Читать книгу Der neue Dr. Laurin Staffel 2 – Arztroman - Viola Maybach - Страница 9

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»Ich frage meinen Vater, ob wir mal zu dritt Urlaub in unserer Ferienhütte machen dürfen«, sagte Lukas Martin. »Oder würden eure Eltern das nicht erlauben?«

»Ohne Erwachsene?«, fragte Kevin Laurin.

»Klar, sonst macht es doch gleich viel weniger Spaß.«

»Ich würde vielleicht erzählen, dass ein Erwachsener dabei ist«, überlegte Mike Brönner.

»Aber ich lüge nicht«, erklärte Kevin. »Ich frage und versuche zu erklären, dass wir ja nur mal unter uns sein wollen. Aber am besten fragst du zuerst deinen Vater, Lukas. Wird der denn nichts dagegen haben?«

Lukas lächelte heiter. »Er ist so verknallt in Charly, dass er nur noch Augen für sie hat. Das ist gut für mich. Im Augenblick erlaubt er mir fast alles.«

Kevin und Mike wussten, wer ›Charly‹ war: Charlotte Behr, die neue Freundin von Lukas’ Vater. Sie hatten sie bereits kennengelernt und waren sehr beeindruckt von ihr gewesen. Sie sah nämlich nicht nur toll aus, sodass Mike, für weibliche Reize seit einiger Zeit sehr empfänglich, beinahe die Augen aus dem Kopf gefallen waren bei ihrem Anblick, sondern sie war auch richtig nett. Sie arbeitete beim Sozialamt, lebte in einer eher kleinen, aber sehr gemütlichen Wohnung und verdiente nicht besonders viel Geld – das hatte Lukas ihnen erzählt. Außerdem war sie fast zehn Jahre jünger als sein Vater.

Insofern fand er, dass sie eigentlich nicht zu ihm passte, denn Fabian Martin war ein hochrangiger und natürlich auch hochbezahlter Manager bei einem Automobilkonzern. Deshalb hatte er zunächst befürchtet, Charly könnte es eher ums Geld gehen als um seinen Vater, aber so war es eindeutig nicht. Es traf wohl eher das Gegenteil zu: Sie hatte sich erst gar nicht auf ihn einlassen wollen, weil sie selbst gefunden hatte, seine Lebenswelt und ihre seien nicht gut miteinander vereinbar. Aber die Liebe war offenbar stärker gewesen, denn jetzt waren sie ein richtig glückliches Paar.

»Sie haben meinen Segen«, hatte Lukas vor kurzem einmal ganz ernsthaft gesagt und Kevin und Mike damit zum Lachen gebracht.

Lukas war noch nicht lange in ihrer Klasse, aber sie hatten sich schnell mit ihm angefreundet. Er war liebenswürdig und umgänglich, für jeden Spaß zu haben und kein allzu eifriger Schüler. Er kam gut mit, aber ernsthaftes Arbeiten war seine Sache nicht.

Einen Spitznamen hatte er auch schon: Engel – den hatte er wegen seines Aussehens bekommen. Er hatte goldblonde lockige Haare, die er fast schulterlang trug, dazu ein ebenmäßiges Gesicht, das man nur als schön bezeichnen konnte. Blaue Augen, eine gerade Nase, hohe Wangenknochen. Er hätte einem alten Gemälde entstiegen sein können. Alle Mädchen der Klasse waren in ihn verliebt, und auch Mädchen aus anderen Klassen verfolgten ihn in den Pausen mit verklärten Blicken – und, wie Kevin inzwischen bemerkt hatte, nicht nur Mädchen.

Lukas nahm das nicht so wichtig, da war er anders als Mike, dessen Gedanken schon seit einiger Zeit vorwiegend um alles kreisten, was mit Liebe und Erotik zu tun hatte. Darüber war mehr als einmal seine lange Freundschaft zu Kevin in Gefahr geraten, der diese Veränderungen bei seinem besten Kumpel noch immer nicht nachvollziehen konnte. Erst ein Gespräch mit seiner Mutter über die Pubertät, die bei Mike schon ausgebrochen war, bei ihm selbst aber noch auf sich warten ließ, hatte Verständnis für Mike geweckt, und so rauften sie sich bislang jedes Mal wieder zusammen. Nun brachte ohnehin Lukas neuen Schwung in ihre Freundschaft …

»Ich frage meinen Vater gleich heute Abend«, sagte er jetzt.

»Wir könnten ja vielleicht mit einem Wochenende anfangen und nicht gleich mit einem ganzen Urlaub«, schlug Kevin vor. »Ein Wochenende würden mir meine Eltern wahrscheinlich erlauben.«

»Gute Idee«, fand Mike, »dann müssen wir auch nicht bis zu den nächsten Ferien warten, sondern können schon bald hinfahren.«

Die Hütte lag in den Bergen, es war eher ein sehr gut ausgestattetes Haus als eine Hütte. Der Walchensee war in der Nähe. Lukas hatte ihnen schon Bilder gezeigt und davon geschwärmt, wie schön es dort war.

»Aber jemand muss uns fahren«, gab Kevin zu bedenken.

»Charly würde das sofort machen«, sagte Lukas. »Und sie und mein Vater wären garantiert froh, wenn sie unser Haus mal ein Wochenende nur für sich hätten.« Er lächelte wieder sein heiteres Lächeln, bei dem ihm immer sofort alle Herzen zuflogen. Wenn er solche Bemerkungen machte, klangen sie nie anzüglich.

»Also gut«, sagte Kevin. »Wir alle fragen unsere Eltern, und dann sehen wir weiter.«

»Ich hoffe, es klappt. Um diese Jahreszeit ist es ziemlich einsam da, aber ich mag das, und ich wette, euch gefällt es auch.«

Ihre Wege trennten sich, Lukas musste nach links, Kevin und Mike nach rechts abbiegen.

»Er ist echt nett«, meinte Mike. »Ein richtig guter Freund.«

»Sein Vater und Charly sind auch nett«, stellte Kevin fest. »Über ihn steht jetzt dauernd was in der Zeitung, weil er doch neuen Schwung in den Konzern bringen soll. Die haben im letzten Jahr zu wenig Autos verkauft.«

»Er schafft das bestimmt«, sagte Mike zuversichtlich. »Ein Mann, der eine Frau wie Charly erobert, bringt auch einen Konzern wieder in Schwung.«

Kevin musste lachen. »Du bist ein Spinner, Mike. Das hat doch nichts miteinander zu tun.«

Mike beharrte auf seiner Meinung. »Das finde ich aber doch. Er hat sie von seinen Qualitäten überzeugt, obwohl sie am Anfang skeptisch war, das hat Lukas uns selbst erzählt. Und wenn er sie überzeugen kann, kann er auch Autokäufer überzeugen. So einfach ist das.«

Kevin gab zu, dass diese Argumentation schlüssig klang, und so legten sie den Rest ihres gemein­samen Weges in einträchtigem Schweigen zurück.

*

»Du siehst besser aus«, sagte Antonia Laurin zu ihrem Vater, Professor Joachim Kayser, der nach einem Herzinfarkt in der von ihm gegründeten Klinik lag

Der Infarkt hatte Vater und Tochter einander endlich wieder zusammengebracht, obwohl sie es nach wie vor vermieden, über die Themen zu sprechen, bei denen ihre Meinungen weit auseinandergingen: Vor allem war das Antonias Rückkehr in den Beruf, für den ihr Vater kein Verständnis aufbrachte. Er fand, eine Frau mit vier Kindern gehörte ins Haus. Und er fand außerdem, sein Schwiegersohn hätte ›durchgreifen‹ und Antonia ›verbieten‹ müssen, wieder als Kinderärztin zu arbeiten.

Sie gingen vorsichtig miteinander um, beide wollten den Streit nicht wieder aufflammen lassen. Aber beide wussten auch, dass sie sich irgendwann noch einmal damit würden auseinandersetzen müssen. Nur eben noch nicht jetzt, wo Joachim von dem Infarkt geschwächt war und möglichst keine Aufregung haben sollte.

»Ich fühle mich auch besser«, erwiderte er. »Ich kann schon wieder ganz gut laufen und hoffe, dass ich bald entlassen werde. Aber sie wollen mich noch nicht gehen lassen. Ich will wieder nach Hause.«

»Aber zuerst gehst du noch in eine Reha-Klinik.«

»Ich überlege, mir das zu sparen. In unserem Haus und mit Teresas Hilfe komme ich schneller wieder auf die Beine als in einer Klinik.«

»Was sagt denn Teresa dazu?«, erkundigte sich Antonia, obwohl sie das genau wusste. Sie hatte in letzter Zeit viele ausführliche Gespräche mit ihrer Stiefmutter geführt, da Teresa sich nach Kräften bemüht hatte, Vater und Tochter wieder zu versöhnen. Das hatte dann aber nicht sie, sondern der Infarkt geschafft.

Letzten Endes war Antonia froh darüber. Sie fand die Ansichten ihres Vaters zwar noch immer rückständig und war über seine Äußerungen sehr verletzt gewesen, aber sie konnte Unstimmigkeiten mit Menschen, die ihr nahestanden, nicht gut ertragen. Der Streit hatte sie belastet, sie brauchte Harmonie, um sich wohlzufühlen.

Das Gesicht ihres Vaters hatte sich verfinstert. »Sie will auch, dass ich in eine Reha-Klinik gehe«, sagte er. »Sie meint, die wissen dort besser, welche Übungen ich machen muss, um wieder fit zu werden als sie.«

»Und damit hat sie Recht«, stellte Antonia fest. »Ich muss los, Papa, aber du bist ja nie lange allein, wie ich weiß.«

»Teresa müsste eigentlich schon hier sein.«

»Sie kommt bestimmt bald. Bis morgen.« Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und ging.

*

»Da kommt einiges auf uns zu«, erzählte Inga Matthes ihrer Freundin und Kollegin Charlotte Behr.

Die beiden Frauen tranken nach der Arbeit noch einen Kaffee, wie sie es oft taten. Beide, die rothaarige Charlotte und die blonde Inga, waren attraktive Frauen, auf sehr unterschiedliche Art, so wie sie sich auch in ihren Temperamenten unterschieden. Charlotte war quirlig, immer in Bewegung, sie lachte gern. Das tat Inga auch, dennoch war sie viel ruhiger und gelassener.

Inga arbeitete mit Drogenabhängigen, sie war eine der Erfahrensten auf diesem Gebiet. Charlotte hörte ihr immer mit einer Mischung aus Schaudern und Faszination zu, wenn sie sich über ihre Arbeit austauschten.

»Stell dir vor«, fuhr Inga fort, »hier hat sich eine neue ›Familie‹ niedergelassen, die offenbar den Markt in München erobern will. Es scheint so, dass sie schon überall ihre Fühler ausstrecken, um festzustellen, wen sie für sich arbeiten lassen können. Also ist erhöhte Wachsamkeit von unserer Seite gefordert. Niemand kann ein Inte­resse daran haben, dass die Zahl der Drogensüchtigen in München sprunghaft ansteigt, aber das ist natürlich das Ziel dieser Mafia. Wir haben von der Polizei gehört, dass die neuen Bosse sehr aggressiv mit Niedrigstpreisen neue Kunden zu gewinnen versuchen.«

»Werbt ihr deshalb neue Leute an?«, fragte Charlotte.

»Ja, wir brauchen jede verfügbare Frau und jeden Mann. Wir haben auch ohne einen neuen Großdealer schon genug Probleme mit Drogen in München, wir brauchen wahrhaftig nicht noch mehr. Und deshalb müssen wir alle mithelfen, damit sich diese neuen Strukturen gar nicht erst bilden können.«

»Aber es ist doch Aufgabe der Polizei, dafür zu sorgen, dass das nicht passiert.«

»Ja, die starten eine richtige Großoffensive. Unsere Chefs beraten sich ja regelmäßig mit der Polizei, sonst wüssten wir ja auch nichts von dieser neuen Gefahr. Im Augenblick herrscht jedenfalls große Aufregung.«

»Kann ich mir vorstellen.«

»Ich hoffe, die Polizei stellt genügend Leute ab, damit endlich mal die richtig großen Tiere erwischt werden und nicht nur die kleinen Laufburschen, die das Zeug durch die Gegend transportieren. Ein großer Schlag gegen die Drogenmafia gelingt ja nicht nur, weil wir jetzt alle die Augen offenhalten.«

»Na ja, wenn die Polizei auch fest entschlossen ist, von Anfang an hart durchzugreifen …«

Inga seufzte.

»Ich habe ein bisschen Angst«, gestand sie.

»Du?«, fragte Charlotte ungläubig. »Du hast doch nie Angst.«

»Ich zeige es nur nicht, aber ich habe durchaus Angst. Manchmal, wenn an einem Tag alles so richtig mies gelaufen ist, denke ich, wir schaffen das einfach nicht. Es wird immer schlimmer, irgendwann werden wir aufgeben, dann übernehmen die Mafiabosse die Macht, und wir …«

»Das wird nicht passieren, so lange es Leute wie uns gibt«, erklärte Charlotte entschieden.

Inga nickte langsam. Dann sagte sie: »Behalte für dich, was ich dir erzählt habe. Wir rüsten sozusagen auf, aber wir machen das nicht öffentlich, um niemanden vorzuwarnen. Die sollen sich möglichst sicher und unbehelligt fühlen, dann sind die Chancen größer, dass sie Fehler machen.«

»Du liebe Güte«, sagte Charlotte. »Und die Polizei?«

»Wird ebenfalls im Stillen ihre Vorbereitungen treffen.«

Sie trennten sich nach einer liebevollen Umarmung. Auf dem Heimweg ließ Charlotte das Gespräch noch einmal Revue passieren. Sie selbst betreute Jugendliche aus kaputten Familien, dabei hatte sie natürlich auch oft genug mit Drogensucht zu tun. Mehr allerdings noch mit Alkoholabhängigkeit und daraus folgender Gewalt. Sie hatte sich keinen leichten Job ausgesucht, aber das war ihr von Anfang an bewusst gewesen. Sie sah viel Elend, manchmal zu viel. Da ging es ihr wie Inga. Aber es gab eben auch immer wieder diese kleinen Momente des Glücks, wenn es dann doch gelang, jemandem zu helfen, das Elend hinter sich zu lassen. Und letzten Endes, dachte sie, waren diese Momente gar nicht einmal so selten.

Bei der Arbeit mit Drogenabhängigen war es sicherlich anders, die Erfolgsquote war nicht besonders hoch. Inga würde sich ihre kleinen Momente des Glücks also woanders holen müssen, meistens jedenfalls.

Fabian fiel ihr ein, und sofort verzogen sich ihre Lippen zu einem Lächeln. Wenn sie mit ihm zusammen war, handelte es sich eher um große, überwältigende Glücksmomente, über die sie auch etliche Wochen, nachdem sie sich kennengelernt hatten, immer noch nur staunen konnte.

Inga, dachte sie, müsste sich auch verlieben, dann würde sie ihren schweren Job besser aushalten.

*

»Ein Wochenende in den Bergen – ihr drei Jungs ganz allein?«, fragte Antonia Laurin, als Kevin beim Abendessen seine Bitte vortrug. »Und der Herr Martin ist einverstanden?«

»Das weiß ich noch nicht«, antwortete Kevin wahrheitsgemäß, »Lukas hatte ja heute erst die Idee, aber er muss seinen Vater noch fragen.«

»Und wie kommt ihr dahin?«, erkundigte sich Leon Laurin, nachdem er einen kurzen Blick mit seiner Frau gewechselt hatte.

»Na ja«, sagte Kevin ein wenig verlegen, »jemand müsste uns fahren, glaube ich. Mit dem Zug wäre es vielleicht etwas umständlich.«

»Ich glaube«, beschloss Leon, »ich rede mal mit Lukas’ Vater. Was wollt ihr denn da machen, jetzt, um diese Jahreszeit?«

»Chillen«, sagte Kevin, verbesserte sich aber schnell, als er die Gesichter seiner Eltern sah. Er wusste, sie konnten es nicht ausstehen, wenn er solche englischen Wörter benutzte, obwohl er fand, dass ›chillen‹ längst ein deutsches Wort geworden war, jeder in seiner Klasse gebrauchte es. »Abhängen«, sagte er also zum besseren Verständnis. »Was man eben so macht, wenn man mit Freunden zusammen ist. Reden, Filme gucken, Videospiele spielen …«

»… Alkohol trinken«, warf Kaja mit betont harmloser Stimme ein, »einen Joint rauchen oder auch zwei – was man eben so macht, wenn man mit Freunden zusammen ist.«

»Was du gleich wieder für Ideen hast!« Kevin sah seine ältere Schwester finster an. »Ich mag gar keinen Alkohol und einen Joint rauche ich bestimmt nicht. Vielleicht machst du das mit deinen Freundinnen, aber …«

»Schon gut, schon gut, es war ein Scherz, Kevin!«, rief Kaja. »Krieg dich bitte wieder ein.«

»Ich stelle mir das schön vor, in einer Hütte in den Bergen, mit einem See in der Nähe«, sagte Kyra, die Jüngste, in dem Bestreben, Kevin zu unterstützen.

Er warf ihr einen dankbaren Blick zu. »Ich auch«, sagte Konstantin, Kajas Zwillingsbruder. »Außerdem ist man ja mit dreizehn kein Kleinkind mehr. Und was kann schon groß passieren?«

»Allerhand«, erwiderte Antonia. »Kevin ist natürlich ziemlich vernünftig, aber bei Mike bin ich mir nicht so sicher, ob er das auch ist, und Lukas kennen wir kaum.«

»Er ist so schön«, sagte Kyra andächtig. Als Lukas das erste Mal bei ihnen gewesen war, hatte sie ihn immer nur angesehen und kein Wort herausgebracht.

»Das ist allerdings wahr«, bemerkte Leon trocken, »aber Schönheit ist ja leider keine Garantie dafür, dass sich jemand auch vernünftig verhält.«

»Lukas ist vernünftig«, beteuerte Kevin. »Wir mochten ihn sofort, Mike und ich – und ihr fandet ihn auch alle nett.«

Das stimmte allerdings, es hatte von keiner Seite Einwände gegen diesen neuen Freund von Kevin gegeben, und so beendete Leon die Diskussion mit den Worten: »Ich rufe Herrn Martin an und bespreche das mit ihm.«

»Und ich rede mal mit Mikes Mutter«, beschloss Antonia. »Bis dahin ist die Entscheidung vertagt.«

Kevin war zufrieden. Er hatte ohnehin nicht mit einer sofortigen Erlaubnis gerechnet. Im Grunde war es sogar besser gelaufen als befürchtet: Seine Eltern hätten ihm ihre Zustimmung ja auch grundsätzlich verweigern können, und das hatten sie nicht getan.

Noch war also nichts verloren.

*

Fabian Martin küsste Charlottes nackte Schulter. Er hatte sich auf einem Unterarm abgestützt und betrachtete sie. »Ich weiß immer noch nicht, womit ich eine Frau wie dich verdient habe«, sagte er, während er ihr zärtlich eine Strähne ihres roten Haars aus der Stirn strich.

»Oh, warte nur, bis du mich näher kennenlernst, dann fallen dir all meine schrecklichen Charaktereigenschaften auf. Ich bin zum Beispiel ziemlich unordentlich.«

»Das habe ich schon gemerkt, aber es ist nicht so schlimm, dass wir uns deshalb trennen müssen.«

»Ich hasse Lügen, und ich bin nachtragend. Wenn mich jemand verletzt, vergesse ich das nicht so leicht.«

»Das sind doch eher Pluspunkte! Jedenfalls keine schlechten Eigenschaften. Mir geht es übrigens ähnlich. Lügen vertrage ich überhaupt nicht, und verzeihen kann ich auch nicht gut, wenn es sich um schwerwiegende Dinge handelt.«

Sie umfasste sein Gesicht mit beiden Händen und zog es zu sich heran, um ihn zu küssen. Es war ein Leichtes für sie, seine Leidenschaft erneut zu wecken.

»Wenn das so weiter geht«, murmelte Fabian danach an ihrer Schulter, »werden sie mich bald wieder rausschmeißen, weil ich vor Übermüdung nichts zustande bringe.«

Sie lachte leise. »Du wirkst zehn Jahre jünger, seit wir zusammen sind. Ich habe neulich ein Foto von dir gesehen, vom vergangenen Jahr – verglichen damit siehst du jetzt aus wie ein junger Gott.«

»Wieso hast du dich denn dann eigentlich in mich verliebt?«, neckte er sie. »Wenn ich doch offenbar wie ein Wrack gewirkt habe, als wir uns begegnet sind.«

»Das stimmt schon, aber doch ein sehr interessantes und attraktives Wrack«, flüsterte sie ihm ins Ohr, während ihre Hand sich spielerisch und sehr, sehr langsam über seine Brust nach unten bewegte.

»Ich bin fast zehn Jahre älter als du«, stöhnte er, »mach mich bitte nicht fertig, ich kann echt nicht mehr.«

Aber es erwies sich natürlich, dass das nicht stimmte. Nachdem sie sich ein drittes Mal geliebt hatten, schliefen sie allerdings beide innerhalb kürzester Zeit ein.

