Читать книгу Ein Zimmer für sich allein - Virginia Woolf - Страница 2

Kapitel 11

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Aber, werden Sie sagen, wir haben Sie gebeten, über Frauen und Literatur zu sprechen – was hat das mit einem Zimmer zu tun, das man für sich allein hat? Ich werde versuchen, es zu erklären. Als Sie mich baten, über Frauen und Literatur zu sprechen, setzte ich mich ans Ufer eines Flusses und begann zu überlegen, was diese Worte bedeuten könnten. Sie könnten bedeuten, einfach ein paar Bemerkungen über Fanny Burner zu machen; einige weitere über Jane Austen; die Brontës zu würdigen und das schneebedeckte Pfarrhaus von Haworth zu skizzieren; etwas möglichst Witziges über Miss Mitford zu sagen; respektvoll auf George Eliot anzuspielen; auf Mrs Gaskell hinzuweisen, und man wäre fertig.[1] Aber auf den zweiten Blick schienen die Worte nicht mehr so einfach zu sein. Der Titel Frauen und Literatur könnte bedeuten, und so könnten Sie ihn gemeint haben, Frauen und wie sie sind; oder er könnte bedeuten, Frauen und die Literatur, die sie schreiben; oder er könnte Frauen und die Literatur, die über sie geschrieben wird, bedeuten, oder er könnte bedeuten, dass alle drei irgendwie unauflösbar miteinander vermischt sind und dass Sie von mir erwarten, sie in diesem Licht zu betrachten. Als ich aber in letztgenannter Weise über das Thema nachzudenken begann, weil sie mir die interessanteste zu sein schien, begriff ich schnell, dass sie einen schwerwiegenden Nachteil hatte. Ich wäre nie in der Lage, zu einem Schluss zu kommen. Ich wäre nie in der Lage, die aus meiner Sicht wichtigste Aufgabe einer Rednerin zu erfüllen – Ihnen nach einem einstündigen Vortrag ein Körnchen reiner Wahrheit zu überreichen, das Sie zwischen die Seiten Ihrer Notizbücher stecken und für immer auf den Kaminsims legen können. Ich kann Ihnen nur eine Meinung zu einer Nebensache anbieten – eine Frau braucht Geld und ein eigenes Zimmer, um schreiben zu können; und das lässt, wie Sie sehen werden, das große Problem der wahren Natur der Frau und der wahren Natur der Literatur ungelöst. Ich habe mich vor der Aufgabe, in diesen beiden Fragen zu einem Schluss zu kommen, gedrückt – Frauen und Literatur bleiben, was mich betrifft, ungelöste Probleme. Aber um das ein wenig auszugleichen, werde ich tun, was ich kann, um Ihnen zu zeigen, wie ich zu dieser Meinung über das Zimmer und das Geld kam. Ich werde in Ihrem Beisein meinen Gedankengang, der zu dieser Ansicht führte, so vollständig und frei entfalten wie möglich. Wenn ich die Vorstellungen und die Vorurteile bloßlege, die dieser Aussage zugrunde liegen, werden Sie eventuell feststellen, dass sie eine gewisse Auswirkung auf Frauen und eine gewisse Auswirkung auf die Literatur haben. Keinesfalls aber kann man darauf hoffen, die Wahrheit zu sagen, wenn ein Thema höchst umstritten ist – und das ist jede Frage zum Geschlecht. Man kann nur zeigen, wie man zu seiner Meinung kam, wie auch immer sie ausfällt. Man kann seinen Zuhörerinnen nur die Möglichkeit geben, eigene Schlüsse zu ziehen, während sie die Grenzen, die Vorurteile und Idiosynkrasien der Rednerin im Blick haben. Hier enthält die Fiktion wahrscheinlich mehr Wahrheit als die Fakten. Deshalb schlage ich vor, Ihnen unter Ausnutzung aller Freiheiten und Rechte einer Romanschriftstellerin die Geschichte der zwei Tage zu erzählen, die meiner Ankunft hier vorausgingen – wie ich, niedergebeugt vom Gewicht des Themas, das Sie mir aufgeladen haben, darüber nachsann und es meinen Alltag durchdringen ließ. Ich brauche nicht zu sagen, dass das, was ich beschreiben werde, nicht existiert; Oxbridge ist eine Erfindung, genau wie Fernham; ich ist nur ein brauchbares Wort für jemanden, den es nicht wirklich gibt. Lügen werden über meine Lippen fließen, aber vielleicht hat sich ein bisschen Wahrheit daruntergemischt; es liegt an Ihnen, diese Wahrheit ausfindig zu machen und zu entscheiden, ob irgendetwas daran bewahrenswert ist. Wenn nicht, werden Sie das Ganze selbstverständlich in den Papierkorb werfen und völlig vergessen.

So also saß ich (nennen Sie mich Mary Beton, Mary Seton, Mary Carmichael oder wie immer es Ihnen gefällt – das ist nicht von Bedeutung) vor ein oder zwei Wochen bei schönem Oktoberwetter gedankenversunken am Ufer eines Flusses. Das Joch, von dem ich sprach, Frauen und Literatur, das Bedürfnis, bei einem Thema, das alle möglichen Vorurteile und Leidenschaften aufruft, zu einem Schluss zu kommen, drückten mich nieder. Rechts und links irgendwelche Büsche, golden und purpurn, die Farbe ließ sie glühen, schienen sogar verbrannt in der Hitze, vom Feuer. Weiter unten am Ufer weinten die Weiden mit unaufhörlichem Gejammer, ihr Haar um die Schultern. Der Fluss spiegelte, was immer er von Himmel, Brücke und brennendem Baum auswählte, und als der Student sein Boot durch die Spiegelungen gerudert hatte, fügten sie sich wieder zusammen, so vollständig, als hätte es ihn nie gegeben. Dort hätte man rund um die Uhr so in Gedanken versunken sitzen können. Die Gedanken – um einen stolzeren Namen zu verwenden, als sie es verdienten – hatten ihre Angelschnur in den Strom hinuntergelassen. Sie schaukelte Minute um Minute zwischen den Spiegelungen und den Wasserpflanzen hin und her, ließ sich vom Wasser heben und senken, bis – Sie kennen das kleine Zupfen – plötzlich die Verdichtung einer Idee am Ende der Schnur: und dann das vorsichtige Einholen und sorgsame Auslegen? Ach, wie klein, wie unbedeutend mein Gedanke im Gras liegend aussah; die Sorte Fisch, die ein guter Angler zurück ins Wasser setzt, damit er fetter werden kann und es sich eines Tages lohnt, ihn zu kochen und zu essen. Ich werde Sie jetzt nicht mit diesem Gedanken belästigen, aber bei aufmerksamem Hinschauen könnten Sie im Laufe dessen, was ich sagen werde, selbst darauf stoßen.

