Читать книгу Ein Zimmer für sich allein - Virginia Woolf - Страница 3
Kapitel 2
ОглавлениеDie Szenerie, wenn ich Sie bitten darf, mir zu folgen, hatte sich nun geändert. Die Blätter fielen immer noch, aber jetzt in London, nicht in Oxbridge, und ich muss Sie bitten, sich ein Zimmer vorzustellen, wie es Tausende gibt, mit einem Fenster, das über die Hüte der Menschen und die Lieferwagen und Autos hinweg zu anderen Fenstern hinausgeht, und sich auf einem Tisch in diesem Zimmer ein leeres Blatt Papier vorzustellen, auf dem in Großbuchstaben FRAUEN UND LITERATUR stand und sonst nichts. Als Nachspiel zu den Lunches und Dinners in Oxbridge schien ein Besuch im British Museum leider unvermeidlich zu sein. Es galt, alles Persönliche und Zufällige an diesen Eindrücken herauszufiltern, um die reine Flüssigkeit zu erhalten, das ätherische Öl der Wahrheit. Denn der Besuch in Oxbridge und das Mittag- und Abendessen hatten einen Schwarm von Fragen ausgelöst. Warum tranken Männer Wein und Frauen Wasser? Warum war das eine Geschlecht so wohlhabend und das andere so arm? Welche Wirkung hat Armut auf die Literatur? Welche Voraussetzungen sind zur Erschaffung von Kunstwerken nötig? – sofort drängten sich Tausende von Fragen auf. Aber man brauchte Antworten, keine Fragen; und eine Antwort war nur durch Hinzuziehen der Gebildeten und Unvoreingenommenen zu bekommen, die sich über den Zank der Zunge und das Chaos des Körpers erhoben und das Ergebnis ihres Denkens und Forschens in Büchern veröffentlicht haben, die im British Museum zu finden sind. Wo, wenn nicht in den Regalen des British Museum, ist die Wahrheit zu finden?, fragte ich mich und griff zu Notizbuch und Stift.
Derart ausgerüstet, derart zuversichtlich und wissensdurstig machte ich mich auf die Suche nach der Wahrheit. Der Tag, obwohl nicht wirklich regnerisch, war trist, und die Straßen rings um das Museum waren voller offener Kohlenschächte, in die säckeweise Kohle prasselte; vierrädrige Droschken fuhren vor und luden auf dem Gehweg verschnürte Kisten mit wahrscheinlich der gesamten Garderobe irgendeiner schweizerischen oder italienischen Familie ab, die auf der Suche nach Glück oder Zuflucht oder einer anderen begehrenswerten Sache war, die im Winter in den Pensionen von Bloomsbury zu finden ist. Die üblichen Männer mit den heiseren Stimmen zogen mit pflanzenbeladenen Karren durch die Straßen. Die einen brüllten, die anderen sangen. London war wie eine Fabrikhalle. London war wie eine Maschine. Wir alle wurden auf diesem einfachen Fundament hin und her geschoben, um eine Art Muster zu erzeugen. Das British Museum war nur ein weiterer Teil der Fabrik. Die Schwingen der Tür schwangen auf, und schon stand man unter der gewaltigen Kuppel, als wäre man ein Gedanke hinter der riesigen kahlen Stirn, die ein so glänzendes Band berühmter Namen trägt. Man ging zum Schalter, man nahm sich einen Zettel, man schlug einen Katalog auf und .…. die fünf Punkte hier stehen für fünf einzelne Minuten der Benommenheit, des Staunens und der Verwirrung. Haben Sie auch nur eine Ahnung, wie viele Bücher im Laufe eines Jahres über Frauen geschrieben werden? Haben Sie eine Ahnung, wie viele davon Männer geschrieben haben? Sind Sie sich dessen bewusst, dass Sie wahrscheinlich das meistdiskutierte Tier im gesamten Universum sind? Da war ich mit Notizbuch und Stift und dem Vorhaben hierhergekommen, den Vormittag lesend zu verbringen, in der Annahme, am Ende des Vormittags die Wahrheit in mein Notizbuch übertragen zu haben. Aber ich müsste eine Herde Elefanten sein, dachte ich, und eine Wildnis voller Spinnen, mich verzweifelt an jene Tiere haltend, die angeblich das längste Leben und die meisten Augen haben, um all das zu bewältigen. Ich bräuchte Klauen aus Stahl und einen Metallschnabel, um