Am nächsten Morgen standen sie früh auf, wie immer. Fabian weckte seinen Sohn, in der Zeit machte Charlotte das Frühstück. Als Lukas erschien, strahlte er Charlotte an. »Guten Morgen«, sagte er.

»Hallo, Lukas, gut geschlafen?«

»Klar, ich schlafe immer gut.« Er lächelte vergnügt.

Sie war jedes Mal gerührt, wenn sie ihn sah. So ein schöner Junge! Sie nahm an, dass alle Mädchen verrückt nach ihm waren. Hoffentlich stieg ihm das nicht zu Kopfe, aber derzeit schien er sich für Mädchen noch nicht besonders zu in­teressieren. Dafür hatte er nette Freunde gefunden, Kevin und Mike, die sie auch schon kennengelernt hatte. Mit denen war er oft zusammen, er sprach auch oft von ihnen.

»Du, Papa?«

»Ja?«

»Kann ich mal ein Wochenende mit Kevin und Mike in unsere Hütte in den Bergen fahren? Nur wir drei? Die Mädchen in unserer Klasse machen so was öfter, da dachte ich, wir könnten das auch mal machen. Aber jemand müsste uns hinfahren.«

»Mhm«, sagte Fabian. »Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist, drei Dreizehnjährige ohne Aufsicht, ein ganzes Wochenende lang.«

»Papa! Wir sind doch keine Kleinkinder mehr. Wir wollen nur mal für uns sein, lange aufbleiben, ungesunde leckere Sachen essen und so …«

»Und so? Vielleicht Alkohol trinken?«

»Bestimmt nicht, der schmeckt uns doch gar nicht.«

»Oder Zigaretten rauchen.«

Lukas zögerte. »Davon wird mir schlecht«, sagte er dann.

»Du hast es also schon einmal probiert?«

»Alle probieren es«, behauptete Lukas. »Wenn man es nicht macht, gehört man nicht dazu.«

»Ich rede mal mit Kevins und Mikes Eltern, was die davon halten«, beschloss Fabian. »Immerhin war ich auch mal dreizehn, und ich erinnere mich, dass ich in dem Alter ähnliche Wünsche hatte.«

»Wurden sie erfüllt?«, fragte Lukas.

»Einige, nicht alle. Wir reden noch einmal darüber, wenn ich mit den Laurins und den Brönners gesprochen habe.«

»Ist gut«, sagte Lukas fügsam und sprang auf. »Ich muss los, tschüss, Charly, tschüss, Papa.«

»Er ist einfach hinreißend«, sagte Charlotte. »Aber natürlich viel zu schön. Hast du früher auch so ausgesehen?«

»Die Schönheit hat er von seiner Mutter«, erwiderte Fabian. »Die blonden Haare sind von mir. Und das fröhliche Gemüt.«

Sie wusste, was er meinte, er hatte ihr gleich zu Beginn erzählt, dass Fabians Mutter kein fröhlicher Mensch gewesen war.

Sie war einige Jahre zuvor an Krebs gestorben. »Aber wenn ich ehrlich bin«, hatte Fabian gesagt, »dann glaube ich, dass unsere Ehe nicht gehalten hätte, wäre sie am Leben geblieben. Sie war ein Mensch, der überall Probleme sah. Sie konnte sich nicht richtig freuen. Ich bin froh, dass Lukas das nicht geerbt hat.«

Fabian war einige Jahre allein geblieben, anders als die meisten Männer, dachte Charlotte. Aber er war sowieso anders als die meisten. Sie hatte sich auf Anhieb in ihn verliebt. Sie waren sich bei einer Ausstellungseröffnung begegnet, vor einem abstrakten modernen Gemälde.

»Und?«, hatte Fabian sie gefragt, als er sich neben sie gestellt hatte, um es zu betrachten. »Wie finden Sie es?«

Die Museumsdirektorin hatte in ihrer Ansprache mehrfach auf dieses Bild Bezug genommen und es als ›eines der wichtigsten Kunstwerke der Gegenwart‹ bezeichnet. Also hatte sich Charlotte ihre Antwort gut überlegt, aber schließlich doch die Wahrheit gesagt. »Ich mag es nicht, es ist mir zu düster, ich denke an Weltuntergang, wenn ich es ansehe. Vielleicht hat der Künstler das gewollt, aber mir reicht es, wenn ich täglich Zeitung lese. Da ist genug von Weltuntergang die Rede.«

Das Bild hieß ›Der Neuanfang‹. Fabian hatte gelacht, und von da an hatten sie sich die Bilder der Ausstellung gemeinsam angesehen.

»Woran denkst du gerade?«, fragte Fabian.

»An den Weltuntergang«, antwortete Charlotte wahrheitsgemäß.

Er verstand sofort, worauf sie anspielte, lachte schallend und gab ihr einen Kuss. Wenig später verließen sie das Haus.

*

Das Wochenende in der ›Hütte‹ war ein voller Erfolg gewesen, darüber waren sich Kevin, Mike und Lukas einig. Jede Menge Chips, Hamburger, Pizza, Cola, verbotene Filme, Videospiele, Faulenzen. Da­zu zwei oder drei Spaziergänge, immerhin. Herrlich. Die totale Freiheit.

Natürlich hatten sie auch über die Stränge geschlagen, das gehörte schließlich dazu. Also hatten sie gleich am ersten Abend etwas Alkohol getrunken, Mike war sogar betrunken gewesen, aber nicht sehr. Mike und Lukas hatten auch geraucht, Kevin hatte es lieber gelassen, bei seinem letzten Versuch hatte er sich übergeben müssen, das brauchte er kein zweites Mal. Außerdem hatte er schon mit dem einen Glas Whisky zu kämpfen gehabt, das ausgesprochen scheußlich geschmeckt hatte.

Aber es war eine wichtige Erfahrung gewesen, gleich in mehrfacher Hinsicht, denn er hatte unerwartete Erkenntnisse gewonnen, mit denen er so nicht gerechnet hatte.

Erstens: So toll war es letzten Endes auch nicht, wenn man so lange aufblieb, wie man wollte, denn irgendwann wurde man müde und wollte eigentlich nur noch ins Bett. Aber das konnte man vor den Freunden nicht zugeben, also blieb man auf und war am nächsten Tag nicht richtig fit.

Zweitens: Von Alkohol bekam man leicht Kopfschmerzen. Das fand Kevin nicht erstrebenswert. Er hatte es nach dem Whisky auch noch mit Bier probiert, aber das war ihm zu bitter. Immerhin konnte er jetzt aber mitreden.

Und schließlich drittens: Nach zwei Tagen, an denen man ausschließlich gemacht hatte, was man wollte, stellte sich seltsamerweise so etwas wie Langeweile ein, jedenfalls war es nicht zu leugnen, dass er sich richtig gefreut hatte, als Lukas’ Vater und Charly gekommen waren, um sie wieder abzuholen. Sie hatten die Hütte tadellos in Ordnung gebracht und vorher noch einen Spaziergang gemacht, damit ihnen nicht gleich anzusehen war, dass sie nicht gerade gesund gelebt hatten. Die Hauptsache war doch: Sie waren zwei Tage ganz allein zurechtgekommen, hatten ihre Freiheit weidlich ausgekostet und einiges gelernt, wovon sie ihren Eltern allerdings nichts erzählen würden. Eltern mussten nicht alles wissen.

Es war auf jeden Fall ein ganz tolles Wochenende gewesen!

Die betroffenen Eltern waren erleichtert, dass dieser erste Ausflug in die Erwachsenenwelt offenbar gut ausgegangen war, und danach ging das Leben weiter wie zuvor.

Jedenfalls beinahe. Etwa zwei Wochen nach dem Ausflug fiel Kevin auf, dass Lukas einen nervösen Eindruck machte. Ausgerechnet Lukas, den bislang nichts hatte aus der Ruhe bringen können! »Was ist los mit dir?«, fragte er, als sie auf dem Heimweg waren. »Du wirkst irgendwie … zappelig heute. Ist was passiert?«

Lukas sah ihn an, Abwehr im Blick. »Nee, wieso denn?«

»Ich weiß auch nicht. Ich dachte nur …«

»Alles bestens«, versicherte Lukas und lächelte strahlend. Aber zum ersten Mal fand Kevin, dass das Lächeln nicht echt wirkte, sondern so, als hätte Lukas es mit Absicht eingesetzt.

Als er sich von ihnen verabschiedet hatte, sagte auch Mike: »Etwas stimmt nicht mit ihm. Er hatte die Hausaufgaben für Englisch nicht gemacht, und in Mathe konnte er die einfachsten Fragen nicht beantworten.«

»Stimmt«, sagte Kevin und zog die Stirn in Falten. »Mir ist nur aufgefallen, dass er die ganze Zeit so mit dem Fuß gewippt hat, als könnte er nicht mehr stillsitzen.«

»Meinst du, er hat Ärger zuhause?«

»Das hätte er uns doch erzählt, oder?«

»Oder vielleicht haben sich Charly und sein Vater gestritten, und er hat jetzt Angst, dass die beiden sich wieder trennen. Er hat doch neulich mal gesagt, dass er das überhaupt nicht toll fände.«

»Ja, das kann sein. Wir fragen ihn morgen einfach.«

Aber sie konnten Lukas am nächsten Tag nicht fragen, denn er kam nicht zum Unterricht. Als sie gefragt wurden, ob sie wüssten, was mit ihm los sei – sie waren schließlich mit ihm befreundet – verneinten sie.

Am nächsten Tag war Lukas wieder da. Er hatte Brechdurchfall gehabt, sein Vater hatte die Entschuldigung unterschrieben. Als sie ihn vorsichtig fragten, ob Charly und sein Vater noch zusammen waren, sah er sie so verständnislos an, dass sie gleich begriffen, wie abwegig diese Frage war.

»Natürlich sind sie noch zusammen, die sind doch verrückt nacheinander!«

Kevin behielt Lukas im Auge, aber der war gut vorbereitet, und er wippte auch nicht nervös mit dem Fuß. Kevin war sehr erleichtert, dass alles wieder in Ordnung war.

*

»Habt ihr gestritten, Lukas und du?«, fragte Charlotte einige Zeit später.

»Nein, wieso fragst du?« Fabian sah sie erstaunt an.

»Er war so in sich gekehrt, und ihr habt kaum miteinander gesprochen vorhin beim Essen.«

»In der Schule hat er gerade viel zu tun, da stehen Tests an, deshalb hockt er auch dauernd über seinen Büchern. Ich war als Schüler viel weniger zielstrebig als Lukas, muss ich sagen.«

»Streitet ihr nie?«

»Selten, und darüber bin ich froh. Als meine Frau starb, hatte ich große Angst um ihn – und auch, dass ich ihm die Mutter nicht würde ersetzen können. Aber es ist dann eigentlich alles besser gelaufen, als ich zunächst dachte. Aber wenn er in die Pubertät kommt, werden auch wir sicher unsere Schwierigkeiten bekommen.«

»Da müsste er eigentlich schon drin sein, in der Pubertät.«

»Er ist ein Spätentwickler, das war ich auch. Und guck dir seinen Freund Kevin an, der wirkt auch noch nicht so, als würden seine Hormone schon verrücktspielen.«

Sie lächelte.

»Bei Mike allerdings …«

»Ja, der guckt den Frauen schon nach. Neulich habe ich gehört, wie Kevin zu Lukas gesagt hat: Mike ist in jede Frau verliebt. Aber das war bei mir damals genauso. Wenn mich eine angelächelt hat, war es um mich geschehen.«

»So einfach konnte man dich herumkriegen?«, fragte Charlotte.

»Na ja, mit vierzehn, fünfzehn … Heute passiert das natürlich nicht mehr.«

Er zog sie an sich und küsste sie, und sie vergaß, was sie ihn eigentlich auch noch hatte fragen wollen: Warum er Lukas so ein hohes Taschengeld gab. Sie hatte neulich zufällig gesehen, wie Lukas zwei große Geldscheine eingesteckt hatte. Sie fand das übertrieben. Selbst wenn er einen vermögenden Vater hatte, musste er doch den verantwortungsvollen Umgang mit Geld erst lernen – und das geschah gewiss nicht dadurch, dass er von Anfang an zu viel davon in die Finger bekam, ohne sich dafür anstrengen zu müssen.

Das Thema fiel ihr erst wieder ein, als Fabian schon schlief. Sie würde es ein anderes Mal anschneiden!

*

Peter Stadler blieb stehen.

»Wenn du Lukas so toll findest, wieso ist er dann nicht dein bester Freund?«, fragte er.

Kyra blieb auch stehen, mit bestürztem Blick. »Ich finde, dass er sehr schön aussieht, aber deshalb will ich ihn noch lange nicht als besten Freund«, erklärte sie. »Außerdem habe ich ja schon einen besten Freund, und der bist du.«

»Aber du redest ständig von Lukas, das geht mir auf die Nerven«, erwiderte Peter, den ihre Worte nicht besänftigt hatten. »Ich finde auch, dass er gut aussieht, aber man muss es nicht ständig erwähnen. Das tun die anderen Mädchen in der Schule schon genug, und bisher warst du nie wie die anderen Mädchen. Aber in letzter Zeit …« Er ließ den Rest des Satzes ungesagt.

Das war ein Vorwurf, der Kyra schwer traf. Peter war ihr Herzensfreund, mit ihm konnte sie alles besprechen, noch nie hatten sie sich gestritten. Und jetzt sagte er ihr, dass sie wie die anderen war, was so viel hieß wie: Sie war wie die Mädchen, mit denen er nichts anfangen konnte, weil sie sich in seinen Augen albern benahmen, nur über Mode, schminken und Jungs redeten und eben einfach blöd waren.

»Ich bin überhaupt nicht wie die anderen!«, sagte sie heftig. »Es ist gemein von dir, das zu sagen.«

»Ich finde es gemein von dir, mir dauernd vorzuschwärmen, wie gut Lukas aussieht. Ich …« Er musste schlucken, aber die Wahrheit musste heraus. »Ich weiß selbst, dass ich nicht gut aussehe, schon gar nicht mit dieser Brille, aber du musst mich auch nicht dauernd daran erinnern, das ist einfach nicht nett von dir.«

Kyra fiel aus allen Wolken. Im Traum wäre es ihr nicht eingefallen, Peter mit Lukas zu vergleichen. Es war einfach so, dass sie noch einen Jungen wie Lukas gesehen hatte, jemand, der eher so aussah wie ein Bild als wie ein Junge aus Fleisch und Blut. Aber mehr war es nicht. Sie staunte über so viel Vollkommenheit, aber sie wollte gar nicht näher damit in Berührung kommen, denn abgesehen von seiner Schönheit fand sie an Lukas nichts Besonderes. Er war längst nicht so klug wie Peter, und sie war außerdem sicher, dass er kein so guter Freund wie Peter war. Kevin hatte neulich einmal zu ihr gesagt, dass Lukas sich in letzter Zeit merkwürdig verhielt.

Peter hatte sich, seit sie ihn kannte, noch nie merkwürdig verhalten. Bis heute. Denn was er eben gesagt hatte, war mehr als merkwürdig. Sie hatte noch nie über sein Aussehen nachgedacht, fiel ihr jetzt auf, weil es ihr nicht wichtig war. Ihr war Aussehen insgesamt nicht wichtig, das unterschied sie zum Beispiel von ihrer großen Schwester Kaja, die sehr großen Wert darauf legte, jederzeit gut auszusehen. Sie schminkte sich, bevor sie zur Schule ging, dabei war sie, nach Kyras Ansicht, ohne Schminke viel hübscher. Aber Kaja sah das anders, und letzten Endes musste sie das ja auch selbst entscheiden.

»Wieso sagst du, dass du nicht gut aussiehst?«, fragte sie. »Das stimmt doch überhaupt nicht.«

»Komm mir jetzt bloß nicht so!« Peter war ernstlich aufgebracht. »Du bist in Lukas verliebt, das ist es. Aber dass du es nur weißt: Dein Mitleid brauche ich nicht. Lieber habe ich gar keine Freundin als eine, die ständig von einem anderen Jungen schwärmt.« Nach diesen Worten wandte er sich ab und marschierte davon.

Kyra lief ihm nach. »Peter!«, sagte sie. »Du siehst das ganz falsch.«

Er blieb stehen. »Nein, tue ich nicht«, sagte er. »Und jetzt möchte ich bitte allein weitergehen, ich lege auf deine Begleitung keinen Wert.«

Sie war so schockiert, dass sie tatsächlich stehenblieb. Ihr schossen Tränen in die Augen.

Noch nie hatte sie mit Peter gestritten, und jetzt entzündete sich ihr erster Streit ausgerechnet an Lukas, den sie zwar schön fand, an dem ihr aber nichts weiter lag? Sie konnte es nicht fassen.

*

Leon war zufällig gerade in der Notaufnahme, als ein vierzehnjähriger Junge eingeliefert wurde, der im Sportunterricht einen Zusammenbruch erlitten hatte. Da ihn der Fall interessierte, blieb er, um seinen Freund und Kollegen Eckart Sternberg zu unterstützen.

»Die Sanitäter haben gesagt, wir sollen ihn auf Drogen untersuchen, einer der anderen Jungen hätte gesehen, dass dieser Knabe hier ein paar Pillen eingenommen hat.«

»Gut möglich, er hat stark geweitete Pupillen und ist tachykard«, sagte Leon. »Mir gefällt nicht, wie er aussieht. Wie lange soll das her sein mit den Pillen?«

»Zu lange«, sagte Eckart. »Mehr als zwei Stunden.«

»Also beatmen, Kreislauf stabilisieren«, erwiderte Leon, aber im selben Moment erlitt der Junge ­einen Krampfanfall, den sie aber mit dem geeigneten Medikament schnell in den Griff bekamen. Danach intubierte Leon den Jungen, so dass sie ihn beatmen konnten, und es gelang ihnen, seinen Kreislauf zu stabilisieren.

»EKG und dann Aktivkohle?«, fragte Leon.

»Ja, außerdem brauchen wir Blut und Urin, um festzustellen, was er eigentlich eingenommen hat.«

Eine Frau erschien an der Tür des Behandlungsraums, sie schrie auf, als sie ihren Sohn sah. »Linus!«, rief sie. »Meine Güte, was ist denn mit ihm passiert?«

»Frau Hoffmann?«, fragte Leon.

Die Frau nickte. »Die Schule hat mich angerufen«, sagte sie dann. »Linus soll im Sportunterricht plötzlich ohnmächtig geworden sein.« Ihr Blick klebte am bleichen Gesicht des Jungen. »Er … er wird doch nicht sterben?«

»Wir tun alles, um seinen Zustand zu stabilisieren«, erklärte Leon. »Bitte, warten Sie draußen, damit wir uns um ihn kümmern können.«

Tränen liefen der Frau die Wangen hinunter. »Er hat Drogen genommen, oder?«, fragte sie.

»Sie wissen davon?«

»Nein, ich weiß nichts, aber er hat sich verändert in den letzten Wochen, das ist mir aufgefallen. Während der Woche ist er völlig antriebslos, er hat keinen Appetit mehr und geht nur noch sehr ungern in die Schule, aber am Wochenende ist er plötzlich wieder fit und zieht mit seinen Freunden durch die Stadt. Ich … ich bin allein mit ihm, er lässt sich nicht mehr viel von mir sagen. Ich habe ihn danach gefragt, aber er hat alles abgestritten. Ich … ich habe sein Zimmer durchsucht.« Sie griff in eine Tasche und holte etwas heraus. »Die hier habe ich unter seiner Matratze gefunden.«

Leon und Eckart wechselten einen schnellen Blick. Bunte Pillen, harmlos aussehend. Vermutlich hatte der Junge Ecstasy genommen, und sehr wahrscheinlich war der ›Stoff‹ gestreckt gewesen, verunreinigt. Das machte die Sache nur noch schlimmer.

Leon nahm die Pillen an sich. »Das hilft uns weiter«, sagte er sehr sanft zu der Frau. »Bitte, setzen Sie sich draußen auf den Stationsflur und warten Sie, bis ich zu Ihnen komme.«

Die Frau nickte, warf einen letzten Blick auf ihren Sohn und verließ den Raum.

»Semmel«, sagte Leon zu Robert Semmler, dem langen, dünnen, bei allen so beliebten Pfleger, »lassen Sie diese Pillen im Labor untersuchen – es eilt!«

Robert Semmler verließ die Notaufnahme im Laufschritt.

*

Inga wollte einen ihrer Schützlinge in einer Entzugsklinik besuchen, doch als sie dort eintraf, herrschte auf der Station helle Aufregung. Den Grund dafür erfuhr sie bald: Jemand hatte Drogen eingeschmuggelt und die meisten Patienten hatten nicht lange gezögert, sondern zugegriffen. Allein zehn Notfälle mussten derzeit versorgt werden, so etwas hatte es noch nie gegeben. Natürlich konnte der Schuldige – vielleicht waren es auch mehrere gewesen – nicht ausfindig gemacht werden, zumal keiner der Betroffenen ansprechbar war. Zwei Patientinnen schwebten in Lebensgefahr, sie hatten offensichtlich eine Überdosis erwischt.

