, wenn sie ihn brauchte …

Sie holte sich einen Stuhl an sein Bett und setzte sich. »Hans, du musst durchhalten, hörst du?« Noch während sie das sagte, begriff sie, was sie eigentlich längst hätte wissen können: Es war Hans, den sie liebte, er war es, mit dem sie zusammen sein wollte, in dessen Gegenwart sie sich wohlfühlte. Die Sache mit Andreas war eine vorübergehende Verwirrung der Gefühle gewesen, eine Sinnestäuschung, die vielleicht auch damit zu tun hatte, dass zwischen Hans und ihr nie von Liebe die Rede gewesen war. Aber wie schnell war der Rausch vorüber gewesen!

»Hans, ich bleibe hier – vielleicht wachst du ja in dieser Nacht noch auf? Dann möchte ich die Erste sein, die du ansiehst. Bitte, Hans, ich habe dir so viel zu sagen!«

Ob er sie hören konnte in seiner tiefen Bewusstlosigkeit? Ob er zumindest ihre Stimme wahrnahm und also ihre Nähe spüren konnte?

Sie fuhr fort, seine Hand zu streicheln, und dann begann sie, ihm eine Geschichte zu erzählen, ein Erlebnis aus ihrer Kindheit, das er noch nicht kannte. Sie wusste, er hörte ihr gern zu, wenn sie von früher erzählte, und sie wollte unbedingt, dass er ihr jetzt zuhörte – denn so lange er das tat, lebte er.

*

Konstantin war nicht sofort nach Drehschluss nach Hause gegangen. Er brauchte immer noch ein bisschen Zeit für sich, um wieder ›in die richtige Welt zurückzufinden‹, wie er das nannte. Er hatte es seinen Eltern erklärt, und sie hatten Verständnis dafür geäußert. Meistens ging er einfach spazieren, manchmal setzte er sich auch in ein Café und trank dort etwas, während er den Drehtag noch einmal Revue passieren ließ.

Er hatte jetzt keine Angst mehr vor dem Drehen. Aufgeregt war er immer noch, aber die Angst, die sich manchmal zur Panik gesteigert hatte, war weg. Es war ganz langsam passiert, nicht auf einen Schlag. Er hatte ja nach der Aussprache mit Oliver gehofft, er werde sofort wieder der selbstbewusste Jungschauspieler aus der Schultheater-AG werden, doch so war es nicht gewesen. Die Verwandlung war langsam vor sich gegangen, aber doch spürbar. Jeden Tag hatte er dazu gelernt, und Oliver und die anderen im Team hatten ihm geholfen, weil sie gemerkt hatten, dass er etwas leisten konnte, wenn sie Geduld mit ihm hatten.

Neulich hatte jemand zu ihm gesagt: »Wir hatten ja Angst, du packst das nicht, weil es in den ersten Tagen überhaupt nicht lief, aber mittlerweile glauben alle an dich.« Solche Erlebnisse waren es, die ihm halfen, auch Durststrecken durchzustehen.

Der zurückliegende Drehtag war anstrengend, für ihn aber sehr erfüllend gewesen. Sie hatten seine erste große, wichtige Szene gedreht, die schon beim dritten Mal ›im Kasten‹ gewesen war. Er wusste, er hatte es gut gemacht, Oliver hatte ihm das später auch noch einmal gesagt.

Als er schließlich doch zu Hause ankam, fiel die Begrüßung freilich ganz anders aus als erwartet. Ihn empfing kein köstlicher Essensduft, sondern Stimmengewirr aus dem Wohnzimmer. Dort saßen seine Eltern und Geschwister mit Simon und dessen Schwestern zusammen, alle, bis auf Simon, hatten belegte Brote in der Hand. Auf dem Tisch standen außerdem eingelegte Gurken, Tomaten und gekochte Eier und eine große Kanne Tee sowie Fruchtsaft.

Verwundert betrachtete er das Treiben vom Flur aus. Als Kaja ihn sah, rief sie: »Na, endlich, da bist du ja. Hast du Hunger?«

»Ja, allerdings«, sagte er und betrat das Wohnzimmer. »Was ist denn passiert?« Er betrachtete Simon genauer. »Sag mal, sind das meine Sachen, die du da anhast?«

»Ja, tut mir leid«, antwortete Simon. »Kaja hat sie mir gegeben, meine Sachen ...« Er stockte, wurde blass.

»Setz dich zu uns, Konny«, sagte Leon ruhig. »Es ist einiges passiert heute. Habt ihr beim Drehen nichts davon mitbekommen?«

Er nahm auf der Lehne des Sessels Platz, in dem Kaja saß. »Wir kriegen beim Drehen überhaupt nichts mit«, sagte er. »Da herrscht volle Konzentration, die Außenwelt ist gewissermaßen ausgesperrt. Also, was ist passiert?« Er griff nach einem Schinkenbrot und biss hinein. Er merkte erst jetzt, wie hungrig er war.

»Ein Mann ist mit einem Messer angegriffen worden und wäre verblutet, wenn Simon nicht da gewesen wäre«, erklärte sein Vater. »Simon kam vom Einkaufen, das Opfer kam ihm entgegen, jemand hatte ihm einen Stich in den Hals versetzt und die Halsschlagader verletzt.«

Konstantin ließ sein Schinkenbrot sinken. »Nein«, war alles, was er herausbrachte. Er sah Simon an, doch dessen Gesichtsausdruck sagte mehr als tausend Worte.

