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Episode 1 – WindGeflüster

Ich bin in einer Familie aufgewachsen, die nie viel am Hut hatte mit Kirche oder Religiosität geschweige denn Spiritualität. Was zählte, waren Fakten, Fakten und nochmals Fakten. Von klein auf wurden wir auf mehr oder weniger subtile Art konditioniert und gemaßregelt von unseren Eltern, Großeltern, Freunden, Kindergärtnerinnen, Lehrern - sogar von Unbekannten. Menschen, die selbst auf diese Art groß geworden sind und ihr Lebtag kaum je irgendetwas in Frage gestellt hatten. Menschen, die vor sich hinlebten. Man wurde darüber belehrt, was man kann und wozu man fähig ist - und vor allem, wozu nicht. Ohne es je ausprobiert zu haben. Es regierte Gehorsamkeit gepaart mit Angst, Unterwürfigkeit und Pragmatismus. Funktionalität und Leistung wurden großgeschrieben. Die Schulen und Universitäten spuckten reihenweise Kinder aus, die es nach ihrem Abschluss meisterhaft verstanden, sich keine Fehler mehr zu erlauben, den Wettbewerb zu feiern und unnützes Wissen mit sich herumzutragen wie Lastenesel. Erwartungen zu erfüllen, darin bildete man uns aus. Nicht darin, unabhängig zu denken, zu forschen, zu hinterfragen. Natürlich war man erst dann etwas wert für die Gesellschaft, wenn man sein bravbürgerliches Leben ohne Murren führte, den Geldbeutel des Staates stetig füllte und am Ende seiner Arbeitslast ein lachhaftes Sümmchen für die Mühen der vorangegangenen fünfundvierzig Jahre erhielt. Viele kamen gar nicht so weit und gaben den Löffel schon vorher ab. Ich persönlich habe nie verstanden, worauf wir da eigentlich hin schuften. Es war, als würden wir uns ein Stück Himmel leisten wollen, dabei aber vergessen, dass wir dann später zu alt und zu gebrechlich sind, um über die Wolken zu flitzen und häufig zu krank, um uns an dem Ausblick zu erfreuen.

Als Kind sind einem so viele Dinge der Erwachsenen suspekt: Man versteht nicht, warum sie sich gegenseitig und auch uns Kinder belügen, sich verstellen, übereinander schlecht reden. Warum sie so oft in sich hineinweinen, Dinge tun, die sie ganz und gar ablehnen, warum sie ständig dem lieben Geld hinterherlaufen oder es als Ausrede für alles Unangenehme benutzen.

Warum sie Besitztümer auftürmen, sparen wie die Irren, sich hoch verschulden. Warum sie Kinder in die Welt setzen, wenn sie selbst noch unreife Kinder sind. Warum sie alles planen müssen und ihnen Sicherheit so viel bedeutet. Warum sie in unerträglichen Situationen verharren und Beziehungen leben, die ihnen im besten Fall nichts bedeuten und im schlimmsten Fall in den Abgrund stoßen.

Mir wurde von klein auf am laufenden Band eingetrichtert, dass ich zwei linke Pfoten habe, zu ungeschickt bin und einfach viel zu langsam für diese Welt. Ehe ich mich versah, wurde ich bereits von meinen Eltern etikettiert. Liebe und Vertrauen waren zwei Faktoren, die in meiner Erziehung keine große Rolle spielten. Stattdessen wurde ich als Kleinkind oft windelweich geprügelt, weil Mama meinen Vater verbal unter Druck setzte und er ein Ventil brauchte. Mich.

Sie waren beide sehr schwache Menschen, die in ihrem Leben keine Liebe erfuhren. Diese Erkenntnis durchdrang mich ungefähr dreißig Jahre später. Leider sehr spät. Bis zu diesem Zeitpunkt allerdings hielten sie mich auf Trab. Drangsalierten mich Tag für Tag. Sticheleien, demütigende Witze auf meine Kosten, Bloßstellungen vor Dritten, Unterstellungen und messerscharfe Kritik. Keine aufmunternden Worte, keine liebevolle Geste, keine herzliche Umarmung. Nur Prügel und Ohrfeigen, um mich wieder auf den Weg zu bringen, einzunorden und mir das neugierige Maul zu stopfen. Sie verpassten mir auch dann Ohrfeigen, wenn ich zuviel lachte. Daraus bestand mein körperlicher Kontakt zu meinen Eltern! Mehr war ich für sie offenkundig nicht wert.

Was war ich bemüht, ihnen zu gefallen, angepasst zu sein und keinen Unmut zu erregen! Rückblickend lief ich durch meine Kindheit auf Alarmstufe Rot. Jede noch so winzige Änderung in der familiären Atmosphäre erspürte ich mit jeder Faser meines Körpers. Manchmal verzog ich mich rechtzeitig. Meistens jedoch nicht.