Wie klein er auch war, besaß er doch die geheimnisvolle Eigenschaft, die dieser Sorte zu eigen ist – zurück in den Kopf gesetzt, wurde er sofort sehr aufregend und wichtig; und als er losschoss und abtauchte und hierhin und dorthin flitzte, löste er einen solchen Wirbel und Tumult an Ideen aus, dass es unmöglich war, stillzusitzen. So kam es, dass ich mich dabei ertappte, wie ich äußerst schnell über eine Grasfläche ging. Augenblicklich tauchte die Gestalt eines Mannes auf, um mich aufzuhalten. Zuerst verstand ich gar nicht, dass das Gestikulieren eines eigentümlich aussehenden Gebildes in Gehrock und Frackhemd mir galt. Sein Gesicht drückte Entsetzen und Empörung aus. Instinkt, eher als Vernunft, kam mir zu Hilfe; er war ein Pedell, ich war eine Frau. Hier war der Rasen, dort war der Weg. Hier sind nur die Fellows und Gelehrten zugelassen, mein Platz ist der Kies. Solche Gedanken entstehen im Augenblick. Als ich den Pfad wieder erreichte, ließ der Pedell die Arme sinken, in sein Gesicht kehrte die übliche Ruhe zurück, und obwohl es sich auf Rasen besser geht als auf Kies, war kein besonders großer Schaden entstanden. Das Einzige, was ich den welchem College auch immer angehörenden Fellows und Gelehrten vorzuwerfen hatte, war, dass sie zum Schutz ihres seit dreihundert Jahren unablässig gewalzten Rasens meinen kleinen Fisch vertrieben hatten.

An die Idee, die mich zu so kühner Übertretung veranlasst hatte, konnte ich mich jetzt nicht mehr erinnern. Der Geist des Friedens sank wie eine Wolke vom Himmel herab, denn wenn der Geist des Friedens irgendwo haust, dann in den Gebäuden und Innenhöfen von Oxbridge an einem schönen Oktobermorgen. Beim Schlendern zwischen jenen Colleges, vorbei an diesen uralten Hallen, schien die Rauheit der Gegenwart geglättet; der Körper schien in eine wundersame Glasvitrine eingeschlossen, die kein Laut durchdringen konnte, und der Geist, ohne jede Berührung mit der Wirklichkeit (es sei denn, man betrat noch einmal den Rasen), war frei, sich jeglicher Betrachtung hinzugeben, die mit dem Augenblick im Einklang stand. Wie der Zufall es wollte, brachte mir eine abseitige Erinnerung an einen alten Essay über ein Wiedersehen mit Oxbridge in den großen Ferien Charles Lamb in den Sinn – Saint Charles, sagte Thackeray und hielt sich einen Brief von Lamb an die Stirn. Tatsächlich, unter all den Toten (ich gebe Ihnen meine Gedanken so wieder, wie sie mir kamen) ist Lamb einer der angenehmsten; einer, den man gern gefragt hätte: Sagen Sie, wie haben Sie eigentlich Ihre Essays geschrieben? Denn seine Essays sind sogar denen von Max Beerbohm mit all ihrer Perfektion überlegen, dachte ich, weil es mittendrin dieses wilde Aufleuchten der Fantasie, das blitzartige Aufzucken der Genialität gibt, das sie mangelhaft und unvollkommen macht, aber mit funkelnder Poesie übersät.[2] Lamb kam also vor vielleicht hundert Jahren nach Oxbridge. Jedenfalls schrieb er einen Essay – der Titel ist mir entfallen – über die Handschrift eines Gedichts von Milton, die er hier fand. Vielleicht war es Lycidas, und Lamb schrieb, wie sehr ihn der Gedanke schockierte, irgendein Wort in Lycidas könnte zuvor anders gelautet haben als jetzt. Sich vorzustellen, Milton könnte Wörter in diesem Gedicht geändert haben, erschien ihm wie ein Sakrileg. Da erinnerte ich mich an das, was ich noch von Lycidas wusste, und stellte zu meinem eigenen Vergnügen Mutmaßungen darüber an, welches Wort Milton geändert haben könnte und warum. Dann fiel mir ein, dass genau dieselbe Handschrift, die Lamb sich angeschaut hatte, nur wenige Meter entfernt zu finden war, sodass man in Lambs Fußstapfen über den Innenhof zu jener berühmten Bibliothek hinübergehen konnte, in der der Schatz aufbewahrt wird. Außerdem, erinnerte ich mich, während ich den Plan in die Tat umsetzte, wird in dieser berühmten Bibliothek auch die Handschrift von Thackerays Esmond aufbewahrt. Esmond, behaupten die Kritiker oft, sei Thackerays vollkommenster Roman. Aber der affektierte Stil, der das achtzehnte Jahrhundert nachahmt, stört, soweit ich mich erinnere, es sei denn, der Stil des achtzehnten Jahrhunderts wäre der Thackeray gemäße – etwas, was sich überprüfen ließe, indem man sich die Handschrift anschaute und nachsähe, ob die Änderungen zugunsten des Stils oder des Sinns gemacht wurden. Dann aber müsste man entscheiden, was Stil und was Sinn heißt, eine Frage, die – aber hier stand ich tatsächlich vor der Tür, die zur Bibliothek führt. Ich muss sie geöffnet haben, denn augenblicklich erschien wie ein Schutzengel, der den Weg mit dem Geflatter eines schwarzen Talars anstelle weißer Flügel verstellte, ein abwehrender, silbriger, freundlicher Herr, der, während er mich mit wedelnder Hand zurückscheuchte, in leisem Ton bedauerte, dass Damen zur Bibliothek nur Zutritt hätten, wenn sie von einem Fellow des Colleges begleitet oder ein Empfehlungsschreiben bei sich haben würden.