»Und dann kam dein Opa zufällig vorbei. Er hat es noch geschafft, einen Rettungswagen zu rufen, aber danach hat er einen Herzinfarkt bekommen.«

Konstantin war fassungslos. Er sah seine Mutter an, die seinen Blick erwiderte. Sie wirkte ganz gefasst, als sie hinzusetzte: »Euer Vater hat den Mann operiert, Eckart hat sich um Euren Opa gekümmert. Simon musste bis zum Operationssaal mitgehen, weil er seine Hand nicht vom Hals des Opfers nehmen durfte. Er hat jedenfalls nicht nur diesem Mann, sondern auch meinem Vater das Leben gerettet.«

»Ich war ja nur zufällig da«, sagte Simon mit etwas wackeliger Stimme. »Jeder andere hätte das Gleiche gemacht.«

»Ich nicht«, sagte Kyra schaudernd. »Das viele Blut … mir wäre bestimmt schlecht geworden.«

»Lebt der Mann denn noch?«, fragte Konstantin. »Und Opa? Wie geht es dem?«

»Beide sind stabil. Teresa ist bei eurem Opa, ich schätze, sie wird die Nacht in der Klinik verbringen«, erwiderte Leon.

»Und ich bin jetzt auch stabil«, sagte Simon.

»Wir wollten Simon eigentlich in der Klinik noch einmal gründlich untersuchen lassen«, erklärte Antonia, »er hat zweifellos einen Schock bekommen. Aber er meint, das ist nicht nötig.«

Zum ersten Mal ergriff Lili das Wort, die bisher nur zugehört hatte, was ungewöhnlich für sie war. »Wir Daumes sind hart im Nehmen«, sagte sie. »Und wir sind ja schon eine ganze Weile hier, das hat uns gutgetan.«

Ihre jüngere Schwester Lisa nickte, sie war von den drei Geschwistern die Stille, Zurückhaltende.

»Aber wer hat das denn gemacht?«, fragte Konstantin. »Ich meine, wer hat den Mann überfallen?«

»Die Kripo ist dran, auch euer Onkel Andreas ist mit dem Fall befasst, aber bis jetzt scheinen sie noch keinen Verdächtigen zu haben.«

»Und das Opfer? Wer ist das?«

»Der Mann heißt Hans Gronauer, ein junger Universitätsprofessor für Literaturwissenschaft. Er hat eine auffallend schöne Freundin, die ist gekommen, als ich die Klinik verließ. Ich habe noch ein paar Sätze mit ihr gewechselt. Sie wird wohl auch in der Klinik bleiben.«

»Lara Cornelius?«, fragte Kaja.

Leon sah sie überrascht an. »Ja, so heißt sie. Woher weißt du das denn?«

»Aus dem Internet«, sagte Kaja. »Ich lese ja manchmal die Klatschnachrichten über Prominente. Lara Cornelius war kurz mit Andreas Herzog zusammen.«

»Dem Schauspieler?«, fragte Konstantin ungläubig.

»Genau dem.«

»Der sollte in unserem Film mitspielen, hat aber abgelehnt, weil ihm die Rolle als mein Filmvater zu klein war. Die Produzenten hätten ihn gern verpflichtet, als Zugpferd – und Oliver auch, glaube ich. Zumindest eine Zeitlang, bis ihn wohl einige Leute gewarnt haben. Der soll nicht einfach sein, der Andreas Herzog.«

»Verstehe ich das richtig«, sagte Antonia langsam, an Kaja gewandt, »dass diese Frau Cornelius jetzt die Freundin von Hans Gronauer ist?«

»Ja, sie haben ein Bild von den beiden veröffentlicht, ist noch nicht so lange her. In dem Artikel stand, dass Hans Gronauer wahrscheinlich der Grund für die Trennung von Andreas Herzog war.«

Nach diesen Worten blieb es erst einmal still, bis Lili trocken feststellte: »Wenn wir zwei und zwei zusammenzählen, tut die Polizei das ja wahrscheinlich auch. Aber ich kann mir trotzdem nicht vorstellen, dass ein berühmter Schauspieler jemandem ein Messer in den Hals rammt. Da muss es eine andere Erklärung geben.«

»Oder auch nicht«, sagte Kevin, der bislang ebenfalls nur zugehört hatte. »Dieser Herzog hat doch neulich ein Hotelzimmer zu Kleinholz verarbeitet, oder? Ein beherrschter Typ scheint er jedenfalls nicht zu sein.«

»Aber jeder würde ihn erkennen! Und wie soll er denn so schnell von Hamburg nach München und wieder zurückgekommen sein, ohne dass es jemandem auffällt?«

»Na ja«, sagte Konstantin nachdenklich, »wie sehr die Maske einen Menschen verändern kann, sehe ich ja jetzt jeden Tag. Ich glaube nicht, dass es für ihn schwer wäre, sich in jemanden anders zu verwandeln. Und irgendwie würde er es wahrscheinlich auch schaffen, nach München und zurück zu fliegen, ohne dass ihn jemand erkennt. Aber ich kann mir eigentlich auch nicht vorstellen, dass er das tun würde. Er ist so bekannt und steht vor einem so großen Karrieresprung, da wäre er doch ziemlich blöd, so ein Risiko einzugehen.«

Antonia und Leon schwiegen. Sie hatten mehr Lebenserfahrung als ihre Kinder und auch als Simon und seine Schwestern, sie wussten also, dass Menschen imstande waren, Dinge zu tun, die andere ganz unvorstellbar fanden.