Inga hatte Mitleid mit dem Klinik-Personal. Das waren alles Leute, die mit großem Engagement und nie nachlassendem Optimismus versuchten, ihre Patienten davon zu überzeugen, dass ein Leben ohne Drogen besser gelingen konnte als eines mit Drogen, weil nämlich der kurzfristige Rausch mit dem Verlust der Gesundheit und letztlich auch der Lebensfreude bezahlt werden musste. Und dann kam ein solcher Rückschlag!

Auch für sie war es hart, denn der Junge, den sie hatte besuchen wollen, war auf einem guten Weg gewesen. Das hatte sie zumindest angenommen.

Sie wünschte sich, sie hätte jetzt mit Charly reden können – die arbeitete zwar nicht mit Junkies, aber sie war die Einzige, mit der sie sich offen austauschen konnte, die Einzige, der sie auch sagen konnte, dass sie zwischendurch immer wieder von Zweifeln an ihrer Berufswahl gequält wurde. Wozu das alles, fragte sie sich auch jetzt. Wenn die Leute sich unbedingt so schnell wie möglich umbringen wollen – warum versuche ich dann immer und immer wieder, sie daran zu hindern?

Aber sie konnte nicht anders, und sie wusste auch, warum: Ihr jüngster Bruder war heroinabhängig gewesen und hatte sich mit siebzehn Jahren den berühmten ›goldenen Schuss‹ gesetzt. Nie konnte sie an ihn denken, ohne dass ihr Tränen in die Augen traten. Sie konnte hier jedenfalls nichts tun, also beschloss sie, zurück in die Innenstadt zu fahren und ihre anderen Besuche vorzuziehen.

Sie wollte die Klinik gerade verlassen, als zwei halblaute Stimmen ihre Aufmerksamkeit auf sich zogen. Sie blieb stehen, sah sich um. Die Stimmen kamen aus einer Ecke, wo ein paar Stühle standen. Grünpflanzen versperrten ihr die Sicht, sie sah nur, dass dort Leute saßen, mehr nicht, aber sie verstand jedes Wort.

»Das waren zwei Jungs, wenn ich es dir sage, höchstens dreizehn, vierzehn Jahre alt, nicht älter. Einer hat gesagt, er ist der Bruder von einem Patienten.«

»Du musst das melden!«

»Hab ich ja, aber die haben mir nicht geglaubt. Ich bin selber Junkie, uns glaubt doch keiner.«

»Aber du nimmst nichts mehr, du bist doch schon fast clean.«

»Fast – aber sie glauben mir trotzdem nicht.«

Inga eilte auf die Sitzecke zu. Zwei erschrockene Augenpaare richteten sich auf sie, in bleichen, ausgezehrten Gesichtern. Die Frauen waren noch jung, aber man musste sich anstrengen, um das zu sehen. Inga schätzte, dass beide schon eine ziemlich lange Drogenkarriere hinter sich hatten.

»Ich glaube Ihnen«, sagte sie ruhig. »Ich bin Sozialarbeiterin und wollte heute jemanden hier besuchen, der jetzt aber leider nicht ansprechbar ist. Bitte, beschreiben Sie mir, was Sie gesehen haben.«

Die Frauen wechselten einen Blick, Inga hielt den Atem an. Drogenabhängige waren misstrauisch, sie redeten nicht mit jedem. Wenn sie Pech hatte, würden die beiden einfach aufstehen und gehen.

Aber das taten sie nicht. Sie blieben und eine von ihnen erzählte, was sie beobachtet hatte.

*

In der Kinderarztpraxis von Antonia Laurin und Maxi Böhler ging es turbulent zu, seit vor ihrer Tür eine Zwölfjährige zusammengebrochen war. Ihre Freundinnen waren so aufgeregt, dass sie kaum vernünftige Sätze herausbrachten.

Das kranke Mädchen hieß Annika, war schneeweiß im Gesicht, hatte Schweißperlen auf Stirn und Oberlippe und reagierte weder auf Fragen, noch auf Berührungen.

Maxi und Antonia brachten Annika in Maxis Sprechzimmer und lagerten sie seitlich, damit sie nicht etwa ihre Zunge verschluckte. Ihr Puls jagte, ihre Temperatur war stark erhöht, sie hatte Herzrasen, und ihre Pupillen waren riesengroß.

»Hat sie etwas eingenommen?«, fragte Antonia die Freundinnen. »Oder ist sie krank, wisst ihr das? Ist so etwas schon öfter vorgekommen?«

»Noch nie«, sagte eins der Mädchen. »Sie war immer gesund.«

Eine andere wich Antonias Blick aus.

»Du weißt doch etwas«, sagte Antonia zu ihr. »Das musst du uns sagen, Annika ist in ernsthafter Gefahr.«

»Jemand hat ihr so bunte Pillen gegeben und gesagt, wenn sie die nimmt, fällt ihr Mathe ganz leicht. Annika ist nämlich ziemlich schlecht in Mathe. Sie hat das geglaubt und die Pillen genommen.«

Maxi rief schon nach Carolin Suder. »Annika muss rüber in die Klinik, Carolin, Verdacht auf Überdosis.«

Carolin stellte keine weiteren Fragen. Gewohnt schnell und umsichtig erledigte sie den Auftrag. Es war nicht das erste Mal, dass sie einen Notfall an die Notaufnahme der Kayser-Klinik abgaben – für Fälle wie diesen, wo jede Minute zählte, war es ein Segen, dass die Praxis in einem Neubauflügel der Klinik untergebracht war.

Robert Semmler und sein älterer Kollege Manuel Degenhardt holten Annika ab. Als Robert Semmler hörte, dass das Mädchen ›bunte Pillen‹ eingenommen hatte, sagte er nur: »Das ist dann heute schon der zweite Fall von Ecstasy, der bei uns in der Klinik landet.«

»Ecstasy«, murmelte Maxi, als auch die aufgeregten Freundinnen von Annika die Praxis wieder verlassen hatten, »nehmen das heute schon Zwölfjährige?«

Das hatte sich Antonia auch gerade gefragt. Sie nahm sich vor, das Thema Drogen beim Abendessen anzuschneiden. Natürlich hatten Leon und sie schon oft mit den Kindern über die Gefahren von Alkohol und anderen Drogen gesprochen und eindringlich davor gewarnt, aber es schadete sicherlich nicht, diese Warnungen zu wiederholen.

*

»Die Taktik ist altbekannt«, sagte Inga niedergeschlagen, als sie sich mit Charlotte traf, »Schülerinnen und Schüler werden gewonnen, indem ihnen kostenlos Drogen zur Verfügung gestellt werden – und sobald die Jugendlichen angebissen haben, hängen sie am Haken und übernehmen Kurierdienste und Ähnliches. Dafür werden sie dann mit Drogen bezahlt. Wir waren ja vorgewarnt, aber das geht jetzt doch plötzlich sehr schnell. Offenbar waren diese neuen Mafiabosse schon eine Weile hier, bevor die Polizei Wind davon bekommen hat.«

»Denkt die Polizei das auch?«

»Ja, offenbar. Die Zusammenarbeit soll weiter verstärkt werden, heißt es. Es gibt ja schon einen Runden Tisch, an dem sich unsere Chefs auch mit Vertreterinnen und Vertretern der Polizei treffen. Hoffentlich nützt es. Und hoffentlich ist es nicht schon zu spät. Ich muss sagen, nach dem heutigen Tag bin ich um einige Illusionen ärmer.«

»Aber ihr habt es doch höchstens mit kleinen Fischen zu tun, die wirklich großen Bosse sind ja bestimmt nicht dort, wo ihr seid. Wie also solltet ihr der Polizei helfen können?«

»Genau weiß das niemand, genau da liegt das Problem. Aber natürlich ist es besser, dass wir miteinander reden.«

»Hast du jemandem von dem Gespräch erzählt, das du heute in der Klinik geführt hast?«

»Meinem Chef, ja. Er ist skeptisch, ob die beiden sich nicht nur wichtigmachen wollten. Ich verstehe das, ich halte seine Reaktion aber für falsch. Die haben mir kein Lügenmärchen aufgetischt. Außerdem ist das genau die Taktik, von der ich eben sprach: Sie spannen Kinder und Jugendliche ein, nachdem sie sie mit Drogen bekannt gemacht haben. Uralte Methode, funktioniert immer noch bestens.«

»Aber wieso schicken sie die Kinder in eine Entzugsklinik?«, fragte Charlotte.

»Das habe ich mich auch schon gefragt. Ich glaube, es ist eine erste Machtdemonstration und bedeutet so viel wie: Ihr könnt euch anstrengen, wie ihr wollt, wir sind stärker als ihr. Ihr denkt, ihr kriegt die Leute weg von den Drogen? Wir zeigen euch jetzt mal, wie leicht sie alle guten Vorsätze vergessen. So in der Art.«

Charlotte nickte. »Klingt einleuchtend. Und ziemlich beunruhigend.«

»Das finde ich auch. Lass uns von etwas anderem reden, von der Liebe zum Beispiel. Wie geht es Fabian?«

Eben noch war Charlotte bedrückt gewesen, als sie dem Bericht ihrer Freundin zugehört hatte, jetzt lächelte sie unwillkürlich.

»Oh nein«, stöhnte Inga, als sie dieses Lächeln sah, »ich hätte nicht fragen sollen!« Aber dann lächelte sie auch, und ihre trübe Stimmung hellte sich zumindest ein bisschen auf.

*

Annika und Linus waren auf dem Weg der Besserung. Später war noch eine weitere Jugendliche in die Kayser-Klinik gebracht worden, eine Vierzehnjährige namens Mona. Sie zeigte ähnliche Symptome wie die beiden anderen, wenn auch niemand etwas von Pillen wusste, die sie eventuell genommen haben könnte. Auch sie konnte gerettet werden.

Die Klinik war in Alarmbereitschaft, auch die Polizei war informiert worden. Leon rief seinen Schwager Andreas Brink an, den Mann seiner Schwester Sandra. Andreas war Kriminaloberkommissar, mit der Drogenfahndung hatte er nichts zu tun, aber natürlich war er informiert.

»Wir wissen schon eine ganze Weile, dass da etwas auf uns zukommt«, sagte er. »Wir haben in dem Bereich das Personal aufgestockt und unsere Zusammenarbeit mit verschiedenen Behörden der Stadt verstärkt. Aber du weißt, die Personalnot bei der Polizei ist immer noch groß, und das dicke Geld hat leider die andere Seite zur Verfügung. Wenn wir das richtig sehen, verteilen sie im Augenblick im großen Stil Drogen an junge Leute, um sich ihre zukünftige Kundschaft heranzuziehen – und natürlich auch ein paar, die sie dann richtig für sich arbeiten lassen.«

»Ihr hättet auch die Krankenhäuser vorwarnen sollen«, sagte Leon.

»Wir haben versucht, uns bedeckt zu halten, um die Drogenbosse in Sicherheit zu wiegen, und bis zu einem gewissen Punkt ist das auch gelungen, aber jetzt scheinen sie sich zum großen Angriff entschieden zu haben.«

»Mir hättest du wenigstens einen Tipp geben können.«

»Das hätte ich schon noch getan, wir dachten, wir hätten mehr Zeit. Nun wissen wir, dass wir uns geirrt haben. Ihr seid nicht die einige Klinik, die es heute mit Ecstasy-Opfern zu tun hatte.«

»Ich kann es mir denken«, brummte Leon.

Nach diesem Gespräch kehrte er in die Notaufnahme zurück, wo mittlerweile deren Leiter Timo Felsenstein zum Dienst angetreten war. Er informierte den Kollegen in knappen Worten, dass in der nächsten Zeit mit weiteren Drogenpatienten zu rechnen sein würde.

»Das habe ich schon befürchtet«, erwiderte Timo. »Wenn es gleich drei solcher Vorfälle an einem Tag gibt, kann das ja kein Zufall sein. Rede mit deinen Kindern darüber! Man kann Warnungen vor Drogen nicht oft genug wiederholen.«

Leon sah ihn betroffen an. Timo hatte natürlich Recht.

Zwar hatten Antonia und er mehr als ein Gespräch über dieses Thema mit den Kindern geführt, aber das letzte lag schon ziemlich lange zurück.

Als er Antonia wenig später anrief, stellte er fest, dass sie den gleichen Vorsatz gefasst hatte: Beim Abendessen würden sie das Thema zur Sprache bringen.

*

»Jetzt sag schon, was los ist, Kyra«, bat Simon Daume, der eigentlich mit seiner Arbeit bei den Laurins fertig war, dem es aber in der Seele wehtat, Kyra so niedergeschlagen zu sehen.

Nicht zum ersten Mal dachte er, dass er zwar hier als ›Haushaltsmanager‹ angestellt war, sich aber weniger wie ein Angestellter als wie ein guter Freund der Familie fühlte.

Kyra fand er besonders liebenswert, weil sie so still und zurückhaltend war in dieser doch eher lebhaften, manchmal auch lauten Familie, und weil sie immer merkte, wenn es jemandem schlecht ging. Sie konnte niemanden leiden sehen, weder Mensch noch Tier – er hielt das für eine Eigenschaft, die selten geworden war.

Sie kam oft als Erste aus der Schule, und dann saß sie bei ihm in der Küche. Manchmal half sie ihm bei den Vorbereitungen fürs Abendessen, manchmal sah sie ihm auch einfach nur zu, erzählte, was sie erlebt hatte, stellte ihm aber auch viele Fragen. Sie erinnerte ihn oft an seine jüngere Schwester Lisa, die nur ein Jahr älter war als Kyra. Er fand es jedenfalls schön, wenn sie bei ihm in der Küche saß, ihre Schüchternheit ablegte und erstaunlich frei und offen sagte, was sie dachte.

Sie hatte ihn nach der Schule nur kurz begrüßt und war dann gleich in ihrem Zimmer verschwunden, was sehr ungewöhnlich war. Erst eine halbe Stunde später war sie wieder nach unten gekommen, mit roten Augen und unglücklichem Gesicht. Sie hatte sich zu ihm in die Küche gesetzt, aber kein Wort gesagt, obwohl er mehrfach versucht hatte, ein Gespräch mit ihr zu beginnen.

Er setzte sich ihr gegenüber. »Rede mit mir«, bat er. »Etwas ist passiert, was dich traurig macht, und vielleicht kann ich dir ja helfen oder dir wenigstens einen Rat geben.«

Er hatte damit gerechnet, dass sie anfangen würde zu weinen, aber die Heftigkeit, mit der sie anfing zu schluchzen, erschreckte ihn doch. Eilig stand er auf, setzte sich neben sie und nahm sie in die Arme. Ihr Weinen verstärkte sich, und sie klammerte sich wie eine Ertrinkende an ihn.

Er ließ sie weinen, reden konnte sie jetzt ohnehin nicht, sie musste sich erst einmal beruhigen. Er fragte sich, was ihr widerfahren war. Sie war ja ein empfindsames Mädchen, das sich alles gleich sehr zu Herzen nahm. Da mochte schon ein böses oder auch nur unbedachtes Wort genügen, um sie zu verletzen.

Endlich hörte sie auf zu weinen. »Ich habe mit Peter gestritten, er will nichts mehr mit mir zu tun haben.«

Das hielt Simon für völlig ausgeschlossen, schließlich kannte er Peter Stadler, der Junge begleitete Kyra manchmal nach Hause. Die beiden waren ein Herz und eine Seele, das waren sie von Anfang an gewesen.

Peter, mit seiner dicken Brille, dem großen Herzen und dem scharfen Verstand, war der perfekte Freund für Kyra: Sie hatten ähnliche Interessen und waren beide, gewissermaßen, ein wenig aus der Zeit gefallen.

Das ist es, dachte Simon, überrascht von seinen Gedanken. Sie sind, falls es das gibt, altmodische Kinder. Sie kümmern sich um andere, sie sind an Äußerlichkeiten nicht sonderlich interessiert, sie diskutieren ernsthaft miteinander über die großen Fragen des Lebens, obwohl sie erst elf Jahre alt sind. Das ist außergewöhnlich.

»Worüber habt ihr denn gestritten?«, fragte er ganz ruhig.

Auf diese Frage hin schwieg Kyra erst einmal. Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum, suchte offenbar nach den richtigen Worten. Schließlich sagte sie: »Du kennst doch Lukas? Mit dem Kevin und Mike jetzt befreundet sind?«

»Den Engel?«, fragte er. So wurde der Junge genannt, was nicht verwunderlich war. Er hatte tatsächlich etwas Engelhaftes an sich. Als er ihn das erste Mal gesehen hatte, war er versucht gewesen, sich die Augen zu reiben.

Kyra nickte. »Findest du ihn schön?«, fragte sie schüchtern.

Oh, nein, dachte Simon. Sie wird sich doch nicht in Lukas verliebt haben?

»Klar«, sagte er, »ich schätze mal, jeder findet ihn schön, er sieht aus wie ein Bild.«

Kyra nickte. »Das habe ich heute gesagt, weil wir ihn gesehen haben. Ich glaube, ich habe das vorher auch schon mal gesagt, weil ich immer denke, er ist irgendwie nicht … nicht echt. Verstehst du das? Weil er so schön ist, meine ich.«

»Natürlich verstehe ich das. Mir geht es ähnlich.«

»Peter denkt, ich bin in ihn verliebt, weil ich ihn schön finde, aber das stimmt nicht. Ich finde Lukas schön, aber sonst kann ich eigentlich nicht viel mit ihm anfangen. Kevin schon, der ist ja mit ihm befreundet, aber ich weiß nicht, was ich mit ihm reden soll. Jedenfalls hat Peter gesagt, er findet mich gemein, weil ich so oft erwähne, wie gut Lukas aussieht.«

»Er denkt also, du vergleichst ihn mit Lukas«, stellte Simon fest.

Kyra hob den Kopf und sah ihn an. »Ja, ich glaube schon, so ähnlich hat er das auch gesagt. Er hat auch noch gesagt, dass er ja wüsste, dass er selbst nicht so gut aussieht – dabei … dabei wollte ich das gar nicht sagen. Ich …« Sie fing wieder an zu weinen, aber dieses Mal beruhigte sie sich schneller wieder.

»Er hat alles ganz falsch verstanden«, sagte sie leise.

»Na ja«, erwiderte Simon nachdenklich, »wenn meine beste Freundin mir öfter erzählen würde, wie gut ein anderer aussieht, würde mich das auch nervös machen, und ich würde mich fragen, warum sie mir das erzählt. Und ich würde mich im Spiegel ansehen und feststellen, dass ich mit dem andern tatsächlich nicht konkurrieren kann, weil er einfach ein Bild von einem Menschen ist, was ja die meisten von uns nicht sind. Das würde mich schon niederschmettern, schätze ich. Überleg mal, wie du es fändest, wenn er dir jeden Tag erzählt, wie schön er die Blonde aus der Parallelklasse findet. Würde dir das gut gefallen?«

Kyra hatte ihm atemlos zugehört. Er sah, dass sie anfing zu begreifen, wodurch sie Peter verletzt hatte. »Aber Lukas interessiert mich doch gar nicht!«, rief sie. »Ich finde ihn nur schön, mehr nicht.«

»Vielleicht solltest du Peter das genau so sagen«, meinte Simon. »Und ich glaube, eine Entschuldigung würde auch nicht schaden. Du hast ihn sicher nicht verletzen wollen, aber es trotzdem getan. Niemandem gefällt es, wenn er mit anderen verglichen wird und dabei schlecht wegkommt. Du hast das so nicht gesehen, aber so ist es bei ihm angekommen.«

Kyra sprang auf, umarmte Simon und sagte atemlos: »Ich muss noch mal weg, danke, Simon.«

»Viel Glück«, rief er ihr nach, aber da fiel die Haustür schon ins Schloss.

Er packte seine Sachen und verließ das Haus ebenfalls. Hoffentlich versöhnten sich die beiden schnell wieder!

*

Britta Stadler war schon zu Hause, als ihr Sohn Peter aus der Schule kam. Sie hatte im Büro eine wichtige Arbeit abschließen können und sich den Rest des Nachmittags freigenommen. Sie freute sich auf ein gemütliches Essen mit ihrem Sohn, doch danach sah es nicht aus. Sein Gesicht war blass und verschlossen, und sofort war sie beunruhigt. Er war zu Beginn ihrer Zeit in München von anderen Jugendlichen verfolgt und gequält worden, ohne ihr etwas davon zu sagen. Das ging ihr noch immer nach. Er hatte ihr damals erklärt, dass sie doch schon genug Stress in ihrem neuen Job gehabt habe, er habe sie nicht zusätzlich belasten wollen. Seitdem hatte sie Angst, etwas Ähnliches könnte noch einmal passieren, obwohl in letzter Zeit nichts darauf hingewiesen hatte. Na ja, wenn man von der Geschichte mit dem Jungen im Park absah. Die hatte er ihr auch verschwiegen, aber da war es nicht um ihn gegangen, sondern er hatte jemanden anders schützen wollen, also konnte man das wohl nicht miteinander vergleichen.