Dass eine berühmte Bibliothek von einer Frau verflucht worden ist, ist einer berühmten Bibliothek völlig gleichgültig. Ehrwürdig und gelassen, alle ihre Schätze sicher in der Brust verschlossen, schläft sie selbstzufrieden und wird, was mich betrifft, für immer so schlafen. Nie werde ich diese Echos wecken, nicht noch einmal um Gastfreundschaft bitten, schwor ich, als ich voller Zorn die Stufen hinabstieg. Bis zum Lunch blieb immer noch eine Stunde, und was sollte man damit anfangen? Über die Wiesen schlendern? Am Fluss sitzen? Gewiss, der Herbstmorgen war herrlich; die Blätter flatterten rot zu Boden, und weder das eine noch das andere verlangte eine besondere Anstrengung. Aber Musik drang nun an mein Ohr. Ein Gottesdienst oder eine Feier fand statt. Die Orgel klagte prächtig, als ich an der Kirchentür vorbeiging. Sogar das Leid der Christenheit klang in dieser friedlichen Luft mehr wie eine Erinnerung an das Leid als wie das Leiden selbst; sogar das Ächzen der uralten Orgel schien in Frieden gehüllt. Ich hatte nicht den Wunsch, hineinzugehen, falls ich das Recht dazu gehabt hätte, und diesmal hätte mich wohl der Küster aufgehalten und vielleicht meinen Taufschein verlangt oder ein Empfehlungsschreiben des Dekans. Aber das Äußere dieser prächtigen Gebäude ist oft so schön wie das Innere. Außerdem war es unterhaltsam genug, zuzuschauen, wie die Gemeinde sich versammelte, hineinging und wieder herauskam, geschäftig vor der Kirchentür herumschwirrte wie Bienen vor dem Eingang zum Bienenstock. Viele trugen Doktorhut und Talar, manche hatten einen Pelzbesatz auf den Schultern, andere wurden im Rollstuhl hineingeschoben, wieder andere, obwohl noch nicht jenseits der mittleren Jahre, wirkten so eigenartig zerknittert und zerknautscht, dass ihre Gestalten an jene riesigen Krabben und Krebse erinnerten, die sich mit Mühe über den Sand eines Aquariums schleppen. Als ich mich an die Mauer lehnte, wirkte die Universität tatsächlich wie ein Refugium, in dem seltene Arten erhalten werden, die bald aussterben würden, wären sie dem Überlebenskampf auf dem Straßenpflaster des Strand[3] ausgesetzt. Alte Geschichten von alten Dekanen und alten Doktoren fielen mir wieder ein, aber bevor ich den Mut aufbrachte zu pfeifen – es hieß, dass beim Klang eines Pfiffs der alte Professor sogleich in einen Galopp fiel –, war die ehrwürdige Gemeinde im Inneren verschwunden. Das Äußere der Kirche blieb. Wie Sie wissen, wirken ihre hohen Kuppeln und Spitztürme wie ein beständig reisendes, nie ankommendes Segelschiff, nachts hell erleuchtet und meilenweit zu sehen, bis weit hinter die Hügel. Vermutlich war dieser Innenhof mit seinen glatten Rasenflächen, wuchtigen Gebäuden und der Kirche selbst einst ebenfalls Sumpfland, in dem die Gräser wogten und die Schweine wühlten. Pferde- und Ochsengespanne, dachte ich, mussten die Steine in Fuhrwerken aus entlegenen Grafschaften herangekarrt haben, und dann wurden die grauen Quader, in deren Schatten ich jetzt stand, in unermüdlicher Arbeit einer ordentlich auf den anderen geschichtet, und dann brachten Maler ihr Glas für die Fenster, und die Maurer waren jahrhundertelang dort oben auf dem Dach mit Kitt und Mörtel beschäftigt, mit Schaufel und Kelle. Bestimmt hatte jemand jeden Samstag Gold und Silber aus einer ledernen Geldbörse in ihre uralten Fäuste geschüttet, denn am Abend hatten sie bei Bier und Kegelspiel vermutlich ihren Spaß. Ein endloser Strom aus Gold und Silber, dachte ich, musste fortwährend in dieses Gebäude geflossen sein, damit die Steine weiterhin kamen und die Maurer weiterhin arbeiteten; ebneten, aushoben, gruben und entwässerten. Aber es war das Zeitalter des Glaubens, und das Geld wurde großzügig ausgeschüttet, um diese Steine auf ein starkes Fundament zu setzen, und als die Steine errichtet waren, floss noch mehr Geld aus den Schatztruhen von Königen und Königinnen und Fürsten hinein, um sicherzustellen, dass Hymnen hier gesungen und Gelehrte unterrichten würden. Ländereien wurden bewilligt; Zehnte wurden bezahlt. Und als das Zeitalter des Glaubens vorbei und das Zeitalter der Vernunft angebrochen war, floss derselbe Strom aus Gold und Silber weiter; Stipendien wurden gestiftet; Professuren eingerichtet; nur dass das Gold und Silber jetzt nicht mehr aus den Schatztruhen des Königs, sondern aus den Kassen von Kaufleuten und Fabrikanten, aus den Geldbörsen von Männern floss, die ein Vermögen etwa als Unternehmer gemacht hatten und in ihren Testamenten einen ordentlichen Anteil davon zurückgaben, um weitere Lehrstühle, weitere Professuren, weitere Stipendien in der Universität einzurichten, an der sie ihr Handwerk gelernt hatten. Daher die Bibliotheken und Labore; die Observatorien; die großartige Ausstattung mit teuren und empfindlichen Instrumenten, die jetzt in Glasregalen stehen, wo vor Jahrhunderten Gräser wogten und Schweine wühlten. Sicher, als ich im Hof umherschlenderte, schien das Fundament aus Gold und Silber stark genug; das Pflaster stabil über den wilden Gräsern zu liegen. Männer mit Tabletts auf dem Kopf gingen geschäftig von einem Treppenhaus zum anderen. Farbenprächtige Blumen blühten in Kästen vor den Fenstern. Die Töne eines Grammophons schallten aus den Zimmern. Es war unmöglich, sich nicht zu überlegen – die Überlegung, welche auch immer, wurde gekappt. Die Uhr schlug. Es war Zeit, sich zum Lunch einzufinden.