auch nur die Schale durchdringen zu können. Wie soll ich in diesen Massen von Papier je das Körnchen Wahrheit finden? Das fragte ich mich, während mein Blick verzweifelt die lange Liste der Bücher auf und ab wanderte. Schon die Titel gaben mir zu denken. Das Geschlecht und seine Natur mag sehr wohl Ärzte und Biologen anziehen, was aber überraschend und schwer erklärbar war, war die Tatsache, dass das Geschlecht – das heißt, die Frau – auch artige Essayisten anzieht, ausgefuchste Romanciers, junge Männer, die einen Studienabschluss haben, Männer, die keinen Studienabschluss haben, Männer, die keine erkennbare Qualifikation haben außer der, dass sie keine Frauen sind. Einige dieser Bücher waren dem Anschein nach belanglos und bizarr, aber demgegenüber gab es viele ernste und prophetische, moralisierende und mahnende. Schon die Lektüre der Titel ließ einen daran denken, wie unzählige Schulmeister, unzählige Kleriker ihre Plattformen und Kanzeln erklommen und in einer Redseligkeit dozierten, die weit über die normalerweise einer Abhandlung zu einem solchen Thema zugestandene Stunde hinausging. Es war ein äußerst merkwürdiges Phänomen; und offenbar – hier schlug ich unter dem Buchstaben M nach – eines, das sich auf das männliche Geschlecht beschränkte. Frauen schrieben keine Bücher über Männer – eine Tatsache, die ich nicht umhinkonnte, erleichtert zu begrüßen, denn wenn ich zuerst alles hätte lesen sollen, was Männer über Frauen, und dann alles, was Frauen über Männer geschrieben haben, hätte die Aloe, die nur einmal alle hundert Jahre blüht, zweimal geblüht, ehe ich auch nur den Stift aufs Papier gesetzt hätte. Und so wählte ich vollkommen willkürlich etwa ein Dutzend Bände aus, gab meine Zettel für den Drahtkorb ab und wartete an meinem Platz, inmitten all der anderen, die auf der Suche nach dem ätherischen Öl der Wahrheit waren.
Was aber könnte der Grund für dieses merkwürdige Missverhältnis sein, fragte ich mich und zeichnete Wagenräder auf die vom britischen Steuerzahler für andere Zwecke zur Verfügung gestellten Zettel. Warum sind Frauen, diesem Katalog nach zu urteilen, für Männer so viel interessanter als Männer für Frauen? Eine sehr merkwürdige Sache, so schien es, und in Gedanken stellte ich mir das Leben von Männern vor, die ihre Zeit damit verbrachten, über Frauen zu schreiben; ob sie alt oder jung waren, verheiratet oder unverheiratet, rotnasig oder bucklig – in jedem Fall war es schmeichelhaft, irgendwie, Gegenstand einer solchen Aufmerksamkeit zu sein, vorausgesetzt, sie wurde einem nicht ausschließlich von Gelähmten und Gebrechlichen zuteil – so grübelte ich, bis all diese albernen Gedanken durch eine Bücherlawine beendet wurden, die auf den Schreibtisch vor mir niederging. Hier begannen die Probleme. Der Student, der in Oxbridge für die Forschung ausgebildet wurde, verfügt sicherlich über eine Methode, seine Frage an allen Zerstreuungen vorbeizutreiben, bis sie in eine Antwort findet wie ein Schaf in seinen Pferch. Der Student neben mir beispielsweise, der emsig aus einem wissenschaftlichen Handbuch abschrieb, förderte, da war ich sicher, etwa alle zehn Minuten reine Klumpen des edlen Erzes zutage. Davon kündeten jedenfalls seine kleinen zufriedenen Grunzer. Wenn man aber bedauerlicherweise keine Universitätsausbildung genossen hat, stiebt die Frage, weit entfernt davon, in ihren Pferch getrieben zu werden, wie eine erschreckte Herde hierhin und dorthin, holterdiepolter, verfolgt von einer ganzen Hundemeute. Professoren, Lehrmeister, Soziologen, Kleriker, Romanciers, Essayisten, Journalisten, Männer, die keine Qualifikation haben, außer, dass sie keine Frauen sind, verfolgten meine eine einfache Frage – Warum sind Frauen arm? –, bis daraus fünfzig Fragen wurden; bis die fünfzig Fragen sich verzweifelt in die Mitte des Stroms stürzten und davongetragen wurden. Jede Seite meines Notizbuchs war vollgekritzelt. Um Ihnen meinen geistigen Zustand zu verdeutlichen, werde ich Ihnen einige Notizen vorlesen, wobei Sie wissen müssen, dass die Seite ganz schlicht mit FRAUEN UND ARMUT in Großbuchstaben überschrieben war; aber was folgte, war etwas wie:
Lebensverhältnisse im Mittelalter der,
Gewohnheiten auf den Fidschi-Inseln der,
Angebetet als Göttinnen von,
Schwächer in moralischer Hinsicht als,
Idealismus der,
Größeres Pflichtgefühl der,
Südseeinsulanerinnen, Beginn der Pubertät der,
Attraktivität der,
Als Opfer dargebracht von,
Kleinerer Gehirnumfang der,
Tieferes Unterbewusstsein der,
Weniger Körperbehaarung der,
Mentale, moralische und physische Unterlegenheit von,
Kinderliebe der,
Höhere Lebenserwartung der,
Weniger Muskelmasse der,
Stärke der Liebesfähigkeit der,
Eitelkeit der,
Höhere Bildung der,
Shakespeares Meinung über die,
Lord Birkenheads Meinung über die,
Dean Inges Meinung über die,
La Bruyères Meinung über die,
Dr. Johnsons Meinung über die,
Mr Oscar Brownings Meinung über die …
Hier holte ich Luft und ergänzte, aber nur am Rand: Warum sagt Samuel Butler: ›Weise Männer sagen nie, was sie über Frauen denken‹? Weise Männer reden offenbar über nichts anderes. Aber, fuhr ich fort, lehnte mich in meinem Stuhl zurück und sah zur gewaltigen Kuppel auf, unter der ich ein einzelner, aber inzwischen schon ziemlich gequälter Gedanke war, bedauerlich daran ist, dass weise Männer nie alle das Gleiche über Frauen denken. Hier ist Pope:
Die meisten Frauen haben keinerlei Charakter.
Und hier ist La Bruyère:
Frauen sind Extreme; sie sind besser oder schlechter als die Männer –[7]
ein direkter Widerspruch zweier scharfsinniger Beobachter, die Zeitgenossen waren. Sind Frauen zur Bildung fähig oder unfähig? Napoleon hielt sie für unfähig. Dr. Johnson dachte das Gegenteil.4 Haben sie Seelen, oder haben sie keine Seelen? Einige Wilde sagen, sie hätten keine. Andere hingegen bestehen darauf, dass Frauen zur Hälfte göttlich sind, und beten sie deswegen an.5 Einige Weise behaupten, sie hätten einen seichteren Verstand, andere, sie hätten ein tieferes Bewusstsein. Goethe verehrte sie; Mussolini verachtete sie. Wohin man auch schaute, dachten Männer über Frauen nach und dachten unterschiedlich. Unmöglich, daraus schlau zu werden, beschloss ich und warf einen neidischen Blick auf den Leser nebenan, der die säuberlichsten Auszüge verfasste, die oft mit einem A oder einem B oder einem C überschrieben waren, während mein eigenes Notizbuch von wildestem Gekritzel widersprüchlicher Einträge nur so strotzte. Es war peinlich, es war verstörend, es war demütigend. Die Wahrheit war mir zwischen den Fingern zerronnen. Jeder Tropfen hatte sich verflüchtigt.
Ich konnte unmöglich nach Hause gehen, überlegte ich, und der Untersuchung von Frauen und Literatur ernsthaft den Beitrag hinzufügen, dass Frauen weniger Haare auf dem Körper haben als Männer oder dass die Pubertät bei den Südseeinsulanerinnen mit neun beginnt – oder ist es neunzig? –, selbst die Handschrift war in diesem Zustand der Verstörtheit schon unleserlich geworden.
Es war beschämend, nach der Arbeit eines ganzen Vormittags nichts Gewichtigeres oder Respektableres vorweisen zu können. Und wenn ich die Wahrheit über die Vergangenheit von F (wie ich sie der Kürze halber inzwischen nannte) nicht zu fassen bekam, wozu sich dann mit der Zukunft von F herumplagen? Es schien die reinste Zeitverschwendung zu sein, alle diese Herren zu befragen, die sich auf Frauen und ihre Wirkung auf was auch immer spezialisieren – auf Politik, Kinder, Gehälter, Moral –, zahlreich und fachkundig, wie sie sind. Man kann ihre Bücher genauso gut ungeöffnet lassen.