Ich war ein eher stilles, introvertiertes Kind. Zu meinen eigenen Bedürfnissen hatte ich längst den Bezug verloren. Ich wusste weder wer ich war noch wer ich bin. Andere Identitäten konnte ich mühelos über mich stülpen wie ein weites Kleid. Als Sechsjährige hatte ich bereits ausgezeichnet gelernt mich zu verstellen. Nach außen hin den Sonnenschein zu geben, aber sonst die Zähne zusammenzubeißen und keine Schwäche zu zeigen. In meinem Inneren zog ein Wolkenbruch nach dem anderen sein Schwert.

Man hatte mir oft genug erzählt, dass ich selbst an allem schuld sei. Doch was kann ein Kleinkind in seinem kurzen Leben schon verbrochen haben? Ich diente lediglich als Projektionsfläche für meine Familie, auf der sie sich austoben konnten. Als Individuum, als Tochter, als Geschenk wurde ich nie gesehen. Eine Wertanlage, ein funktionierender Teil der Gesellschaft, etwas dass sie nur füttern, zur Schule schicken und dem sie ein Dach über den Kopf geben müssen. Das war´s. Ein Schwein hätte es wahrscheinlich besser getroffen. Meine Eltern haben alle und jeden gegen mich aufgestachelt. Eine Beziehung zu meinen drei jüngeren Geschwistern gestaltete sich daher als ein Ding der Unmöglichkeit.

Unsere Mutter zog wie ein Puppenspieler alle Fäden. Entweder verschlossen alle, Verwandte und Bekannte eingeschlossen, die Augen oder spielten einfach mit. Nie haben sie diese vorgelebten Verhaltensweisen und ungesunden Familiendynamiken hinterfragt. Lieber sollte ich mir den Zorn unserer Eltern zuziehen, als dass sie ins Kreuzfeuer gerieten. Die körperlichen Züchtigungen meiner Eltern, die beide nicht zimperlich in dieser Angelegenheit waren, summierten sich bei drei Brüdern, die ständig Blödsinn im Kopf hatten, immens. Jeder Mist, den sie verbockten, wurde mir zugeschrieben. Selbst dann, wenn ich weit weg war.

Aber nach außen hin vertraten wir natürlich die perfekte Familie: Alleinstehendes Einfamilienhaus, großer Garten, zwei PKWs, ein VW-Bus, acht Fahrräder und lachende, glückliche Gesichter. Was habe ich diese Heuchelei und dieses Fassaden-Schmierentheater gehasst!

Fahrradfahren lernen, war für mich kein schönes Eltern-Kind-Erlebnis. In unserer Nachbarschaft jauchzten die Kinder, wenn ihre Väter sie behutsam auf das Rad setzen und gemeinsam kleine Erfolge feierten. In dem gottverlassenen Ort, in dem ich Fahrrad fahren lernen musste, konnte man nur das Heulen eines verängstigten, kleinen Mädchens von drei Jahren vernehmen. Was wohl auch ein Grund war, warum meine Eltern schließlich dort wegzogen. Meine Koordination und mein Gleichgewichtsgefühl waren aufgrund einer angeborenen Krankheit, die zwei Jahre zuvor erkannt wurde, nicht sonderlich gut ausgebildet. Das juckte meinen Vater jedoch überhaupt nicht. Er prügelte mich auf den Drahtesel als gäbe es keinen Morgen, und wenn ich mal wieder dabei umfiel, gab es links und rechts schallende Ohrfeigen, und zwar solange bis ich wieder aufstand, in die Pedale trat und loseierte. Das wiederholte sich noch etliche Male bis wir einmal um den Block herum waren. Dann begann es wieder von vorn. Es war ja nicht so, dass ich Stützräder gehabt oder er mein Fahrrad gehalten hätte. Nein! Sobald ich aufsaß, ließ er einfach los, um im Anschluss erneut mit grimmiger Miene und geballten Fäusten anzupreschen. An diesem Tag sah ich viele Gesichter hinter Gardinen versteckt. Eingeschritten ist niemand.