Es ist eine seltsame Sache, wie gut Romanschriftsteller sich darauf verstehen, uns glauben zu lassen, Lunchgesellschaften wären ausnahmslos denkwürdig, weil etwas besonders Geistreiches gesagt wurde oder etwas sehr Weises geschah. Aber selten verlieren sie ein Wort über das, was gegessen wurde. Es gehört zu den Konventionen des Schriftstellers, Suppe, Lachs und Ente nicht zu erwähnen, als wären Suppe, Lachs und Ente nicht von geringster Bedeutung, als hätte niemand je eine Zigarre geraucht oder ein Glas Wein getrunken. Ich nehme mir hier aber die Freiheit, mich über diese Konvention hinwegzusetzen und Ihnen zu erzählen, dass das Mittagessen bei dieser Gelegenheit mit Seezunge in einer tiefen Schüssel begann, über die der College-Koch eine Decke aus weißester Sahne gebreitet hatte, nur hier oder da versehen mit braunen Flecken wie die Flecken auf den Flanken einer Hirschkuh. Danach kamen die Rebhühner, aber wenn Sie dabei an ein paar kahle, braune Vögel auf einer Platte denken, liegen Sie falsch. Die Rebhühner, zahlreich und verschieden, kamen mit ihrem gesamten Gefolge an Soßen und Salaten, den scharfen und den süßen, jede in der entsprechenden Reihenfolge; mit ihren Kartoffeln, dünn wie Münzen, aber nicht so hart; ihrem Rosenkohl, die Blättchen wie Rosenknospen, nur saftiger. Und kaum waren der Braten und sein Gefolge beendet, setzte uns schon der stumme servierende Diener, vielleicht der Pedell höchstpersönlich, nur in sanfterer Erscheinungsform, eine von Servietten umhüllte Nachspeise vor, die wie ein Zuckerberg aus den Wellen ragte. Sie als Pudding zu bezeichnen und so mit Reis und Tapioka in Verbindung zu bringen wäre eine Beleidigung. Unterdessen hatten die Weingläser gelb aufgeleuchtet und rot aufgeleuchtet; waren geleert worden; waren gefüllt worden. Und so wurde nach und nach in der Mitte der Wirbelsäule, dort, wo die Seele wohnt, nicht das harte, kleine elektrische Licht entzündet, das wir als Scharfsinn bezeichnen, wenn es zwischen unseren Lippen auftaucht, sondern das tiefere, subtile und untergründige Glühen der satten gelben Flamme vernünftigen Austauschs. Keine Notwendigkeit zur Eile. Keine Notwendigkeit, zu glänzen. Keine Notwendigkeit, jemand anderes zu sein als man selbst. Wir kommen alle in den Himmel, und van Dyck ist mit von der Partie – mit anderen Worten, wie gut das Leben schien, wie süß seine Belohnungen, wie banal dieser Neid oder jener Groll, wie wunderbar die Freundschaft und Gesellschaft Gleichgesinnter, während man sich eine gute Zigarre anzündete und in die Sitzkissen am Fenster sank.

Wenn durch einen glücklichen Zufall ein Aschenbecher zur Hand gewesen wäre und man die Asche in Ermangelung dessen nicht aus dem Fenster geschnippt hätte, wenn die Dinge ein wenig anders gewesen wären, als sie waren, hätte man vermutlich die Katze ohne Schwanz nicht gesehen. Der Anblick dieses unerwartet kupierten Tiers, das auf leisen Pfoten durch den Innenhof strich, veränderte durch eine Zufallsregung des unbewussten Intellekts das emotionale Licht für mich. Als hätte jemand ein Rouleau heruntergelassen. Vielleicht ließ die Wirkung des vorzüglichen Weißweins nach. Natürlich, als ich zusah, wie die Manx-Katze mitten auf dem Gras anhielt, als würde auch sie das Universum in Frage stellen, schien etwas zu fehlen, schien etwas anders zu sein. Aber was fehlte, was war anders, fragte ich mich, während ich der Unterhaltung zuhörte. Und um diese Frage zu beantworten, musste ich mich aus dem Zimmer hinausdenken, zurück in die Vergangenheit, sogar bis in die Zeit vor dem Krieg, und mir das Muster einer anderen Lunchgesellschaft vor Augen führen, die in nicht weit entfernt gelegenen, aber anderen Zimmern stattgefunden hatte. Alles war anders. Inzwischen ging die Unterhaltung unter den Gästen weiter, die zahlreich und jung waren, die einen diesen, die anderen jenen Geschlechts; sie ging geschmeidig weiter, sie ging einvernehmlich weiter, frei, lebendig. Und während sie weiterging, hörte ich sie vor dem Hintergrund dieser anderen Unterhaltung, und als ich beide übereinanderlegte, hatte ich keinen Zweifel, dass die eine die Nachfahrin der anderen war, ihre rechtmäßige Erbin. Nichts hatte sich gewandelt; nichts war anders, außer – hier hörte ich mit großen Ohren nicht ausschließlich auf das, was gesagt wurde, sondern auf das Raunen oder die Strömung dahinter. Ja, das war es – das war der Wandel. Vor dem Krieg hätten die Leute bei einer Lunchgesellschaft genau die gleichen Dinge gesagt, aber sie hätten sich anders angehört, denn damals wurden sie von einer Art Summen begleitet, nicht deutlich, aber melodisch, aufregend, das den Wert der Worte veränderte. Könnte man dieses Summen in Worte fassen? Mithilfe der Dichter könnte man das vielleicht. Ein Buch lag neben mir, und als ich es aufschlug, blätterte ich eher unabsichtlich zu Tennyson. Und stieß auf etwas, was Tennyson sang:

Von Passionsblumenranken am Tor

Rinnt eine Träne ins Moos.

Ah, sie kommt, die mein Herz sich erkor,

Sie kommt, mein Leben, mein Los.

Rotrose ruft: »Sie ist nah, sie ist nah«,

Weißrose weint: »Verspätet sie sich?«

Rittersporn lauscht: »Sie ist da, sie ist da«,

Lilie flüstert: »Gedulde dich.«

War es das, was Männer vor dem Krieg bei Lunchgesellschaften summten? Und die Frauen?

Mein Herz ist wie ein Vogel heut’

Dem dichtes Laub sein Nest umflicht;

Mein Herz ist wie ein Apfelbaum,

Dem jeder Ast von Früchten bricht;

Mein Herz ist wie ein Muschelhaus,

Das schwimmt im tiefdurchsonnten Meer,

Und noch viel froher ist mein Herz,

Mein Liebster kam zu mir daher.[4]

War es das, was Frauen bei Lunchgesellschaften vor dem Krieg summten?

Die Vorstellung, dass vor dem Krieg Menschen solche Dinge, wenn auch nur unter vorgehaltener Hand, bei Lunchgesellschaften gesummt hatten, war so skurril, dass ich auflachte und mein Gelächter erklären musste, indem ich auf die Manx-Katze zeigte, die tatsächlich ein wenig absurd aussah, armes Tier, ohne Schwanz, mitten auf dem Rasen. War sie wirklich so geboren worden, oder hatte sie ihren Schwanz bei einem Unfall verloren? Die schwanzlose Katze ist seltener, als man denkt, obwohl es einige von ihnen auf der Isle of Man geben soll. Sie ist ein eigenartiges Tier, eher bizarr als hübsch. Es ist seltsam, was ein Schwanz für einen Unterschied bedeutet – Sie wissen schon, was man so sagt, wenn sich die Lunchgesellschaft auflöst und die Leute sich ihre Hüte und Mäntel holen.

Diese hatte dank der Großzügigkeit des Gastgebers bis weit in den Nachmittag hinein gedauert. Der schöne Oktobertag verblasste, und die Blätter fielen von den Bäumen der Allee, die ich entlang ging. Hinter mir schien sich ein Tor nach dem anderen mit sanfter Endgültigkeit zu schließen. Unzählige Pedelle steckten unzählige Schlüssel in gut geölte Schlösser; das Haus der Schätze wurde für eine weitere Nacht gesichert. Von der Allee kommt man auf eine Straße – ich vergesse immer ihren Namen –, die, wenn man richtig abbiegt, weiter nach Fernham führt. Aber es war noch viel Zeit. Dinner gab es nicht vor halb acht. Nach einem solchen Mittagessen wäre man auch gut ohne Dinner ausgekommen. Es ist seltsam, wie der Fetzen eines Gedichts in Gedanken arbeitet und die Beine im Takt dazu die Straße entlanggehen lässt. Diese Worte –

Von Passionsblumenranken am Tor

Rinnt eine Träne ins Moos.