»Ich möchte jetzt nach Hause gehen«, sagte Simon in die entstandene Pause hinein.

»Nicht gehen, ich fahre Sie«, erklärte Leon. »Und ich erwarte, Lili, dass du uns Bescheid sagst, wenn dir dein Bruder irgendwann später doch nicht ganz fit vorkommen sollte.«

»Versprochen«, sagte Lili, und ihr war anzusehen, dass sie dieses Versprechen ernstnahm.

»Ich verspreche es auch«, sagte Lisa überraschend. »Simon kann nämlich nicht zugeben, wenn er sich schlecht fühlt, aber Lili und ich merken das.«

»Bravo, Lisa«, sagte Antonia. »Ich hätte es ja gut gefunden, ihr drei wärt heute Nacht hiergeblieben. Wir haben ein Gästezimmer, und die Sofas hier sind Schlafsofas, aber Simon will ja nicht.«

Lili und Lisa sahen sich an. »Aber wir«, sagte Lisa dann. »Wir wollen lieber hierbleiben, Simon. Dann sind immerhin sofort zwei Ärzte da, die dir helfen können.«

Simon versuchte noch einmal, sich zu widersetzen. »Aber das hier ist mein Arbeitsplatz«, sagte er. »Ich kann hier nicht einfach übernachten.«

»Sehen Sie es als Notfall, Simon – und als Ausnahme von der Regel. Wir wollen ja keine Gewohnheit daraus werden lassen.«

Endlich gab er nach. »Gut«, sagte er zu seinen Schwestern, »dann geht ihr ins Gästezimmer, ich schlafe hier unten, damit ich morgen früh gleich …«

Leon ließ ihn gar nicht erst ausreden. »Kommt nicht infrage«, sagte er. »Sie nehmen das Gästezimmer und schlafen sich aus, die beiden Mädchen schlafen hier unten. Und dass Sie morgen arbeiten, steht jetzt noch nicht zur Diskussion. Wir warten ab, wie Sie sich fühlen, wenn Sie aufwachen. Und Sie bekommen ein Beruhigungsmittel, das Ihnen beim Einschlafen helfen wird.«

»Ich habe hier wohl überhaupt nichts mehr zu sagen«, murmelte Simon.

»So ist es. Jedenfalls heute Abend nicht. Über morgen reden wir morgen.«

Simon bekam das Beruhigungsmittel wenig später. Lili, die noch einmal nach ihm sah, meldete: »Er schläft schon. Vielen Dank, dass Sie sich durchgesetzt haben. Ich hatte richtig Angst davor, mit ihm nach Hause zu gehen. Er hat das so drin, dass er immer der Starke sein muss, weil er für uns zu sorgen hat … Aber er vergisst, dass wir beide keine kleinen Mädchen mehr sind, er könnte jetzt ruhig auch mal schwach sein.«

»Ihr habt natürlich eure Schulsachen nicht dabei«, sagte Leon.

»Und frische Klamotten auch nicht«, stellte Lili fest.

»Dann kommt, wir holen alles, was ihr braucht, und morgen bewerten wir die Situation und entscheiden neu.«

Später, als Ruhe im Haus eingekehrt war, sagte Lisa leise zu ihrer großen Schwester: »Die sind alle so nett! Ich verstehe jetzt erst so richtig, warum Simon hier so gerne arbeitet!«

Lili ging es genauso. Sie lauschte auf die unvertrauten Geräusche dieses Hauses, dachte noch ein wenig über den zurückliegenden Tag nach und schlief bald ein.

*

Lara fuhr hoch, ein schrilles Alarmsignal hatte sie geweckt. Sie musste eingeschlafen sein, in unbequemer Haltung, denn ihr Rücken schmerzte. Entsetzt sah sie auf Hans, der so unbeweglich in seinem Bett lag wie zuvor, nur schien er noch bleicher geworden zu sein. Sie sah auf dem Monitor ein großes rotes Fragezeichen blinken und rasant sinkende Kreislaufwerte.

»Hans!«

Er reagierte nicht, und so wollte sie gerade um Hilfe rufen, als ein Arzt und ein Pfleger hereinkamen. »Bitte, verlassen Sie sofort den Raum, wir kümmern uns um Ihren Mann«, sagte der Arzt.

Lara aber konnte sich nicht bewegen, sie hörte Wörter wie ›Herzstillstand‹ und ›Defibrillator‹, bis es ihr auf erneutes Drängen des Arztes schließlich doch gelang, leicht taumelnd den Raum zu verlassen. Der Pfleger schoss an ihr vorbei und kehrte gleich darauf mit einem Gerät zurück, das sie noch nie gesehen hatte.