Er wollte sofort in sein Zimmer gehen, aber sie verstellte ihm den Weg. »Rede mit mir«, bat sie, »auch wenn ich dir vielleicht nicht helfen kann.«

Zuerst versteifte er sich, wollte nichts sagen, aber sie ließ nicht locker, bis die ganze elende Geschichte seines ersten Streits mit Kyra endlich aus ihm herausfloss wie ein Strom heißer Lava. Sie hätte ihn am liebsten in die Arme genommen, ihn an sich gedrückt, ihm erklärt, dass er Kyra mit Sicherheit ganz falsche Beweggründe für ihre Äußerungen unterstellte, aber sie traute sich nicht, und er hätte ihr ohnehin nicht zugehört. Er war in einer so elenden Verfassung, dass ihr das Herz blutete. Ihn so tief verletzt und gedemütigt zu sehen, weil er glaubte, seine allerbeste Freundin sei dabei, sich von ihm ab- und einem schönen anderen Jungen zuzuwenden, war beinahe mehr, als sie ertragen konnte.

Als es klingelte, bat sie: »Bleib hier, verschwinde nicht in deinem Zimmer. Ich habe einiges dazu zu sagen« und eilte zur Tür.

Kyra stand vor ihr, mit rotgeweinten Augen und so unglücklich aussehend, dass Britta statt ihres Sohnes nun Kyra in die Arme nahm. »Er hat alles falsch verstanden«, schluchzte das Mädchen.

»Dann geh zu ihm und sag ihm das, geh!«

Kyra eilte ins Haus, sah Peter wie angewurzelt an der Küchentür stehen, stürzte weinend auf ihn zu und schlang ganz einfach ihre Arme um ihn.

Britta hielt es für das Beste, sich zurückzuziehen. Ab jetzt schafften die beiden das sicher allein.

*

»Was ist eigentlich mit Lukas los?«, fragte Mike. »Der ist ja plötzlich ganz verändert. Findest du nicht?«

»Doch«, sagte Kevin, »er geht uns sogar aus dem Weg, ist dir das auch schon aufgefallen?«

»Konnte mir ja schwer verborgen bleiben.« Mike sah sich um, aber Lukas war schon weg, wie in letzter Zeit meistens. Es kam nur noch selten vor, dass sie den ersten Teil ihres Heimwegs gemeinsam zurücklegten.

»Er macht keine Hausaufgaben mehr und ich glaube … also, ich glaube, wenn er nicht zur Schule kommt, ist er gar nicht krank, sondern er schwänzt«, fuhr Kevin fort.

»Aber sein Vater würde doch keine Entschuldigungen unterschreiben, wenn er gar nicht krank wäre!«

Kevin warf Mike einen schrägen Blick zu. »Das musst du gerade sagen, du hast doch auch schon Unterschriften gefälscht.«

»Aber schon lange nicht mehr«, entgegnete Mike. »Schon sehr lange nicht mehr.« Beinahe gekränkt setzte er hinzu: »Aus dem Alter bin ich heraus.«

»Wie auch immer, etwas stimmt da nicht, aber man kann ja nicht mit ihm reden.«

»Vielleicht hat er andere Freunde gefunden, mit denen er lieber zusammen ist als mit uns.«

»Kann sein«, sagte Kevin. »Wir sprechen ihn morgen noch einmal ganz direkt darauf an, so dass er uns nicht ausweichen kann. Ich habe nämlich irgendwie ein blödes Gefühl, so, als wäre er in schlechte Gesellschaft geraten oder so.«

»Und was soll das sein, schlechte Gesellschaft?«

»Na ja, rauchen, trinken, Schule schwänzen, herumlungern, vielleicht auch noch klauen und so …«

Mike war aufrichtig schockiert. »Klauen? Du denkst, Lukas klaut?«

Kevin zögerte. »Ich habe neulich zufällig mal gesehen, dass er ziemlich viel Geld bei sich hatte – große Scheine. Ich glaube schon, dass er mehr Taschengeld bekommt als wir, aber so viel? Das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Du meinst, er klaut Sachen und verkauft die dann?«

»Mir ist nichts anderes eingefallen. Und wenn du Leute kennst, die das machen …«

»Willst du ihn danach auch fragen?«

»Bestimmt nicht, er würde uns die Wahrheit doch sowieso nicht sagen.«

»Er ist unser Freund«, sagte Mike. »Wenn du denkst, er ist auf die schiefe Bahn geraten, können wir nicht einfach zusehen.«

»Und was willst du tun?«

»Wir könnten ihn heimlich beobachten.«

»Uns auf die Lauer legen und Detektiv spielen?«

»Ja, so in der Art.«

»Okay, aber zuerst versuchen wir noch mal mit ihm zu reden.«

Mit diesem Vorsatz trennten sie sich wenig später.

*

»Hey«, sagte Fabian, als er das Zimmer seines Sohnes betrat. »Bist du etwa eingeschlafen?«

Lukas fuhr in die Höhe, sah ihn verwirrt an. »Äh … ja«, sagte er dann. »Tut mir leid, Papa. Ich war auf einmal so müde.«

»Ist ja nichts Schlimmes. Aber wieso? Du schläfst doch eigentlich genug.«

»Keine Ahnung, ich habe mich vorhin nicht so gut gefühlt, als ich aus der Schule gekommen bin.«

»Brauchst du einen Arzt? Hast du Fieber?« Fabian legte eine Hand auf Lukas’ Stirn, bevor dieser zurückweichen konnte. Sie kam ihm heiß vor.

»Nee, so schlimm ist es nicht.« Lukas schwang die Beine vom Bett und lächelte seinen Vater an. »Du kennst mich doch, ich werde nicht krank.«

»Na, hoffentlich. Ich wollte eigentlich nur sagen, dass ich zu Hause bin. Außerdem steht unten ein sehr leckerer Auflauf von Frau Schröder, den können wir gleich essen.«

Frau Schröder war die Haushälterin, die das Haus in Ordnung hielt und zum Glück gut kochen konnte.

»Ich habe keinen großen Hunger.«

»Das hast du in letzter Zeit öfter gesagt, meiner Meinung nach ist das ein Zeichen dafür, dass etwas nicht in Ordnung ist. Wir werden einen Arzt aufsuchen und dich einmal gründlich untersuchen lassen.«

»Bitte nicht, Papa, ich … ich kann Ärzte nicht ausstehen«, sagte Lukas, als sie sein Zimmer verließen.

»Seit wann denn das?«

»Schon immer«, behauptete Lukas.

An diese Abneigung konnte sich Fabian zwar nicht erinnern, aber wenn Lukas es sagte, würde es schon stimmen. Der Junge aß dann doch etwas, das erleichterte ihn.

»Kommt Charly heute nicht?«, fragte Lukas.

»Nein, sie hat sehr viel zu tun im Moment, und ich glaube, sie braucht ab und zu auch mal ein bisschen Abstand.«

»Du nicht?«, wollte Lukas wissen.

»Weniger als sie, schätze ich.«

»Willst du sie heiraten?«

»Hättest du etwas dagegen?«

»Nee, wieso denn? Sie ist super, ich mag sie sehr gern, hab ich doch schon öfter gesagt.«

»Ich mag sie auch sehr gern, ich würde sie sofort heiraten, aber ich bin fast zehn Jahre älter als sie, und ich will sie nicht bedrängen. So lange sind wir ja noch nicht zusammen. Außerdem ist es für eine junge Frau wahrscheinlich auch nicht einfach, nicht nur zu heiraten, sondern auch gleich Mutter eines Teenagers zu werden. Aber du bist ja zum Glück pflegeleicht, das hat sie natürlich auch schon festgestellt.«

Lukas lächelte sein strahlendes Lächeln, er sah auch nicht länger krank aus.

Er war wohl doch einfach nur müde gewesen.

*

»Wir müssen heute über Drogen reden«, sagte Leon beim Abendessen, ohne sich lange mit Vorreden aufzuhalten.

Vier erstaunte Augenpaare richteten sich auf ihn.

»Wieso das denn?«, fragte Kaja. »Irgendwie habe ich das Gefühl, wir reden dauernd darüber.«

»Schon lange nicht mehr«, widersprach Konstantin. »Obwohl ich in letzter Zeit öfter von Drogen höre, in der Filmszene sind sie ein großes Thema.«

Antonia sah ihren Ältesten erschrocken an. »Bei eurem Film auch?«

»Nein. Ich weiß nicht, ob jemand mal einen Joint raucht, wahrscheinlich schon, aber mehr bestimmt nicht, darauf achten die Produzenten schon deshalb, weil Drogenkonsum natürlich gefährlich für sie ist. Wenn ein Schauspieler ausfällt, kostet das sofort viel Geld, davor haben sie also Angst.«

Es war für die Familie noch immer ungewohnt, dass Konstantin zurzeit nicht zur Schule ging, sondern einen Film drehte. Es war ein langer Prozess gewesen, bis Antonia und Leon ihre Zustimmung gegeben hatten. Die endgültige Entscheidung war erst bei der Schultheateraufführung gefallen: Sie hatten Konstantin spielen sehen und sofort gewusst, dass sie ihm keine Steine mehr in den Weg legen würden.

Anders sah es bei Joachim Kayser aus, Konstantins Opa: Er hoffte nach wie vor, dass der Junge zu seinem ursprünglichen Plan zurückkehrte, Medizin zu studieren, um eines Tages gemeinsam mit Kaja die Leitung der Kayser-Klinik zu übernehmen.

»Wieso müssen wir über Drogen reden, Papa?«, wollte Kevin wissen.

»Wir hatten heute drei Notfälle in der Klinik, Jugendliche in eurem Alter, die offenbar Ecstasy genommen hatten – in Form von bunten, harmlos aussehenden Pillen.«

»Ein Mädchen ist direkt vor unserer Praxis zusammengebrochen«, berichtete Antonia. »Es war ein Glück für sie, dass sie so schnell Hilfe bekommen hat.«

»Ich habe mit eurem Onkel Andy darüber gesprochen«, fuhr Leon fort, »es scheint, dass sich eine neue ›Drogen-Familie‹ hier in München und Umgebung niedergelassen hat, deren Mitglieder Kinder und Jugendliche zuerst mit kostenlosen Drogen versorgen, um sie dann, wenn sie abhängig sind, für ihre Zwecke missbrauchen zu können.«

»Als Kuriere oder so?«, fragte Kevin.

»Ja. Ich möchte, dass ihr euch wappnet für den Fall, dass jemand an euch herantritt und euch dieses Zeug anbietet. Lehnt immer und unter allen Umständen ab. Und wenn ihr etwas Verdächtiges bemerkt, erzählt es uns. Oder euren Lehrern.«

»Oder Onkel Andy«, sagte Kyra, die bis jetzt geschwiegen hatte.

»Richtig.« Leon warf seiner Jüngsten einen prüfenden Blick zu. »Ist alles in Ordnung, Kyra? Du kommst mir ein bisschen blass vor.«

Kyra wurde prompt rot, dann sagte sie ernsthaft: »Peter und ich hatten einen Streit, der war schlimm, aber jetzt ist alles wieder in Ordnung.«

Alle warteten darauf, dass sie noch mehr verriet, aber das hatte sie offenbar nicht vor, denn sie widmete sich angelegentlich ihrem Essen.

Antonia beendete das erwartungsvolle Schweigen, indem sie zum Thema ›Drogen‹ zurückkehrte. »Also, seid auf der Hut, das ist eigentlich alles, was wir euch sagen wollten. Wir haben gehört, dass auch in anderen Krankenhäusern ähnliche Notfälle wie bei uns eingeliefert worden sind. Andy meinte, das sei erst der Anfang.«

»Wenn man Ecstasy nimmt«, begann Kevin zögernd, »was passiert dann?«

»Man merkt nicht mehr, wenn man müde wird oder hungrig oder durstig. Deshalb wird es auch ›Partydroge‹ genannt, weil man nächtelang durchtanzen kann. Zugleich schlägt das Herz schneller, der Puls erhöht sich, die Pupillen weiten sich«, erklärte Antonia. »Die Leute werden also unruhiger. Wenn sie nichts nehmen, zum Beispiel, weil sie arbeiten oder zur Schule gehen müssten, werden sie dagegen lustloser und antriebsloser, können sich dann oft auch nicht mehr aufraffen, pünktlich irgendwo zu erscheinen. Sie wechseln ihren Freundeskreis, weil ihnen der bisherige langweilig vorkommt.«

»Wieso weißt du das so genau, Mama?«, fragte Kaja.

»Weil ich es nachgelesen habe, nachdem diese Mädchen ihre Freundin zu uns gebracht hatten und ich von eurem Vater hörte, dass es sich bei der eingenommenen Substanz um den Wirkstoff handelt, der sich in Ecstasy befindet.«

»Wobei eine weitere Gefahr ist«, setzte Leon noch einmal an, »dass in den Pillen alles Mögliche stecken kann, von dem man dann nicht weiß, welche Wirkungen es hat. Der ursprüngliche Wirkstoff wird gern gestreckt, das ist ja alles eine Frage des Geldes. Auch Drogenbosse sparen gern unnötige Ausgaben – und warum sollen sie teure Wirkstoffe verarbeiten, wenn es auch billiger Dreck tut.«

Leons Stimme war unwillkürlich lauter geworden.

»Schon gut, Papa, wir lassen uns bestimmt nichts andrehen«, sagte Konstantin.

»Ganz bestimmt nicht«, bekräftigte Kevin.

»Gehen die auch an Schulen?«, fragte Kaja.

»Vor allem, nehme ich an. Wo sonst finden sie so viele Jugendliche an einem Ort? Sie müssen nur die geeigneten Opfer finden, aber ich nehme mal an, das schaffen sie leicht. Man bekommt vermutlich mit der Zeit einen Blick dafür, wer zugänglich für unhaltbare Versprechen ist und wer nicht.«

Ein vergnügtes Abendessen war es dieses Mal nicht gewesen. Sehr nachdenklich zogen sich die Laurin-Kinder danach in ihre Zimmer zurück.

»Ich denke nicht, dass wir uns Sorgen um sie machen müssen, Leon«, sagte Antonia.

»Um sie nicht, da gebe ich dir Recht, aber um sehr viele andere«, erwiderte er düster.

Sie ließ setzte sich zu ihm aufs Sofa und ließ den Kopf an seine Schulter sinken. Erst jetzt merkte sie, wie müde sie war.

*

Zwei Tage später sah Charlotte vor der Haustür von Fabians Haus zwei bunte Pillen, die sie zunächst für eine Süßigkeit hielt: Schokolade mit buntem Überzug aus Zucker.

Fabian war schon ins Büro gefahren, auch Lukas hatte das Haus bereits verlassen. Sie wollte schon vorübergehen, als ihr wieder einfiel, was Inga ihr vor kurzem erzählt hatte, als sie in der Entzugsklinik gewesen war: Da war ja auch von bunten, harmlos aussehenden Pillen die Rede gewesen, die jemand unter den Patienten verteilt hatte. Und ihr fiel ein, dass Fabian ihr erst gestern erzählt hatte, er mache sich Sorgen um Lukas, der sei in letzter Zeit so antriebslos, jedenfalls während der Woche, erst am Wochenende werde er meistens wieder munter.

Sie stand da, dachte nach, und merkte, wie ihre Kehle trocken wurde. Sie hatte Lukas in letzter Zeit nicht oft gesehen, es hatte immer ganz normal klingende Begründungen dafür gegeben. Auch heute Morgen waren sie einander nur kurz begegnet: Er war aufgeregt gewesen wegen einer Mathe-Arbeit und hatte deshalb keinen Hunger gehabt, sondern das Haus früher als sonst verlassen.

Er war nur kurz an der Tür aufgetaucht, um sich zu verabschieden. Sie war über seinen Anblick erschrocken, er hatte müde und irgendwie … ja, fertig ausgesehen, aber unter ihrem prüfenden Blick hatte er dann sein strahlendes Lächeln angeknipst, und sie hatte sich täuschen lassen. Sie war blind gewesen! Und Fabian auch, aber er war auch nicht vom Fach, während sie die Zeichen der Zeit längst hätte erkennen müssen.

Sie steckte also die Pillen ein und machte sich auf den Weg ins Büro. Heute würde sie überwiegend dort arbeiten, Akten überprüfen, telefonieren, Termine ausmachen.

Sie war kaum da, als sie auch schon Inga anrief. »Ich muss mit dir reden, dringend«, sagte sie.

»Liebeskummer?«, fragte Inga.

»Nein, bunte Pillen.«

»Oh!« Mehrere Sekunden lang herrschte Schweigen, dann sagte Inga: »Ich bin gerade unterwegs, kann aber einen kleinen Umweg machen. Du bist im Büro?«

»Ja.«

»Bin in fünf Minuten bei dir.«

Sie brauchte sogar nur vier. Als Charlotte ihr die Pillen zeigte, zog sie scharf die Luft ein. »Ich lasse sie untersuchen«, sagte sie. »Woher hast du die?«

»Bei Fabian vor der Haustür gefunden.«

»Der Junge?«

»Das nehme ich an. Fabian sagt, er ist während der Woche dauernd müde, aber am Wochenende wird er offenbar munter. Ich sehe ihn kaum noch, ich glaube, er geht mir bewusst aus dem Weg, weil er weiß, dass ich ihn schneller durchschaue als sein gutgläubiger Vater. Heute Morgen habe ich ihn kurz gesehen. Er sieht völlig fertig aus, kann das mit seinem Lächeln aber noch einigermaßen überspielen.«

»Ich sag dir Bescheid, wenn die Ergebnisse vorliegen. Rede vorher mit niemandem darüber – auch mit Fabian nicht. Er würde den Jungen zur Rede stellen, dann wäre er gewarnt und wir hätten nichts erreicht. Vielleicht kämen wir über ihn ja wenigstens an ein paar von den Strippenziehern heran.« Sie warf Charlotte einen prüfenden Blick zu. »Schaffst du das?«

»Nichts zu sagen?«

»Ja, natürlich, was sonst?«

»Ich schaffe das.«

»Ich kann mir vorstellen, dass das nicht angenehm für dich ist.«

»Nicht angenehm ist die Untertreibung des Jahres. Es ist scheußlich, Inga, es kommt mir vor, als würde ich Fabian betrügen.«

»Du verschweigst ihm etwas, das hat mit betrügen nichts zu tun.«

»Es kommt mir aber so vor«, seufzte Charlotte. »Lukas ist sein Sohn, Fabian will, dass es ihm gut geht. Wenn er erfährt, dass der Junge möglicherweise Drogen nimmt …«

Inga nahm sie in den Arm. »Sehr lange tut er das ja offenbar noch nicht, also stehen die Chancen, dass er die Kurve kriegt, wenn er auffliegt, nicht schlecht. Ich melde mich, sobald ich etwas weiß.«

Inga ging, und Charlotte brauchte mehrere Minuten, bis es ihr gelang, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren.

*

Mike stand wie angewurzelt, als er Lukas in die dicke schwarze ­Limousine mit den verdunkelten Scheiben steigen sah. Die gehörte jedenfalls nicht seinem Vater, so viel stand fest, der fuhr zwar auch ein großes Auto, das sah aber völlig anders aus, und natürlich hatte es keine dunklen Scheiben.

Und der Typ mit der verspiegelten Sonnenbrille, der gleichzeitig mit Lukas eingestiegen war, sah auch nicht aus wie ein guter Bekannter von Lukas’ Vater. Eher sah er aus wie … ja, wie ein Gangster, dachte Mike, der sich leidenschaftlich gern amerikanische Gangsterfilme ansah.

Sie hatten sich ja vorgenommen, Kevin und er, Lukas ein bisschen zu beobachten. Kevin hatte heute keine Zeit, also hatte Mike das übernommen. Schwer war es nicht gewesen, denn nach der Schule hatte Lukas zu ihnen gesagt, er habe noch etwas zu erledigen. »Bis morgen dann.«

»Ich folge ihm«, hatte Mike zu Kevin gesagt und das auch getan.

Lukas war offenbar nicht einmal auf die Idee gekommen, dass jemand ihn verfolgen und beobachten könnte. Umgedreht hatte er sich jedenfalls kein einziges Mal.

Mike fotografierte die Limousine und kam sich dabei vor wie ein Detektiv. Erst als sich die Limousine in Bewegung setzte und wegfuhr, stellte er fest, dass das Kennzeichen nicht zu lesen war. Es war so kunstvoll mit Dreck bespritzt, dass nur die letzte Ziffer erkennbar war.

Kurz zuckte ihm die Idee durch den Kopf, zum nächsten Taxistand zu stürzen und dem Fahrer zu sagen: »Folgen Sie der schwarzen Limousine da vorn!« In jedem seiner Lieblingsfilme kam diese Szene vor, aber er hatte nicht genug Geld – außerdem nahm er an, dass man ihn auslachen würde. »Wohl zu viel amerikanische Gangsterfilme gesehen, was?«

Die Limousine bog ab, er konnte nichts mehr tun. Das frustrierte ihn. Insgeheim hatte er gehofft, er werde Kevin später von handfesten Ergebnissen berichten können.

Kevin hatte ihm heute Morgen von dem Gespräch erzählt, das seine Eltern beim Abendessen mit ihren Kindern geführt hatten, und vor allem hatte er ihm ausführlich erzählt, welche Folgen es hatte, wenn jemand Ecstasy nahm. »Das passt alles auf Lukas, Mike! Aber solange wir keine Beweise haben, können wir auch nicht mit ihm darüber reden.«

Sie waren sich einig darin, dass sie Lukas helfen mussten. Sie würden ihn nicht anschwärzen, sondern ihm sagen, was sie herausgefunden hatten, so dass er gar nicht anders konnte, als mit den Drogen wieder aufzuhören. So war zumindest der Plan. Das bedeutete also, sie brauchten erst einmal einen Beweis dafür, dass ihre Vermutung richtig war, denn sonst hatten sie kein Druckmittel in der Hand.