Ah, sie kommt, die mein Herz sich erkor –

sangen mir im Blut, als ich schnell in Richtung Headingley ging. Und dann, in das andere Versmaß umschaltend, sang ich beim aufgewühlten Wasser am Wehr:

Mein Herz ist wie ein Vogel heut’

Dem dichtes Laub sein Nest umflicht;

Mein Herz ist wie ein Apfelbaum …

Was für Dichter, rief ich laut aus, wie man es in der Dämmerung eben tut, was für Dichter sie waren!

Mit Blick auf unser eigenes Zeitalter fragte ich mich wohl mit einer gewissen Eifersucht, so albern und absurd solche Vergleiche auch sind, ob man tatsächlich zwei lebende Dichter von der Größe nennen könnte, die Tennyson oder Christina Rossetti einst hatten. Es ist offenkundig unmöglich, sie zu vergleichen, dachte ich, während ich ins schäumende Wasser blickte. Der Grund, warum uns diese Lyrik so maßlos, so überschwänglich begeistert, liegt darin, dass sie ein Gefühl feiert, das man einmal hatte (etwa bei Lunchgesellschaften vor dem Krieg), und demzufolge leicht und in vertrauter Weise darauf reagiert, ohne sich die Mühe machen zu müssen, das Gefühl zu überprüfen oder es mit einem zu vergleichen, das man jetzt hat. Die lebenden Dichter dagegen drücken ein Gefühl aus, das gerade im Entstehen ist und uns augenblicklich entrissen wird. Zuerst ist es nicht zu erkennen; oft fürchtet man es aus irgendeinem Grund; beobachtet es scharf und vergleicht es eifersüchtig und argwöhnisch mit dem alten Gefühl, das man kannte. Daher die Schwierigkeit moderner Lyrik; und aufgrund dieser Schwierigkeit erinnert man sich an nicht mehr als zwei aufeinanderfolgende Zeilen eines beliebigen guten modernen Dichters. Aus diesem Grund – dass mein Gedächtnis mich im Stich ließ – ging meinem Argument wegen Mangel an Material die Luft aus. Aber warum, fuhr ich fort, während ich in Richtung Headingley weiterging, haben wir aufgehört, bei Lunchgesellschaften leise vor uns hin zu summen? Warum singt Alfred nicht länger

Ah, sie kommt, die mein Herz sich erkor.

Warum hat Christina aufgehört zu erwidern

Und noch viel froher ist mein Herz,

Mein Liebster kam zu mir daher.

Sollen wir dem Krieg die Schuld geben? Als die Geschütze im August 1914 zu feuern begannen, zeigten sich da die Gesichter von Männern und Frauen so deutlich in den Augen der jeweils anderen, dass die Romantik ausgelöscht wurde? Sicher war es ein Schock (besonders für die Frauen mit ihren Illusionen über die Bildung und so weiter), die Gesichter unserer Herrscher im Licht des Granatfeuers zu sehen. Wie hässlich sie aussahen – deutsche, englische, französische –, wie dumm. Aber wem oder was immer man die Schuld gibt, die Illusion, die Tennyson und Christina Rossetti dazu beflügelte, so leidenschaftlich die Ankunft der Geliebten zu besingen, ist heute viel seltener geworden als damals. Man braucht nur zu lesen, sich umzuschauen, zuzuhören, sich zu erinnern. Aber warum von »Schuld« reden? Warum, wenn es eine Illusion war, nicht die Katastrophe preisen, welche es auch war, die diese Illusion zerstörte und durch Wahrheit ersetzte? Denn Wahrheit … diese Punkte markieren die Stelle, an der ich auf der Suche nach Wahrheit die Abzweigung nach Fernham verpasste. Ja, tatsächlich, was war Wahrheit und was Illusion, fragte ich mich? Wie lautete zum Beispiel die Wahrheit über diese Häuser, jetzt schummrig und festlich mit den roten Fenstern in der Abenddämmerung, aber rau und rot und ärmlich mit dem Gebäck und den Schnürsenkeln um neun Uhr morgens? Und die Weiden und der Fluss und die Gärten, die sich bis zum Fluss hinunter erstreckten, verschwommen jetzt im aufziehenden Nebel, aber golden und rot im Sonnenlicht – was daran war Wahrheit, was war Illusion? Ich erspare Ihnen das Hin und Her meiner Gedanken, denn auf der Straße nach Headingley kam ich zu keinem Schluss, und ich bitte Sie, mir zu glauben, dass ich den Irrtum über die Abzweigung bald bemerkte und kehrtmachte nach Fernham.

Da ich bereits gesagt habe, dass es ein schöner Oktobertag war, werde ich nicht das Risiko eingehen, Ihren Respekt zu verlieren und den hehren Ruf der Literatur zu gefährden, indem ich die Jahreszeit ändere und Flieder, der über Gartenmauern hing, Krokusse, Tulpen und andere Frühlingsblumen beschreibe. Die Literatur muss sich an Tatsachen halten, und je wahrer die Tatsachen, desto besser die Literatur – wird uns gesagt. Deshalb war es immer noch Herbst, und die Blätter fielen immer noch gelb von den Bäumen, vielleicht etwas schneller als zuvor, weil es nun Abend war (sieben Uhr dreiundzwanzig, um genau zu sein), und ein Lüftchen (aus Südwest, um exakt zu sein) war aufgekommen. Aber trotz allem ging etwas Seltsames vor sich:

Mein Herz ist wie ein Vogel heut’

Dem dichtes Laub sein Nest umflicht;