Sie verstand nicht, was vor sich ging. Es hatte doch geheißen, Hans sei stabil! Wie konnte dann sein Herz stehen bleiben? Und vor allem: Was bedeutete das? Würden sie es wieder zum Schlagen bringen können? Und wenn nicht? Hieß das dann, dass er nicht mehr lebte?

Sie konnte nicht denken. Wie lange sie, zitternd vor Angst und Müdigkeit, auf dem Stationsflur gestanden hatte, wusste sie nicht, ihr kam es jedenfalls wie eine Ewigkeit vor. Endlich aber kam der Pfleger aus dem Raum und berührte sie leicht am Arm, um sie auf sich aufmerksam machen, denn sie starrte vor sich den Boden. »Sein Herz schlägt wieder«, sagte er. »Die Gefahr ist vorüber.«

»Aber … aber wieso hat es aufgehört zu schlagen? Kann das noch einmal passieren?«

»Auszuschließen ist das nicht, aber wir sind ja da, um einzugreifen. Sie dürfen nicht vergessen, wie viel Blut er verloren hat und wie lange er auf dem OP-Tisch lag. Eigentlich ist es ein Wunder, dass er das alles überlebt hat.«

»Kann ich wieder zu ihm? Bitte, ich möchte in seiner Nähe sein!«

»Gehen Sie nur.«

Der Arzt nickte Lara zu, als sie den Raum wieder betrat. »Ich glaube«, sagte er leise, »jetzt ist er über den Berg. Das war noch einmal eine Krise, aber auch die hat er überstanden. Ab jetzt wird es ihm bessergehen.«

Die Worte erfüllten sie mit neuer Hoffnung, obwohl die Angst noch in ihr nachzitterte.

Als der Arzt gegangen war, griff sie nach der Hand des Mannes, den sie liebte, und begann, ihm eine neue Geschichte aus ihrer Kindheit zu erzählen. Sein Gesicht schien ihr entspannter zu sein, aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein, weil sie unbedingt daran glauben wollte, dass alles gut werden würde.

*

»Teresa«, sagte Joachim Kayser, als er mitten in der Nacht die Augen öffnete. »Wieso sitzt du denn da und bist wach? Es … wie spät ist es denn? Es muss doch Nacht sein.«

»Ja, es ist Nacht, und ich bleibe wach, bis ich ganz sicher bin, dass es dir besser geht.«

»Aber es … es geht mir doch gut.«

Sie hatte Tränen in den Augen, versuchte aber trotzdem, ihn anzulächeln.

»Ist etwas passiert?«, fragte er unsicher.

»Erinnerst du dich denn an gar nichts?«

Er dachte nach, es fiel ihm schwer. »Ich glaube«, sagte er mühsam, »ich habe den jungen Mann gesehen, der bei Antonia und Leon den Haushalt macht.«

Sie wartete, ob noch mehr kam, aber sie sah es an seinem Blick, dass ihn sein Gedächtnis im Stich ließ und dass ihm das Angst machte. Also erzählte sie ihm mit ruhiger Stimme, was geschehen war.

Er hörte ihr zu, als lauschte er einer spannenden Geschichte, die sich jemand ausgedacht hatte.

»Er hat also«, schloss Teresa, »nicht nur diesem Mann, sondern auch dir das Leben gerettet, weil er nicht die Nerven verloren, sondern schnell und besonnen gehandelt hat.«

»Aber wieso weiß ich denn davon nichts?«, klagte Joachim.

»Du bist der Arzt«, erwiderte sie. »Mich jedenfalls hast du gleich erkannt, und du wusstest auch noch, dass Antonia und Leon einen jungen Mann für den Haushalt eingestellt haben. Nur alles, was mit deinem Infarkt zu tun hat, hast du vergessen. Ich schätze, das fällt dir nach und nach wieder ein.«

»Wer hat die Diagnose gestellt, dass ich einen Infarkt hatte? Vielleicht stimmt das gar nicht!«

»Du meinst, an dieser Klinik, die du gegründet hast und die bis heute über einen erstklassigen Ruf verfügt, arbeiten Kardiologen, die nicht imstande sind, einen Herzinfarkt zu erkennen?«

Er hatte sofort etwas erwidern wollen, das sah sie, aber er schluckte es hinunter, und plötzlich sah er wieder sehr erschöpft aus. Und alt, stellte sie erschrocken fest. Sie wusste, das würde sich auch wieder ändern, aber in diesem Moment konnte sie einen Blick in die Zukunft werfen. Eines Tages würde das, was sie jetzt sah, sein Gesicht sein – das Gesicht eines alten Mannes. Bis jetzt war das Alter gnädig mit ihm umgegangen, nun wurde ihr bewusst, wie schnell sich das ändern konnte.

»Ich bin müde«, murmelte er.

»Dann schlaf. Morgen erinnerst du dich vielleicht schon wieder.«

Er nickte wie ein Kind, dem die Mutter gesagt hat, dass am nächsten Tag alles wieder gut sein wird, und schlief ein.

Sie löste vorsichtig ihre Hand aus seiner und lief mehrmals im Zimmer auf und ab, um ihre verkrampften Muskeln zu entspannen. Danach stellte sie sich ans Fenster und sah hinaus in die Nacht. Sie hatten sich erst spät wiedergefunden, Joachim und sie, und also immer gewusst, dass die Zeitspanne ihres gemeinsamen Lebens kürzer sein würde als bei Paaren, die sich früh fanden. Aber sie weigerte sich entschieden, diesen Herzinfarkt als Hinweis auf ein bald bevorstehendes Ende anzusehen.