Ähnlich erging es mir beim Schwimmen. An einem frühen Maimorgen fuhr ich mit meinen Eltern nichtsahnend in einem aufblasbaren Kanu zur Mitte eines trüben Weihers. Meine Eltern erklärten mir feierlich, es sei nun Zeit Schwimmen zu lernen. Ehe ich auch nur Zeit zum Reagieren hatte, landete ich unversehens mit dem Kopf voran im Wasser! Damals wusste ich noch nicht, dass andere Kinder für diesen Zweck Schwimmflügel bekamen. Mich schickten sie ohne! Nachdem ich in dem eiskalten Wasser panisch nach Luft schnappend immer wieder unterging, zogen sie mich für einen Wimpernschlag wieder aus dem Wasser und schrien mir ins Gesicht, dass ich doch nur Arme und Beine bewegen solle. Das WIE war für sie völlig nebensächlich. Ihrer Meinung nach habe es die Natur so vorgesehen. Wenn genug Überlebenswille da ist, dann werde ich schon selbst wissen, was zu tun sei. „Das Kind muss da durch.“ Keine Ahnung, welcher Film da gerade bei ihnen ablief. Sie stießen mich mit dem Paddel immer von sich, sobald ich dem Boot auch nur zu nah kam. Vielleicht hofften sie auch, dass sich das leidige Thema mit mir damit von selbst erledigte. Schließlich entfernten sie sich mit dem Boot und ließen mich strampelnd im See zurück. Pures Entsetzen erfasste mich. Am Ufer winkten sie mir fröhlich zu, stellten den Grill auf und zeigten lachend auf mich, während ich verzweifelt um mein Leben kämpfte.

Da war ich fünfeinhalb Jahre alt. Ich spürte die Eiseskälte des Wassers unwiderbrüchlich in mich eindringen, roch die kühle klare Waldluft, sah den grünen Mantel, den die Natur umlegte, den Nebel, der sich langsam von der Wasseroberfläche löste und das fröhliche Kreischen der Vögel. Frühlingserwachen. Als ob sich die ganze Welt an meinem Kampf ergötzt. Meine Sinne waren schmerzhaft geschärft. Um mich herum wirkte alles viel zu laut. Meine Lungen pfiffen ihr krächzendes Lied, während meine Beine und Arme taub wurden.

Schließlich verlor ich kurzzeitig die Besinnung und nickte weg. Ich wollte nicht mehr kämpfen. Ich war es so leid. Nach allem, was mir bisher schon von diesen Menschen widerfuhr, die sich Eltern nannten, war dies der Moment, der sich mir in Mark und Bein einbrannte. Der Moment, in dem ich auch als Kind verstand, dass das unmöglich normal sein konnte. Wer tut seinem Kind so etwas an?

Ein leises Flüstern um mich herum, riss mich schlagartig aus dem Sekundenschlaf und rettete mir wohl rückblickend betrachtet das Leben. Hab ich mir das eingebildet? Nach einem kurzen Blick zum Ufer sah ich, dass das Picknick in vollem Gange war. Musik hallte herüber. Niemand beachtete mich mehr. Niemand fühlte sich berufen, mir zu helfen. Niemand lachte mehr. Niemand war mehr da. Ich war mir selbst überlassen. Ich fühlte mich SO allein, SO hilflos, SO ohnmächtig, aber allmählich setzte die Wut ein. Sie erfasste meinen ganzen Körper, bahnte sich glühend ihren Weg durch jede Faser, jede Zelle, und trieb meinen Überlebenswillen an. Arme und Beine bewegten sich plötzlich koordinierter, fraßen sich eine Schneise durch das dunkle Nass. Wie ein Hund paddelte ich verbissen um mein Leben. Das Ufer zu meiner rechten Seite rückte näher. Um mich herum schwirrten Libellen und Bremsen. Letztere machten sich einen Spaß daraus, mich agressiv zu traktieren. Wie meine beschissene Familie. Das stachelte den flammenden Zorn nur zusätzlich an. Ihr kriegt mich nicht klein. Euch zeig ich´ s. Die Wut half mir, über mich selbst hinauszuwachsen. Diente als Antrieb, um das hier durchzustehen und mich weiter gen Ufer zu bewegen. Japsend rettete ich mich auf den sandigen Grund und sank völlig unterkühlt und bewusstlos im Gras zusammen. Der Wind flüsterte mir wieder zu: Du bist nicht allein!

Der Himmel war an jenem Tag wolkenlos. Die Sonne schien in voller Breite, jedoch ohne Wärme. Ganz wie Zuhause. Meine Mutter zuckte mit den Achseln als wir mit dem Auto nach Hause fuhren und sagte nur:

„Du bist so ein elendiges Weichei, Tanya!“ Und mit fragendem Blick zu ihrem Mann: „Verstehst du, warum das Kind immer alles so persönlich nehmen muss?“Ich sparte mir jegliche Antwort und verlor mich stattdessen in den vorbeifliegenden Feldern. Es gab für mich nichts mehr zu sagen.

Die Uhr im Auto zeigte den 25. Mai 1985, 15: 29 Uhr.

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