Mein Herz ist wie ein Apfelbaum,

Dem jeder Ast von Früchten bricht

Möglicherweise waren auch die Worte von Christina Rossetti für das verrückte Hirngespinst verantwortlich – denn natürlich war es nichts als ein Hirngespinst –, dass der Flieder seine Blüten über die Gartenmauern schüttelte und die Zitronenfalter hin und her jagten und die Luft voller Blütenstaub war. Ein Wind blies, aus welcher Gegend weiß ich nicht, aber er hob die halbwüchsigen Blätter an, sodass die Luft silbergrau aufblitzte. Es war die Stunde des Zwielichts, wenn die Farben sich wandeln und intensiver leuchten und wenn Violett und Gold auf Fensterscheiben brennen wie der Schlag eines erregbaren Herzens; wenn sich die Schönheit der Welt aus irgendeinem Grund offenbart und doch bald vergehen wird (hier betrat ich den Garten, denn die Tür stand unvorsichtigerweise offen, und kein Pedell war in Sicht), die Schönheit der Welt, die so schnell vergehen wird, ist zweischneidig, eine Schneide des Lachens und eine des Leidens teilen das Herz entzwei. Die Gärten von Fernham lagen vor mir im Zwielicht des Frühlings, wild und offen, und das hohe Gras war gesprenkelt von sorglos verstreuten Narzissen und Glockenhyazinthen, selbst zu den besten Zeiten vielleicht nicht geordnet, jetzt aber wogten sie windzerzaust, während sie da an ihren Wurzeln zerrten. Die Fenster des Gebäudes, rund wie Schiffsfenster zwischen üppigen Wellen aus roten Ziegelsteinen, wechselten die Farbe von Zitronengelb zu Silber unter den schnell vorüberziehenden Frühlingswolken. Jemand lag in einer Hängematte, jemand, aber in diesem Licht waren alle nur Schatten, halb erahnt, halb gesehen, raste über das Gras – hielt niemand sie auf? –, und dann auf der Terrasse, als wäre sie herausgekommen, um Luft zu holen, einen Blick in den Garten zu werfen, erschien eine gebeugte Gestalt, Respekt einflößend und doch bescheiden, mit ihrer hohen Stirn und ihrem schäbigen Kleid – konnte es die berühmte Gelehrte, konnte es J– H– [5] selbst sein? Alles war schummrig, leuchtete dennoch, als würde der Schal, den die Dämmerung über den Garten geworfen hatte, zerrissen von Stern oder Schwert – der Blitz einer schrecklichen Wirklichkeit zuckte, wie es seine Art ist, aus dem Herzen des Frühlings auf. Denn die Jugend –

Da kam meine Suppe. In der großen Mensa wurde das Dinner serviert. Es war keineswegs Frühling, sondern tatsächlich ein Abend im Oktober. Man hatte sich im Speisesaal versammelt. Das Essen war zubereitet. Da kam die Suppe. Es war eine einfache Brühe. Darin war nichts, was die Fantasie anregte. In der durchsichtigen Flüssigkeit hätte man jegliches Muster auf dem Teller sehen können. Aber es gab kein Muster. Der Teller war schlicht. Als Nächstes kam Rindfleisch, begleitet von Gemüse und Kartoffeln – eine anspruchslose Dreifaltigkeit, die an die Hinterteile von Vieh auf einem schlammigen Markt denken ließ und an Rosenkohl, welk und gelb an den Rändern, und an Feilschen und Sonderangebote und Frauen mit Einkaufsnetzen am Montagmorgen. Es gab keinen Grund, sich über diese alltägliche menschliche Nahrung zu beschweren, schließlich war genug davon da, und Bergarbeiter hatten zweifellos weniger auf dem Tisch. Backpflaumen und Vanillepudding folgten. Und sollte sich jemand darüber beschweren, dass Backpflaumen, selbst wenn Vanillepudding sie milder macht, ein unbarmherziges Gemüse sind (Obst sind sie nicht), faserig wie das Herz eines Geizhalses und eine Flüssigkeit absondernd, wie sie Geizhälsen durch die Adern fließen mag, die sich achtzig Jahre lang Wein und Wärme versagt und trotzdem den Armen nichts gespendet haben, dann sollte er daran denken, dass es Menschen gibt, deren Barmherzigkeit sogar die Backpflaume einschließt. Cracker und Käse kamen als Nächstes, und dazu wurde der Wasserkrug großzügig herumgereicht, denn es liegt in der Natur von Crackern, dass sie trocken sind, und mehr Cracker als diese ging nicht. Das war alles. Die Mahlzeit war beendet. Alle schoben scharrend ihre Stühle zurück, die Schwingtüren schwangen heftig hin und her, bald war jede Spur des Essens aus dem Saal getilgt, und er wurde zweifelsohne für das Frühstück am nächsten Morgen vorbereitet. Die Korridore hinab und die Treppen hinauf zog die Jugend von England mit Knall und Gesang. Und stand es einem Gast, einer Fremden nicht zu (denn ich besaß hier in Fernham nicht mehr Rechte als in Trinity oder Somerville oder Girton oder Newnham oder Christchurch), zu sagen ›Das Dinner war nicht gut‹, oder zu sagen (wir, Mary Seton und ich, waren jetzt in ihrem Wohnzimmer): ›Hätten wir nicht hier oben allein essen können?‹, denn hätte ich irgendetwas in dieser Richtung gesagt, hätte ich meine Nase neugierig in die geheimen Sparmaßnahmen eines Hauses gesteckt, das für die Fremde eine so schöne Fassade aus Frohsinn und Mut angelegt hat. Nein, man konnte nichts Derartiges sagen. Allerdings kam das Gespräch für einen Moment ins Stocken. So, wie der Mensch beschaffen ist, Herz, Körper und Gehirn miteinander verknüpft und nicht in getrennten Abteilungen untergebracht, wie es in einer Million Jahren zweifellos der Fall sein wird, ist ein gutes Dinner eine wichtige Voraussetzung für ein gutes Gespräch. Man kann nicht gut denken, gut lieben, gut schlafen, wenn man nicht gut gegessen hat. Das Licht in der Wirbelsäule leuchtet nicht mit Rind und Backpflaumen. Wir kommen wahrscheinlich alle in den Himmel, und van Dyck wird uns hoffentlich an der nächsten Ecke treffen – das ist der zweifelhafte und beschränkte geistige Zustand, den Rind und Backpflaumen am Ende des Arbeitstages ausbrüten. Glücklicherweise hatte meine Freundin, die Naturwissenschaften lehrte, einen Schrank, in dem es eine dickbauchige Flasche und kleine Gläser gab – (aber erst mal hätte es Seezunge und Rebhuhn geben sollen) –, sodass wir uns ans Feuer begeben und einige der Schäden dieses Arbeitstages beheben konnten. Nach etwa einer Minute umkreisten wir ungezwungen all jene Gegenstände der Neugier und des Interesses, die sich in Abwesenheit einer bestimmten Person im Geiste formen und natürlich diskutiert werden müssen, sobald man sich wiedersieht – dass jemand geheiratet hat, ein anderer nicht, der eine denkt dies, der andere jenes, aus dem einen ist ganz unerwartet etwas geworden, der andere ist erstaunlicherweise auf die schiefe Bahn geraten –, inklusive all der Mutmaßungen über die menschliche Natur und die Beschaffenheit dieser erstaunlichen Welt, in der wir leben, die sich auf natürliche Weise aus solchen Gesprächsanfängen ergeben. Während alle diese Dinge besprochen wurden, bemerkte ich beschämenderweise eine Strömung, die ganz von selbst einsetzte und alles einem ganz eigenen Ziel zutrug. Man mochte von Spanien oder Portugal sprechen, von Buch oder Rennpferd, aber das eigentliche Interesse an dem, was gesagt wurde, galt keinem dieser Dinge, sondern einer Szene mit Maurern auf einem hohen Dach vor etwa fünfhundert Jahren. Könige und Fürsten brachten Schätze in riesigen Säcken und schütteten sie unter die Erde. Diese Szene stand mir immer wieder lebhaft vor Augen und fügte sich neben eine andere mit mageren Kühen und einem schlammigen Markt und welkem Gemüse und den faserigen Herzen alter Männer – diese beiden Bilder, so zusammenhanglos, unverbunden und unsinnig sie waren, trafen für immer zusammen und bekämpften einander und hatten mich ganz in ihrer Gewalt. Um nicht das ganze Gespräch zu ruinieren, war es am besten, das, was mir durch den Kopf ging, an die Luft zu lassen, wo es, wenn ich Glück hatte, verblassen und zerbröseln würde wie der Kopf des toten Königs, als sie den Sarg in Windsor öffneten. In wenigen Worten also erzählte ich Miss Seton von den Maurern, die all diese Jahre auf dem Dach der Kirche gewesen waren, und von den Königen und Königinnen und Fürsten, die Säcke mit Gold und Silber auf den Schultern trugen, das sie in die Erde schaufelten, und wie dann die großen Finanzmagnaten unserer Zeit kamen und Schecks und Pfandbriefe vermutlich eben dort hineinsteckten, wo die anderen Barren und rohe Goldklumpen hineingesteckt hatten. All das liegt dort unter den Colleges, sagte ich, aber in diesem College, in dem wir gerade sitzen, was liegt da unter den stattlichen roten Ziegeln und dem wilden, struppigen Gras des Gartens? Welche Macht steht hinter dem schlichten Porzellan, von dem wir zu Abend aßen und (es kam mir über die Lippen, bevor ich es zurückhalten konnte) dem Rind, dem Pudding und den Backpflaumen?