Und nun gab es nichts als ein Foto, das zeigte, wie Lukas in eine Limousine mit verspiegelten Scheiben einstieg, deren Kennzeichen nicht zu lesen war. Das war ziemlich dürftig.

Während Mike noch mit sich und der Welte haderte, tauchte die Limousine wieder auf und hielt am selben Platz wie zuvor. Mike zückte wieder sein Handy. Lukas stieg aus, und Mike fiel sofort auf, was sich verändert hatte: Sein vorher schlaff herunterhängender Rucksack war jetzt offenbar gut gefüllt.

Er machte weitere Fotos. Die Limousine fuhr davon, und Lukas setzte sich in Bewegung.

Mike folgte ihm, aber er ahnte bald, dass er nichts mehr zu sehen bekommen würde, und mit dieser Vermutung lag er richtig: Lukas schlug den Weg nach Hause ein.

*

»Drei weitere Fälle«, sagte Timo Felsenstein, als er sich mit Leon und Eckart zu einer kurzen Besprechung traf. »Alles Jugendliche, der Älteste ist sechzehn, die beiden anderen sind dreizehn und vierzehn. Alles Jungs dieses Mal. Die Polizei weiß schon Bescheid. Die werden jetzt tätig, ab morgen gibt es Razzien – aber das muss unter uns bleiben.«

»Wie schlimm waren die Fälle?«, fragte Leon, der an diesem Tag seine gynäkologische Sprechstunde hatte und deshalb überhaupt noch nicht in der Notaufnahme gewesen war.

»Schlimm genug«, sagte Timo. »Der Sechzehnjährige war völlig dehydriert, hatte offenbar seit Tagen nichts gegessen und war auch nicht in der Schule gewesen. Die Eltern sind aus allen Wolken gefallen. An die Schule hatte er eine von den Eltern unterschriebene Entschuldigung geschickt. Die beiden anderen Fälle waren leichter, die Jungs hatten das Zeug offenbar zum ersten Mal genommen und waren mit der Menge vorsichtiger gewesen.«

»Und immer Ecstasy?«

»Ja, aber versetzt mit anderen Stoffen, ein ziemlich unerfreulicher Cocktail, hochwirksam und sehr schädlich. Wenn ihr mich fragt: Höchste Zeit, dass die Polizei ein paar deutliche Zeichen setzt«, erwiderte Timo.

Leon und Eckart stimmten ihm zu, dann erhob sich Leon. »Ich muss zurück in meine Sprechstunde, aber haltet mich bitte auf dem Laufenden.«

»Ich hoffe, ihr habt eure Kinder gewarnt?«

»Eindringlich«, versicherte Leon.

Als er die Notaufnahme verließ, stellte er fest, wie froh er war, sich in den nächsten Stunden weder mit schweren Verletzungen noch mit Drogen beschäftigen zu müssen. Das liebte er nach wie vor an der Gynäkologie: Da hatte er es sehr häufig mit gesunden Frauen zu sein, die vor allem einen Wunsch hatten: ein Baby zu bekommen.

Timo hingegen musste sich jetzt verstärkt mit den Gefahren herumschlagen, die der Stadt und dem Umland durch eine Überschwemmung mit Drogen drohten.

*

»Was ist los, Charly?«, fragte Fabian. »Dich bedrückt doch etwas, oder?«

Ja, dachte sie, mich bedrückt tatsächlich etwas, aber ich kann nicht mit dir darüber reden. »Ich bin nur müde«, behauptete sie. »Meine Arbeit ist extrem anstrengend im Moment.«

Er zog sie in seine Arme. »Und trotzdem möchtest du nichts anderes tun«, sagte er. »Ich bewundere dich dafür.«

»Es ist einfach das, was mich am meisten interessiert und wofür ich auch, glaube ich, die größte Begabung habe. So ist das doch bei dir auch. Du hast dir den Beruf gesucht, von dem du denkst, dass du ihn gut ausüben kannst.«

»Das stimmt. Aber mich schüchtert das ein, was du tust. Es ist nützlich, du hilfst Menschen. Während ich mich manchmal frage, wem es eigentlich nützt, wenn ich dafür sorge, dass unser Unternehmen noch ein paar Autos mehr nach China und in die USA verkauft.«

»Na ja, nicht alle Menschen können soziale Berufe ausüben«, stellte Charlotte nüchtern fest. »Ohne Handwerker zum Beispiel liefe auch nichts. Und ohne Ingenieure, die neue Autos entwickeln. Und irgendwer muss sie dann ja auch verkaufen.«

Er lachte leise. »Das hast du sehr schön gesagt, vielen Dank.«

Sie ließ ein paar Sekunden verstreichen, bevor sie beiläufig fragte: »Ist Lukas in seinem Zimmer? Ich kriege ihn in letzter Zeit ja kaum noch zu Gesicht.«

»Nein, er wollte mit Freunden ins Kino.« Fabian zögerte. »Ich glaube, er hat jetzt neue Freunde, bei einem von ihnen will er das nächste Wochenende übernachten.«

»Und Kevin und Mike?«

»Von denen redet er gar nicht mehr. Ich habe sie auch nicht mehr gesehen, vielleicht haben sie sich gestritten. Einmal habe ich danach gefragt, aber er wollte nicht so recht mit der Sprache herausrücken.«

»Schade, das waren sehr nette Jungs.«

»Ja, finde ich auch, aber du weißt ja, wie Dreizehnjährige sind: Wenn man ihnen zu nahekommt, verschließen sie sich wie Austern.«

Als sie sich später liebten, ertappte sich Charlotte zum ersten Mal dabei, dass sie sich nicht wie sonst fallenlassen konnte.

Der Gedanke, dass ihr Schweigen über die Pillen, die sie vor der Haustür gefunden und dann an Inga weitergegeben hatte, eine Art Betrug war, ließ sich einfach nicht ausschalten.

Fabian schien nichts zu bemerken, und so kam es, dass sie sich gleich doppelt wie eine Betrügerin fühlte und lange nicht einschlafen konnte.

*

»Und was machen wir jetzt damit?«, fragte Kevin in der Großen Pause am nächsten Tag. Noch am Abend zuvor hatte Mike ihm ausführlich Bericht erstattet. »Beweise sind das nicht.«

»Ich weiß«, sagte Mike niedergeschlagen. »Ich hatte mir das irgendwie einfacher vorgestellt.«

»Und wenn wir Lukas doch direkt ansprechen?«

»Er wird alles abstreiten, was denkst du denn? Auf den Fotos ist er noch nicht einmal eindeutig zu erkennen, weil er diese komische Kappe trägt.«

»Vielleicht liegen wir auch falsch«, sagte Kevin nachdenklich. »Er will nicht mehr unser Freund sein, deshalb muss er ja nicht gleich Drogen nehmen oder damit handeln.«

»Charly könnten wir vielleicht mal fragen«, schlug Mike nach einer Weile vor.

»Die hat doch mit Drogen nichts zu tun.«

»Indirekt schon. Die Jugendlichen, die sie betreut, stammen ja zum Teil aus Familien, wo die Eltern drogensüchtig sind. Zumindest kennt sie sich damit besser aus als die meisten anderen Erwachsenen, die wir kennen.«

»Meine Eltern kennen sich auch aus«, sagte Kevin zögernd, »aber denen möchte ich nicht gern von Lukas erzählen, die würden sich sofort Sorgen machen, dass ich da irgendwie reingezogen werden könnte.«

»Aber Ärzte wären nicht schlecht, die stehen unter Schweigepflicht«, meinte Mike.

Sie konnten ihre Diskussion nicht beenden, denn es schellte zum Ende der Pause. Lukas war an diesem Morgen pünktlich gewesen und hatte sich sogar am Unterricht beteiligt – beides war mittlerweile eine Seltenheit geworden. Er hatte sogar ein paar Worte mit ihnen gewechselt.

Aber er war nicht mehr der Lukas, mit dem sie sich, als er neu in ihre Klasse gekommen war, befreundet hatten. Er war ihnen beinahe fremd geworden.

*

»Bunte Pillen?«, fragte Peter, als Kyra ihm von dem Gespräch erzählte, das ihre Eltern am Abend zuvor mit allen Kindern geführt hatten.

»Ja, die sehen ganz harmlos aus, aber sie sind es nicht. Und angeblich werden sie zuerst kostenlos an Jugendliche verteilt, damit die sie probieren und dann süchtig werden und sie kaufen wollen. Weil die meisten kein Geld haben, müssen sie dann für die Drogenleute arbeiten – und als Lohn kriegen sie Drogen.«

Peter sah sich um, um sich zu vergewissern, dass niemand ihr Gespräch belauschte. »Die werden hier an der Schule auch verteilt«, sagte er leise. »Das habe ich neulich gesehen.«

»Von wem denn?«

»Ich kannte die nicht, es waren zwei größere Jungs, ich glaube nicht, dass die hier auf der Schule sind.« Er wurde ganz aufgeregt. »Ich bin aber auch blöd, dass ich an Drogen überhaupt nicht gedacht habe, Kyra!«

»Du bist nicht blöd«, widersprach sie. »Wenn wir die Jungs noch mal sehen, melden wir sie.«

»Die sehen wir garantiert nicht wieder«, sagte er. »Mir hätte das gleich auffallen müssen, dass die sich komisch verhalten haben.«

»Was meinst du damit?«

»Na ja, es war schon klar, dass sie nicht wollten, dass man sah, was sie da verteilt haben.«

»Und alle haben das angenommen?«

»Wer weiß, was sie erzählt haben? Die haben doch bestimmt nicht gesagt, dass das gefährliches Zeug ist. Wahrscheinlich haben sie gesagt, dass man sich gut fühlt, wenn man es nimmt und dass einem das Lernen leichter fällt. Darauf fallen bestimmt viele herein, meinst du nicht?«

»Schon«, sagte Kyra. »Wenn ich das zu Hause erzähle, haben meine Eltern noch mehr Angst. Aber ich glaube, es wäre besser, es ihnen zu sagen.«

Peter nickte. »Ich erzähle es auch meiner Mutter.« Er sah Kyra an. »Ich bin froh, dass wir keinen Streit mehr haben. Das war ein echt ekliges Gefühl.«

Sie nickte ernsthaft. »Mir war ganz schlecht«, sagte sie. »Ein Glück, dass Simon zu Hause war.«

Peter machte einen Schritt auf sie zu und griff nach ihren beiden Händen. »Ich habe dich ganz schrecklich gern, Kyra.«

Das Blut schoss ihr in die Wagen, aber ihre Augen strahlten ihn an. »Ich habe dich auch schrecklich gern!«

*

»Ecstasy, eindeutig«, sagte Inga. »Leider.«

Charlotte schloss die Augen. »Und was jetzt?«, fragte sie.

»Lass mich mit meinem Chef darüber reden, ja? Es waren zwei Pillen, mehr nicht, damit macht sich niemand strafbar. Aber wenn man über Lukas an die Quellen kommen könnte, wären wir schon einen Schritt weiter.«

»Aber dann erfährt die Polizei davon und …«

»Jetzt mal langsam, so weit sind wir noch längst nicht. Außerdem ist die Polizei weniger an kleinen Drogenabhängigen interessiert als an größeren Strukturen.«

»Inga, bitte. Ich muss mit Fabian darüber reden.«

»Dann warnt er seinen Sohn, und wir erfahren gar nichts.«

Charlotte lehnte sich zurück und schloss müde die Augen. »Hätte ich diese blöden Pillen doch bloß nicht gesehen«, sagte sie.

»Es ist gut, dass du sie gesehen hast«, widersprach Inga. »Lass mich mit meinem Chef reden. Es hätte sowieso wenig Sinn, Lukas zu befragen, er würde alles abstreiten.«

»Was willst du denn sonst tun?«

»Ihn beobachten vielleicht, was weiß denn ich? Ich bin ja nicht bei der Polizei. Aber irgendwann muss er sich ja mit den Leuten treffen, die ihm das Zeug verkaufen. Vielleicht kommen die so weiter.«

»Glaubst du das im Ernst? Du sagst doch selbst, dass man immer nur die kleinen Dealer erwischt, während die großen Bosse in irgendwelchen schicken Büros sitzen und natürlich unantastbar sind.«

»Kann gut sein, dass es darauf hinausläuft, aber ab und zu gelingt der Polizei dann ja doch ein großer Schlag gegen die Drogenmafia, und meistens fängt das mit einem Hinweis an, der zunächst ganz harmlos wirkt.«

»Rede mit deinem Chef, aber behalte Lukas’ Namen für dich, versprich mir das. Ich will Fabian nicht verlieren, Inga.«

»Das wirst du auch nicht«, sagte Inga, bevor sie ging.

Erst als sie weg war, fiel Charlotte auf, dass ihre Freundin ihr das gewünschte Versprechen nicht gegeben hatte.

*

Als es zum Ende des Unterrichts geklingelt hatte, sprangen alle von ihren Stühlen, froh, sich endlich wieder bewegen zu können, doch sie konnten die Klassenräume nicht verlassen, denn an deren Türen erschienen jeweils mehrere Polizeibeamte. Sie wurden gebeten, sich wieder auf ihre Plätze zu setzen.

»Was soll das denn?«, fragte Kevin entgeistert.

Ein großes Durcheinander herrschte, Unmut wurde geäußert, es gab kleine Rangeleien.

Lukas rempelte Kevin an und entschuldigte sich sofort. »Tut mir leid«, sagte er, »bin gestolpert.«

»Schon okay«, sagte Kevin. »Ich möchte mal wissen, was das soll. Wieso ist denn Polizei in der Schule?«

»Keine Ahnung«, erwiderte Lukas, »aber sie sagen es uns bestimmt gleich.«

Eine junge Beamtin stellte sich vor die Klasse. »Wir durchsuchen jetzt jeden einzelnen von euch, auch eure Schultaschen. An dieser Schule wird mit Drogen gehandelt, dieses ist also eine Razzia. Wir bitten euch, Ruhe zu bewahren und unsere Arbeit nicht zu behindern.«

Lautes Gemurmel erhob sich, aber größere Unruhe blieb aus. Alle saßen jetzt wieder an ihren Plätzen, die Beamten gingen systematisch vor und waren sehr gründlich. Wer durchsucht worden war, durfte gehen.

Mike warf Lukas verstohlene Blicke zu, doch der wirkte völlig entspannt. Hieß das, dass sie ihn zu Unrecht verdächtigt hatten oder war er klug genug gewesen, in die Schule keine Drogen mitzunehmen?

Kevin hingegen, fiel ihm auf, war ziemlich nervös, was ganz ungewöhnlich war, denn Kevin war normalerweise die Ruhe selbst, doch jetzt trommelten seine Finger einen Marsch auf die Tischplatte, und sein rechter Fuß wippte auf und nieder, auf und nieder. Er fragte sich, was das zu bedeuten hatte.

»Darf ich?«, fragte die junge Beamtin. Sie trug Gummihandschuhe, wie ihre Kolleginnen und Kollegen auch.

»Klar«, sagte Kevin. Im selben Augenblick hörte er auf zu trommeln und mit dem Fuß zu wippen.

Aber ein angespanntes Gesicht hatte er noch immer. Mike konnte sich Kevins Nervosität nicht erklären, aber er merkte, dass er jetzt selbst unruhig wurde. Etwas stimmte nicht mit Kevin.

In der Schultasche seines Freundes fand sich nichts von Interesse, natürlich nicht, aber als die junge Frau in die Tasche seiner Jacke griff, holte sie einen Plastikbeutel heraus, in dem sich bunte Pillen befanden. Mike hielt den Atem an.

»Was ist das?«, fragte die Beamtin.

Kevin starrte erst sie an, dann den Plastikbeutel. Er war sehr blass geworden. »Keine Ahnung«, sagte er. »Das sehe ich jetzt zum ersten Mal.«

Mike hatte das Gefühl, dass ihm jemand den Boden unter den Füßen wegzog. Kevin hatte Drogen bei sich? Einen ganzen Beutel davon? Das erklärte seine Nervosität, natürlich.

Aber: Kevin und Drogen? Unmöglich!

Bei niemandem sonst fand sich etwas, auch bei Lukas nicht. Kevin vermied es, Mikes Blick zu begegnen, als er aus der Klasse geführt wurde. Er sah auch sonst niemanden an, nur Lukas warf er einen kurzen Blick zu, den dieser jedoch nicht erwiderte.

Niemand sagte ein Wort.

*

»Chef«, sagte Moni Hillenberg, »da sind zwei Beamte von der Drogenfahndung …«

»Lassen Sie sie eintreten«, erwiderte Leon, »wir haben ja einiges miteinander zu besprechen.«

Eine Frau und ein Mann in Zivil traten ein und kaum hatte Leon einen Blick in ihre Gesichter geworfen, als er auch schon ahnte, dass dieses Gespräch anders verlaufen würde, als er angenommen hatte. Er war davon ausgegangen, es würde um diejenigen Patientinnen und Patienten gehen, die nach der Einnahme von Ecstasy in seiner Klinik gelandet waren, doch er hatte sich offenbar geirrt.

Es waren zwei junge Kriminalkommissare: Tanja Bettermann und Boris Umgelter, die sich höflich vorstellten und dann sofort zum Zweck ihres Besuchs kamen. »Es geht um Ihren Sohn Kevin, Herr Dr. Laurin«, sagte Tanja Bettermann.

Leon zog die Augenbrauen hoch, er verspürte ein unangenehmes Kribbeln in der Magengegend.

»Wir haben einen ganzen Beutel mit Ecstasypillen bei ihm gefunden.«

»Wie bitte?«

Die junge Kommissarin wiederholte ihre Worte.

»Das kann nicht sein«, sagte Leon, merkte aber sofort an der Reaktion seiner Besucher, dass sie das offenbar von allen Eltern hörten. »Wo ist Kevin jetzt?«

»Bei uns auf dem Präsidium, wir wollten Sie bitten, ihn dort abzuholen. Es ist ja nicht nötig, dass wir ihn in einem Polizeiauto nach Hause bringen. Aber bevor wir fahren, haben wir noch ein paar Fragen an Sie. Sie haben also nicht bemerkt, dass Kevin mit Drogen handelt?«

»Er handelt ganz sicher nicht mit Drogen«, entgegnete Leon mühsam beherrscht. »Sind Sie schon auf die Idee gekommen, dass ihm jemand diesen Beutel untergeschoben haben könnte?«

»Das ist genau das, was hundert Prozent der Leute sagen, die wir mit Drogen erwischen«, bemerkte Boris Umgelter. »Sie haben keine Ahnung, wie das Zeug in ihre Tasche gekommen ist, sie haben es nie zuvor gesehen, und natürlich nehmen sie keine Drogen. Und sie wissen auch nicht, wer es ihnen untergeschoben haben könnte, denn selbstverständlich kennen sie niemanden, der mit Drogen zu tun hat.«

»Mag sein, dass das alle sagen und dass es in den meisten Fällen gelogen ist, aber bei meinem Sohn stimmt es, wenn er es sagt.«

»Er ist uns schon vor der Durchsuchung aufgefallen, weil er ausgesprochen nervös war«, bemerkte Tanja Bettermann. »Ich wusste schon vorher, dass ich bei ihm etwas finden würde. In dem Alter verraten sich die meisten durch ihr Verhalten. Er war übrigens der Einzige in seiner Klasse.«

»Mag sein, dass Sie mich für einen naiven und blinden Vater halten, das ist mir gleichgültig, denn Sie dürfen mir glauben: Ich bin weder das eine noch das andere.« Leon merkte selbst, dass seine Stimme schärfer geworden war, aber er fühlte sich persönlich angegriffen. »Ich kenne meinen Sohn gut, und ich weiß, dass er weder Drogen nimmt, noch damit handelt. Ich traue ihm durchaus zu, dass er unbedacht handelt und Fehler macht, wie alle Dreizehnjährigen, aber das hier nicht. Was sagt er denn selbst?«

Beide Kommissare lächelten höflich. »Er sagt, was alle sagen, Herr Dr. Laurin: dass jemand ihm das Zeug zugesteckt haben muss.«

»Na, und? Sind seine Fingerabdrücke an dem Beutel? Das lässt sich doch bestimmt feststellen?«

»Seine Fingerabdrücke haben wir nicht gefunden, aber das will ja nichts heißen, er kann Handschuhe angezogen haben.«

»Haben Sie die bei ihm gefunden?«

»Er wird sie nach der Benutzung kaum behalten haben. Der Beutel jedenfalls war in seiner Jackentasche, und daran halten wir uns jetzt erst einmal.«

Leon erhob sich. »Sie liegen falsch«, sagte er, so ruhig es ihm möglich war. »Und jetzt würde ich gerne meinen Sohn abholen. Ich nehme an, Sie haben lange genug versucht, ihn zu einem Geständnis zu bewegen?«

Sie verließen die Klinik in eisigem Schweigen.