»Wir werden mindestens neunzig«, sagte sie leise. »Mindestens – und zwar alle beide!«

*

Simon wachte um sechs Uhr auf, wie immer, und wie immer war er sofort hellwach. Er schwang die Beine aus dem Bett und knipste die Nachttischlampe an. Als er sich umsah, musste er lächeln. Er hatte tatsächlich in Laurins Gästezimmer geschlafen!

Leise stand er auf. Er kannte sich in diesem Haus wahrscheinlich sogar besser aus als seine Bewohnerinnen und Bewohner, schließlich hielt er es in Ordnung. Zum Gästezimmer gehörte ein Bad, das er jetzt für eine ausgiebige Dusche nutzte, dann schlich er nach unten und weckte seine Schwestern. »Ihr könnt oben duschen, im Gästebad«, sagte er. »Ich mache heute ausnahmsweise mal das Frühstück. Wenn ihr wollt, könnt ihr mir helfen.«

Lisa stand sofort auf und ließ sich von ihm das Bad zeigen, Lili knurrte und schimpfte und wäre am liebsten im Bett geblieben, aber Simon gab keine Ruhe, bis auch sie aufgestanden war. Er zog sofort die Betten ab und brachte das Wohnzimmer in Ordnung, dann begab er sich in die Küche.

Zuerst kam Antonia nach unten. »Aber Simon!«, rief sie. »Was machen Sie denn da? Sie hätten liegen bleiben und sich heute einmal von mir bedienen lassen sollen, ich hatte mir das schon so schön ausgemalt. Und Ihre Schwestern haben Sie auch gleich noch mit eingespannt, das ist mir gar nicht recht!«

»Es hat aber Spaß gemacht, in Ihrer Küche ein Frühstück zuzubereiten«, erklärte Lili. »Die Küche ist der Hammer, echt. Davon können wir ja nur träumen. Und wie ruhig es heute Nacht hier war. Bei uns ist es viel lauter.«

Nach Antonia kamen Kevin und Kyra, danach erschien Leon, gefolgt von Konstantin – und die Letzte war, wie üblich, Kaja.

»Wie siehst du denn aus?«, fragte Kevin. »Bist du in einen Farbtopf gefallen?«

Sie warf ihm einen bösen Blick zu, sagte aber nichts. Antonia konnte Kevins Frage verstehen, Kaja trug Lidschatten, hatte ihre Augen schwarz umrandet und mit Wimperntusche nicht gegeizt. Sie hatten schon etliche Streitgespräche über das Thema ›schminken‹ geführt, irgendwann hatte sie aufgegeben. Offenbar gehörte es heute dazu, dass schon Sechzehnjährige für den Schulbesuch mehr Make-up auflegten als sie früher für einen großen Ball. Die Zeiten änderten sich, in jeder Hinsicht.

Lili allerdings, das war ihr gleich aufgefallen, sah eher natürlich aus. Wenn sie auch geschminkt war, hatte sie es sehr dezent gemacht.

Ihr fiel auf, dass Konstantin Lili gelegentlich Blicke zuwarf. Ob sie ihm gefiel? Sie hätte das gut verstanden, sie fand Simons Schwester nicht nur sehr hübsch, sondern auch klug und in jeder Hinsicht anziehend. Aber Jungs in dem Alter fanden natürlich andere Mädchen attraktiv als ihre Mütter …

»Simon, es kommt nicht infrage, dass Sie uns bedienen«, sagte sie energisch. »Sie setzten sich jetzt zu uns, und wer noch etwas braucht, kümmert sich selbst darum. Und das meine ich ernst. Wenn Sie es sich aber unbedingt mit mir verderben wollen, dann bleiben Sie ruhig in der Küche.«

Er setzte sich nach dieser Drohung tatsächlich zu ihnen an den Tisch und griff mit gutem Appetit zu. Kevin kochte noch einmal Tee, Kyra holte weitere Marmelade, sogar Kaja erhob sich, um für alle eine Runde Toast zu machen.

»Gibt es Neuigkeiten aus der Klinik?«, fragte Simon.

»Ja«, antwortete Leon mit einem breiten Lächeln, »die gibt es. Gute Neuigkeiten: Beide Patienten sind über den Berg.«

*

Sara konnte ihr Glück kaum fassen: Sie gehörte zur Sonderkommission ›Messer‹, so hieß das Team, das den Mordversuch an Hans Gronauer aufklären sollte. »Sehr gute Arbeit, Frau Kollegin«, hatte Kriminaloberkommissar Andreas Brink nach ihrem Bericht über ihr Gespräch mit Hans Gronauers Nachbarn gesagt und gleich bestimmt, dass sie zum Team gehören sollte.

»Wir sehen uns also den berühmten Schauspieler ein bisschen genauer an«, verfügte Andreas Brink weiter.