Tja, sagte Mary Seton, etwa im Jahr 1860 – Ach, aber die Geschichte kennst du doch, sagte sie, vermutlich von dem Vortrag gelangweilt. Und sie erzählte mir – Zimmer wurden angemietet. Gremien traten zusammen. Briefumschläge wurden adressiert. Rundschreiben wurden aufgesetzt. Versammlungen wurden abgehalten; Briefe wurden vorgelesen; Soundso hat soundso viel versprochen; Mr– dagegen wird keinen Penny geben. Die Saturday Review ist sehr unverschämt gewesen. Wie richten wir einen Fonds ein, um Büroräume zu bezahlen? Sollen wir einen Basar veranstalten? Können wir nicht ein hübsches Mädchen auftreiben, das in der ersten Reihe sitzt? Lasst uns nachschlagen, was John Stuart Mill[6] zu diesem Thema sagte. Kann irgendjemand den Herausgeber der – überreden, einen Brief abzudrucken? Können wir Lady– dazu bringen, zu unterschreiben? Lady– ist verreist. So lief das vermutlich ab, vor sechzig Jahren, und es war eine gewaltige Anstrengung, und jede Menge Zeit wurde darauf verwendet. Und erst nach langem Kampf und unter größten Schwierigkeiten bekamen sie die dreißigtausend Pfund zusammen.2 Also haben wir natürlich keinen Wein und keine Rebhühner oder Bedienstete, die Tabletts aus Zinn auf dem Kopf tragen, sagte sie. Wir haben keine Sofas und keine getrennten Zimmer. ›Die Annehmlichkeiten‹, sagte sie, aus diesem oder jenem Buch zitierend, ›müssen warten.‹3

Bei dem Gedanken daran, wie all diese Frauen sich Jahr für Jahr abrackerten und es schwer hatten, zweitausend Pfund aufzutreiben, und trotz aller Bemühungen nicht mehr als dreißigtausend auftreiben konnten, brachen wir in Hohn und Spott über die elende Armut unseres Geschlechts aus.