*

»Was ist los?«, fragte Maxi, als sie Antonias Gesicht sah. »Meine Güte, was ist denn mit dir? Komm, setz dich erst einmal. Ist dir übel?«

»Kevin«, flüsterte Antonia. »Le­on hat gerade angerufen, sie haben diese bunten Pillen bei Kevin gefunden. Einen ganzen Beutel voller Ecstasy, Maxi. Leon ist auf dem Präsidium, um ihn abzuholen.«

»Und was sagt Kevin?«

»Dass er keine Ahnung hat, wie der Beutel in seine Jacke gekommen ist. Die Drogenfahndung hat in mehreren Schulen Razzien durchgeführt, alle zur gleichen Zeit, wegen des Überraschungseffekts.« Antonia fing an zu weinen.

Maxi fing einen Blick von Carolin auf. Die Sprechstunde neigte sich ihrem Ende zu, aber einige Patienten waren noch zu behandeln, sie saßen im Wartezimmer.

»Ich übernehme deine Patienten«, sagte Maxi. »Fahr nach Hause, das ist jetzt wichtiger.«

Aber Antonia lehnte das Angebot ab, sie trocknete bereits ihre Tränen. »Sie sind sowieso noch nicht zu Hause, ich würde nur dasitzen und warten und verrückt werden – da bin ich hier besser aufgehoben, wir haben doch höchstens noch eine Stunde zu tun. Aber danke für das Angebot.«

Maxi machte noch einen Versuch, Antonia zur sofortigen Heimkehr zu bewegen, doch sie scheiterte. Mit blassem Gesicht und eiserner Disziplin behandelte sie ihre letzten Patienten für diesen Tag.

»Kann ich noch etwas tun?«, fragte Maxi, als Antonia danach ihr Sprechzimmer verließ.

»Oder ich?«, fragte Carolin.

»Ich wüsste nicht, was«, erwiderte Antonia müde.

»Hör mal, wenn du zuhause gebraucht wirst morgen und in den nächsten Tagen, dann sag Bescheid. Wir kriegen das hier schon irgendwie auch ohne doch hin«, sagte Maxi.

»Morgen ist sowieso ein eher ruhiger Tag«, setzte Carolin hinzu.

»Ich sage rechtzeitig Bescheid, bis morgen.« Antonia senkte den Kopf, ihr kamen schon wieder die Tränen.

Carolin schloss die Praxis ab, damit niemand mehr hereinkommen konnte, Maxi nahm Antonia in die Arme und ließ sie sich erst einmal ausweinen.

*

»Was ich gesagt habe, stimmt, Papa.« Kevins Stimme klang dünn. »Aber die glauben mir nicht. Die sagen, alle behaupten, wenn sie erwischt werden, dass sie keine Ahnung haben, wie das Zeug in ihre Taschen gekommen ist. Aber wenn es doch stimmt – was soll ich denn sonst sagen? Ich hatte diesen Beutel noch nie gesehen.«

»Hast du eine Ahnung, wer ihn in deine Tasche gesteckt haben könnte?«, fragte Leon.

Er hatte mit einem prompten ›nein‹ gerechnet, doch zu seiner größten Überraschung zögerte Kevin zuerst, bevor er mit leiser Stimme sagte: »Ja, ich glaube, ich weiß, wer das war.«

»Wer denn?«

»Das kann ich nicht sagen, und ich kann es sowieso nicht beweisen.«

»Aber Kevin …«

»Papa, ich kann nicht!« Die Stimme des Jungen klang so gequält, dass Leon nicht weiter in ihn drang. Ob Mike etwas damit zu tun hatte, Kevins bester Freund? Dann wäre es einleuchtend, warum er den Namen nicht sagen wollte. Aber Mike war zwar ein wenig frühreif, doch das bezog sich eher auf sein Interesse am weiblichen Körper, wenn er das richtig verstanden hatte. Und vielleicht noch auf Alkohol und Zigaretten. Aber Drogen?

Es klingelte, Kevin zuckte zusammen.

»Lass nur, ich gehe schon.«

»Und wenn es noch mal die Polizei ist …«

»Bleib hier, ich kümmere mich darum.«

Es war aber nicht die Polizei, sondern Mike, der blass und elend aussehend vor der Tür stand. »Kann ich zu Kevin?«

Leon zögerte. »Hast du etwas damit zu tun, Mike?«

Die Augen des Jungen wurden kugelrund. »Ich? Nein! Aber ich will wissen, wieso Kevin die Pillen in der Jackentasche hatte!«

»Er sagt, er hat nichts damit zu tun.«

Mike atmete sichtbar auf. »Wenn er das sagt, stimmt es«, erklärte er. »Mann ich hatte richtig Schiss seinetwegen.«

Leon sah über Mikes Ausdrucksweise hinweg, in einer solchen Situation musste man auch mal großzügig sein. Er war so erleichtert und auch gerührt, weil Mike seinem Freund Kevin ohne Wenn und Aber glaubte, was er sagte, dass er den Jungen am liebsten in die Arme geschlossen hätte. »Komm rein«, sagte er.

Mike ging direkt ins Wohnzimmer zu Kevin, und Leon beschloss, die beiden Jungen alleinzulassen. Er würde aus Kevin ohnehin nichts weiter herausbekommen, dabei interessierte es ihn brennend, wen er glaubte, nicht verraten zu dürfen.

Wenig später kam Antonia, mit roten Augen im blassen Gesicht. »Mike ist da«, erklärte er, »er hat Kevin sofort geglaubt, dass er mit der Sache nichts zu tun hat. Ich glaube ihm auch.«

»Aber wer soll ihm denn Drogen in die Tasche gesteckt haben?«, fragte Antonia. Sie hatte schon wieder Tränen in den Augen.

»Kevin weiß es, glaube ich, aber er wollte nichts sagen.«

»Er weiß es?«, rief Antonia. »Aber wieso sagt er es dann nicht?«

»Er hat gesagt, er kann nicht. Es quält ihn, glaub mir.«

»Ach, Leon.«

Er umarmte sie, sie legte ihren Kopf an seine Brust. Durchs Fenster sah er, dass Kyra nach Hause kam. Sie und Kaja wussten sicher schon Bescheid, solche Dinge sprachen sich ja immer rasend schnell herum. Konstantin hatte sicherlich noch keine Ahnung, er war ja beim Drehen offenbar abgeschottet von der Außenwelt, so dass er nicht viel mitbekam.

Wie würden Kevins Geschwister reagieren?

Er stellte fest, dass er glaubte, es zu wissen: Sie würden ihrem Bruder glauben, so wie Mike ihm glaubte. Er selbst hatte sich vor der Polizei sicherer gegeben als er war. Eine kleine böse Stimme in seinem Inneren stellte ihm noch immer die Frage: Und wenn er nun doch nicht die Wahrheit gesagt hat?

Er versuchte, die Stimme zum Schweigen zu bringen, sie verursachte ihm Übelkeit. Aber sie wurde nur leiser, sie verstummte nicht.

*

»Aber du warst nervös, bevor die Polizistin deine Sachen durchsucht hat«, sagte Mike, »ich habe das bemerkt, und sie hat es auch bemerkt. Du hast mit den Fingern getrommelt und mit dem Fuß gewippt. Es hat so ausgesehen, als wüsstest du, dass sie dich gleich erwischen werden.«

»So war es ja auch«, erwiderte Kevin.

Mike kniff die Augen zusammen. »Erklär mir das«, forderte er.

»Also, ich wusste es nicht, aber ich hatte so eine Ahnung. Es ist nämlich so: Als die Polizisten plötzlich bei uns aufmarschiert sind, gab es doch so ein Durcheinander in der Klasse, nicht?«

Mike nickte, er verstand nicht, worauf sein Freund hinauswollte.

»Lukas hat mich angerempelt. Er hat sich entschuldigt und gesagt, dass er gestolpert ist, aber er war nicht gestolpert. Ich glaube, er hat mich angerempelt, um mir das Zeug in die Jacke zu stecken. Das ist mir erst klar geworden, als ich begriffen hatte, wonach die suchen. Er muss das sofort gewusst haben, als er die Polizisten gesehen hat, und sie haben es dann ja auch gesagt, da hat er nicht lange gezögert.«

»Ich hatte mir das auch schon überlegt, aber dann habe ich gedacht, wie soll er das Zeug so schnell in deine Tasche gesteckt haben, deshalb …«

»Er hat dieses Durcheinander genutzt, die sind ja gekommen, als wir alle schon aufgestanden waren und raus wollten.«

»Das musst du der Polizei sagen, Kevin.«

»Spinnst du? Ich kann doch einen Kumpel nicht verpfeifen! Außerdem bin ich nicht sicher, es ist ja nur ein Verdacht.«

»Wir hatten den Verdacht, dass Kevin mit Drogen zu tun hat, schon vorher«, erinnerte Mike seinen Freund. »Ich habe ihn doch deswegen sogar verfolgt, weil wir einen Beweis haben wollten. Wenn du es nicht machst, mache ich es. Ich gehe zur Polizei und sage ihnen, was ich gesehen habe. Das sind alles keine Beweise, aber … aber es sind …« Ihm fiel der Fachbegriff nicht ein.

»Indizien«, sagte Kevin.

»Ganz genau, es sind Indizien.«

Kevin war grün im Gesicht. »Er war unser Freund, Mike. Wir wollten mit ihm darüber reden, dass er sich geändert hat, aber das haben wir nicht getan. Wir können doch jetzt nicht einfach hingehen und ihn beschuldigen, wo wir noch nicht einmal sicher sind. Ich finde, das geht nicht. Außerdem sieht es so aus, als wollte ich die Schuld auf jemanden anders abwälzen.«

»Vielleicht verlässt er sich ja darauf«, sagte Mike nachdenklich. »Er kennt uns ziemlich gut, schätze ich. Also gut, ich gehe nicht sofort zur Polizei, und ich sage auch sonst niemandem etwas, aber ich verspreche dir nicht, dass ich in ein paar Tagen immer noch den Mund halte, wenn du dann noch verdächtig bist.«

»Ist gut.« Kevins Stimme klang wieder ziemlich dünn, und erst jetzt merkte Mike, wie nah sein Freund daran war, die Fassung zu verlieren.

»Außerdem«, fuhr er fort, »behalte ich Lukas im Auge, darauf kannst du dich verlassen.«

Kevin nickte nur, er hielt den Kopf gesenkt und sah Mike nicht an.

Es klopfte, gleich darauf schob sich, mit Ausnahme von Konstantin, die ganze Familie Laurin ins Zimmer. Mike stand auf, um sich zu verabschieden.

Er war fest entschlossen, Kevins Unschuld zu beweisen.

*

»Du kannst dich entspannen«, sagte Inga, »aber du musst für dich behalten, was ich dir jetzt sage. Also, dein Lukas ist sauber, aber in seiner Klasse ist jemand mit relativ viel Ecstasy in seiner Tasche erwischt worden.«

Im ersten Moment verspürte Charlotte pure Erleichterung. Diese war so groß, dass ihr sogar die Knie weich wurden. Sie hatte Lukas zu Unrecht verdächtigt! Eine schönere Nachricht hätte Inga ihr nicht überbringen können.

Doch schon im nächsten Moment hörte sie sich fragen: »Aber wieso lagen die Pillen dann bei Fabian vor der Haustür? Weißt du, bei wem die Drogen gefunden worden sind?«

»Ja, weiß ich, aber das darf ich dir natürlich eigentlich auch nicht sagen, Charly.«

»Du weißt, dass ich alles, was ich von dir höre, für mich behalte.«

»Kevin Laurin«, sagte Inga. »Sagt dir der Name was? Der Vater leitet die Kayser-Klinik. Diese Nachricht hat bei uns natürlich eingeschlagen wie eine Bombe. Kevins Mutter ist auch Ärztin. Und so ein Junge …«

»Kevin ist mit Lukas befreundet«, murmelte Charlotte.

»Na, bitte, da hast du deine Erklärung. Vielleicht hat Kevin versucht, Lukas auf den Geschmack zu bringen.«

Das war natürlich eine Möglichkeit, aber Charlotte spürte, wie die Erleichterung, die sie zunächst verspürt hatte, sich verflüchtigte. Das passte alles nicht richtig zusammen.

Es war ja unstrittig, dass Lukas in letzter Zeit ein ganz verändertes Verhalten an den Tag gelegt hatte – und von Kevin und Mike war überhaupt nicht mehr die Rede gewesen. Sie hatte sie auch schon länger nicht mehr bei Lukas gesehen. Auch Fabian hatte bestätigt, dass die Freundschaft zu den beiden Jungs offensichtlich eingeschlafen war. Wann also hätte Kevin dann ein paar Pillen vor der Haustür verlieren sollen?

Ein böser Gedanke kam ihr, der sie unwillkürlich den Atem anhalten ließ. Nein, dachte sie, so etwas würde Lukas nicht tun. Bestimmt nicht, so ist er nicht.

Aber so sehr sie sich auch bemühte, sich davon zu überzeugen: Es gelang ihr nicht. Sie rief sich ihre Begegnungen dem Jungen in letzter Zeit in Erinnerung und setzte einzelne Puzzleteile zu einem Gesamtbild zusammen, das ihr missfiel.

Danach fühlte sie sich noch elender, denn nun wusste sie überhaupt nicht mehr, was sie tun sollte.

*

»Du hast also davon gehört«, stellte Leon fest, als ihn sein Schwager Andreas Brink anrief.

»Wenn der Name Laurin im Zusammenhang mit Drogen fällt, höre ich das natürlich sofort«, erwiderte Andreas. »Also, was ist dran an dieser Geschichte?«

»Kevin sagt, er hat diesen Beutel mit Ecstasy nie vorher gesehen, und du weißt, er ist kein Lügner. Ich traue ihm alle möglichen Dummheiten zu, aber er würde dazu stehen, wenn er auffliegt.«

»Mhm, das sagen vermutlich die meisten Eltern in so einer Situation.«

»Ja, das haben deine Kollegen von der Drogenfahndung mir auch schon vermittelt. Sie haben deshalb weder mir noch Kevin geglaubt. Aber da ist noch etwas, Andy.«

»Nämlich?«

»Kevin glaubt zu wissen, wer ihm den Beutel zugesteckt hat, aber er will nicht mit der Sprache herausrücken.«

»Also ein Freund von ihm.«

»Ja, an Mike habe ich auch zuerst gedacht, aber Mike ist sofort hier aufgetaucht und hat ein langes Gespräch mit Kevin geführt. Ich schätze, Mike weiß auch Bescheid.«

»Dann bring die Jungs zum Reden, wenn du denkst, es könnte etwas dran sein an ihrem Verdacht.«

»Du weißt doch aber, wie Dreizehnjährige funktionieren, oder? Da gibt es einen Ehrenkodex: Man verpfeift niemanden, schon gar keinen Kumpel, falls er in Schwierigkeiten gerät.«

»Versuch’s trotzdem, sonst hängt Kevin diese Sache ewig an. Ich meine, er ist nicht strafmündig, aber er wird immer der Junge bleiben, der mal was mit Drogen zu tun hatte. Die Kollegen jedenfalls sind alle davon überzeugt, dass er lügt, weil er sich schon vorher auffällig verhalten hat. Er war offenbar sehr nervös, als die Durchsuchung begonnen hat – so, als wüsste er, dass er keine Chance mehr hat.«

»Ja, das habe ich auch schon gehört. Wir tun, was wir können.«

Als Leon zu Antonia zurückkehrte, sagte er müde: »Das war Andy. Ich bin es leid, immer wieder das Gleiche zu erzählen und zu merken, dass uns alle für naiv halten, weil wir Vertrauen zu unserem Sohn haben. Selbst Andy … Ich meine, er kennt Kevin. Aber nicht einmal er sagt: ›Natürlich lügt Kevin nicht.‹ Wieso ist das so?«

»Weil Andy von Berufs wegen sehr viel mit Leuten zu tun hat, die lügen, um sich vor einer Strafe zu drücken. Ich nehme an, das bleibt für sein Menschenbild nicht ohne Folgen. Was tun wir jetzt, Leon?«

»Wir unterstützen Kevin, so gut wir können. Und wir sagen ihm noch einmal, dass es in einem Fall wie diesem nicht ehrenrührig ist, wenn man denjenigen benennt, den man für den wahren Täter hält.«

»Ich glaube, ich weiß, wer das ist«, sagte Antonia zögernd.

Leon sah sie an. »Lukas?«, fragte er.

»Ja. Die Freundschaft ist abgekühlt, und offenbar wissen weder Kevin noch Mike, wieso. Es scheint so zu sein, dass Lukas sich zurückgezogen hat, und Kevin hat neulich mal anklingen lassen, dass Lukas sich auch verändert. Ich habe das nicht so ernstgenommen, weil es schließlich normal ist, wenn sich Dreizehnjährige verändern und sich andere Freunde als bisher suchen. Aber wenn ich jetzt so darüber nachdenke …«

»Aber sie sollte Lukas ihm das Zeug so schnell zugesteckt haben? Das ist eine ziemlich gewagte Theorie, Antonia.«

»Ich weiß, deshalb rede ich ja auch nur mit dir darüber. Aber vielleicht fällt uns ja noch mehr dazu ein, wenn wir noch länger darüber nachdenken.« Sie ließ sich in seine Arme fallen, und das war das vorläufige Ende ihres Gesprächs.

Oben jedoch saßen alle Laurin-Kinder – auch Konstantin war mittlerweile zu Hause – in Kevins Zimmer, um ihrem in Not geratenen Bruder beizustehen. Er war dankbar dafür, aber von seinem und Mikes Verdacht verriet er ihnen trotzdem nichts.

*

Inga hatte Charlotte ein Gespräch mit einem ihrer Kollegen vermittelt. Patrick Vierling war ein attraktiver junger Dunkelhaariger, der sehr viel Energie ausstrahlte und der von Seiten der Sozialarbeiter den Kontakt zu den Beamten der Drogenfahndung hielt.

»Jetzt mach dir nicht so viel Sorgen«, erwiderte er, als Charlotte ihm von ihren Befürchtungen, Lukas betreffend, erzählte.

»Du hast gut reden. Mein Freund ist völlig ahnungslos, weil ich nicht weiß, wie ich mit ihm über diese Sache sprechen soll. Er würde aus allen Wolken fallen, wenn er wüsste, was ich vermute.«

»Das würden alle Eltern«, erwiderte Patrick gelassen. »Und wenn du mit ihm redest, wird er sich seinen Sohn vornehmen, und dann kommt die Wahrheit nie mehr ans Licht. Also wäre das falsch. Das ist doch logisch.«

»Logisch schon, aber es fühlt sich trotzdem nicht richtig an.«

»Ich verstehe das, aber es ist doch wichtig, deinem Verdacht nachzugehen, weil ja möglicherweise der Falsche verdächtigt wird. Ich meine, was du erzählst, sind natürlich keine Beweise, aber …«

»Ich weiß«, sagte Charlotte.

»Überlass das mir und hör auf, ein schlechtes Gewissen zu haben. Du hast nichts falsch gemacht.«

Sie hätte sich dieser Meinung gerne angeschlossen, aber es gelang ihr nicht.

»Wenn Lukas weiter Drogen nimmt, weil er den Verdacht auf einen Freund lenken konnte, ist das meine Schuld. Natürlich habe ich ein schlechtes Gewissen, was denkst du denn? Wenn mein Freund von meinem Verdacht wüsste, würde er sofort Maßnahmen ergreifen, damit sein Sohn nicht wieder an Drogen kommt – für Lukas wäre das auf jeden Fall besser.«

»Oder auch nicht. Wenn der Junge abhängig ist, wird er sich von ›Maßnahmen‹ seines Vaters nicht einfach überzeugen lassen. So funktioniert das nicht. Aber wenn sich dein Verdacht als richtig erweist, wird er bald auffliegen, keine Sorge.«

»Du wirst also mit der Polizei reden?«

»Nicht sofort, zuerst rede ich mit meinen Kollegen, und wir gucken, ob wir selbst etwas herausfinden können. Also, hör auf, dich verrückt zu machen, okay?«

»Ich versuch’s«, sagte Charlotte, aber sie fühlte sich immer noch elend.

»Hey!« Er beugte sich vor und tätschelte kurz ihren Arm. »Das ist natürlich eine blöde Situation für dich, aber wir versuchen das zu klären. Und jetzt lade ich dich zu einem Getränk ein, damit du auf andere Gedanken kommst.«

Charlotte wäre lieber nach Hause gegangen – die Verabredung mit Fabian hatte sie schon am Vormittag unter einem Vorwand abgesagt – aber sie wollte nicht unhöflich sein, und so nahm sie die Einladung an.

*

Fabian kniff die Augen zusammen, aber das Bild verschwand nicht. Das Café war gut beleuchtet, Charlotte saß mit einem sehr attraktiven jungen Mann direkt am Fenster, in intensivem Gespräch. Kurz vorher hatte der Mann ihren Arm gestreichelt.

Sie hatte behauptet, abends lange im Büro bleiben zu müssen, jetzt wusste er also, dass sie gelogen hatte.

Mit brennenden Augen wandte er sich ab und eilte im Laufschritt davon, bis er merkte, dass er die falsche Richtung eingeschlagen hatte und zurückkehren musste. Sie war ihm in den letzten Tagen ausgewichen, das hatte er durchaus gemerkt, aber er war davon ausgegangen, dass es mit ihrer starken Arbeitsbelastung zusammenhing. Sie war mit ihren Gedanken ja immer woanders gewesen, hatte müde und abgespannt ausgesehen.