Aber während ich so vor mich hin dachte, hatte ich in meiner Verdrossenheit, in meiner Verzweiflung unbewusst eine Zeichnung angefertigt, statt, wie mein Nachbar, eine Schlussfolgerung an diese Stelle zu schreiben. Ich hatte ein Gesicht gezeichnet, eine Gestalt. Es waren Gesicht und Gestalt des Professors von X., während er sein monumentales Werk mit dem Titel Die mentale, moralische und physische Unterlegenheit des weiblichen Geschlechts verfasste. In meiner Zeichnung war er kein Mann, den Frauen anziehend gefunden hätten. Er war grobschlächtig, er hatte Hängebacken und zum Ausgleich sehr kleine Augen, und er war sehr rot im Gesicht. Sein Ausdruck suggerierte, dass er unter irgendeiner Gefühlswallung litt, die ihn mit dem Stift aufs Papier einstechen ließ, als tötete er beim Schreiben ein schädliches Insekt, aber auch, als er es getötet hatte, war er nicht zufrieden, er musste mit dem Töten weitermachen, und trotzdem gab es immer noch irgendeinen Grund zu Ärger und Zorn. Konnte es seine Frau sein, fragte ich mich und betrachtete meine Zeichnung. War sie in einen Kavallerieoffizier verliebt? War der Kavallerieoffizier schlank und elegant und in Lammfell gekleidet? War der Professor, um die Freud’sche Theorie anzuwenden, in seiner Kinderwiege von einem hübschen Mädchen ausgelacht worden? Denn selbst in der Wiege konnte dieser Professor, dachte ich, kein anziehendes Kind gewesen sein. Was immer der Grund war, auf meiner Zeichnung sah der Professor sehr zornig und sehr hässlich aus, wie er da sein großartiges Buch über die mentale, moralische und physische Unterlegenheit der Frauen verfasste. Das Zeichnen war eine müßige Art, die ergebnislose Arbeit eines Vormittags zu beenden. Doch gerade in unserer Muße, in unseren Träumen geschieht es zuweilen, dass die untergründige Wahrheit an die Oberfläche dringt. Eine sehr einfache Übung in Psychologie, die die Bezeichnung Psychoanalyse nicht verdient, zeigte mir, als ich in mein Notizbuch sah, dass die Zeichnung des zornigen Professors im Zorn entstanden war. Der Zorn hatte sich meinen Stift geschnappt, während ich träumte. Aber was hatte Zorn hier zu suchen? Interesse, Verstörung, Amüsiertheit, Langeweile – alle diese Gefühle konnte ich nachvollziehen und benennen, wie sie im Laufe des Vormittags einander gefolgt waren. Hatte der Zorn, die schwarze Schlange, unter ihnen gelauert? Ja, sagte mir die Zeichnung, das hatte er. Sie verwies mich unmissverständlich auf das eine Buch, den einen Satz, der den Dämon geweckt hatte; es war die Behauptung des Professors über die mentale, moralische und physische Unterlegenheit der Frauen. Mein Herz hatte einen Aussetzer gemacht. Meine Wangen hatten gebrannt. Vor Zorn war ich rot geworden. Daran war nichts Bemerkenswertes, auch wenn es idiotisch war. Man bekommt nicht gerne gesagt, man wäre einem kleinen Mann von Natur aus unterlegen – ich schaute zum Studenten neben mir –, der schwer atmet, eine Krawatte mit Gummizug trägt und sich seit zwei Wochen nicht rasiert hat. Man hat gewisse alberne Eitelkeiten. Das liegt nur in der Natur des Menschen, dachte ich, und begann Wagenräder und Kreise über das zornige Gesicht des Professors zu malen, bis er aussah wie ein brennender Busch oder ein flammender Komet – jedenfalls wie eine Erscheinung ohne Ähnlichkeit zum Menschen oder seine signifikanten Merkmale. Der Professor war nun nichts weiter als ein Reisigbündel, das auf dem Hügel von Hampstead Heath brannte. So war mein eigener Zorn also bald erklärt und überwunden, aber die Neugier blieb. Wie ließ sich der Zorn der Professoren erklären? Warum waren sie zornig? Denn wenn es darum ging, zu analysieren, welchen Eindruck diese Bücher hinterlassen hatten, war eine Komponente immer die Hitze. Diese Hitze nahm viele Formen an; sie zeigte sich als Satire, als Empfindung, als Neugier, als Missbilligung. Aber es gab noch eine andere Komponente, die oft vorhanden war und nicht augenblicklich identifiziert werden konnte. Ich nannte sie Zorn. Aber es war ein Zorn, der abgetaucht war und sich mit allen möglichen anderen Gefühlen vermischt hatte. Seiner seltsamen Wirkung nach zu urteilen, war es ein getarnter und vielschichtiger Zorn, kein schlichter, offener.