Was hatten unsere Mütter getrieben, dass sie uns kein Vermögen hinterlassen konnten? Sich die Nase gepudert? Schaufenster betrachtet? Im sonnigen Monte Carlo herumstolziert? Auf dem Kaminsims standen ein paar Fotografien. Marys Mutter – wenn es ein Bild von ihr war – mochte in ihrer Freizeit eine Lebedame gewesen sein (von einem Kleriker hatte sie dreizehn Kinder), aber wenn das stimmte, hatte ihr ausschweifendes und zügelloses Leben nicht allzu viele Spuren des Vergnügens auf ihrem Gesicht hinterlassen. Sie war eine schlichte Person; eine alte Dame in einem karierten Schultertuch, das von einer großen Kamee zusammengehalten wurde; sie saß in einem Korbsessel und ermunterte einen Spaniel, in die Kamera zu schauen, wobei sie den amüsierten, aber angespannten Ausdruck von jemandem hatte, der weiß, dass der Hund sich bewegen wird, sobald der Auslöser gedrückt wird. Hätte sie stattdessen eine berufliche Laufbahn eingeschlagen, wäre Kunstseidenfabrikantin oder Magnatin an der Börse geworden und hätte Fernham zwei- oder dreihunderttausend Pfund hinterlassen, hätten wir heute Abend entspannt hier sitzen und über Archäologie, Botanik, Anthropologie, Physik, das Wesen des Atoms, Mathematik, Astronomie, Relativität oder Geografie plaudern können. Hätten Mrs Seton und ihre Mutter und deren Mutter die große Kunst des Geldverdienens gelernt und ebenso wie ihre Väter und deren Großväter ihr Geld zur Einrichtung von Stipendien und Professuren und Preisen und Lehrstühlen hinterlassen, gebunden ausschließlich ans eigene Geschlecht, hätten wir vermutlich hier oben alleine ein ganz anständiges Abendessen mit einer Flasche Wein und einem Rebhuhn haben können; wir hätten uns, ohne die Zuversicht überzustrapazieren, auf ein angenehmes und ehrbares Leben in der Obhut großzügig ausgestatteter Berufe freuen können. Vielleicht hätten wir geforscht oder geschrieben; hätten viel Zeit an altehrwürdigen Orten dieser Erde verbracht, gedankenversunken auf den Stufen des Parthenons gesessen oder wären um zehn in ein Büro gegangen und bequem um halb fünf nach Hause gekommen, um noch ein bisschen zu dichten. Wenn Mrs Seton und ihresgleichen allerdings mit fünfzehn eine berufliche Laufbahn eingeschlagen hätten, hätte es – das war der Haken an der Sache – keine Mary gegeben. Was, fragte ich, hielt Mary davon? Zwischen den Vorhängen stand der Oktoberabend, ruhig und lieblich, ein Stern oder zwei hatten sich im gelben Laub der Bäume verfangen. War sie bereit, auf ihren Anteil daran zu verzichten und auf ihre Erinnerungen (denn sie waren eine glückliche, wenn auch eine große Familie gewesen) an die Spiele und Streitereien oben in Schottland, das sie wegen seiner milden Luft und seiner guten Kuchen nie müde wird zu preisen, damit Fernham durch einen Federstrich mit, sagen wir, fünfzigtausend Pfund ausgestattet werden konnte? Denn ein College zu finanzieren würde die Abschaffung der Familie als solche bedeuten. Ein Vermögen zu machen und dreizehn Kinder zu gebären – kein Mensch würde das aushalten. Betrachten wir die Tatsachen, sagten wir. Zunächst sind es neun Monate bis zur Geburt des Babys. Dann kommt das Baby zur Welt. Dann vergehen drei oder vier Monate mit dem Stillen des Babys. Nachdem das Baby gestillt wurde, vergehen garantiert fünf Jahre über dem Spielen mit dem Baby. So, wie es aussieht, kann man Kinder nicht auf den Straßen herumrennen lassen. Leute, die sie in Russland wild herumlaufen sahen, sagen, der Anblick sei kein schöner. Die Leute sagen auch, dass die menschliche Natur zwischen dem ersten und fünften Lebensjahr geformt wird. Wenn Mrs Seton, sagte ich, Geld verdient hätte, welche Erinnerungen hättest du dann an die Spiele und Streitereien gehabt? Was hättest du von Schottland und seiner guten Luft, den vorzüglichen Kuchen und allem Übrigen gewusst? Aber all das zu fragen ist sinnlos, denn du wärst gar nicht erst auf die Welt gekommen. Ferner ist es genauso sinnlos zu fragen, was passiert wäre, wenn Mrs Seton und ihre Mutter und deren Mutter ein großes Vermögen angesammelt hätten und es unter die Fundamente von College und Bibliothek gesteckt hätten, weil es ihnen erstens unmöglich war, Geld zu verdienen, und wenn es, zweitens, möglich gewesen wäre, das Gesetz ihnen das Recht auf den Besitz des Geldes, das sie verdienten, nicht gewährt hätte. Erst seit achtundvierzig Jahren darf Mrs Seton einen eigenen Penny haben. In all den Jahrhunderten zuvor wäre er Eigentum des Ehemanns gewesen – ein Gedanke, der dazu beigetragen haben mag, Mrs Seton und ihre Mutter von der Börse fernzuhalten. Jeden Penny, den ich verdiene, mochten sie sich gesagt haben, wird mir weggenommen und der Weisheit meines Mannes entsprechend ausgegeben – vielleicht, um in Balliol oder King’s einen Lehrstuhl einzurichten oder ein Stipendium zu finanzieren, weshalb das Geldverdienen, auch wenn ich Geld verdienen könnte, nichts ist, was mich großartig interessiert. Ich sollte es lieber meinem Mann überlassen.

Jedenfalls, ob die alte Dame, die den Spaniel anschaute, nun schuld war oder nicht, gab es keinen Zweifel daran, dass unsere Mütter ihre wirtschaftlichen Angelegenheiten aus irgendeinem Grund sehr schlecht geregelt hatten. Kein Penny konnte für ›Annehmlichkeiten‹ zurückgelegt werden, für Rebhühner und Wein, Pedell und Rasen, Bücher und Zigarren, Bibliotheken und Muße. Nackte Mauern auf nackter Erde zu errichten, war das Äußerste, was sie tun konnten.

So redeten wir, als wir am Fenster standen und wie Tausende andere jede Nacht hinunter auf die Kuppeln und Türme der berühmten Stadt zu unseren Füßen schauten. Sie war sehr schön, sehr geheimnisvoll im herbstlichen Mondlicht. Die alten Mauern sahen sehr weiß und ehrwürdig aus. Man dachte an all die Bücher, die dort versammelt waren, an die Gemälde von alten Prälaten und Würdenträgern, die in den getäfelten Zimmern hingen; an bunte Fenster, die seltsame Kugeln und Halbmonde auf das Pflaster warfen; an die Tafeln und Ehrenmale und Inschriften, an die Springbrunnen und das Gras, an die stillen Zimmer, die auf stille Innenhöfe hinausgingen. Und (vergeben Sie mir den Gedanken) ich dachte auch an die ausgezeichneten Rauchwaren und Getränke und die tiefen Sessel und die schönen Teppiche: an die Weltläufigkeit, die Geselligkeit, die Würde, die aus Luxus, Privatheit und Platz resultieren. Mit etwas Vergleichbarem hatten uns unsere Mütter ganz und gar nicht versorgt – unsere Mütter, denen es schwerfiel, dreißigtausend Pfund zusammenzukratzen, unsere Mütter, die Klerikern von St Andrews dreizehn Kinder gebaren.

Also ging ich in mein Gasthaus zurück, und während ich durch die dunklen Straßen lief, dachte ich über dieses und jenes nach, wie man es am Ende eines Arbeitstages tut. Ich dachte darüber nach, woran es lag, dass Mrs Seton uns kein Geld hinterlassen konnte; welche Wirkung Armut auf den Geist hat und welche Wirkung Reichtum auf den Geist hat, und ich dachte an die sonderbaren alten Herren, die ich an diesem Morgen mit einem Pelzbesatz auf den Schultern gesehen hatte, und ich erinnerte mich, wie einer von ihnen, sobald man pfiff, losgaloppierte, und ich dachte an die Orgel, die in der Kirche gedröhnt hatte, und an die verschlossenen Türen zur Bibliothek, und ich dachte, wie unangenehm es ist, ausgesperrt zu sein, und ich dachte, wie viel schlimmer es wahrscheinlich ist, eingesperrt zu sein; und schließlich fand ich bei dem Gedanken an die Sicherheit und den Wohlstand des einen und an die Armut und die Unsicherheit des anderen Geschlechts und an die Wirkung von Tradition und des Fehlens von Tradition auf den schriftstellerischen Geist, dass es an der Zeit war, die verknitterte Haut des Tages mit ihren Argumenten und Eindrücken und ihrem Zorn und Gelächter abzustreifen und in die Hecke zu werfen. Tausende Sterne funkelten in den blauen Weiten des Himmels. Man schien in unergründlicher Gesellschaft allein zu sein. Die Menschen schliefen alle – hingestreckt, in der Horizontale, stumm. Niemand schien sich auf den Straßen von Oxbridge zu regen. Sogar die Tür zum Hotel sprang wie von unsichtbarer Hand berührt auf – kein Angestellter war mehr wach, um mir zum Zimmer zu leuchten, so spät war es.

Ein Zimmer für sich allein

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