Jetzt drängte sich dafür eine ganze andere Erklärung auf. Der Gedanke tat so weh, dass ihm die Luft wegblieb. Er liebte Charlotte, er war davon ausgegangen, dass sie zusammenbleiben und irgendwann heiraten würden. Ja, er hatte sogar manchmal daran gedacht, wie es wäre, mit Charlotte zusammen noch Kinder zu bekommen, jüngere Geschwister für Lukas, der sich früher immer so nach Geschwistern gesehnt hatte. Sicher, er würde dann kein ganz junger Vater mehr sein, aber heutzutage waren Eltern ja insgesamt älter als in früheren Zeiten – und Charlotte war ja jung …

War das der Grund? Sein Alter? Es war ein knappes Jahrzehnt, das sie trennte, und sie hatte immer beteuert, ihr mache der Altersunterschied nichts aus. Aber der Mann im Café war deutlich jünger gewesen als er selbst. Also hatte sie ihm vielleicht schon in diesem Punkt nicht die Wahrheit gesagt?

Er fühlte sich am Boden zerstört, als er zuhause eintraf. Lukas war schon da und hatte, sah Fabian, sogar den Tisch fürs Abendessen gedeckt – und zwar mit allem, was dazugehörte. Das rührte ihn so, dass er rasch die Tränen wegblinzeln musste, die ihm in die Augen gestiegen waren.

Lukas war guter Dinge, er schien die kleine Krise, in der er zweifellos gewesen war, überwunden zu haben. Er erzählte fröhlich aus der Schule und strahlte Fabian zwischendurch immer wieder an.

Fabian gab sich Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, wie es in ihm aussah, aber es strengte ihn sehr an. Er war froh, als das Essen vorüber war und Lukas verkündete, er wolle noch etwas lesen, dann aber bald schlafen.

Als er in seinem Zimmer verschwunden war, fiel Fabian in sich zusammen. Er legte den Kopf an die Sofalehne und schloss die Augen. Ein Leben ohne Charly konnte er sich einfach nicht mehr vorstellen.

*

Lukas war wie ausgewechselt, eigentlich war er wieder so wie zu Beginn ihrer Freundschaft, als er ganz neu in die Klasse gekommen war. Er redete wieder mit Mike, als hätte es die Zeiten größerer Distanz zwischen ihnen nie gegeben, fragte besorgt nach Kevin und äußerte mehrfach die Ansicht, dass sich ganz sicher alles als Irrtum herausstellen werde, denn niemals könne er sich vorstellen, dass ausgerechnet Kevin mit Drogen zu tun hatte.

Mike aber, der in letzter Zeit an kaum etwas anderes als an die Erforschung weiblicher Körper gedacht hatte, entwickelte geradezu einen detektivischen Spürsinn für falsche Töne und aufgesetzte Gesten. Er glaubte Lukas weder die Besorgnis um Kevin, noch seine wiedererwachten freundschaftlichen Gefühle. Ihm war von Anfang an klar, dass Lukas vor allem seine Nähe suchte, um wegen der Ermittlungen gegen Kevin auf dem Laufenden zu bleiben. Aber anmerken ließ er sich davon nichts. Er machte wie bisher seine Bemerkungen über die Figuren der Mädchen, die er besonders attraktiv fand – jene Bemerkungen, von denen er wusste, dass er Kevin damit nervte, während Lukas mit dem wissenden Lächeln eines deutlich älteren Jungen darauf reagierte. Kurz: Mike tat alles, um in Lukas keinen Verdacht aufkeimen zu lassen, von ihm könne in irgendeiner Weise Gefahr ausgehen.

Er hielt drei Tage durch, dann fasste er einen einsamen Entschluss, von dem er auch Kevin nicht unterrichtete: Er würde zur Polizei gehen. Mochte er auch keine Beweise haben, so gab es doch ein paar ziemlich deutliche Hinweise, die nicht in Kevins, sondern in Lukas’ Richtung wiesen, und er sah keinen Sinn darin, diese Hinweise noch länger für sich zu behalten. Wenn die Polizei damit nichts anfangen konnte, hatten Kevin und er Pech gehabt. Wenn er es aber nicht einmal versuchte, die Polizei davon zu überzeugen, dass sie den Falschen erwischt hatten, dann war ja schon von vornherein alles verloren.

Kurz überlegte er, sich an Andreas Brink, Kevins Onkel zu wenden, verwarf diesen Gedanken jedoch schnell wieder. Das würde seine Aussage eher entwerten – die sowieso schon in dem Verdacht stehen würde, der Versuch eines Jungen zu sein, seinem besten Freund zu helfen und deshalb die Schuld auf einen anderen zu schieben.

Nein, er würde direkt zur Drogenfahndung gehen und konnte nur hoffen, dass sie ihn zumindest anhörten. Er hatte ja wenigstens ein paar Bilder gemacht. Auf denen war zwar nicht viel zu erkennen, aber was er gesehen hatte, konnte er ja beschreiben.

»Das wollen wir doch mal sehen«, murmelte er, als er sich auf den Weg machte, »ob die mir nicht glauben!«

*

»Das war jetzt der fünfte Anruf von einem Kind, das mir erklärt, dass Kevin Laurin garantiert die Wahrheit sagt.« Tanja Bettermann legte nachdenklich den Hörer auf. »Und alle sagen: Er lügt nicht, er hat noch nie gelogen. Komisch, nicht?«

Es klopfte. Eine Kollegin schob einen Jungen mit einer sehr dicken Brille ins Zimmer. »Das ist Peter Stadler«, sagte sie. »Er hat etwas zu der Ecstasy-Sache mitzuteilen.«

Der Junge war elf oder zwölf und wirkte ein wenig unbeholfen. Der nächste, der sagt, dass Kevin Laurin unschuldig ist, dachte Boris Umgelter. Er hoffte nur, dass sie diesen Fall bald abschließen konnten. Dabei ging es ihm weniger um ein Geständnis des verdächtigen Jungen als darum, aus ihm herauszubekommen, welches seine Quellen waren. Aber bisher waren sie nicht einen Millimeter weitergekommen.

»Setz dich, Peter«, sagte Tanja freundlich. »Du willst eine Aussage machen?«

Der Junge kam näher. »Ja«, sagte er in überraschend bestimmtem Ton. »Ich habe gesehen, wie zwei Jungen an unserer Schule bunte Pillen verteilt haben, kostenlos. Das waren Jungen, die ich vorher noch nie gesehen hatte.«

»Na ja, eure Schule hat sehr viele Schüler, da wirst du kaum alle kennen, oder?« Boris’ Stimme klang ein wenig herablassend.

Ein kühler Blick traf ihn. »Ich habe ein fotografisches Gedächtnis«, erklärte Peter. »Wenn ich ein Gesicht gesehen habe, ist es abgespeichert. Es gibt niemanden an unserer Schule, den ich noch nie gesehen habe, das können Sie mir glauben.«

Hoppla, dachte Tanja, der sieht so harmlos aus, aber er weiß, was er will, und auf den Mund gefallen ist er auch nicht.

»Fotografisches Gedächtnis?«, fragte Boris.

Tanja schob Peter eine eng beschriebene Seite hin. Er warf einen langen Blick darauf, schob das Blatt zu ihr zurück und fing an, vorzutragen, was er soeben gelesen hatte. Er gab den Inhalt wörtlich wieder.

»Schon gut, wir sind überzeugt«, sagte Tanja, nachdem Boris und sie sich durch einen Blick verständigt hatten, diesen Jungen auf jeden Fall ernst zu nehmen. »Kennst du Kevin Laurin?«

»Ziemlich gut sogar. Er hat nichts mit Drogen zu tun.«

»Interessant, dass du das so genau weißt. Wie erklärst du dir dann, dass er richtig nervös geworden ist, als ihm klar wurde, wonach wir suchen? Für mich sah das so aus, als wüsste er, was wir bei ihm finden würden.«

Ein erstaunter Blick traf Tanja, so dass sie kurz das Gefühl überkam, gerade etwas sehr Dummes gesagt zu haben.

Genau diesen Eindruck vermittelte ihr Peter mit seinen nächsten Worten noch einmal. »Aber das wusste er ja auch«, sagte er, als hätte die Polizei diese Erkenntnis längst ebenfalls haben müssen.

»Wie bitte?«, fragte sie.

»Viel herausbekommen haben Sie wohl noch nicht, oder?«, fragte Peter. »Ich meine, Sie haben Kevin doch stundenlang befragt – da kriegt man doch mit, was er für einer ist!« Das klang jetzt direkt vorwurfsvoll.

Tanja räusperte sich. »Komm bitte zurück zum Thema«, sagte sie knapp.

»Er hat jemanden im Verdacht, ihm die Pillen in die Jacke gesteckt zu haben«, sagte er, »das weiß ich von seiner jüngsten Schwester, sie und ich sind nämlich befreundet. Aber er sagt nicht, wen er im Verdacht hat. Wollen Sie meine Theorie hören?«

»Bitte«, sagte Tanja trocken, da es Boris offenbar die Sprache verschlagen hatte.

»Er muss irgendwas bemerkt haben. Vielleicht einen Stoß oder eine Berührung oder was in der Art, aber zuerst hat er sich nichts dabei gedacht. Erst als Sie angefangen haben mit der Durchsuchung, ist ihm gedämmert, dass ihm jemand etwas zugesteckt haben könnte. Und diesen Jemand muss er ziemlich gut kennen, weshalb er seinen Namen auf keinen Fall nennen will.«

»Interessant«, bemerkte Boris, »aber natürlich reine Spekulation, das ist dir schon klar, oder?«

»Ja«, antwortete Peter. »Haben Sie seine Fingerabdrücke auf der Plastiktüte gefunden?«

Tanja und Boris wechselten einen Blick. »Nein«, sagte Tanja, »aber er könnte …«

Peter winkte ab. »Schon klar«, sagte er. »Ich habe eine Vermutung, wer der Junge ist, der den Verdacht auf Kevin gelenkt hat. Wenn ich Ihnen den Namen sage, könnten Sie sich einen Fingerabdruck von ihm besorgen und …«

Bevor er seinen Satz beendet hatte, klopfte es kurz, und die Kollegin, die Peter zuvor in dieses Büro begleitet hatte, erschien erneut, dieses Mal mit einem deutlich größeren und kräftigeren Jungen.

»Mike!«, sagte Peter aufrichtig erfreut.

»Peter«, erwiderte Mike, eher überrascht. »Was machst du denn hier?«

»Ich versuche, Kevin zu helfen.«

»Du? Wie denn?«

»Ich habe eine Theorie. Und du?«

»Ich auch«, sagte Mike. »Und ein paar Fotos – und noch ein paar andere Hinweise.«

*

Der Chef der Drogenfahndung war alles andere als begeistert, als er von Tanja und Boris hörte, was sie vorhatten.

»Ihr lasst euch von Elf- und Dreizehnjährigen, die nichts anderes im Sinn haben, als ihrem Freund zu helfen, einreden …«

»Wir lassen uns gar nichts einreden, Chef«, widersprach Tanja. »Wir brauchen nur ein paar Fingerabdrücke von Lukas Martin, damit wir sie mit denen vergleichen können, die wir auf dem Beutel gesichert haben, das ist alles. Ist doch keine große Sache! Wenn sich keine Übereinstimmung ergibt, haben wir nichts verloren, müssen uns aber auch nicht vorwerfen, dass wir möglicherweise eine lohnende Spur nicht verfolgt haben.«

»Nehmen wir mal an, es wäre etwas dran an diesem neuen Verdacht, dann passt nur gut auf, dass ihr den Jungen nicht warnt, denn dann wären auch seine Lieferanten gewarnt.«

»Bei der Sicherstellung der Fingerabdrücke würde uns der Junge helfen, der Lukas schon vorher im Verdacht hatte. Der dreizehnjährige beste Freund von Kevin.«

»Das klingt doch aber alles verflixt danach, dass hier ein paar Kinder versuchen, ihren Kumpel rauszuhauen, während …«

»Die beiden Jungs, die sich bei uns im Büro getroffen haben, hatten das nicht abgesprochen, die wussten nicht einmal, dass jeder für sich zum selben Ergebnis gekommen war. Es kostet doch nicht viel, Chef.«

Der Chef brummte, wurde dann jedoch am Telefon verlangt. Während er sein Gespräch führte, verständigten sich Tanja und Boris mit Blicken darüber, dass sie eigentlich auch gehen konnten, und so erhoben sie sich.

Doch mit einer unmissverständlichen Handbewegung wurden sie aufgefordert, wieder Platz zu nehmen. Kurz darauf beendete ihr Chef sein Gespräch und räusperte sich. »Komische Sache«, sagte er. »Das war einer unserer Ansprechpartner im Sozialamt.«

»Und?«, fragte Boris.

Plötzlich grinste der Chef. »Er hatte ebenfalls einen Hinweis darauf bekommen, dass wir den falschen Jungen verdächtigen.«

»Was für einen Hinweis?«, fragte Tanja.

Der Chef klärte seine beiden Kommissare auf.

*

Kevin ging in diesen Tagen nicht zur Schule. Es wurde erwogen, ob er der Schule verwiesen werden sollte, aber die Lehrer, die in seiner Klasse unterrichteten, hatten sich einstimmig für ihn ausgesprochen, selbst wenn sich seine Schuld herausstellen sollte, was jedoch die meisten nicht annahmen, allem Augenschein zum Trotz.

Den Unterrichtsstoff bekam er elektronisch übermittelt, und Mike ließ sich jeden Tag sehen, so dass er eigentlich genug zu tun hatte, aber er war mit seinen Gedanken nicht bei der Sache. Allein zu lernen lag ihm nicht, er vermisste die Lehrer, die man fragen konnte, wenn man etwas nicht verstand, und er vermisste den Austausch mit seinen Mitschülerinnen und Mitschülern. Und so ergab es sich, dass er anfing, Simon zu helfen, was diesem nicht recht war.

»Hör mal, ich werde dafür bezahlt, dass ich hier den Haushalt schmeiße – du kannst mir nicht helfen.«

»Aber du musst mir helfen, lass mich irgendwas tun, Simon, bitte, ich werde sonst verrückt.«

Etwas in Kevins Stimme bewog Simon, schließlich nachzugeben, und beide gewöhnten sich schnell daran. Am schönsten fanden sie es, gemeinsam in der Küche zu arbeiten. Kevin durfte ›untergeordnete Arbeiten‹ übernehmen – also Gemüse putzen und kleinschneiden, etwa – aber während er Simon zusah, lernte er eine Menge, zumal er immer wieder Fragen stellte. Und Simon merkte, wie gern er erklärte, was er tat. Das war für beide eine schöne Erfahrung. Meistens setzte sich Kevin erst an den Schulstoff, wenn Simon sich zum Gehen bereit machte. Dann saß er in seinem Zimmer und machte einen sehr beschäftigten Eindruck, so dass seine Eltern und Geschwister das Gefühl hatten, er käme mit allem gut zurecht.

Simon wusste es besser. In der Küche vertraute Kevin ihm an, wie düster es in seinem Inneren aussah.

»Wenn das an mir hängenbleibt, Simon, will ich nicht mehr leben. Dann werde ich für immer der Mensch sein, der schon mit dreizehn gedealt hat.«

»Und irgendwann wird es niemanden mehr interessieren«, entgegnete Simon ganz ruhig. »Was denkst du denn, wie ich mich gefühlt habe, als unsere beiden Eltern tot waren und ich plötzlich wusste: Lili und Lisa haben jetzt nur noch mich. Wenn ich nicht dafür sorge, dass wir zusammenbleiben können, werden wir auf verschiedene Familien verteilt und sehen uns nur noch alle paar Wochen, wenn überhaupt. Oder sie kommen in ein Heim, weil niemand Mädchen in dem Alter aufnehmen will. Ich dachte, das ist das Ende.«

»War es aber nicht«, sagte Kevin.

»Nein, war es nicht. Ich will nicht behaupten, dass es nicht hart war – es war sogar sehr hart, aber wir sind zusammengeblieben, wir sind ein gutes Team geworden. Ich stelle mir immer vor, dass unsere Eltern uns sehen können und dass sie zufrieden sind, weil wir uns ganz gut schlagen. Der Gedanke gefällt mir – und er hat mir oft geholfen, wenn ich mal wieder mit den Nerven fertig war und dachte, ich packe es nicht mehr. Dann ist mir eingefallen, dass sie mich vielleicht gerade beobachten und wie enttäuscht sie sein müssen, wenn sie sehen, dass ich aufgeben will.«

»Mir würde es besser gehen, wenn ich etwas tun könnte«, sagte Kevin.

»Dann tu etwas!«

»Was denn?«

»Sag die Wahrheit. Du weißt doch mehr, als du bisher verraten hast, oder?«

Kevin antwortete nicht sofort. Schließlich sagte er: »Ich kann nicht. Außerdem weiß ich nichts. Wir vermuten nur etwas, Mike und ich.«

»Dann soll er etwas unternehmen!«

»Wir warten noch.«

Simon warf dem Jungen einen prüfenden Blick zu, sagte aber nur noch: »Wartet nicht zu lange!«

*

»Mir tut das wahnsinnig leid, Leon«, sagte Eckart Sternberg. »Wenn ich etwas tun kann …«

»Es hat mir schon geholfen, es dir zu erzählen. Wir sind davon überzeugt, dass Kevin nicht lügt, aber die Polizei hält ihn immer noch für den Täter. Immer wieder laden sie ihn vor und verhören ihn, obwohl er ihnen jedes Mal das Gleiche erzählt.« Leon schüttelte den Kopf. »Außerdem hat Antonia Angst, dass ihr Vater etwas von der Geschichte mitbekommt – das fehlte gerade noch.«

»Das wird nicht passieren, macht euch darum keine Sorgen. Sag mal, der Bruder deines Schwagers ist doch Anwalt, habt ihr mal daran gedacht, ihn einzuschalten?«

»Friedhelm Brink? Ja, auf den Gedanken sind wir schon gekommen, aber Kevin will davon nichts hören. Er hängt dem naiven Glauben an, dass die Wahrheit schon irgendwie ans Licht kommt. Außerdem findet er, wenn wir einen Anwalt nehmen, könnte die Polizei auf die Idee kommen, dass er einen nötig hat, und das will er nicht.«

»Aber vielleicht wäre es besser, wenn ihr, als seine Eltern, das entscheidet. Du sagst doch selbst, dass sein Glaube, dass schon alles gut wird, naiv ist …«

Leon seufzte. »Ich weiß, was du meinst, und du hast natürlich Recht. Und trotzdem denken wir beide, Antonia und ich, wir sollten in dieser Sache nichts gegen Kevins ausdrücklichen Willen tun. Sonst hat er zu allem Überfluss auch noch das Gefühl, dass er sich auf uns auch nicht mehr hundertprozentig verlassen kann. Er macht eine schwere Zeit durch.«

»Nicht nur er, oder? Ihr leidet alle mit ihm.« Eckart räusperte sich. »Ich würde dich gern etwas fragen, aber es ist eine heikle Frage, die du bitte nicht missverstehen darfst.«

»Ob ich nie daran gezweifelt habe, dass Kevin die Wahrheit sagt?«

»Ja.« Eckart war sichtlich erleichtert, dass er die Worte nicht selbst hatte aussprechen müssen.

»Der Gedanke kommt schon mal, aber er verschwindet jedes Mal auch schnell wieder, Kevin würde uns nicht tagelang ins Gesicht lügen.«

»Na ja, wenn man einmal gelogen hat, wird es natürlich danach von Mal zu Mal schwerer, zur Wahrheit zurückzukehren. Insofern …«

»Darüber haben wir beide natürlich auch schon nachgedacht, Antonia und ich. Aber ihr geht es wie mir. Wir glauben ihm.«

Eckart nickte. »Ich kenne ihn nicht so gut wie ihr, aber ich kann mir eigentlich auch nichts anderes vorstellen, als dass er die Wahrheit sagt.«

Die Worte taten Leon gut, und das sagte er Eckart auch.

Dieser lächelte nur, schlug Leon kräftig auf die Schulter und eilte hinaus, weil auf seinem Terminplan eine schwierige Operation stand.

*

Als Charlotte das Büro verließ, stand Fabian davor. Ein Blick in sein Gesicht ließ alles in ihr zu Eis erstarren. Er weiß von meinem Verdacht, schoss es ihr durch den Kopf, er hat erfahren, dass ich mit Inga gesprochen habe und mit Patrick, und jetzt will er nichts mehr mit mir zu tun haben. Meine Güte, ich hätte ihm sagen sollen, was ich denke, ich hätte …

»Wieso hast du mir nicht gesagt, dass du einen anderen hast?«, stieß er hervor. »Musstest du mich anlügen und mir sagen, dass du länger zu arbeiten hast? Und stattdessen sehe ich dich mit ihm in einem Café sitzen, und er streichelt deinen Arm, und ihr seht euch die ganze Zeit verliebt in die Augen …«

»Ich habe keinen anderen!«, rief sie. »Worüber redest du überhaupt?«

Aber als er ihr das Café nannte und ihre eigenen Worte zitierte, mit denen sie die Verabredung mit ihm abgesagt hatte, wusste sie natürlich, mit wem er sie gesehen hatte.