»Der bringt doch niemanden um«, warf Barbara Theobald dazwischen, eine erfahrene Kriminalkommissarin. »Also, der ruiniert sich doch nicht seine Karriere, weil es ein paar Gerüchte gibt, dass sich mal eine Frau von ihm getrennt hat, wo er sonst immer Derjenige ist, der Frauen den Laufpass gibt.« Sie streifte Sara mit einem Blick, der besagte, sie solle erst einmal mehr Erfahrungen sammeln, bevor sie haltlose Theorien aufstellte. Dabei hatte Sara nur sehr vorsichtig angedeutet, dass es möglicherweise einen Zusammenhang gab zwischen der Tat und der kurzen Beziehung zwischen Lara Cornelius und Andreas Herzog.

»Kann sein, kann auch nicht sein. Wir nehmen ihn jedenfalls unter die Lupe«, beschloss der Kriminaloberkommissar. »Denn eins steht ja fest: Lara Cornelius stellt eindeutig eine Verbindung zwischen den beiden Männern her, und diese Verbindung können wir nicht außer Acht lassen.«

»Außerdem scheint er schon einen an der Waffel zu haben«, sagte Ricky Hummel, einer von Saras jüngeren Kollegen, der sie schon einige Male aufmunternd angegrinst hatte, »sonst hätte er neulich wohl kaum dieses Hotelzimmer zerlegt. Außerdem habe ich schon öfter Gerüchte gehört, dass er in seinem Privatleben ein ziemlich unerträglicher Kerl sein soll.«

»Gerüchte, Gerüchte – seit wann geben wir etwas auf Gerüchte?« Das war wieder Barbara Theobald. »Falls er wirklich unerträglich wäre, hieße das ja immer noch nicht, dass er auch einen Mord begehen würde.«

»Das nicht, aber manchmal sind Gerüchte trotzdem nützlich. Deshalb nehmen wir sie immerhin zur Kenntnis und fragen uns, ob sie einen wahren Kern enthalten.«

Sara war dem kurzen Wortwechsel stumm gefolgt. Sie wollte sich hier durchsetzen, unbedingt wollte sie das, aber ihr wurde klar, dass sie mit beträchtlichem Widerstand rechnen musste.

Ricky Hummel zwinkerte ihr kurz zu, bevor er den Raum verließ.

Aber allein bin ich auch nicht, dachte sie. Dann fing sie einen weiteren Blick von Barbara Theobald auf, den sie nicht recht deuten konnte, aber sie wandte sich ab. Es gab Wichtigeres, worum sie sich kümmern musste.

Sie würde in diesem Team ihr Bestes geben, es war ihre Chance, endlich zu zeigen, was in ihr steckte. Auf diese Chance, das war ihr klar, mussten andere deutlich länger als sie warten.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sagte der Kriminaloberkommissar: »Zeigen Sie in Hamburg, was Sie können«, bevor er den kleinen Sitzungssaal verließ.

Das werde ich, dachte Sara.

*

Andreas Herzog schien ein wasserdichtes Alibi zu haben. Zuerst hatte er ziemlich unwillig reagiert, als er von der Kriminalpolizei vernommen werden sollte, aber bald gemerkt, dass ihm das nicht unbedingt half. Zwar fand er es ›empörend‹, dass man ihm einen Messerangriff zutraute – zudem auf einen Menschen, den er nicht einmal kannte, aber er fing sich dann schnell und beantwortete alle weiteren Fragen entspannt und gewohnt charmant.

Ja, er hatte zwei Tage Drehpause gehabt, war aber in Hamburg geblieben und keinesfalls nach München gereist. Selbst die bohrenden Fragen nach dem Hotelzimmer, das er vor gar nicht langer Zeit in einem anderen Hamburger Luxushotel zertrümmert hatte, beantwortete er gelassen.

»Eine unangenehme Erinnerung«, sagte er, »aber glauben Sie mir, ich habe daraus gelernt. Als ich sah, was ich angerichtet hatte, habe ich mich so geschämt, dass ich mir geschworen habe: So etwas passiert mir nie wieder. Und dabei bleibt es. Ich hatte zu viel getrunken, weil ich nicht zufrieden mit der Leistung war, die ich tagsüber bei den Dreharbeiten zu meinem neuen Film gezeigt hatte. Das passiert ab und zu, damit kann ich schlecht umgehen. Ich bin selbst mein größter Kritiker.«

Diesen Satz hatte er schon in etlichen Interviews von sich gegeben. Er klang trotzdem überzeugend, stellte Sara fest, die bei der Befragung anwesend war, um zu lernen, die aber selbst nicht eingreifen sollte.

»Sie waren also die ganze Zeit in Hamburg?«

»Die meiste Zeit davon sogar in meinem Zimmer«, bestätigte der Schauspieler. »Ich hatte viel Text zu lernen, was ich auch getan habe.«

Die Frauen, die für die Zimmer zuständig waren, bestätigten seine Angaben: Zur Tatzeit war Andreas Herzog in seinem Hotelzimmer gewesen.

Gesehen hatten sie ihn freilich nicht, er hatte darum gebeten, nicht gestört zu werden.

»Aber Sie waren allein?«

»Beim Textlernen bin ich immer allein.«

Nach der Befragung machte sich Ernüchterung unter den Beamten breit. Ja, die Tatsache, dass es über Lara Cornelius eine indirekte Verbindung zwischen Hans Gronauer und Andreas Herzog gab, hatte nach einer hoffnungsvollen Spur ausgesehen, doch jetzt sah es so aus, als führte sie ins Nichts. Sie hätten Andreas Herzog nachweisen müssen, dass er sein Zimmer unbemerkt verlassen hatte, und genau das gelang ihnen nicht: Niemand hatte ihn gesehen. Und er hatte am Tattag zwar spät gefrühstückt, aber er war in seinem Zimmer gewesen, denn er hatte den Zimmerservice von da aus angerufen. Das war gegen Mittag gewesen.

Überraschend wandte sich Barbara Theobald an Sara: »Was denken Sie?«

»Er könnte es geschafft haben«, antwortete Sara langsam. »Wenn er in der Nacht heimlich das Hotel verlassen hat, um nach München zu fliegen, kann er sich dort auf die Lauer gelegt haben. Dr. Gronauers Seminar begann morgens um neun und er war immer lange vor Beginn an der Universität.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich habe nachgefragt«, antwortete Sara, »weil ich ausrechnen wollte, ob es Herrn Herzog theoretisch möglich war, die Tat zu begehen, ohne dass ihn jemand vermisst hätte. Nehmen wir mal an, Herr Gronauer hat um acht das Haus verlassen und ist kurz danach niedergestochen worden. Wenn Herr Herzog sich beeilt hat, konnte er um zehn schon wieder im Flugzeug nach Hamburg sitzen. Er hat am sehr späten Vormittag auf seinem Zimmer gefrühstückt. Es war knapp, aber nicht unmöglich.«

»Und niemand hat ihn erkannt?«

»Er ist Schauspieler«, sagte Sara. »Da wird er doch wohl wissen, wie man sich überzeugend in eine andere Person verwandelt – und wieder zurück.«

»Aber wie soll er durch die Passkontrolle gekommen sein?«

»Die Frage kann ich noch nicht beantworten.«

»Was denkt ihr?«, fragte Barbara Theobald die Kollegen.

Sie beratschlagten eine Weile, bevor sie zu dem Ergebnis kamen, dass Saras Überlegungen richtig waren: Andreas Herzog konnte so vorgegangen sein.

»Wir checken die infrage kommenden Flüge«, sagte die Kriminalkommissarin.

»Und könnte ich noch einmal die Frauen befragen, die für die Luxussuiten zuständig sind?«, fragte Sara.

»Wenn Sie sich etwas davon erhoffen, bitte sehr. Hummel, gehen Sie mit.«

Es war aber gar nicht so einfach, das Zimmermädchen ausfindig zu machen, das am Tag der Tat auf der Etage, auf der Andreas Herzog residierte, im Dienst gewesen war, denn die junge Frau war krank geworden und hütete zu Hause das Bett. Allerdings war sie bereits vernommen worden.

»Schon verdächtig«, murmelte Ricky Hummel. Sara sah das genauso.

Sie ließen sich die Adresse der Frau geben und machten sich auf den Weg. Zuerst wollte die Frau ihnen nicht öffnen, aber dann tat sie es doch. Sie war dunkelhäutig, sprach aber mit hamburgischem Zungenschlag. Ihr Mann war auch da. Als er die Polizeimarken sah, sagte er: »Ich habe dir doch gleich gesagt, die finden das raus, Amira. Nun rede endlich. Du bist dem Kerl nichts schuldig.«

Sara und Ricky wechselten einen kurzen Blick. Fragen brauchten sie keine mehr zu stellen, Amira Kolbe war froh, sich endlich alles von der Seele reden zu können.

*

»Lara«, sagte Hans mühsam. Er hatte Schmerzen, besonders beim Sprechen. Die Ärzte hatten ihr das erklärt, deshalb bat sie: »Nicht viel reden, ich weiß, das tut dir weh. Lass mich reden, in Ordnung?«

Er nickte.

»Erinnerst du dich an das, was passiert ist?«

»Nicht … richtig.«

»Ein Mann hat dich mit einem Messer überfallen und dich schwer verletzt. Du wärst um ein Haar verblutet.«

Er schloss die Augen, öffnete sie aber gleich wieder. »Wer?«, fragte er dann.

»Das steht noch nicht fest, es gibt aber einen Verdacht.«

Er sah sie an, versuchte zu verstehen, was sie meinte – und begriff es schlagartig, das sah sie seinen Augen an. »Nein!«, sagte er.

»Vielleicht doch«, erwiderte sie. »Die Beweise fehlen noch.«

Wieder schloss er die Augen. Sie griff nach seiner Hand, hielt sie fest. »Hans?«

»Ja?«

»Als ich Angst haben musste, dass du diesen Angriff vielleicht nicht überlebst …«

»Ja?«

»Da habe ich erst gemerkt, wie wichtig du mir bist. Ich … ich weiß, wir sind immer nur gute Freunde gewesen, aber … aber ich glaube, das ist gar nicht das, was ich mir wünsche. Es ist bestimmt nicht fair, dich jetzt damit zu überfallen, aber ich dachte, ich sage es dir trotzdem. Vielleicht … vielleicht findest du den Gedanken ein bisschen überraschend, aber nicht unbedingt unangenehm und deshalb …«

»Lara?«

»Ja?«

»Du … redest zu viel.«

Er lächelte sie an, und sie begriff, dass sie es sich viel zu schwer gemacht hatte. Sie beugte sich über ihn und streifte seinen Mund mit ihren Lippen, weil sie Angst hatte, ihm weh zu tun. Doch als sie sich wieder aufrichten wollte, verlangte er: »Mehr.«

»Ach, Hans«, seufzte Lara nach vielen weiteren schmetterlingszarten Küssen, »kannst du mir verzeihen, dass ich so blind war?«

»Ich … denke drüber nach. Und jetzt muss ich … schlafen.«

Sie blieb bei ihm, ihre Hände waren ineinander verschlungen, und sie fragte sich, ob es wirklich Andreas Herzog gewesen war, der ihm ein Messer in den Hals gerammt hatte.