»Das war dienstlich, Fabian, der Mann ist ein Kollege«, begann sie, aber er schnitt ihr sofort das Wort ab.

»Bitte nicht, beleidige uns beide nicht dadurch, dass du jetzt weitermachst mit deinen Lügen. Ich muss sagen, ich hätte niemals gedacht, dass uns beiden so etwas passieren kann, Charly. Niemals. Ich dachte, wir, du und ich …« Und dann blieben ihm buchstäblich die Worte im Halse stecken, er konnte nicht weiterreden.

Sie wollte ihn umarmen, ihm sagen, dass er sich irrte, dass sie ihm zwar bei der Absage ihrer Verabredung nicht die Wahrheit gesagt hatte, dass er aber mit den Gründen, die er dahinter vermutete, völlig falsch lag, doch als sie den Mund öffnete, wich er zurück und machte eine abwehrende Handbewegung, die sie mehr kränkte als alles, was er bisher gesagt hatte.

»Nicht!«, sagte er. »Ich will nichts mehr hören. Ich packe die Sachen, die du bei mir hast, zusammen. Sag mir einfach Bescheid, wann du sie abholen willst.«

Nach einem letzten Blick, in dem tiefe Verletzung und Trauer zu lesen waren, drehte er sich um und ging.

*

»Immer noch keine Lösung in Sicht?«, fragte Maxi.

»Wie denn?«, fragte Antonia unglücklich. »Sie haben das Zeug bei Kevin gefunden, also gilt er als der Schuldige, und das wird er auch nicht mehr los. Du glaubst doch nicht, dass Derjenige, der ihm die Pillen zugesteckt hat, plötzlich die Wahrheit sagt?«

»Aber es muss doch jemand aus seiner Klasse gewesen sein, oder? Wenn vorher nichts über die Razzia bekannt war, kann es nur einer oder eine aus seiner Klasse gewesen sein. Das muss die Polizei doch überprüfen!«

»Keine Ahnung, was die Polizei zurzeit tut – außer Kevin immer mal wieder zu vernehmen«, erwiderte Antonia müde. »Wenn ich mir vorstelle, dass wir uns noch wochen- oder vielleicht sogar monatelang mit diesem Thema beschäftigen müssen, wird mir ganz anders. Er hält sich ziemlich gut, muss ich sagen, und zum Glück ist er ja auch nicht allein zu Hause, weil Simon da ist – aber auf Dauer ist das natürlich kein Zustand. Er ist ein ganz ordentlicher Schüler, aber wenn er auf sich allein gestellt ist, verliert er sehr schnell die Lust, das habe ich schon gemerkt. Wenn er noch lange vom Unterricht ausgeschlossen ist, wird er so große Lücken haben, dass er sie gar nicht mehr füllen kann.«

»Dann engagiert doch einen Studenten, der ihm Privatunterricht gibt!«, schlug Maxi vor.

»Das ist eine gute Idee!«, rief Antonia. »Das würde ihn auch etwas ablenken, schätze ich – obwohl er mit Simon ziemlich gut zurechtkommt. Am ehesten lernt er im Augenblick wohl kochen.«

Maxi lächelte. »Ist doch auch nicht schlecht«, fand sie.

»Ach, Maxi!«

»Ich weiß, es hört sich blöd an, so etwas zu sagen, aber die Erfahrung lehrt, dass es trotzdem stimmt: Es kommen auch wieder andere Zeiten. Und ich wette mit dir, irgendwann könnt ihr über diese Geschichte ganz gelassen sprechen.«

Aber das konnte Antonia sich in diesem Augenblick beim besten Willen nicht vorstellen.

*

Die Sache mit dem Fingerabdruck war ein Kinderspiel für Mike, und er hatte noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen dabei. Wenn Lukas Kevin wirklich den Beutel mit Drogen zugesteckt hatte und nun seelenruhig zusah, wie Kevin die Konsequenzen zu tragen hatte, dann geschah es ihm nur recht, wenn er jetzt mit seinen eigenen Mitteln geschlagen wurde.

Da Lukas seit der Polizeirazzia wie ausgewechselt war und geradezu auffällig Mikes Nähe suchte, um sich nach Kevin zu erkundigen, stellte es also kein Problem für ihn dar, mit Lukas nach der Schule noch einen Hamburger zu essen und eine Cola zu trinken und das von Lukas benutzte Plastikglas in einem geeigneten Moment in seinem Rucksack verschwinden zu lassen. Es prangten gleich mehrere gut sichtbare Abdrücke darauf. Er trug es auf dem schnellsten Weg zur Polizei, wo es umgehend ins Labor gegeben wurde.

»Danke«, sagte Tanja Bettermann. »Jetzt bin ich gespannt auf das Ergebnis.«

»Ich nicht«, erklärte Mike, »weil ich es schon kenne. Sie können mir glauben, wir irren uns nicht.«

»Nur mal angenommen, ihr irrt euch doch. Was dann?«

Mike wusste auch auf diese Frage eine Antwort. »Dann zweifele ich an meinem Verstand«, sagte er. »Weil aber mein Verstand ganz normal funktioniert, kann das nicht passieren.«

»Kevin weiß immer noch nicht, dass du bei uns warst?«

»Nee, er wäre nicht einverstanden. Er hat da so eine komische Vorstellung, dass man einen Kumpel nicht reinreitet. Und wir waren echt gut befreundet mit Lukas, wir sind ja sogar mit ihm ein Wochenende in so eine schicke Hütte in den Bergen gefahren, die seinem Vater gehört. Kann ich hier warten, bis das Ergebnis kommt?«

»Besser nicht, Mike. Wir haben, wenn das Ergebnis vorliegt, einiges zu besprechen.«

»Aber Sie sagen mir bald Bescheid! Ich finde, Sie schulden mir was. Und Peter auch. Und den anderen, die Ihnen gesagt haben, dass Sie mit Kevin den Falschen erwischt haben.«

»Wenn Ihr alle Recht habt, dann schulden wir euch was, das stimmt. Ich verspreche dir, dich schnell zu benachrichtigen, aber du musst das für dich behalten. Du weißt, warum.«

»Ich bin ja nicht blöd«, sagte Mike, und es klang ein bisschen unverschämt, so, als hätte er den Satz in Gedanken mit den Worten »wie manche bei der Polizei« fortgesetzt. Aber Tanja hielt es für möglich, dass sie sich das nur einbildete. Und wenn all diese Kinder, die sich für Kevin Laurin eingesetzt hatten, tatsächlich Recht behalten sollten, dann hatten sie natürlich allen Grund, kritisch auf ihre Arbeit zu blicken. Manchmal schien eine Sache sonnenklar zu sein – und war es dann eben doch nicht.

Mike war noch nicht lange weg, als sie die Ergebnisse bekam. Jetzt, dachte sie, wird es erst richtig spannend.

*

Charlotte wartete am nächsten Morgen, bis Lukas das Haus verlassen hatte, dann klingelte sie.

»Hast du was verg…« Fabian starrte sie an. Er sah so schlecht aus, dass sie erschrak. Offenbar hatte er in der Nacht kein Auge zugemacht.

»Ich muss mit dir reden«, sagte sie. »Über Lukas. Er war es, über den ich neulich mit dem Kollegen gesprochen habe. Es stimmt, ich habe dich angelogen, und ich hatte Heimlichkeiten vor dir, aber sie bezogen sich auf Lukas. Mit einem anderen Mann in meinem Leben haben sie nichts zu tun.«

Schweigend trat er zur Seite und ließ sie eintreten, dann sagte er: »Ich muss im Büro anrufen und sagen, dass ich später komme.«

Als das erledigt war, saßen sie einander am Esstisch gegenüber wie zwei Fremde. »Bitte«, sagte Fabian. »Du wolltest mir etwas erklären. Ich höre.«

Sie hatte natürlich sofort die zwei Taschen und den Koffer im Flur gesehen. Offenbar hatte er ihre Sachen tatsächlich schon zusammengepackt.

So eilig also war es ihm damit, sie loszuwerden. Aber war das nicht verständlich, wenn er dachte, dass sie ihn mit einem anderen betrogen hatte? Und Grund zu der Annahme hatte er ja gehabt.

»Lukas hat sich verändert in letzter Zeit, nicht wahr?«, fragte sie.

Fabian zog nur die Augenbauen hoch, offenbar dachte er, sie wollte nur Zeit gewinnen.

»Mir ist er aus dem Weg gegangen«, fuhr sie fort. »Ich nehme an, weil ihm klar war, dass mir eher auffallen würde, was mit ihm los ist als dir.«

Jetzt hatte sie Fabians ungeteilte Aufmerksamkeit, und so beeilte sie sich, ihm zu sagen, warum sie irgendwann angefangen hatte zu vermuten, dass Lukas etwas mit Drogen zu tun hatte.

»Ich war ja nicht sicher, also habe ich mit einer Kollegin darüber gesprochen. Und dann habe ich diese Pillen gefunden und sie ihr gegeben. Sie hat sie untersuchen lassen. Es waren Ecstasy-Pillen. Die vertreiben Hunger-, Durst- und Müdigkeitsgefühle, sorgen für erhöhten Puls und schnelleren Herzschlag und …«

Fabian sprang auf. »Hör auf! Hör sofort auf!«

»Tut mir leid, ich bin noch nicht fertig. Hat er dir von der Razzia in seiner Schule erzählt?«

»Razzia?«

»Das dachte ich mir. Bei Kevin Laurin ist ein ganzer Beutel voller Ecstasy gefunden worden – Kevin Laurin, mit dem Lukas mal befreundet war. Mit ihm und Mike Brönner. Beide waren plötzlich abgemeldet. Lukas hat sich neue Freunde gesucht, wie die meisten, wenn sie anfangen, Drogen zu nehmen. Kevin Laurin schwört seitdem, dass er nicht weiß, wie der Beutel in seine Tasche gelangt ist. Seine Fingerabdrücke waren nicht drauf.«

Fabian ließ sich langsam wieder auf seinen Stuhl sinken. Er war aschfahl im Gesicht. »Warum hast du nicht mit mir darüber geredet?«

»Weil meine Kollegin mich darum gebeten hat. Du hättest mit Lukas gesprochen, er wäre also gewarnt gewesen und seine Hintermänner ebenfalls. Die Polizei versucht gerade, zu verhindern, dass sich hier in München eine neue Drogenmafia breitmacht, Fabian. Sie verteilen kostenlos Stoff an den Schulen, um sich ihre künftigen Kunden heranzuziehen.«

»Aber das sind doch alles keine Beweise gegen Lukas!«

Jetzt war es Charlotte, die aufstand. »Denk drüber nach, in aller Ruhe, setz dir die Puzzle-Teile zusammen, und dann sieh dir das Ergebnis an. Ich liebe dich, Fabian, und vielleicht hätte ich zuerst mit dir reden sollen, aber eigentlich denke ich das nicht. Ich bin nicht nur dir verpflichtet, sondern auch dem Amt, für das ich arbeite. Und da ich weiß, was sich hier in der Stadt gerade zusammenbraut, habe ich zuerst mit Kollegen gesprochen und nicht mit dir. Und noch etwas: Wenn Lukas fähig ist, einem Freund die Schuld für etwas in die Schuhe zu schieben, was er selbst getan hat, dann kannst du davon ausgehen, dass er auch vor anderen Dingen nicht zurückschreckt. Wahrscheinlich hat er uns beiden jede Menge Lügengeschichten aufgetischt über das, was er vorhat, wenn er das Haus verlässt.«

Sie drehte sich um und ging zur Tür, aber er sprang auf und folgte ihr. »Warte, Charly. Bitte, warte.«

Sie blieb stehen und sah ihn an. »Denk erst in Ruhe nach«, sagte sie. »Danach können wir reden.«

Die beiden Taschen und den Koffer ließ sie stehen, als sie ging, und er forderte sie nicht auf, sie mitzunehmen.

*

»Die Sache ist eindeutig«, sagte Tanja zu Boris, als die Ergebnisse der Spurensicherung eintrafen. »Wir haben Kevin Laurin Unrecht getan. Es gibt gleich mehrere fette Fingerabdrücke von Lukas Martin auf dem Drogenbeutel.«

»Dann auf in die Schule«, sagte Boris, »denn dort wird er ja wohl sein, oder?«

Tanja nickte. »Lass das die Kollegen machen«, schlug sie vor. »Wir sollten lieber mit Lukas’ Vater und mit den Laurins reden. Wenn ich mir überlege, wie wir bei unserem ersten Zusammentreffen mit Herrn Dr. Laurin aufgetreten sind …«

»Wir haben unsere Erfahrungen, Tanja, und die sprachen nun einmal eindeutig gegen Kevin.«

»Geirrt haben wir uns trotzdem.«

Sie sprachen mit den Kollegen, die Lukas aus der Schule holen sollten, dann riefen sie auf gut Glück bei Lukas’ Vater zuhause an und erreichten ihn sofort.

Als sie eine Viertelstunde später eintrafen, sahen sie, dass Fabian Martin bereits Bescheid wusste. Sein Blick war erloschen, er war bleich, die Augen waren rotgerändert.

Er hörte ihren Bericht fast regungslos an. Als sie ihn beendet hatten, fragte er: »Wo ist Lukas jetzt?«

»Unsere Kollegen holen ihn gerade ab und bringen ihn aufs Präsidium. Wir hoffen sehr, über ihn an einige der wichtigeren Figuren dieser Mafia heranzukommen.«

»Ich hätte misstrauischer sein müssen. Ich habe ja gemerkt, dass er sich verändert, aber ich habe mich immer wieder selbst beruhigt. Wie konnte ich so blind sein?« Fabians Stimme klang leise, verzweifelt.

»Weil er Ihnen nach allen Regeln der Kunst Sand in die Augen gestreut hat, Herr Martin. Jeder Vater, der seinen Sohn liebt, hätte ihm geglaubt.«

Von Fabian Martin fuhren sie in die Kayser-Klinik, wo sie nicht nur Leon, sondern auch Antonia Laurin antrafen. Kevins Mutter standen Tränen in den Augen, auch sein Vater musste darum ringen, die Fassung zu wahren.

Danach fuhren sie ins Präsidium. Lukas hatte zu Beginn der Befragung noch geleugnet, war dann aber überraschend schnell eingeknickt – und zwar in dem Moment, in dem sein Vater hereinkam und ihn nur ansah: Da war es schlagartig vorbei mit der Selbstsicherheit des Jungen. Er brach richtiggehend zusammen und als er sich erholt und einmal angefangen hatte zu reden, wollte er gar nicht wieder aufhören.

*

Als Kevin erfuhr, dass mehrere aus seiner Klasse bei der Polizei angerufen und sich für seine Unschuld verbürgt hatten, als er dann noch hörte, was Peter und Mike getan hatten, war er überwältigt und konnte erst einmal überhaupt nicht reagieren. Erst nach und nach fand er seine übliche Gelassenheit wieder. »Ich wusste gar nicht«, sagte er einige Tage später zu Mike, »dass mich alle für so ehrlich halten.«

Mike grinste nur. »Sei doch froh«, sagte er. »Die waren richtig genervt bei der Polizei, ich glaube, die konnten die Lobgesänge auf dich irgendwann nicht mehr hören.«

»Weißt du, was jetzt mit Lukas wird?«

»Er kommt auf ein Internat, das auf Fälle wie ihn zugeschnitten ist«, berichtete Mike. »Ich hatte ein längeres Gespräch mit seinem Vater. Der wollte mit mir reden, als er gehört hat, dass ich Lukas mal verfolgt habe. Er macht sich Vorwürfe, weil er nicht früher was gemerkt hat.«

»Lukas hat es ja auch darauf angelegt, dass er nichts merkt. Ich glaube, das kann er ziemlich gut.«

»Gut, dass er weggeht aus München, ich glaube, wenn ich ihm noch mal begegnen würde, würde ich ausflippen. Ich meine, dass er Drogen genommen und auch verkauft hat, ist das eine. Aber dass er dich da mit reingezogen hat, wo du damit überhaupt nichts zu tun hattest …«

»Er hat wahrscheinlich so schnell keinen anderen Ausweg gesehen«, sagte Kevin friedlich. »Ich wünsche ihm, dass er da wieder rauskommt. Und ansonsten fände ich es am allerschönsten, nie wieder etwas über diese Sache zu hören.«

Mike hörte kaum zu, sein Blick folgte einem Mädchen mit langen blonden Haaren. »Wer ist das denn? Hast du die Kurven gesehen? Mann, ist die heiß!«

Kevin verdrehte die Augen zum Himmel. »Geht das schon wieder los? Mann, du nervst!«

*

Charlotte und Fabian spazierten durch den Englischen Garten in Schwabing. Fabian hatte um dieses Treffen gebeten, Charlotte hatte sofort eingewilligt.

»Lukas ist jetzt im Internat«, sagte Fabian. »Da geht es ziemlich streng zu. Ich hoffe, er schafft es, sich dort einzugewöhnen. Ich bin jedenfalls froh, dass sie ihn überhaupt genommen haben – bei seiner Vorgeschichte. Ich habe noch etliche lange Gespräche mit ihm geführt, in denen mir klar geworden ist, dass mich natürlich eine Mitschuld trifft. Ich hätte aufmerksamer sein müssen. Ich habe es ihm zu leicht gemacht.«

»Er hat sich aber auch große Mühe gegeben, dich zu täuschen – und mich, vergiss das nicht. Und er hat halt dieses unschuldige Gesicht, da fällt es doppelt schwer, dahinter Lug und Trug zu vermuten.«

»Das ist gut ausgedrückt«, murmelte Fabian. »Charly, ich entschuldige mich dafür, dass ich dich angegriffen habe, aber ich war im ersten Moment so außer mir, dass ich nur einen Vertrauensbruch sehen konnte, wo ich Verantwortungsbewusstsein hätte erkennen sollen.«

»Ich war ja selbst unsicher über das richtige Vorgehen«, gestand sie.

Er blieb stehen, schlang beide Arme um sie. »Wenn wir beide zusammenbleiben«, sagte er zögernd, »wird Lukas dein Stiefsohn werden.«

»Ich weiß. Aber was du nicht weißt, ist, dass er mir einen langen Brief geschrieben hat, in dem er mir sehr vieles sehr ausführlich erklärt hat. Es war einer der schönsten Briefe, die ich je bekommen habe, Fabian. Er weiß, was er getan hat, und ich denke, er hat daraus gelernt.«

Fabian nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie, wieder und wieder, bis sie schließlich ihr Gesicht an seine Brust legte und ihn einfach nur so fest mit ihren Armen umschlang, wie sie konnte. Ihr war nicht bange vor der Zukunft.

*

»Lieber Kevin«, schrieb Lukas, »vielleicht wirfst Du diesen Brief ja gleich weg, wenn Du den Namen des Absenders liest? Ich hoffe nicht, denn ich schreibe Dir, weil ich Dich und Deine Familie um Entschuldigung bitten möchte dafür, dass ich Dich in solche Schwierigkeiten gebracht habe. Und das muss man mit einem richtigen Brief machen, dachte ich mir.

Ich will nicht behaupten, dass mir die Folgen nicht klar gewesen sind, als ich Dir den Beutel in die Tasche gestopft habe. Die Wahrheit ist: Ich habe nicht darüber nachgedacht, weil mir die Folgen gleichgültig waren, ich wollte echt nur meine Haut retten. Das klingt nicht nett, und es war auch nicht nett. Ich bin sehr schnell in diese Szene reingerutscht, irgendwie hatte ich das Gefühl, die nehmen mich für voll, das hat mir gefallen. Und insgeheim fand ich Euch alle kindisch und hatte das Gefühl, dass ich Euch weit voraus bin. Na ja, so kann man sich täuschen.

Ich bin nicht stolz auf das, was ich getan habe. Hier im Internat muss ich einmal pro Woche mit einer Psychologin reden, die lässt mir nichts durchgehen und wenn ich sie anlächele – das hat ja früher immer so gut geklappt – sagt sie nur: »Gib dir keine Mühe, Lukas, bei mir zieht das nicht.« Sie ist echt toll.

Aber wir haben auch noch andere tolle Lehrer hier, zum ersten Mal habe ich das Gefühl, es könnte sich für mich lohnen, mich etwas mehr anzustrengen als bisher, also mache ich das jetzt.

Weißt Du noch, unser Wochenende am Walchensee? Kurz danach hat das bei mir angefangen mit den Drogen. Ist echt schnell gegangen, oder? Wenn ich da jetzt so drüber nachdenke, erschreckt es mich richtig.

Ich darf erst einmal nicht nach München, aber wenn ich die Erlaubnis bekomme, würde ich Mike und Dich echt gerne treffen – falls Ihr beide mir verzeihen könnt. Das wäre das schönste Geschenk für mich. Grüß Mike

Lukas.«

Als Kevin Mike den Brief zeigte, sagte der: »Hört sich an, als meint er es ernst, oder?«

»Ja, fand ich auch.«

»Schreiben wir ihm?«

»Von mir aus. Aber was denn?«

Mike dachte nach.

»Wir kaufen eine Ansichtskarte von München, darauf schreiben wir: ›Wir sehen uns‹ und unsere Namen.«

Und genau so machten sie es dann auch.

Der neue Dr. Laurin Staffel 2 – Arztroman

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