Allein bei der Vorstellung, dass sie einmal geglaubt hatte, den Mann zu lieben, der jetzt in Verdacht ge­raten war, einen Mordversuch unternommen zu haben, wurde ihr schwindelig.

*

Wenig später wurde Andreas Herzog verhaftet, die Nachricht schlug ein wie eine Bombe. Er war dringend tatverdächtig. Die Aussage Amira Kolbes hatte ihn schwer belastet: Er hatte ihr gesagt, er wolle sich zwei Tage lang in seiner Suite ausschließlich auf den nächsten Drehtag vorbereiten, daher brauchte sie nicht sauberzumachen, sollte darüber aber Stillschweigen bewahren. Er wolle niemanden sehen. Und um seiner Bitte Nachdruck zu verleihen, hatte er ihr ein extrem hohes Trinkgeld gezahlt, das sie und ihr Mann gut gebrauchen konnten, denn ihnen war die Miete erhöht worden.

Sie hatte sich zuerst nicht viel gedacht bei seiner Bitte, es gab öfter Gäste, die nicht gestört werden wollten – meistens ging es dabei freilich um Liebesgeschichten, die nicht unbedingt öffentlich werden sollten. So etwas Ähnliches hatte sie auch in diesem Fall vermutet. Merkwürdig war ihr dann erst die hohe Geldzuwendung vorgekommen – und die Bitte Andreas Herzogs, sich krank zu melden, wenn die beiden Tage verstrichen waren, an denen er angeblich nur arbeiten wollte.

Es fand sich dann auch Andreas Herzogs zweiter Pass, der auf seinen Geburtsnamen lautete: Andreas Herzog war sein Künstlername. Das Bild in seinem zweiten Pass zeigte einen bärtigen Mann mit langen Haaren und auffälliger Brille, und ein Mann, der genau so aussah, war von einem anderen Hotelgast gesehen worden, wie er am Abend vor der Tat die Suite des berühmten Schauspielers verließ.

Auch die Flugbegleiterinnen erinnerten sich an den Mann, der wegen der Beinfreiheit neben dem Notausgang gesessen hatte. Und zu guter Letzt erinnerten sich auch zwei Taxifahrerinnen an ihn, weil er so charmant gewesen war und ihnen Komplimente gemacht hatte.

Andreas Herzog leugnete lange, aber irgendwann gab er auf und legte ein Geständnis ab.

*

Antonias Schritte wurden immer langsamer, aber sie zwang sich dazu, weiterzugehen. Sie hatte sich entschieden, jetzt musste sie es auch durchziehen. Sie wusste, er würde allein sein, so war es abgesprochen, aber nun erwies es sich doch als schwerer, ihren Vorsatz in die Tat umzusetzen, als sie es erwartet hatte.

Seine Worte hatten sich tief in ihr Gedächtnis eingegraben. Vergessen würde sie sie nie, das wusste sie. Aber konnte sie sie nicht endlich vergeben? Nicht einmal jetzt? Sie war doch kein schmollendes kleines Mädchen mehr, und zum Erwachsensein gehörte es auch, dass man verzeihen konnte.

Aber schwer war es, besonders, wenn die Kränkung groß war – und das war sie.

»Da bist du ja!«

Sie drehte sich um, Leon stand hinter ihr. Als er ihr Gesicht sah, wusste er, was in ihr vorging. Er machte ein paar Schritte auf sie zu und schloss sie in die Arme, ohne etwas zu sagen.

Sie war so froh, dass er sie verstand, dass sie gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfen musste. »Ich schäme mich«, sagte sie leise, »aber es fällt mir schwer, Leon.«

»Ich weiß, und du musst dich nicht schämen deshalb. Er hat dir Unrecht getan, und er wird sich vermutlich niemals dafür entschuldigen. Das muss man erst einmal aushalten können.«

Sie gab ihm einen Kuss und löste sich von ihm. »Danke«, sagte sie leise, »bis nachher, zu Hause.«

»Bis nachher.«

Sie drehte sich um und setzte ihren Weg fort, schneller jetzt, entschiedener. Wenig später hatte sie ihr Ziel erreicht. Sie öffnete die Tür eines Patientenzimmers und blickte auf den Mann, der darin lag und dessen Augen sich bei ihrem Anblick öffneten. Er war wach, sein Gedächtnis war zurückgekehrt, das wusste sie.

Sie brachte es fertig, zu lächeln, als sie sagte: »Hallo, Papa.«

Der neue Dr. Laurin Staffel 2 – Arztroman

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